ISW München
Die Rettung des europäischen Kapitals: eine existenzielle Herausforderung
Diese Woche wurde der Bericht von Draghi veröffentlicht. Aktuell befinden sich die großen europäischen Volkswirtschaften entweder in der Rezession (Deutschland, Schweden, Österreich) oder stagnieren (Frankreich, Italien).
Kaum eine EU-Wirtschaft wächst um mehr als 1 % pro Jahr, und der Durchschnitt der EU/EZ liegt bei gerade einmal +0,2 %.
Vor etwa einem Jahr beauftragte die Kommission der Europäischen Union Mario Draghi mit der Erstellung eines wegweisenden Berichts über die Zukunft der europäischen Wirtschaft. Draghi ist ein ehemaliger Goldman-Sachs-Banker, ehemaliger Chef der italienischen Zentralbank und dann Präsident der Europäischen Zentralbank, bevor er kurzzeitig Ministerpräsident von Italien wurde. In den Augen der Kommission war er also eindeutig geeignet, nach Wegen zu suchen, um das europäische Kapital vor dem Rückstand gegenüber dem Rest der Welt zu bewahren.
Diese Woche wurde der Bericht von Draghi veröffentlicht. Dies geschieht zu einer Zeit, in der sich die großen europäischen Volkswirtschaften entweder in der Rezession befinden (Deutschland, Schweden, Österreich) oder stagnieren (Frankreich, Italien). Kaum eine EU-Wirtschaft wächst um mehr als 1 % pro Jahr, und der Durchschnitt der EU/EZ liegt bei gerade einmal +0,2 %.
Der Bericht mit dem Titel The fuThe future of European Competitiveness (Die Zukunft der europäischen Wettbewerbsfähigkeit)( ist 600 Seiten lang.
Er zeichnet ein klägliches, aber zutreffendes Bild des relativen Rückgangs der EU-Volkswirtschaften bei Produktions- und Produktivitätswachstum, Lebensstandard und technischem Fortschritt im Vergleich zu den USA und Asien.
Europa hat 1945 einen schrecklichen Krieg hinter sich, der seine Bevölkerung und seine Wirtschaft dezimiert hat. In den folgenden 50 Jahren des
20. Jahrhunderts erholte es sich jedoch rasch wirtschaftlich (zumindest in den Kernländern Europas) und konnte schließlich mit der Produktion und dem Lebensstandard in Nordamerika und Japan mithalten. Es wurden neue Institutionen geschaffen, die darauf abzielten, die Volkswirtschaften der Region zu integrieren und weitere Kriege innerhalb der Region zu vermeiden.
Im Bericht heißt es : „Das europäische Modell kombiniert eine offene Wirtschaft, ein hohes Maß an Marktwettbewerb und einen starken Rechtsrahmen“. Es hat einen „Binnenmarkt“ mit 440 Millionen Verbrauchern und 23 Millionen Unternehmen geschaffen, auf den etwa 17 % des weltweiten BIP entfallen, und gleichzeitig eine Einkommensungleichheit erreicht, die etwa 10 Prozentpunkte unter der in den USA und China liegt.
Gleichzeitig hat die EU in den Bereichen Regierungsführung, Gesundheit, Bildung und Umweltschutz führende Ergebnisse erzielt. Von den zehn Ländern, die bei der Anwendung der Rechtsstaatlichkeit weltweit am besten abschneiden, sind acht EU-Mitgliedstaaten. Europa liegt in Bezug auf die Lebenserwartung bei der Geburt und die niedrige Kindersterblichkeit vor den USA und China. Die europäischen Systeme der allgemeinen und beruflichen Bildung bieten ein hohes Bildungsniveau: Ein Drittel der Erwachsenen hat eine Hochschulausbildung abgeschlossen.
Die EU ist auch weltweit führend in Sachen Nachhaltigkeit und Umweltstandards, hat sich die ehrgeizigsten globalen Ziele für die Dekarbonisierung gesetzt und kann von der größten ausschließlichen Wirtschaftszone der Welt profitieren, die mit 17 Millionen Quadratkilometern viermal so groß ist wie die Landfläche der EU.
