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"Bidens Kapitulation vor Netanjahu ist ein Verrat an seinen eigenen Werten"

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Gideon Levy, Mitherausgeber und Redakteur der israelischen Zeitung Haaretz, ist seit vielen Jahren einer der wenigen israelischen Kämpfer für das... Michael Schmid http://www.lebenshaus-alb.de

Kursk und die Folgen

ISW München - Fr, 23/08/2024 - 15:14

Nach der Ankündigung Berlins, die Finanzmittel für die Ukraine zu begrenzen, fordert Kiew direkten Zugriff auf russisches Auslandsvermögen.
Verhandlungsbemühungen sind durch den Angriff auf Kursk zunichte gemacht worden.

 

Die Bundesregierung hat vor kurzem mitgeteilt, über die bereits für Kiew verplanten Mittel hinaus keine neuen Ausgaben zur Unterstützung der Ukraine tätigen zu wollen; das Land soll nun auf Basis der Zinserträge aus den eingefrorenen Auslandsguthaben der russischen Zentralbank finanziert werden. Kiewer Regierungsangaben zufolge reicht das nicht aus; es sollen deshalb die Guthaben selbst beschlagnahmt werden.
Faktisch wäre das ein Präzedenzfall für den Diebstahl fremden Staatseigentums, der weltweit Folgen hätte – wohl auch für Auslandsvermögen westlicher Staaten.
Die Debatte spitzt sich auch deshalb zu, weil die Ukraine faktisch bankrott ist.

Weckten noch kürzlich Äußerungen von Präsident Wolodymyr Selenskyj und die Entsendung von Außenminister Dmytro Kuleba nach China Hoffnung auf Waffenstillstand und Wiederaufbaumaßnahmen, so sind diese nach dem Angriff der Ukraine auf das russische Gebiet Kursk zerstoben.
Der Angriff habe Verhandlungen unmöglich gemacht, werden Diplomaten zitiert.

Anlass zu Verhandlungen

Zur Aufnahme von Gesprächen mit Moskau hatte Kiew aus verschiedenen Gründen Anlass. Zum einen war sein Versuch, auf dem vorgeblichen Friedensgipfel Mitte Juni in der Schweiz eine Reihe einflussreicher Staaten des Globalen Südens auf seine Seite zu ziehen und damit Russland politisch zu isolieren, gescheitert; die Regierungen etwa Indiens, Brasiliens oder Südafrikas hatten sich Abschlusserklärung des Gipfels mit dem Hinweis verweigert, Friedensgespräche mit nur einer Konfliktpartei ergäben keinen Sinn.[1]

War zumindest das Vortäuschen von Verhandlungsbereitschaft also Voraussetzung für weitere Bemühungen, den Globalen Süden für die Ukraine zu gewinnen, so zeichnete sich zusehends auch materieller Druck ab. Die russischen Angriffe auf die ukrainische Energieinfrastruktur, die Kiew zum Einlenken nötigen sollten, haben der Washington Post zufolge mittlerweile neun der 18 Gigawatt vernichtet, die die Ukraine im kalten Winter zu Spitzenzeiten benötigt.[2]
Bereits jetzt ist die Bevölkerung der Ukraine mit schweren Stromausfällen konfrontiert; die ohnehin stark geschädigte Wirtschaft wird durch den Energiemangel zusätzlich beeinträchtigt. Die ukrainischen Angriffe auf Russlands Erdölindustrie dagegen fügen Moskau relativ geringere Schäden zu – und weil sie zeitweise den Ölpreis in die Höhe getrieben haben, stoßen sie in den westlichen Hauptstädten intern auf Unmut.

„Von der Tagesordnung genommen“

Laut der Washington Post ließ sich Kiew deshalb kurz nach dem Schweizer Ukraine-Gipfel auf einen Vorstoß Qatars ein, zu Verhandlungen mit Moskau überzugehen.[3]
Demnach sollte zunächst ein beidseitiger Verzicht auf Angriffe auf die Energie- bzw. die Ölinfrastruktur in Kraft treten – dies mit der Perspektive, zu einem umfassenderen Waffenstillstand ausgeweitet zu werden.
Qatar habe darüber fast zwei Monate lang mit beiden Seiten verhandelt, hieß es unter Berufung auf Diplomaten; die Regierung in Doha habe gehofft, in Kürze eine Einigung zu erzielen. Der ukrainische Angriff auf das Gebiet Kursk habe die Bemühungen jetzt aber umgehend zunichte gemacht. Der liberale russische Politiker Grigori Jawlinski etwa ließ sich von der New York Times mit der Aussage zitieren, in Moskau habe man Hoffnung gehegt, „die Kämpfe könnten dieses Jahr enden“.[4] Der Angriff auf das Gebiet Kursk habe nun aber die Chancen dafür nicht nur reduziert, sondern sie sogar „von der Tagesordnung genommen“. Zwei ehemalige russische Regierungsmitarbeiter schlossen sich gegenüber der US-Zeitung dieser Einschätzung an. Ausdrücklich bestätigte Juri Uschakow, außenpolitischer Berater des russischen Präsidenten Wladimir Putin, angesichts der jüngsten Kiewer „Eskapade“ werde man zumindest vorläufig „nicht verhandeln“.[5]

Vermittler düpiert

Hinzu kommt, dass Kiew mit seinem Vorgehen einmal mehr potenzielle Vermittler verprellt. Erst im Juli hatte China den ukrainischen Außenminister Dmytro Kuleba zu Gesprächen nicht zuletzt mit seinem Amtskollegen Wang Yi empfangen – in der Absicht, Wege zu einer Verhandlungslösung zu bahnen.[6]
Zudem hatte Indien mit der ukrainischen Regierung über einen Besuch von Ministerpräsident Narendra Modi verhandelt – sozusagen als Ausgleich für Modis Besuch im Juli in Moskau.
Während Kiew mit Beijing und New Delhi über Wege zu einer Konfliktlösung diskutierte, bereitete es hinter deren Rücken längst den Angriff auf Kursk vor. Modi trifft am heutigen Freitag düpiert in der ukrainischen Hauptstadt ein. Auch Qatars Regierung muss konstatieren, dass sie mit ukrainischen Gesprächspartnern über Wege aus dem Krieg verhandelte, während Kiew insgeheim bereits die Eröffnung eines neuen Schlachtfeldes auf russischem Territorium plante. Doha, gleichfalls düpiert, sagte die schon in Kürze geplanten Gespräche inzwischen ab.[7]

„Der Topf ist leer“

Gleichzeitig zeichnen sich neue Spannungen zwischen Kiew und Berlin ab. Wie bereits am vergangenen Wochenende berichtet wurde, will die Bundesregierung ab sofort keinerlei neue Mittel mehr für die Ukraine zur Verfügung stellen. Bereits fest verplant sind die knapp acht Milliarden Euro, die der Bundeshaushalt 2024 für die Unterstützung der Ukraine vorsieht. Im Bundeshaushalt 2025 sind weitere vier Milliarden Euro für Kiew enthalten; diese sind aber, wie es heißt, „offenbar schon überbucht“.[8] Für 2026 ist von drei, für 2027 und 2028 jeweils von einer halben Milliarde Euro die Rede. Weitere Mittel sollen – darauf beharren Kanzler Olaf Scholz und Finanzminister Christian Lindner – lediglich dann gewährt werden, wenn für die entsprechenden Vorhaben „eine Finanzierung gesichert“ sei. Hintergrund sind die Berliner Bestrebungen, die Staatsausgaben einzuschränken, um die Neuverschuldung zu begrenzen. Zwar würden bereits getätigte Zusagen noch realisiert, heißt es; doch wird ein Mitarbeiter der Bundesregierung mit der Feststellung zitiert: „Ende der Veranstaltung. Der Topf ist leer.“[9]

Präzedenzfall

Gedeckt werden soll Kiews Finanzbedarf nach dem Willen Berlins nicht mehr aus deutschen Mitteln, sondern stattdessen aus Zinserträgen, die die im Westen eingefrorenen Mittel der russischen Zentralbank einbringen – insgesamt gut 260 Milliarden Euro. Konkret werden zur Zeit die Zinsen der gut 173 Milliarden Euro ins Visier genommen, die der Finanzkonzern Euroclear mit Sitz in Brüssel verwaltet.
Die G7 haben beschlossen, die Zinsen zugunsten der Ukraine zu beschlagnahmen und Kiew auf ihrer Grundlage einen Kredit zu ermöglichen; jährlich könnten damit mehrere Milliarden Euro beschafft werden, heißt es.[10]
Allerdings sind noch diverse Fragen offen. So wird berichtet, Experten rechneten mit einer Laufzeit des Kredits von möglicherweise 20 Jahren. Das setze faktisch voraus, dass die russischen Gelder auch noch nach einem etwaigen Friedensschluss mit der Ukraine eingefroren blieben, sollte ein solcher zustande kommen.
Hinzu kommt das nach wie vor ungelöste Problem, dass ein westlicher bzw. ukrainischer Zugriff auf russisches Staatseigentum als klarer Präzedenzfall gewertet würde.