Doch jetzt befindet sie sich in einer schweren Krise - Draghi nennt die Situation sogar eine „existenzielle Herausforderung“. In seinem Bericht geht Draghi die traurige Geschichte der relativen Wirtschaftsleistung Europas im 21. Jahrhundert durch und zwar seit der Einführung der Euro-Einheitswährung.
Das Wirtschaftswachstum in der EU war in den letzten zwei Jahrzehnten durchgehend langsamer als in den USA, während China schnell aufgeholt hat. Der Abstand zwischen der EU und den USA beim BIP im Jahr 2015 hat sich schrittweise von etwas mehr als 15 % im Jahr 2002 auf 30 % im Jahr 2023 vergrößert.
Auf Pro-Kopf-Basis hat sich der Abstand aufgrund des schnelleren Bevölkerungswachstums in den USA weniger stark vergrößert, ist aber mit 34 % heute immer noch erheblich. Die Hauptursache für diese divergierenden Entwicklungen ist die Produktivität.
Rund 70 % des Rückstands beim Pro-Kopf-BIP gegenüber den USA sind auf die geringere Produktivität in der EU zurückzuführen.
Viele EU-Volkswirtschaften haben sich gut entwickelt und sind vom expandierenden Welthandel abhängig. Die Zeit des raschen Wachstums des Welthandels ist jedoch vorbei: Der IWF geht davon aus, dass der Welthandel mittelfristig nur um 3,2 % pro Jahr wachsen wird, ein Tempo, das deutlich unter dem jährlichen Durchschnitt von 4,9 % im Zeitraum 2000-19 liegt.
Der Anteil der EU am Welthandel ist in der Tat rückläufig, wobei seit dem Ausbruch der Pandemie ein deutlicher Rückgang zu verzeichnen ist.
In der Vergangenheit konnte Europa seinen Bedarf an Energieimporten decken, indem es reichlich Pipelinegas aus Russland bezog, das 2021 rund 45 % der Erdgasimporte der EU ausmachte. Doch nach dem Ukraine-Konflikt ist diese billige Energie nun zu enormen Kosten für Europa verschwunden. Die EU hat mehr als ein Jahr BIP-Wachstum eingebüßt, während sie gleichzeitig massive Haushaltsmittel für Energiesubventionen und den Bau neuer Infrastrukturen für den Import von Flüssiggas umleiten muss.
Zwar sind die Energiepreise seit ihrem Höchststand erheblich gesunken, doch müssen die Unternehmen in der EU immer noch mit Strompreisen rechnen, die zwei- bis dreimal so hoch sind wie in den USA, und die Erdgaspreise sind vier- bis fünfmal so hoch.
Am wichtigsten ist für Mario Draghi, dass Europas Position bei den Spitzentechnologien, die das künftige Wachstum vorantreiben können, rückläufig ist.
Nur vier der 50 weltweit führenden Technologieunternehmen stammen aus Europa, und die weltweite Position der EU im Technologiebereich verschlechtert sich:
Von 2013 bis 2023 sank ihr Anteil an den weltweiten Umsätzen im Technologiebereich von 22 % auf 18 %, während der Anteil der USA von 30 % auf 38 % stieg.
Der Rückstand beim Produktivitätswachstum ist für die Zukunft des europäischen Kapitals am schädlichsten. Die EU tritt in die erste Phase ihrer Geschichte ein, in der das Wachstum nicht durch eine steigende Bevölkerungszahl unterstützt wird. Bis 2040 wird die Zahl der Erwerbstätigen voraussichtlich um fast 2 Millionen pro Jahr zurückgehen. Der Bericht geht zwar nicht darauf ein, aber eine neue Studie kommt zu dem Schluss, dass die alternde Bevölkerung in Europa „massiven Gegenwind für das Wirtschaftswachstum verursachen wird“. Während der demografische Wandel in der Vergangenheit positiv zum Pro-Kopf-Wirtschaftswachstum beigetragen hat, wird er in den kommenden Jahrzehnten die Wachstumsrate der G4-Volkswirtschaften in Europa um 0,3 bis 1 Prozentpunkt pro Jahr verringern.
Draghi schließt daraus: "Wir werden uns mehr auf die Produktivität stützen müssen, um das Wachstum anzukurbeln. Aber selbst wenn die EU ihre durchschnittliche Produktivitätswachstumsrate seit 2015 beibehalten würde, würde dies nur ausreichen, um das BIP bis 2050 konstant zu halten - und das zu einer Zeit, in der die EU vor einer Reihe neuer Investitionen steht, die durch höheres Wachstum finanziert werden müssen."
Das Problem ist, dass das niedrige Produktivitätswachstum durch geringe Investitionen in produktive Sektoren, insbesondere in neue Technologien, verursacht wird. Die Lücke zwischen den produktiven Investitionen und dem BIP beträgt in den USA und in Europa jedes Jahr etwa 1,5 % des BIP.
In dem Bericht wird lediglich in einer Anmerkung auf eine Studie der Europäischen Investitionsbank (EIB) verwiesen, https://www.eib.org/attachments/lucalli/20230381_economics_working_paper_2024_01_en.pdf, in der untersucht wird, woher diese Lücke bei den produktiven Investitionen kommt. Aus dieser Studie geht hervor, dass die Gesamtinvestitionsquote im Verhältnis zum BIP in der EU im Durchschnitt sogar höher ist als in den USA. Dies liegt zum Teil daran, dass das BIP in den Jahren der langen Depression (2010-19) in den USA schneller gestiegen ist als in der EU. Obwohl also die Investitionen in den USA schneller stiegen als in der EU, blieb die Investitionsquote im Verhältnis zum BIP in den USA niedriger als in Europa.
Wenn man die Preis-Deflatoren für reale Investitionen in den beiden Regionen vergleicht und die Immobilien- und Bauinvestitionen ausklammert (50 % der Investitionen in der EU gegenüber 40 % in den USA), kehrt sich der Unterschied bei den „produktiven Investitionen“ um. Im Durchschnitt des Zeitraums 2012-2020 betrug die durchschnittliche Lücke real 2,6 Prozentpunkte des BIP. In fünfzehn Ländern war der Investitionsrückstand gegenüber den USA größer als im EU-Durchschnitt, darunter einige der größeren Volkswirtschaften wie die Niederlande (2,7 Prozentpunkte), Deutschland (2,8 Prozentpunkte), Italien (4,0 Prozentpunkte), Frankreich (2,5 Prozentpunkte) und Spanien (4,3 Prozentpunkte) - mit anderen Worten: der Kern Europas.
Die EIB stellte fest, dass der Investitionsrückstand der EU größtenteils auf „immaterielle Vermögenswerte“, d. h. Patente, geistiges Eigentum, Software usw., zurückzuführen ist. In diesen Bereichen waren die USA weit voraus. Die Unternehmen in der EU sind auf „ausgereifte Technologien spezialisiert, bei denen das Potenzial für Durchbrüche begrenzt ist. Sie geben weniger für Forschung und Innovation (FuI) aus - 270 Mrd. EUR weniger als ihre US-amerikanischen Kollegen im Jahr 2021. Die Top-3-Investoren in F&I in Europa wurden in den letzten zwanzig Jahren von Automobilunternehmen dominiert. In den USA war es Anfang der 2000er Jahre genauso, mit der Autoindustrie und der Pharmaindustrie an der Spitze, aber jetzt sind die Top 3 alle in der Technologiebranche.
Was sind Draghis Erklärungen für die geringen produktiven Investitionen in Europa, insbesondere im Technologiebereich?
Als guter Banker schiebt Draghi die Schuld auf den „Mangel an Finanzmitteln“ und auf das Versäumnis, Unternehmen zu großen multinationalen Konzernen zu fusionieren, die mit den USA konkurrieren können.