Westliche Staaten müßten damit rechnen, dass ihr Eigentum im Ausland im Konfliktfall gleichfalls enteignet werden könnte, nicht nur zur Entschädigung von Kriegs-, sondern auch von Kolonial- und insbesondere von NS-Verbrechen.

Finanzdesaster

Umso schwerer wiegt, dass Kiew jetzt, wie die stellvertretende Finanzministerin Olga Zykova aktuell auf einer Videokonferenz des Kiewer Centre for Economic Strategy erklärte, nicht nur die schnelle Freigabe der Kreditmittel auf Basis der Zinserträge des eingefrorenen russischen Staatsvermögens fordert, sondern den Zugriff auf das Staatsvermögen selbst. Das sei nötig, heißt es, um den ukrainischen Staatshaushalt zu stabilisieren, der zuletzt zu mehr als 50 Prozent aus auswärtigen Zuwendungen gespeist worden sei.[11]
Für das Jahr 2025 benötige man Hilfsgelder in Höhe von mindestens 35 Milliarden US-Dollar; 15 Milliarden US-Dollar fehlten noch.

Als einziger Ausweg aus dem zunehmenden Finanzierungsdesaster gilt ein Ende des Krieges und der Wiederaufbau des Landes; beides aber ist nach dem ukrainischen Angriff auf Kursk weniger in Sicht denn je.

 

[1] S. dazu Ziele klar verfehlt

[2] Isabelle Khurshudyan, Siobhán O’Grady, John Hudson, Catherine Belton: Ukraine’s offensive derails secret efforts for partial cease-fire with Russia, officials say. washingtonpost.com 17.08.2024.

[4], [5] Anton Troianovski, Andrew E. Kramer, Kim Barker, Adam Rasgon: Ukraine Says Its Incursion Will Bring Peace. Putin’s Plans May Differ. nytimes.com 19.08.2024.

[6] S. dazu Diplomatie statt Waffen

[7] Isabelle Khurshudyan, Siobhán O’Grady, John Hudson, Catherine Belton: Ukraine’s offensive derails secret efforts for partial cease-fire with Russia, officials say. washingtonpost.com 17.08.2024.

[8], [9] Peter Carstens, Konrad Schuller: Kein neues Geld mehr für die Ukraine. Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung 18.08.2024.

[10] Christian Schubert: Ein russischer Hebel gegen Putin. Frankfurter Allgemeine Zeitung 21.08.2024.

[11] Andreas Mihm: Kiew: Brauchen Milliarden schnell. Frankfurter Allgemeine Zeitung 22.08.2024.

 

Nord Stream Update, Ukraine-Offensive & Bericht aus dem Südlibanon

acTVism - Fr, 23/08/2024 - 12:56

Nord Stream Update, Ukraine-Offensive & Bericht aus dem Südlibanon

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Rüstung im Deutschland-Tempo

IMI Tübingen - Fr, 23/08/2024 - 12:17
Die Bundesregierung hat es sich zum Ziel gesetzt, der deutschen Rüstungsindustrie massiv unter die Arme zu greifen. Um dies zu gewährleisten, wird aktuell an einer „Nationalen Sicherheits- und Verteidigungsstrategie“ gearbeitet, deren Entwurf kürzlich bei Politico veröffentlicht wurde. In ihm werden (…)

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Nord Stream Update, Ukraine’s invasion of Russia & Report from South Lebanon

acTVism - Do, 22/08/2024 - 18:57

Nord Stream Update, Ukraine's invasion of Russia & Report from South Lebanon.

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Der israelische Holocaust-Forscher Dr. Bartov über die Provokationen des Kriegsverbrechers Netanjahu

acTVism - Do, 22/08/2024 - 08:41

Der israelische Holocaust-Forscher Dr. Bartov über die Provokationen des Kriegsverbrechers Netanjahu

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Marxistische Selbstverständigung. Wege des Antifaschismus: marxistische Studienwoche

ISW München - Do, 22/08/2024 - 08:08

Marxistische Studienwoche erörterte in Frankfurt Ursachen und Kampf gegen Rechtsentwicklung in EU, BRD und Amerika

 



Hintergrund: Rechtsentwicklung

Der Faschismusforscher Reinhard Opitz schrieb in seinem Aufsatz »Was ist rechts? Was sind Rechtstendenzen?«, der 1980 im zweiten Heft der Marxistischen Blätter erschien, dass »linksgerichtete Bewegungen oder Kräfte« solche wären, die »zu ihrer Zeit auf den historisch objektiv möglichen nächsthöheren Verwirklichungsgrad von Demokratie hindrängen oder ihm punktuell vorarbeiten«.
Rechtsgerichtete Bewegungen oder Kräfte seien dagegen solche, die »hinter den zu ihrer Zeit jeweils schon erreichten relativen historischen Realisationsgrad von Demokratie oder auch nur Artikulationsspielraum der demokratischen (linken) Kräfte zurückdrängen«.

Auch für die hiesige Linke stellen sich akut zwei Fragen:
Was sind Ursachen der Rechtsentwicklung?
Und wie können Marxisten sie nicht nur analysieren, sondern bekämpfen?

Den Versuch, darauf adäquate Antworten zu finden, hat vom 12. bis 15. August in Frankfurt am Main die marxistische Studienwoche mit über 50 Teilnehmern unternommen. Seit 2008 wird die Tagung von der Zeitschrift Marxistische Erneuerung, der Heinz-Jung-Stiftung und dem Institut für sozialökologische Wirtschaftsforschung, isw,  organisiert. Den Auftakt machte am Montag vergangener Woche ein Podium, das die historischen Rechtsentwicklungen diskutierte.

Stefan Bollinger griff dazu mehr als 100 Jahre zurück und referierte über die Konterrevolution von 1848/49 bis Kaiser Wilhelm II. Frank Deppe betrachtete die Weimarer Republik und Silvia Gingold sprach über die Renazifizierung ab 1945 in der BRD sowie die Berufsverbote, von denen sie selbst betroffen war. So forderten Proteste und Solidaritätskomitees für Betroffene demokratische Rechte ein. Aber auch heute bestehe Gingold zufolge die Gefahr von Berufsverboten. Sie verwies dazu auf die anhaltende Repression gegen die Palästina-Solidarität und die Friedensbewegung sowie auf Pläne des Innenministeriums für Berufsverbote für »Extremisten« und »Verfassungsfeinde«. Der einzig wirksame Schutz der Verfassung, sagte Gingold, sei eine breite demokratische Öffentlichkeit.

Philipp Becher erkannte den Rechtsruck in Anlehnung an Faschismusforscher Reinhard Opitz als Ausdruck einer Integrationskrise der bürgerlichen Gesellschaft. Die Liaison von Kapitalismus und parlamentarischer Demokratie sei kein historischer Normalfall, die Klassenherrschaft der Bourgeoisie an keine Staatsform gebunden, erklärte er und erinnerte daran, dass demokratische Elemente der bürgerlichen Gesellschaft von der Arbeiterbewegung erkämpft und von ihr auch verwirklicht werden. Im Bündnis mit Sozialliberalen gelte es, »jeden Keim zu packen« – aber sich als Marxisten seine Unabhängigkeit zu bewahren.

Ein weiteres Podium setzte sich mit internationalen Rechtsentwicklungen auseinander.
So deutete Ingar Solty den Aufstieg des »Bonapartisten« Donald Trump als Folge einer Hegemoniekrise in den USA, die ihre ökonomische Grundlage in der Verarmung breiter Bevölkerungsteile seit dem Volcker-Schock 1978 habe. Trumps mögliche Wiederwahl würde einen verstärkten autoritären Staatsumbau bedeuten. Sabine Kebir wies auf die politische Flexibilität von Italiens Regierungschefin Giorgia Meloni hin, die innerhalb der EU klug laviere, allerdings auch strikt atlantisch gegen Russland und China ausgerichtet sei. Für ihre außenpolitische Treue ließen ihr EU und USA in Italien freien Spielraum gegen den Sozialstaat, Frauenrechte und Geflüchtete.

Andrés Musacchio erklärte den Aufstieg des argentinischen Präsidenten Javier Milei aus der Schwäche einer krisengeplagten, aber auch inkonsequenten peronistischen Linken und einer an Kapitalflucht und Ausverkauf interessierten wirtschaftlichen Elite. Milei zerstöre im Eiltempo soziale, wissenschaftliche und kulturelle Institutionen, während er das Militär und die Polizei ausbaue. Cornelia Hildebrandt gab einen Überblick zur Rechtsentwicklung in der EU.

Für die BRD erläuterte Gerd Wiegel Ursachen und Dimensionen der Rechtsentwicklung hierzulande.
Andreas Fisahn erörterte die Rolle des bürgerlichen Rechts im Kampf gegen Faschismus, konkret anhand der Debatte über ein AfD-Verbot und Rechtsmittel gegen deren Thüringer Landes- und Fraktionschef Björn Höcke. Arbeitsgruppen setzten sich unter anderem mit der politischen Bildung im Kampf gegen rechts, dem Kampf um eine humane Asylpolitik und der Frage nach einer neuen Volksfrontstrategie auseinander.

Ein Abschlussplenum mit Violetta Bock, Andrea Hornung und Wiegel erörterte aktuelle Wege antifaschistischer Politik.

Die marxistische Studienwoche wurde von den TeilnehmerInnen  als erkenntnisreich gelobt. Die Analyse antifeministischer Kräfte wäre eine gute Ergänzung gewesen, wie von den TeilnehmerInnen  angemerkt wurde. Zudem  seien die ökonomischen Ursachen genauer zu untersuchen. Die Vorstellung der nächsten Ausgabe der Zeitschrift Marxistischen Erneuerung am 29. September zum Thema »Zeitenwende: Autoritärer Kapitalismus – BRD-Wirtschaft unter dem Druck geopolitischer Umtriebe« wird daran anknüpfen.

Der Sozialistisch-demokratische Studierendenverband erinnerte  in seinem Vortrag an ein Zitat aus Bert Brechts »Leben des Galilei«:


»Wenn die Wahrheit zu schwach ist, um sich zu verteidigen, muss sie zum Angriff übergehen.«

 

Leonardo Boff: Was ist planetarisches Wohlbefinden: Ist es in der gegenwärtigen Ordnung möglich?

Lebenshaus-Newsletter - Mi, 21/08/2024 - 21:02
Es ist unbestreitbar, dass die Menschheit zurzeit ein düsteres Bild abgibt: die militärische Eskalation, die in einen Atomkrieg gipfeln könnte,... Michael Schmid http://www.lebenshaus-alb.de

Israelisches Folternetzwerk – Interview mit einem israelischen Holocaust-Forscher

acTVism - Mi, 21/08/2024 - 08:38

Israelisches Folternetzwerk - Interview mit einem israelischen Holocaust-Forscher.

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Der Friedensmahner Johann von Bloch (1836-1902)

Lebenshaus-Newsletter - Di, 20/08/2024 - 16:46
Unter Mitträgerschaft des Lebenshaus Schwäbische Alb e.V. entsteht ab diesem Sommer das fortlaufende Editionsprojekt "Pazifisten & Antimilitaristen aus jüdischen Familien"... Michael Schmid http://www.lebenshaus-alb.de

Die Rückkehr der (Atom-) Raketen

ISW München - Di, 20/08/2024 - 10:33

Die Angst vor einem Atomkrieg in Europa wird wieder zunehmen. Millionen Menschen sind in den achtziger Jahren gegen die Stationierung atomarer Mittelstrecken-Raketen in Europa auf die Straße gegangen.
Ihr Protest hatte dazu beigetragen, dass am 8. Dezember 1987 die Sowjetunion und die USA den sog. INF-Vertrag unterzeichneten.


Im INF-Abkommen (Intermediate-Range Nuclear Forces) verpflichteten sich die beiden atomaren Supermächte auf Entwicklung, Besitz und die Stationierung landgestützter Atomraketen (damals Pershing II und cruise missiles „Tomahawk“) mit einer Reichweite von 500 bis 5.500 Kilometern zu verzichten. Der INF-Vertrag war bislang das einzige Abkommen, das zu einer realen Atom-Abrüstung geführt hat; insgesamt 2692 Raketen wurden verschrottet.
Die Atomkriegs-Gefahr in Europa schien weitgehend gebannt.

Der fast vierzigjährige „Atom-Friede“ ist nun gefährdet.
Der damalige US-Präsident Donald Trump kündigte am 20. Oktober 2018 einseitig den INF-Vertrag; zum 1. Februar 2019 stiegen die USA aus dem Vertragswerk aus. Russland zog nach. Damit konnten wieder Mittelstrecken in Europa stationiert werden.

Dies soll nun 2026 geschehen. Eher beiläufig gaben Kanzler Scholz und Präsident Biden am Rande der NATO-Jubiläumskonferenz im Juli 2024 in Washington bekannt, dass ab 2026 auf deutschem Boden wieder Mittelstrecken-Raketen aufgestellt werden, und zwar Cruise missiles vom Typ „Tomahawk“ mit einer Reichweite von etwa 2.500 – also bis tief nach Russland hinein. Dazu ist die Installation von SM 6-Flugabwehr-Raketen mit einer Reichweite von 370 KM und 3,5-facher Schallgeschwindigkeit plus neue Hyperschall-Raketen verabschiedet.
 Die Marschflugkörper können konventionelle wie atomare Sprengköpfe tragen. Angeblich werden sie nur konventionell bestückt, was ein Beschwichtigungsmanöver sein dürfte. Denn kein Militär schießt eine konventionelle Rakete 2500 KM weit, nur um ein Loch in einen Bunker zu sprengen. Zudem kann keine deutsche Behörde die Bestückung überprüfen, da die Raketen auf US-Militäreinrichtungs-Geländen in Deutschland stationiert werden, auf denen deutsches Hoheitsrecht endet.

Auf Deutschland fällt die erste Bombe

Wenn es noch eines Beweises für die enge Verzahnung des deutschen MIK mit dem Militär- und Kriegsgeflecht der USA bedurfte, hier ist er: Die neuen Mittelstrecken-Raketen werden in Europa diesmal allein in Deutschland stationiert.  Mit den neuen Raketen wird das Pulverfass Deutschland weiter hochexplosiv aufgeladen. Sie kommen zu den deutschen Atombombern mit US-Atombomben auf den Fliegerhorst Büchel dazu, zur Ramstein Air Base, der größten US-Luftwaffenbasis im Ausland, zur Kommandozentrale für US-Drohnen-Killer- und Kampfeinsätze insbesondere im Nahen Osten und in Afrika, zu diversen US-Hauptquartieren, Truppenübungsplätzen, usw.  usf.
Kein Land der Welt ist so intensiv und massiv mit US-Soldateska und -Militäreinrichtungen bestückt, wie Deutschland.
Wann immer es in Europa zu kriegerischen Auseinandersetzungen kommen sollte, wäre Deutschland im Fokus.
Kein Zweifel: Auf Deutschland fällt die erste Bombe!
Unser Land würde zum atomaren Schlachtfeld. Die USA aber würden dagegen von Mittelstrecken-Raketen nicht erreicht.

Die ganz große Raketenkoalition aus Ampel-Regierung und CDU/CSU-Opposition sieht darin kein Problem. Sie giert geradezu nach den neuen Waffen. Das SPD-Präsidium preist sie gar als Friedenstauben speziell für Kinder (s.u.). Der SPD-Vorsitzende Klingbeil ließ noch in der Sommerpause im Eilverfahren eine Zustimmungserklärung durch das SPD-Präsidium peitschen, um die Diskussion in der Partei im Keim zu ersticken. Ihm selbst wird Affinität zum MIK nachgesagt. Jahrelang war er in den Präsidien der Rüstungs-Lobbyorganisationen Deutsche Gesellschaft für Wehrtechnik und Förderkreis Deutsches Heer aktiv.

In dem SPD-Präsidiumsbeschluss heißt es u.a.

„Als SPD übernehmen wir Verantwortung dafür, dass kein Kind, das heute in Deutschland geboren wird, wieder Krieg erleben muss. Die Vereinbarung der SPD-geführten Bundesregierung mit der
 US-Administration, ab 2026 US-amerikanische Raketen mit größerer Reichweite in Deutschland zu stationieren, ist dafür ein wichtiger Baustein“.

 Erstschlag-Option

Weshalb sind die geplanten Mittelstrecken so gefährlich? Sie würden für Russland eine tödliche Bedrohung darstellen: aufgrund der geringen Vorwarnzeit und der Zielgenauigkeit dieser Systeme. Aufgrund der längeren Flugzeit gilt bei Interkontinentalraketen eine Vorwarnzeit von etwa 30 Minuten. Der Angegriffene ist in der Lage, seine Raketen aus den Silos abzuschießen und so den Gegenschlag zu führen. Dieses „Gleichgewicht des Schreckens“ wurde auf die Formel gebracht: „Wer als erster schießt, stirbt als zweiter“.
Kurze Vorwarnzeiten würden einen Atomkrieg aus Versehen wahrscheinlicher machen, könnten aber auch zum atomaren Überraschungsangriff verleiten.