"Europa steckt in einer statischen Industriestruktur fest, in der nur wenige neue Unternehmen auftauchen, die bestehende Industrien stören oder neue Wachstumsmotoren entwickeln. Tatsächlich gibt es kein EU-Unternehmen mit einer Marktkapitalisierung von über 100 Mrd. EUR, das in den letzten fünfzig Jahren von Grund auf neu gegründet wurde, während alle sechs US-Unternehmen mit einer Bewertung von über 1 Billion EUR in diesem Zeitraum entstanden sind“.
Laut Draghi ist ein Hauptgrund für die weniger effiziente „Finanzintermediation“ in Europa, dass die Kapitalmärkte nach wie vor zersplittert sind und die Ersparnisströme in die Kapitalmärkte geringer sind. Es muss einen EU-weiten Kapitalmarkt und in der EU angesiedeltes Risikokapital geben, das nicht von den USA abhängig ist.
"Viele europäische Unternehmer ziehen es vor, sich von US-Risikokapitalgebern finanzieren zu lassen und auf dem US-Markt zu expandieren. Zwischen 2008 und 2021 haben fast 30 % der in Europa gegründeten „Einhörner“ - Start-ups, die später einen Wert von über 1 Mrd. USD erreichten - ihren Sitz ins Ausland verlegt, die große Mehrheit davon in die USA."
Es gibt einfach zu viele bürokratische Vorschriften und ineffiziente Kreditmärkte, um „privates Kapital freizusetzen“. Draghi zufolge "verfügen die Haushalte in der EU über reichlich Ersparnisse, um höhere Investitionen zu finanzieren, aber derzeit werden diese Ersparnisse nicht effizient in produktive Investitionen gelenkt. Im Jahr 2022 beliefen sich die Ersparnisse der privaten Haushalte in der EU auf 1.390 Milliarden Euro, verglichen mit 840 Milliarden Euro in den USA."
Aber sind die ineffizienten EU-Kapitalmärkte die Ursache für die geringeren produktiven Investitionen in Europa?
Der Bericht deutet die wahre Ursache an, indem er aufzeigt, dass die privaten Finanzierungskosten zu hoch sind im Vergleich zu den Erträgen, die der kapitalistische Sektor der EU benötigt, um produktive Investitionen zu steigern, im Gegensatz zu Investitionen in Immobilien oder Finanzanlagen. Die eigentliche Ursache liegt in der geringeren Rentabilität des europäischen Kapitals im Vergleich zu den USA. Dies ist insbesondere seit 2017 der Fall (in diesem Beispiel unten für die amerikanische und deutsche Rentabilität).
Quelle: AMECO
Im Bericht nicht erwähnt, aber vielleicht relevant, ist, dass es in der EU viel mehr kleinere Unternehmen gibt, deren Rentabilität niedrig ist, während in den USA eine höhere Kapitalkonzentration die Gewinne für die wenigen Megatech-Unternehmen an der Spitze in die Höhe getrieben hat. Seit dem Jahr 2000 sind die Bruttogewinnraten in den Vereinigten Staaten gestiegen und die Konzentration in der Industrie hat zugenommen, aber diese Trends sind in der EU nicht zu erkennen.
Draghi kommt zu dem Schluss, dass "der daraus resultierende Zyklus aus geringer industrieller Dynamik, geringer Innovation, geringen Investitionen und geringem Produktivitätswachstum in Europa als ‚mittlere Technologiefalle‘ bezeichnet werden könnte. Meiner Meinung nach ist dies jedoch ein Produkt der „Rentabilitätslücke“.
Was ist gegen die Produktivitäts- und Investitionslücke zu tun?