Bei Mittelstrecken-Raketen verkürzt sich diese Vorwarnzeit auf wenige Minuten. Marschflugkörper haben zwar eine längere Flugzeit, da sie aber in geringer Höhe operieren, unterfliegen sie das gegnerische Abwehr-Radar. Dazu kommt die hohe Präzision bei modernen Raketen; sie können ihre Ziele fast punktgenau treffen.
Das kann zu neuen Szenarien des „fürbaren Atomkrieges“ verleiten, wie sie die USA nach dem Abwurf der Atombomben immer wieder anstrebten. Durch präventive „chirurgische Erstschläge“, so genannte Enthauptungsschläge, sollen militärische Kommandozentralen vernichtet und die gegnerischen Atomraketen noch am Boden bzw. noch in den Silos zerstört werden. Die wenigen übrigen Raketen, die vom Angegriffenen noch auf die Flugbahn gebracht werden können, sollen dann durch die Raketen-Abwehrsysteme abgefangen und unschädlich gemacht werden.
Die Raketenabwehr ist kein defensives System, sondern Teil einer atomaren Offensivstrategie.

„Fähigkeitslücke“ oder Gedächtnis-Lücke

Der Vorwand für den damaligen einseitigen Ausstieg der USA aus dem Vertrag (Russland hat lediglich nachgezogen): Russland habe gegen den Vertrag verstoßen, indem es neue Raketenstellungen installiert habe. Beweise? Keine!
An der Beweislage hat sich bis heute nichts geändert. Häufig werden die in Kaliningrad installierten Iskander-Raketen als „Beweise“ angeführt, auch von den „Militärexperten“ der Stiftung Wissenschaft und Politik (Claudia Major) und den Bundeswehr-Professoren (z.B. Carlo Masala) wird das immer wieder erzählt. Es ist schon peinlich, wenn so genannte und selbst ernannte „Militärexperten“ offensichtlich nicht zwischen Kurzstrecken-Raketen bis 500 KM – z.B. die in Kaliningrad installierte Iskander - und Mittelstrecken-Raketen unterscheiden können.

Zudem: Zu etwaigen Verstößen gab es im INF-Vertrag klare Verifizierungsmechanismen, die von den USA nicht genutzt wurden. So schreibt die NaturwissenschaftlerInnen-Initiative: „Wenn es Verletzungen des INF-Abkommens gegeben haben sollte, hatte das INF-Vertragswerk dazu klare Regelungen. Die entsprechende Kommission der beiden Unterzeichnerstaaten muss einberufen werden. Dieses ist seit 2017 nicht mehr geschehen. Propagandistische Anklagen helfen nicht weiter und lenken von den wahren Motiven ungehemmter Aufrüstung ab“. (natwiss.de, 22.10.18).

Und die regierungsnahe Stiftung Wissenschaft und Politik wies bereits im März 2018 darauf hin: „Um die gegenseitigen Vorwürfe auszuräumen, wären wechselseitige Informationen und Inspektionen notwendig. Dazu müsste das 2001 beendete INF-Inspektionsregime reaktiviert und modifiziert werden“ (SWP-aktuell, 15. März 2018).

2001 ist auch das Jahr, in dem die USA einseitig den ABM-Vertrag (Anti-Ballistic-Missile: Vertrag über die Begrenzung von Raketenabwehrsystemen) kündigten und in der Folgezeit mit der Errichtung von ABM-Stellungen in Europa begannen.
Die USA verweigerten jede Inspektion vor Ort.

Eine russische Vertragsverletzung wird einfach behauptet und daraus eine „Fähigkeitslücke“ (Scholz) der westlichen Raketenrüstung abgeleitet, die wieder einmal zur „Nachrüstung“ herhalten soll. Als Juso-Fuktionär und Nachrüstungsgegner in den 80er Jahren, wusste Scholz es besser, was von solchen behaupteten Waffen-„Lücken“ zu halten ist.
Schade, dass sich bei ihm da eine Gedächtnislücke auftut.

 

Drei 18-jährige Wehrdienstverweigerer aus Gewissensgründen zu 30 Tagen Gefängnis verurteilt

Lebenshaus-Newsletter - Mo, 19/08/2024 - 20:38
Yuval Moav aus Kfar Neter wurde letzte Woche am Montag verurteilt, Oryan Mueller aus Tel Aviv wurde am Tag darauf... Michael Schmid http://www.lebenshaus-alb.de

Ein „Mittleres Einkommen“ oder ist es die Rentabilitätsfalle?[1]

ISW München - So, 18/08/2024 - 08:01

In einer jüngsten Veröffentlichung schlagen die brasilianischen marxistischen Ökonomen Adalmir Antonio Marquetti, Alessandro Miebach und Henrique Morrone ein Modell der wirtschaftlichen Entwicklung vor, das einerseits auf technischem Wandel, Profitrate und Kapitalakkumulation und andererseits auf institutionellem Wandel (d. h. Politik und Regierungen) beruht.

Die Realität ist, dass im 21. Jahrhundert fast alle Länder und Bevölkerungen des so genannten „Globalen Südens“, d. h. der armen Peripherie außerhalb der fortgeschrittenen kapitalistischen Volkswirtschaften des Globalen Nordens, nicht aufholen.
Diese Realität wird von Mainstream-Ökonomen und insbesondere von den Ökonomen der internationalen Organisationen wie dem IWF und der Weltbank oft geleugnet.

Daher war es überraschend, dass die Weltbank  in ihrem jüngsten Weltentwicklungsbericht,2024 einräumte,  dass die meisten Volkswirtschaften des Globalen Südens die Lücke beim Pro-Kopf-Einkommen oder der Arbeitsproduktivität gegenüber den fortgeschrittenen kapitalistischen Volkswirtschaften nicht schließen. In der Vergangenheit erkannte die Bank an, dass es viele sehr arme Länder wie die afrikanischen Länder südlich der Sahara gibt, die in verzweifelter Armut verharren. Die Ökonomen der Bank waren jedoch im Allgemeinen optimistischer für die so genannten „Volkswirtschaften mit mittlerem Einkommen“, d. h. die Länder mit einem jährlichen Pro-Kopf-Einkommen zwischen 1.136 und 13.845 Dollar (und das soll „mittel“, sein, wohl eher nicht).

In ihrem jüngsten Bericht schätzt die Weltbank die Zukunft der 108 Länder, die sie als Länder mit mittlerem Einkommen“ einstuft, pessimistischer ein. Auf sie entfallen fast 40 Prozent der weltweiten Wirtschaftstätigkeit, mehr als 60 Prozent der Menschen, die in extremer Armut leben, und mehr als 60 Prozent der weltweiten Kohlendioxidemissionen (CO2).

Die Weltbank drückt es so aus: "Die Länder mit mittlerem Einkommen befinden sich in einem Wettlauf mit der Zeit. Seit den 1990er Jahren haben viele von ihnen genug getan, um das Niveau der Niedrigeinkommen zu verlassen und die extreme Armut zu beseitigen, was zu der allgemeinen Auffassung geführt hat, dass die letzten drei Jahrzehnte für die Entwicklung großartig waren. Dies ist jedoch auf die abgrundtief niedrigen Erwartungen zurückzuführen - Überbleibsel aus einer Zeit, als mehr als zwei Drittel der Weltbevölkerung von weniger als einem Dollar pro Tag lebten. Die 108 Länder mit mittlerem Einkommen haben sich zum Ziel gesetzt, innerhalb der nächsten zwei oder drei Jahrzehnte den Status eines Landes mit hohem Einkommen zu erreichen. Gemessen an diesem Ziel ist die Bilanz düster: Die Gesamtbevölkerung der 34 Länder mit mittlerem Einkommen, die seit 1990 den Status eines Landes mit hohem Einkommen erreicht haben, beträgt weniger als 250 Millionen Menschen, was der Bevölkerung Pakistans entspricht. 

Das durchschnittliche jährliche Einkommenswachstum in diesen Ländern mit mittlerem Einkommen ist in den ersten beiden Jahrzehnten dieses Jahrhunderts um fast ein Drittel gesunken - von 5 Prozent in den 2000er Jahren auf 3,5 Prozent in den 2010er Jahren.

Und die Weltbank kommt zu dem Schluss, dass "eine baldige Trendwende nicht wahrscheinlich ist, weil die Länder mit mittlerem Einkommen mit immer stärkerem Gegenwind konfrontiert sind. Sie haben mit zunehmenden geopolitischen Spannungen und Protektionismus zu kämpfen, die die Verbreitung von Wissen in Ländern mit mittlerem Einkommen verlangsamen können, mit Schwierigkeiten bei der Bedienung von Schulden und mit den zusätzlichen wirtschaftlichen und finanziellen Kosten des Klimawandels und der Klimaschutzmaßnahmen“.

 In der Tat, so ist es. Aber wer ist daran schuld? Ganz klar sind es die  imperialistischen Länder des Nordens, die im letzten Jahrhundert Milliarden an Profiten, Zinsen, Mieten und Ressourcen aus dem Süden gezogen haben, die am meisten zur globalen Erwärmung beigetragen haben (siehe Tabelle oben) und die Kriege um die Kontrolle des Südens oder gegen jedes Land geführt haben, das sich ihren Interessen widersetzt.
Jüngste Arbeiten von marxistischen und sozialistischen Ökonomen haben das Ausmaß dieser imperialistischen Ausbeutung offengelegt.[2]

Dies wird von der Weltbank ignoriert. Die Erklärung für das Versäumnis, aufzuholen, liegt darin, dass die Länder mit mittlerem Einkommen nicht die richtige „Entwicklungsstrategie“ anwenden. Diese Länder haben sich nämlich zu lange darauf verlassen, nur den Kapitalstock aufzubauen, was allmählich „abnehmende Erträge“ erbringt. In der Sprache der neoklassischen Ökonomie meinen die Ökonomen der Weltbank, dass „Faktorakkumulation allein die Ergebnisse stetig verschlechtern wird - ein natürlicher Vorgang, da die Grenzproduktivität des Kapitals sinkt.“

Mit marxistischen Begriffen läßt sich dies deutlicher darstellen.  Adalmir Marquetti drückt es folgendermaßen aus:

 „Ja, die Ökonomen der Weltbank erkennen an, dass die Grenzproduktivität des Kapitals, die Profitrate in der neoklassischen Tradition, aufgrund der Kapitalakkumulation während des „Aufholprozesses“ sinkt. Aber es ist die sinkende Profitrate, die die Hauptursache für den Rückgang der Kapitalakkumulation und der Investitionen ist. Das Problem ist, dass sich die Profitrate viel schneller dem Niveau der Vereinigten Staaten annähert als die Arbeitsproduktivität. Im Wesentlichen ist die Falle der mittleren Einkommen eine „Profitratenfalle“.

Gulglielmo Carchedi und ich kommen zur gleichen Einschätzung:
In einer kapitalistischen Wirtschaft gerät eine geringere Rentabilität in Konflikt mit dem Produktivitätswachstum“. [3]


Marxistisch ausgedrückt: Wenn diese Länder versuchen, sich zu industrialisieren, wird das Verhältnis zwischen Kapital und Arbeit steigen[4] und damit auch die Produktivität der Arbeit. Wenn die Arbeitsproduktivität schneller wächst als in den „führenden Ländern“, dann wird ein Aufholprozess stattfinden. Allerdings wird die Rentabilität des Kapitals tendenziell schneller sinken, was schließlich den Anstieg der Arbeitsproduktivität verlangsamt.
Guglielmo Carchedimir und ich haben in einer gemeinsamen Arbeit unter Verwendung marxistischer Kategorien festgestellt, dass die Rentabilität der „beherrschten Länder“ aufgrund ihrer geringeren organischen Zusammensetzung des Kapitals zunächst höher ist als die der imperialistischen Länder, ABER „die Rentabilität der beherrschten Länder ist zwar dauerhaft höher als die der imperialistischen Länder, fällt aber stärker als die des imperialistischen Blocks.“[5]

Die Weltbank hat also die „Rentabilitätsfalle“ erkannt, aber im Format der neoklassischen Ökonomie schlägt sie eine Entwicklungslösung vor, bei der die Volkswirtschaften mit „mittlerem Einkommen“ bessere Technologie aus dem Globalen Norden „einfließen“ lassen und dann die „Innovation“ durch private Unternehmen erfolgt.
 "In der ersten Variante werden die Investitionen durch Infusionen ergänzt, so dass sich die Länder (vor allem die Länder mit niedrigem mittlerem Einkommen) auf die Nachahmung und Verbreitung moderner Technologien konzentrieren. Im zweiten Fall wird die Mischung aus Investitionen und Infusion durch Innovation ergänzt, so dass sich die Länder (vor allem die Länder mit mittlerem Einkommen) auf den Aufbau inländischer Fähigkeiten konzentrieren, um den globalen Technologien einen Mehrwert zu verleihen und letztlich selbst zu Innovatoren zu werden. Im Allgemeinen müssen Länder mit mittlerem Einkommen die Mischung der drei Triebkräfte des Wirtschaftswachstums - Investitionen, Infusionen und Innovationen - neu kalibrieren, wenn sie den Status eines Landes mit mittlerem Einkommen erreichen.

Aha, Marx hat sich geirrt: Diese Länder mit mittlerem Einkommen sind nicht zu ständiger Armut und Kontrolle durch imperialistische Volkswirtschaften verurteilt, oder „dass marktwirtschaftliche Volkswirtschaften von einer wachsenden Konzentration des Reichtums und von Krisen heimgesucht werden, bis der Kapitalismus durch den Kommunismus ersetzt wird.“
1942 zeigte der österreichische Wirtschaftswissenschaftler Joseph Schumpeter in seiner Abhandlung „Kapitalismus, Sozialismus und Demokratie“ den kapitalistischen Ausweg auf: durch „schöpferische Zerstörung“. Aus Krisen können Wiederherstellung und Wachstum entstehen.
Ja, die Krisen des Kapitalismus sind schmerzhaft, aber sie schaffen auch die Voraussetzungen für Wohlstand.
Die Ökonomen der Weltbank kommen in ihrer Weisheit zu dem Schluss, dass „fast ein Jahrhundert später viele von Schumpeters Erkenntnissen bestätigt zu sein scheinen“. Und worauf stützen sie diese Schlussfolgerung, nachdem sie gerade erklärt haben, dass die große Mehrheit der armen Länder (Entschuldigung: Länder mit mittlerem Einkommen) in relativer Armut gefangen ist?
Nun, sie wenden sich einigen Länderfallstudien zu, die offenbar den Weg weisen.

In Lateinamerika ist das Chile. Die Weltbank berichtet, dass Chile im Jahr 2012 als erstes lateinamerikanisches Land den Status eines Landes mit hohem Einkommen erreicht hat. "Chile hat seine Exporte seit den 1960er Jahren, als der Bergbau etwa vier Fünftel seiner Ausfuhren ausmachte, gesteigert und diversifiziert. Heute beträgt dieser Anteil etwa die Hälfte. Der Wissenstransfer aus den fortgeschrittenen Volkswirtschaften wurde sowohl von öffentlichen als auch von privaten Einrichtungen unterstützt." Tatsächlich wird dann auf öffentliche Investitionen als Hauptantrieb für bessere Technologie und diversifizierte Exporte verwiesen; durch die öffentliche chilenische Agentur für Exportförderung (ProChile) und die gemeinnützige Fundación Chile, die den Technologietransfer für inländische Unternehmen fördert.

Die Weltbank erwähnt nicht den schrecklichen Militärputsch in Chile durch Pinochet im Jahr 1973, der die sozialistische Allende-Regierung gewaltsam absetzte und Zehntausende von Menschen tötete und damit die Grundlage für eine verstärkte Ausbeutung der Arbeitskräfte legte. Ironischerweise lag die durchschnittliche reale BIP-Wachstumsrate in Chile von 1951 bis 1973 bei 4,3 % pro Jahr; nach Pinochet und den nachfolgenden pro-kapitalistischen Regierungen lag sie jedoch bei 4,1 % pro Jahr. Trotz der Unterdrückung der Arbeitseinkommen sank die Kapitalgewinnrate in Chile Anfang der 1980er Jahre auf einen Tiefstand, stieg dann (wie in vielen anderen Ländern) während der neoliberalen Erholungsphase an, ist aber seit dem globalen Finanzcrash und der Großen Rezession (wie auch anderswo) rückläufig.
Also eigentlich keine kapitalistische Erfolgsgeschichte.