Draghi sagt, dass "mindestens zusätzliche jährliche Investitionen in Höhe von 750 bis 800 Milliarden Euro erforderlich sind, was 4,4 bis 4,7 % des BIP der EU im Jahr 2023 entspricht. Zum Vergleich: Die Investitionen im Rahmen des Marshall-Plans zwischen 1948 und 51 entsprachen lediglich 1-2 % des EU-BIP. Um diese Steigerung zu erreichen, müsste der Anteil der Investitionen in der EU von derzeit rund 22 % des BIP auf etwa 27 % steigen, womit ein jahrzehntelanger Rückgang in den meisten großen EU-Volkswirtschaften umgekehrt würde. „Das ist ein Anstieg der Investitionen im Verhältnis zum BIP, wie es ihn seit dem Goldenen Zeitalter der 1950er und 1960er Jahre, als Europa nach dem Krieg rasch expandierte, nicht mehr gegeben hat.
Kann man erwarten, dass das europäische Kapital in der Lage oder willens ist, diese goldenen Investitionsjahrzehnte 50 Jahre später wiederherzustellen?
Wie der Bericht einräumt. „Historisch gesehen wurden in Europa etwa vier Fünftel der produktiven Investitionen vom privaten Sektor getätigt und das verbleibende Fünftel vom öffentlichen Sektor“.
In einem kapitalistischen Europa liegt es also an den Kapitalisten, mehr zu investieren, um die erforderliche höhere Produktivität in den Schlüsselbereichen zu erreichen. Der öffentliche Sektor kann das nicht tun, und die EU-Kommission und Draghi wollen ganz sicher nicht, dass öffentliche Investitionen den kapitalistischen Sektor durch öffentliches Eigentum und Planung der „Kommandohöhen“ der europäischen Volkswirtschaften ersetzen.
Draghis Antwort ist also die übliche wirtschaftsfreundliche Lösung:
Die Regierungen müssen monetäre und steuerliche Anreize schaffen, um die Kapitalisten zu Investitionen zu „ermutigen“. Zunächst müssen die Finanzierungskosten gesenkt werden, aber „um private Investitionen in Höhe von etwa 4 % des BIP allein durch Marktfinanzierung zu erreichen, müssten die privaten Kapitalkosten nach dem Modell der Europäischen Kommission um etwa 250 Basispunkte gesenkt werden.“
Das ist im derzeitigen inflationären Umfeld kaum möglich. Und überhaupt: „Obwohl eine verbesserte Kapitalmarkteffizienz (z.B. durch die Vollendung der Kapitalmarktunion) die privaten Finanzierungskosten senken dürfte, wird die Senkung wahrscheinlich wesentlich geringer ausfallen. Steuerliche Anreize zur Erschließung privater Investitionen scheinen daher notwendig, um den Investitionsplan zusätzlich zu den direkten staatlichen Investitionen zu finanzieren“.
Die Regierungen in der EU müssen also mehr öffentliche Mittel bereitstellen. Dies führt jedoch zu einem weiteren Problem. Die EU-Regierungen, vor allem in Kerneuropa, werden von der Notwendigkeit getrieben, den Haushalt auszugleichen“ und die Staatsverschuldung nicht zu erhöhen oder zu hohe Steuern zu erheben. Es gibt EU-Fiskalregeln, die nicht gebrochen werden dürfen!
Draghi will eine stärkere „gemeinsame Kreditaufnahme“, d. h. die EU begibt mehr EU-gesicherte Schuldtitel zur Finanzierung von Projekten. Aber das ist ein großes Tabu in der EU. Deutschland und die Niederlande haben eine niedrige Staatsverschuldung und sind nicht bereit, ihren stärker verschuldeten Nachbarn unter die Arme zu greifen. Weniger als drei Stunden, nachdem Draghi seinen Vortrag beendet hatte, sagte der deutsche Finanzminister Christian Lindner, dass Deutschland einer „gemeinsamen Kreditaufnahme “ nicht zustimmen werde, da die gemeinsame Kreditaufnahme „kurz zusammengefasst werden kann: Deutschland soll für andere zahlen. Aber das kann kein Masterplan sein.“
Draghi schlägt vor, mehr EU-weite Steuern zu erheben, um die Größe der EU-Kommission zu erhöhen, die zu klein ist und ihre Ausgaben auf den „sozialen Zusammenhalt“, regionale Subventionen und die Landwirtschaft konzentriert, anstatt auf „produktive Investitionen“.