In Asien verweist die Weltbank auf Korea als erfolgreiches Entwicklungsmodell. Die Ökonomen der Bank formulieren es folgendermaßen: "Während Brasilien im eigenen Land strauchelte, raste Korea um die Welt und machte die Infusion ausländischer Technologie zum Eckpfeiler der heimischen Innovation. Im Jahr 1980 lag die durchschnittliche Produktivität eines koreanischen Arbeiters bei nur 20 Prozent der Produktivität eines durchschnittlichen US-Arbeiters. Bis 2019 hatte sie sich auf mehr als 60 Prozent verdreifacht. Im Gegensatz dazu waren brasilianische Arbeiter, die 1980 40 Prozent so produktiv waren wie ihre US-Kollegen, 2018 nur noch 25 Prozent so produktiv." Der Erfolg Koreas ist offenbar auf eine „Infusion ausländischer Technologie“ zurückzuführen. Die Bank verweist nicht auf die massiven staatlichen Anstrengungen zur Industrialisierung in den 1980er Jahren oder die ausländischen Investitionen der USA zur Unterstützung einer kapitalistischen Wirtschaft als Bollwerk gegen die Sowjets und China nach dem Koreakrieg. Und dann war da noch die massive Ausbeutung der koreanischen Arbeiter durch ein Militärregime über Jahrzehnte hinweg. Dies erklärt in hohem Maße den Unterschied zwischen der Entwicklung Koreas und Brasiliens, dessen industrielle Strategie vom amerikanischen Kapital abgewürgt wurde.

Dann ist da noch Polen, die europäische Erfolgsgeschichte der Weltbank. Der Beitritt zur Europäischen Union mit massiven Subventionen für den Agrarsektor, riesige Kapitalinvestitionen der deutschen Industrie und eine umfangreiche Auswanderung von Arbeitslosen waren der Schlüssel zu Polens relativem Aufstieg. Die Weltbank drückt es bescheiden aus:
„Gebildete Polen setzten ihre Fähigkeiten (Fähigkeiten aus der Sowjet-Ära - MR) in der gesamten Europäischen Union ein und eröffneten damit einen weiteren Kanal, um globales Wissen in die polnische Wirtschaft einzubringen.“

Das ist die Gesamtheit der Erfolgsgeschichten der Weltbank, die auf dem „Schumpeter-Modell“ der Entwicklung basieren. Und die Ökonomen der Bank sind gezwungen zuzugeben, dass der Aufstieg dieser Länder in den Status eines Landes mit hohem Einkommen von Wirtschaftskrisen durchsetzt war... die Verschiebungen in definierten Phasen, von 1.  Investment zu  2.Investment plus Infusion und dann  zu 3.,  Strategien mit Investment plus Infusion plus Innovation keinesfalls glatt noch linear verlaufen."

 

Der „Elefant im Raum“ des Entwicklungsmodells der Weltbank wird nicht erwähnt: China.
Warum hat China, das in den 1950er Jahren zu den ärmsten Ländern der Welt gehörte, in den 1990er Jahren schnell den Status eines Landes mit mittlerem Einkommen erlangt und schließt im 21. Jahrhundert?. Warum sind Länder wie Vietnam und sogar Laos ebenfalls erfolgreich dem chinesischen Entwicklungsmodell gefolgt? Die Ökonomen der Weltbank sagen dazu nichts. Wie Marquetti hervorhebt: "Unser Buch enthält eine Zahl, die zeigt, dass China, Vietnam und Laos trotz sinkender Rentabilität ein hohes Investitionsniveau beibehalten haben. Dies ist eine Grundvoraussetzung für den Aufholprozess."

Die Weltbank ignoriert das chinesische Entwicklungsmodell der staatlich gelenkten Investitionen, der staatlichen Finanzierung von Infrastruktur und Technologie auf der Grundlage von nationalen Plänen mit Zielvorgaben, wo die „Rentabilitätsfalle“ der Volkswirtschaften mit mittlerem Einkommen nicht gilt.

In unserem Buch zeigen wir, dass es in China im Vergleich zu anderen Volkswirtschaften, insbesondere zu denen mit mittlerem Einkommen, nur eine minimale Korrelation zwischen Veränderungen der Rentabilität und dem realen BIP-Wachstum gab.
China hat keine Produktions- und Investitionskrisen aufgrund sinkender Rentabilität erlitten, wie dies bei den Favoriten der Weltbank der Fall war.

Die Ökonomen der Weltbank ignorieren die Rolle der staatlichen Investitionen und Planung. Stattdessen will die Bank „global anfechtbare Märkte schaffen, Faktor- und Produktmarktregulierungen abbauen, unproduktive Firmen entlassen, den Wettbewerb stärken, die Kapitalmärkte vertiefen“.

Doch welches Entwicklungsmodell hat Aussicht auf Erfolg?
Das von Schumpeter, das auf Krisen und Rentabilität basiert, oder das marxistische, das auf öffentlichem Eigentum und Planung beruht?


Wir können die Abbildung der Weltbank vom Anfang dieses Beitrags wiederholen, um China einzubeziehen und so die Fortschritte der beiden Modelle zu vergleichen, d. h. China und die Erfolgsgeschichten der Weltbank (deren drei, wie zuvor ausgeführt).

Wir stellen fest, dass Chiles Aufholprozess zum Stillstand gekommen ist: Das Verhältnis des Pro-Kopf-Einkommens zu den USA ist von 29,9 % im Jahr 2000 auf jetzt 28,6 % gefallen. In Korea hat sich das Verhältnis im letzten Jahrzehnt (auf hohem Niveau) eingependelt. Polen hatte am Ende der Sowjetära das höchste ratio im Vergleich zu den USA, fiel dann drastisch ab, stieg aber nach dem EU-Beitritt wieder an.

Polens Pro-Kopf-Verhältnis zu den USA ist seit 2000 um über 74 % gestiegen.
Im Vergleich dazu ist das Pro-Kopf-Einkommen Chinas im Verhältnis zu den USA um unglaubliche 314 % gestiegen.

Betrachtet man den globalen Süden als Ganzes, so holt er den globalen Norden nicht ein. Mit Ausnahme von China ist eher eine zunehmende Divergenz als eine Konvergenz zu beobachten.

Darüber hinaus wird die Ungleichheit von Vermögen und Einkommen innerhalb der Länder mit mittlerem Einkommen nicht erwähnt, die insbesondere seit den 1980er Jahren zugenommen hat (siehe dazu die World Inequality Database).[6]

Der Weltbankbericht endete mit der Bemerkung des neoklassischen Ökonomen Robert Lucas, der die Entwicklungsstrategie, die zu dem spektakulären Wirtschaftswachstum in Korea führte, mit einem „Wunder“ verglich.
Der Bericht schloss: "In Anbetracht der Veränderungen in der Weltwirtschaft seit der Zeit, in der Korea eine Volkswirtschaft mit mittlerem Einkommen war, wäre es ein Wunder, wenn die heutigen Volkswirtschaften mit mittlerem Einkommen in 50 Jahren das schaffen würden, was Korea in nur 25 Jahren geschafft hat. Es wäre sogar ein Wunder, wenn sie die beeindruckenden Erfolge anderer erfolgreicher Länder wie Chile und Polen wiederholen könnten."


Es wäre wohl ein Wunder.

 

 

 

[1] Eine "Profitability Trap" oder Rentabilitätsfalle beschreibt eine Situation, in der Unternehmen oder Investoren aufgrund einer zu starken Fokussierung auf kurzfristige Rentabilitätskennzahlen in die Irre geführt werden können. Dies kann zu Fehleinschätzungen und suboptimalen Entscheidungen führen.

[2] https://www.academia.edu/66353020/The_Economics_of_Modern_ImperialismRicci:  
     https://thenextrecession.wordpress.com/wp-content/uploads/2021/09/wp_ricci_unequal_exchange_and_global_inequality-1-1.pdf;
     Jason Hickel: https://www.nature.com/articles/s41467-024-49687-y?sfnsn=scwspmo

[3] https://www.plutobooks.com/9780745340883/capitalism-in-the-21st-century

[4] Das Verhältnis zwischen Kapital und Arbeit ist definiert als der gesamte Kapitalstock geteilt durch den gesamten Arbeitseinsatz, der in der Regel in Form von Arbeitsstunden oder der Zahl der Beschäftigten gemessen wird.

[5]https://www.academia.edu/66353020/The_Economics_of_Modern_Imperialism

[6] https://inequalitylab.world/en/

Wie real ist die Gefahr eines Atomkrieges? Gespräch mit Konfliktforscher Leo Ensel

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Leo Ensel, Konfliktforscher und langjähriger interkultureller Trainer im Ost-West-Kontakt, wird einer der Referenten der bei der 12. Tagung "We shall... Michael Schmid http://www.lebenshaus-alb.de

Tolstoi: Iwan, der Dummkopf

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Das "Märchen von Iwan dem Dummkopf", welches besonders eindrucksvoll die Anliegen von Leo N. Tolstoi (1828-1910) vermittelt, schrieb der russische... Michael Schmid http://www.lebenshaus-alb.de

ANTIMILITARISM – ILLUSTRATIONS from a DIALOGUE

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Petition für einen gerechten Frieden in Gaza

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Andreas Zumach: "Neue Raketen destabilisieren die sicherheitspolitische Situation in Europa!"

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Ökonomie der Zeit – Eine linke Kontroverse um Arbeitszeitverkürzung

ISW München - Di, 13/08/2024 - 17:26

Arbeitszeitverkürzung ist im Kommen – immer mehr Unternehmen bieten die Vier-Tage-Woche an.
John Maynard Keynes prognostizierte für das Jahr 2030 die 15-Stunden-Woche, sie ist eine langjährige Forderung der Frauenbewegung.
Die 25-Stunden-Woche steht als Forderung im SPD-Programm und in vielen Ländern wird erfolgreich der 6-Stunden-Tag erprobt.
Es ist höchste Zeit für den nächsten Schritt, für die 28-Stunden-Woche bei vollem Lohnausgleich, für kurze Vollzeit für alle, für Arbeitszeiten, die zum sich verändernden Leben passen!



Ökonomie der Zeit, darin löst sich schließlich alle Ökonomie auf.

Die IG Metall setzt schon länger die Vier-Tage-Woche wieder auf die Tagesordnung1 und Wissenschaftler wie Heinz-J. Bontrup von der Arbeitsgruppe Alternative Wirtschaftspolitik (Memo-Gruppe) begründen die Überfälligkeit kollektiver Arbeitszeitverkürzung2.
Im VSA-Verlag ist im Frühjahr 2024 ein Buch zur neuen Aktualität von Arbeitszeitverkürzung3 mit Beiträgen von Margareta Steinrücke, Beate Zimpelmann, Philipp Frey, Sophie C. Jänicke, Steffen Liebig, Lia Becker, Andreas Ypsilanti, Nina Treu und anderen erschienen.
 In den Texten wird herausgearbeitet, warum Arbeitszeitverkürzung aktueller ist denn je.


Ohne Arbeitszeitverkürzung werden sich die drängenden Probleme der Menschen heute nicht lösen lassen, sei es die sozial gerechte Bewältigung der Klimakrise, die geschlechtergerechte Vereinbarkeit von Beruf und Privatleben oder die Angst vor Arbeitsplatzverlust und Abstieg, der die Menschen in die Arme der Rechten oder einfach in die Politikverdrossenheit führt.



Sophie Jänicke, Ressortleiterin im Funktionsbereich Traifpolitik beim Vorstand der IG Metall schreibt darin u.a.: „Dass die IG Metall eine Verkürzung der Wochenarbeitszeit fordert, ist Ausdruck einer arbeitszeitpolitischen Entwicklung, die die Organisation, ebenso wie andere Gewerkschaften, in den letzten Jahren vorangetrieben hat. … Die IG Metall hat in der Tarifbewegung 2023 für die deutsche Stahlindustrie den Vorstoß gemacht, die Vier-Tage-Woche auch in der Industrie umzusetzen. Denn die Vier-Tage-Woche als Chiffre für eine verkürzte Arbeitszeit, die mehr Work-Life-Balance verspricht, ist ein gutes Modell für die Arbeit der Zukunft in einer digitalisierten, klimaneutralen Industrie. … Die gesellschaftliche Resonanz, die die Vier-Tage-Woche und damit einhergehend die aktuelle Forderung nach Arbeitszeitverkürzung in der Stahl-Industrie findet, zeigt, dass Beschäftigungssicherung nicht das einzig gute Argument für kürzere Arbeitszeiten ist.“

In vielen Branchen haben Arbeiterinnen und Arbeiter in diversen Befragungen den Wunsch nach kürzerer Arbeitszeit zum Ausdruck gebracht. Mehr als 80 Prozent der Vollzeitbeschäftigten befürworten die Vier-Tage-Woche. Allerdings haben viele Angst vor Lohneinbußen. Darum ist klar: Arbeitszeitverkürzung nur bei vollem Lohnausgleich!

Wir sind viel zu bescheiden!

Im Programm der Partei Die Linke heißt es u.a.: „Die Linke steht für die Umverteilung von Arbeit durch Arbeitszeitverkürzung, für gleichen Lohn bei gleicher Arbeit und einen existenzsichernden, gesetzlichen Mindestlohn. Durch die Reform des Arbeitszeitgesetzes soll die höchstzulässige durchschnittliche Wochenarbeitszeit auf 40 Stunden begrenzt werden. Perspektivisch streben wir eine Obergrenze von 35 Stunden, längerfristig von 30 Stunden an. Wir wollen, dass dabei für die Beschäftigten ein voller Lohnausgleich gesichert wird. Die Mitbestimmungsrechte von Personal- und Betriebsräten sind vor allem im Hinblick auf Personal- und Stellenpläne zu erweitern. So ist zu erreichen, dass die Verkürzung der Wochenarbeitszeit zu mehr Beschäftigung führt und der Leistungsdruck abgebaut wird.“4 „Die Verkürzung der Arbeitszeit“, so Bernd Riexinger vor wenigen Jahren als Parteivorsitzender, „auf vier Tage oder 30 Stunden pro Woche trifft den Nerv der Zeit. Aus gutem Grund: Mit Arbeitszeitverkürzung können wir Arbeitsplätze retten, für mehr Lebensqualität sorgen, aber auch Menschen in unfreiwilliger Teilzeit ermöglichen, endlich wieder mehr zu arbeiten. Im Gegensatz zu den bisherigen Flexibilisierungen der Arbeitszeit, die immer zu Lasten der Beschäftigten gingen, ermöglicht die Verkürzung der Arbeitszeit eine Flexibilisierung, die den Beschäftigten nützt und sie sogar ein Stück weit vor Entlassungen schützt.“5 Bereits 2017 haben Lia Becker und Bernd Riexinger, weil das alte Normal erodiert, Vorschläge für ein neues Normalarbeitsverhältnis vorgelegt.6 Diese Vorschläge beruhen auf den fünf Säulen guter Lohn, Planbarkeit, Humanisierung, kurze Vollzeit und Demokratie, sie werden von den beiden Autor*innen als „Schicksalsfrage der Gewerkschaftsbewegung“ bezeichnet. Das scheint sich jetzt in der De-Industrialisierung und im Mitgliederschwund der Industriegewerkschaften zu bestätigen.

Das Konzeptwerk Neue Ökonomie hat jüngst „Bausteine für Klimagerechtigkeit“ publiziert, darin der Baustein „Für die Vier-Tage-Woche und ein gutes Leben für alle“ mit Theorie, u.a. Frigga Haugs 4-in-1-Modell, und vielen praktischen Beispielen.7
Das Institut Solidarische Moderne (ISM) bereitet ein Papier zur Arbeitszeitverkürzung vor mit dem Ziel, unterschiedliche Akteure im Bereich Arbeitszeitverkürzung zu einem möglichst breit geteilten Verständnis von solidarischer und emanzipativer Arbeitszeitverkürzung zu artikulieren. Zum anderen soll das Papier als Aufhänger dienen, um den öffentlichen Diskurs aus progressiver Perspektive mit zu beeinflussen. Darin auch das Netzwerk Care-Revolution mit einer Perspektive der Geschlechtergerechtigkeit auf die bezahlte und unbezahlte gesellschaftlich notwendige Arbeitszeit. Ich will auf Andrè Gorz hinweisen, der im Zusammenhang mit einer Ökonomie der Gemeinschaftlichkeit auf folgendes hinweist: „Das Maß des Reichtums ist hier ebenso wenig der Tauschwert wie die Arbeitszeit.“8 Schließlich will ich den Vortrag von Ingrid Kurz-Scherf benennen, den sie anlässlich der Veranstaltung der attac AG ArbeitFairTeilen und der RLS zum 100. Jahrestag des 8-Stunden-Tages am 27. Oktober 2018 in Erfurt hielt: „Und es hat wenig Sinn, sich darüber hinwegzutäuschen, dass sich der Glanz des Achtstundentags aktuell nicht übersetzt in eine Euphorie in Bezug auf den Sechsstundentag. Ich bin da gar nicht festgelegt, wir können auch über eine 28-Stunden-Woche reden. Ich habe sogar gelesen, die Zeit sei reif für eine 15-Stunden-Woche. Vielleicht sind wir immer noch viel zu bescheiden.“9