Draghi möchte die öffentlichen Ausgaben der EU in den bestehenden Bereichen kürzen und sie auf Technologie umstellen. „Wenn die investitionsbezogenen Staatsausgaben nicht durch Haushaltseinsparungen an anderer Stelle kompensiert werden, könnten sich die primären Haushaltssalden vorübergehend verschlechtern, bevor der Investitionsplan seine positive Wirkung auf die Produktion voll entfalten kann.“ Eine solche Umstellung würde bei den Landwirten und in Osteuropa nicht gut ankommen.
Zusammenfassend skizziert der Draghi-Bericht den gravierenden Rückgang der Wettbewerbsfähigkeit des europäischen Kapitals im 21. JAhrhundert im Vergleich zu den USA und Asien. Jahrhundert im Vergleich zu den USA und Asien. Dies ist eine „existenzielle Herausforderung“, die nur durch einen massiven Anstieg der Investitionen, vor allem in neue Technologien, überwunden werden kann. Dies kann nur erreicht werden, wenn der kapitalistische Sektor mehr investiert. Die öffentlichen Investitionen sind zu gering, und die wirtschaftsfreundlichen Regierungen der EU wollen die großen Privatunternehmen ohnehin nicht übernehmen und haben stattdessen öffentliche Investitionen geplant. Das wäre das Ende des kapitalistischen Europas. Draghi sagt also, man müsse Europas Großunternehmen mit billigeren Krediten, deregulierten Märkten und verstärkten staatlichen Steueranreizen dazu ermutigen, mehr zu investieren, um „private Investitionen freizusetzen“. Die Chancen, dass die Regierungen der EU-Mitgliedstaaten bereit sind, mehr Geld auszugeben, um den Unternehmen in der EU ausreichend zu helfen, sind jedoch gering.
Der erforderliche gewaltige Aufschwung bei den produktiven Investitionen kann nur dann stattfinden, wenn die Rentabilität des europäischen Kapitals sprunghaft ansteigt. Das wird aber nicht durch die Verbilligung von Krediten erreicht, sondern würde nur durch einen starken Anstieg der Ausbeutung der Arbeitskraft in Europa und durch die „schöpferische Zerstörung“ der „mittleren Technologie“ zur Kostensenkung erfolgen.
Vermutlich wird sich der relative Niedergang der EU weltweit fortsetzen und sogar beschleunigen.
„Ein langsamer, aber qualvoller Niedergang“
Experten urteilen, auch die geplanten Zurückweisungen verstießen gegen Völkerrecht.
Ex-EZB-Präsident warnt vor „qualvollem Abstieg“ der EU.
Die Ankündigung von Personenkontrollen an den deutschen Grenzen ab dem kommenden Montag löst bei der EU-Kommission sowie in mehreren Nachbarstaaten der Bundesrepublik Unmut aus. In Brüssel wird darauf hingewiesen, dass Kontrollen an den Schengen-Binnengrenzen nur als „absolute Ausnahme“ erlaubt sind; ihre umfassende Einführung durch die Bundesregierung und die fehlende zeitliche Begrenzung deuten darauf hin, dass sie keine Ausnahme sind. Zu den angekündigten Zurückweisungen heißt es in Österreich, man sei nicht bereit, Flüchtlinge zurückzunehmen, falls Deutschland ihnen völkerrechtswidrig das Stellen eines Asylantrags verweigere.
Experten urteilen, die neuen Grenzkontrollen verstießen offen gegen EU-Recht; Berlin handle, „als wäre die AfD (schon) an der Macht“.
Polens Ministerpräsident Donald Tusk kündigt „dringende Konsultationen“ mit anderen Nachbarstaaten der Bundesrepublik an. Während bereits vom Ende des Schengen-Systems die Rede ist, warnt Ex-EZB-Präsident Mario Draghi in einer aktuellen Analyse, wolle die EU ihren „qualvollen Niedergang“ vermeiden, dann müsse sie bis zu 800 Milliarden Euro investieren – ein Mehrfaches des Marshallplans.
Mit EU-Recht nicht vereinbar
Die Anordnung von Bundesinnenministerin Nancy Faeser vom Montag, an allen deutschen Außengrenzen wieder Personenkontrollen einzuführen – offiziell vorläufig, ein Ende ist aber nicht in Sicht –, löst in Brüssel und in mehreren EU-Mitgliedstaaten deutlichen Unmut aus. Die Maßnahme wird ab dem kommenden Montag (16. September) umgesetzt; die Kontrollen an den Grenzen zu Österreich, die seit 2015 stattfinden, wie auch an den Grenzen zu Polen und zu Tschechien, die im Oktober 2023 eingeführt wurden, werden verlängert. Aus rein praktischer Perspektive heißt es verärgert etwa aus Luxemburg, man hoffe, der Schritt werde die zahlreichen Arbeitspendler und den sonstigen alltäglichen Grenzverkehr nicht übermäßig belasten.[1]
Prinzipielle Kritik äußert etwa Alberto Alemanno, Professor für Europarecht an der École des hautes études commerciales de Paris (HEC Paris), der konstatiert, es handle sich um „einen offensichtlich unverhältnismäßigen Bruch des Grundsatzes der Freizügigkeit im Schengenraum“, der mit EU-Recht nicht vereinbar sei.[2]
Christopher Wratil, Assoziierter Professor für Government am Institut für Staatswissenschaft der Universität Wien, schrieb auf X, Berlin dürfe nun „nicht mehr damit kommen, irgendwer anders halte sich nicht an EU-Recht“. Die Bundesregierung handle zudem, „als wäre die AfD (schon) an der Macht“. Tatsächlich kommentierte der extrem rechte niederländische Politiker Geert Wilders Berlins neue Grenzkontrollen auf X so: „Gute Idee, müssen wir auch machen!“
„Keine Übernahmen“
Auf entschiedene Ablehnung stößt auch der Plan, die Zurückweisungen an den Grenzen deutlich auszuweiten. Rein praktisch verweigert sich Österreich dem Ansinnen. Bereits am Montag hatte Innenminister Gerhard Karner erklärt, er habe den Direktor der österreichischen Bundespolizei „angewiesen, keine Übernahmen durchzuführen“.[3] Als sein Hauptmotiv darf gelten, dass die Zahl der Asylanträge, die die Wiener Behörden zu bearbeiten hätten, rasch ansteigen würde.
Völkerrechtler äußern vor allem grundsätzliche Einwände. So schreiben das internationale Flüchtlingsrecht wie auch EU-Normen, vor allem die Dublin-II-Verordnung, vor, dass Flüchtlinge an den Grenzen Gelegenheit haben müssen, einen Asylantrag zu stellen, der dann auch bearbeitet werden muss.
Wenn ein Flüchtling zuvor in einen anderen EU-Staat eingereist ist, dann kann er zwar dorthin abgeschoben werden; allerdings muss zuvor klar festgestellt werden, in welchem Staat der Flüchtling zuerst die EU betreten hat, und dann gilt es die Abschiebung mit den Behörden des betreffenden Landes zu regeln.[4] All das kostet Zeit; währenddessen muss der Flüchtling zumindest versorgt werden. Dies ist etwa bereits in den Schnellverfahren am Flughafen in Frankfurt am Main („Flughafenverfahren“) der Fall.