Die Kontroverse

Eigentlich verwundert es, dass ausgerechnet Vertreter der sich selbst als gewerkschaftlich orientierte Strömung bezeichnenden Sozialistischen Linken (SL), die „an linkssozialistische, links-sozialdemokratische und reformkommunistische Traditionen“ behauptet anzuknüpfen, schon länger und jetzt wieder gegen kollektive Arbeitszeitverkürzung argumentiert. Einer ihrer Protagonisten schrieb (im Zusammenhang mit einer Argumentation zur Ablehnung des bedingungslosen Grundeinkommens bzw. eines Antrages zur Ablehnung des Mitgliederentscheides zum Grundeinkommen): „Arbeitszeitverkürzung ist dann sinnvoll, wenn Kapazitäten voll ausgelastet sind und Arbeitslosigkeit vorliegt, die durch andere Auslastung der Kapazitäten abgebaut werden kann. Dem ist aber heute nicht so, wir haben Fachkräftemangel in vielen Bereichen, ergo sind die die Kapazitäten gegenüber dem gesellschaftlichen Bedarf unter-ausgelastet und eine Arbeitszeitverkürzung die falsche Lösung. Deswegen ist auch die in unserer Partei leider ebenfalls ohne all zu viel Nachdenken vertretene Forderung nach einer Vier-Tage-Forderung blanker Unfug.“ Die Sozialistische Linke sagt selbst von sich: „Wichtige Grundlagen unserer Positionen bilden marxistische Gesellschaftsanalyse und Strategiediskussion sowie links-keynesianische Positionen alternativer Wirtschaftspolitik.“


Ganz kurz Marx dazu

„Gemeinschaftliche Produktion vorausgesetzt, bleibt die Zeitbestimmung natürlich wesentlich. Je weniger Zeit die Gesellschaft bedarf, um Weizen, Vieh etc. zu produzieren, desto mehr Zeit gewinnt sie zu andrer Produktion, materieller oder geistiger. Wie bei einem einzelnen Individuum hängt die Allseitigkeit ihrer Entwicklung, ihres Genusses und ihrer Tätigkeit von Zeitersparung ab.
Ökonomie der Zeit, darin löst sich schließlich alle Ökonomie auf.
Ebenso muß die Gesellschaft ihre Zeit zweckmäßig einteilen, um eine ihren Gesamtbedürfnissen gemäße Produktion zu erzielen; wie der einzelne seine Zeit richtig einteilen muß, um sich Kenntnisse in angemeßnen Proportionen zu erwerben oder um den verschiednen Anforderungen an seine Tätigkeit Genüge zu leisten. Ökonomie der Zeit sowohl wie planmäßige Verteilung der Arbeitszeit auf die verschiednen Zweige der Produktion bleibt also erstes ökonomisches Gesetz auf Grundlage der gemeinschaftlichen Produktion.“10

Dem Protagonisten von der SL ist zugestanden, dass es ein kurzer Einwurf in einer Debatte um die Position zum bGE war. Dennoch können bestimmte Aussagen so nicht stehen bleiben und sind schlicht unhaltbar. „Wir haben Fachkräftemangel in vielen Bereichen“ kann mensch nicht behaupten, wenn gleichzeitig zu wenig ausgebildet wird, wenn gleichzeitig gesellschaftlich unnützes oder gar schädliches produziert wird (ich verzichte hier auf Beispiele), wenn gleichzeitig die industrielle Produktivität signifikant steigt. Partieller Fachkräftemangel ist nicht zu belegen, wenn es drei Millionen Erwerbslose gibt, wenn viele Menschen unfreiwillig in Minijobs schuften und drei Millionen junge Menschen keinen Berufsabschluss haben. Der logische Schluss aus einer falschen Annahme muss natürlich falsch sein: Weil wegen des unterstellten Fachkräftemangels die Kapazitäten unausgelastet seien, sei Arbeitszeitverkürzung „die falsche Lösung … und die in der Linken vertretene Forderung nach einer Vier-Tage-Forderung ohne all zu viel Nachdenken blanker Unfug.“

Es ist also der Blickwinkel, der die aufgeworfene Frage unterschiedlich beantworten lässt: Erwerbsarbeit als ökonomische Größe im Kapitalismus ohne alle anderen Implikationen und Dimensionen einerseits – oder Arbeit im umfassenden, die Gesellschaft und den Menschen formenden Sinne11 unter Berücksichtigung von Arbeitsteilung und Geschlechtergerechtigkeit. Wenn menschliche Arbeit und der Zeitaufwand dafür nur ökonomische Kategorien wären, hätte der Genosse der SL auch nur zum Teil Recht wegen der oben genannten Widersprüche bezüglich „Fachkräftemangel“.
Aber Mensch, Arbeit und Zeit sind eben auch gesellschaftliche, politische, gesundheitliche, soziale Kategorien.
Der Kampf um Arbeitszeitverkürzung ist Kampf um Emanzipation, um Gesundheit, Recht auf Leben, Teilhabe und Demokratie.
Nach einem linken, marxistisches Verständnis der politischen Ökonomie ergibt sich das Primat der Gesellschaft und der Politik über die Ökonomie. Um diesen Kampf kann kein Bogen gemacht werden.
Wenn die Arbeiter*innenklasse den Kampf um Verkürzung der Arbeitszeit nicht führt, dann gewinnen die ökonomisch und politisch Herrschenden den Kampf um die Verlängerungen der Arbeitszeit. Deshalb hat der Genosse der SL nicht einmal zum Teil Recht mit der Behauptung, Arbeitszeitverkürzung sei „die falsche Lösung“.


Ein aktuelles Beispiel:
Die Kapazitäten in der Industrie, namentlich in der Autoindustrie, sind katastrophal unterausgelastet. Die Aufträge brechen weg, Autos werden auf Halde produziert, Zehntausende von Jobs werden gestrichen, ganze Fabriken werden geschlossen – bei Continental, Bosch, Opel, Ford und jetzt auch bei Volkswagen und Audi.
Bei den Arbeiterinnen und Arbeitern, aber auch bei den Managern auf Werksebene macht sich Panik breit, ist Verzweiflung angesagt, liegen die Nerven blitzeblank. Da kommen zwei Vorschläge aus Regierung und der Industrie:

  1. Rheinmetall bekommt Rüstungsaufträge in Milliardenhöhe und übernimmt Personal und leerstehende Fabriken.
  2. Das Aus vom Verbrenner-Aus wird propagiert von CDU/CSU, AfD, BSW und jetzt auch von der FDP. Damit wird die reaktionäre Hoffnung geschürt, es könnte alles so bleiben, wie es war. Dadurch werden Milliarden an Investitionen verbrannt und die umgebauten Fabriken sind samt der dort beschäftigten Arbeiterinnen und Arbeiter dem Untergang geweiht.

Zur Sozial-ökologischen Transformation gehören beide Komponenten: einerseits die soziale, materielle Absicherung von Wohnung, Bildung, Gesundheit, Teilhabe (Demokratie), Mobilität und guter Arbeit der Menschen auch durch Arbeitszeitverkürzung und andererseits die Nachhaltigkeit, die Dekarbonisierung von Produktion und Produkten – einschließlich des Verzichts auf unnütze und schädliche Produkte wie überdimensionierte Autos, teure Werbung und Rüstungsproduktion.

Bertolt Brecht
Wer zu Hause bleibt, wenn der Kampf beginnt.
Und lässt andere kämpfen für seine Sache
Der muss sich vorsehen: denn
Wer den Kampf nicht geteilt hat
Der wird teilen die Niederlage.
Nicht einmal den Kampf vermeidet
Wer den Kampf vermeiden will: denn
Es wird kämpfen für die Sache des Feinds
Wer für seine eigene Sache nicht gekämpft hat.

1Richard Detje und Otto König; SOZIALISMUS 9/2020, Seite 47

2Ebd. Seite 51

3https://www.vsa-verlag.de/nc/buecher/detail/artikel/weniger-arbeiten-mehr-leben/

4https://www.die-linke.de/partei/programm/

5https://www.die-linke.de/start/detail/die-4-tage-woche-konkret-machen/

6https://www.sozialismus.de/fileadmin/users/sozialismus/pdf/Supplements/Sozialismus_Supplement_2017_09_Riexinger_Becker_NAV.pdf

7https://www.oekom.de/buch/bausteine-fuer-klimagerechtigkeit-9783987260735

8https://rotpunktverlag.ch/buecher/auswege-aus-dem-kapitalismus

9https://stephankrull.info/2019/01/11/vielleicht-sind-wir-immer-noch-viel-zu-bescheiden/

10Karl Marx; Grundrisse, Das Kapitel vom Geld, MEW Bd. 42, S. 105

11Fridrich Engels; Der Anteil der Arbeit bei der Menschwerdung des Affen; MEW Bd. 20, Seite 444

 

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