Die Praxis an den Grenzen
Bei alledem ist unklar, wie die Praxis an den deutschen Grenzen aussieht. Die Bundespolizei hat bereits im vergangenen Jahr 35.618 Personen an der Grenze zurückgewiesen; im ersten Halbjahr 2024 waren es sogar 21.601 Personen – ein erheblich höherer Prozentsatz als 2023. Zudem fällt auf, dass der Anteil derjenigen, die an der Grenze den Wunsch äußern, Asyl zu beantragen, merkwürdig schwankt. An der deutsch-österreichischen Grenze blieb er relativ konstant: Im ersten Quartal 2023 lag er bei 14, im zweiten Quartal 2024 bei 11 Prozent aller Personen, die ohne gültige Papiere bzw. ohne Visum Einreise begehrten. An der deutsch-polnischen Grenze fiel der Anteil von 57 Prozent im ersten Quartal 2023 auf 23 Prozent im zweiten Quartal 2024.[5] Unklar ist unter anderem, ob Einreisewillige auf die Möglichkeit, Asyl zu beantragen, in einer Sprache hingewiesen werden, die ihnen vertraut ist, und ob die Grenzbeamten zuverlässig in der Lage sind, möglicherweise auf Englisch vorgetragene Asylbegehren zu verstehen.
Aus der Partei Die Linke heißt es, man habe sogar Kenntnis von Fällen, in denen Grenzbeamte Flüchtlingen empfohlen hätten, auf einen Asylantrag zu verzichten, weil die Chance, wirklich Asyl zu erhalten, in Deutschland äußerst gering sei.[6] Die Bundesregierung weist das selbstverständlich zurück.
„Eine absolute Ausnahme“
Mit erkennbarer Skepsis äußerte sich zu dem deutschen Vorstoß auch die EU-Kommission. Kontrollen an den Schengen-Binnengrenzen dürften bloß dann vorgenommen werden, wenn sie unzweifelhaft „notwendig und verhältnismäßig“ seien, bestätigte eine Sprecherin der Kommission am Dienstag in Brüssel. Deshalb „sollten derartige Maßnahmen eine absolute Ausnahme bleiben“.[7] Ob das auf die geplanten deutschen Grenzkontrollen zutreffe, werde zur Zeit überprüft. Eindeutig ablehnend äußerte sich Polens Ministerpräsident Donald Tusk. Er erklärte mit Blick auf die Pläne, die Zurückweisungen auszuweiten: „Ein solches Vorgehen ist aus polnischer Sicht inakzeptabel“.[8] Man wolle „dringende Konsultationen“ mit anderen „Nachbarn Deutschlands“ abhalten, um über Reaktionen zu diskutieren. Polen sorgt sich – wie Österreich –, es werde eine viel höhere Zahl an Asylanträgen bearbeiten müssen, falls die Bundesrepublik ihre Zurückweisungen stark ausweitet.
Allerdings weisen Beobachter darauf hin, dass Polen seine Grenze zu Belarus mit Stacheldrahtverschlägen in Höhe von mehreren Metern abgeschottet hat und dort selbst illegale Zurückweisungen in hoher Zahl durchführt. Polnische Gerichte, so heißt es, ahndeten „die mit EU-Recht schwer zu vereinbarende Praxis der Zurückweisung bisher nicht“.[9]
EU: Anschluss verpasst
Während die neuen deutschen Grenzkontrollen zu Konflikten mit mehreren Nachbarstaaten führen, das Schengen-System bedrohen und außerdem Kosten in Höhe von vielen Milliarden Euro verursachen könnten (german-foreign-policy.com berichtete [10]), sagt ein aktuelles Papier des ehemaligen EZB-Präsidenten Mario Draghi der EU auch rein wirtschaftlich eine düstere Zukunft voraus.
Während Chinas Wirtschaft unverändert wachse und gegenüber dem Westen aufhole, falle die EU gegenüber den USA seit zwei Jahrzehnten zurück, konstatiert Draghis Bericht zur Zukunft der europäischen Wettbewerbsfähigkeit.
Ursache sei vor allem, dass die EU die „digitale Revolution und die damit verbundenen Produktivitätsgewinne weitgehend verpasst“ habe.[11] Nun müsse dringend die Produktivität erhöht werden; dies erfordere EU-Investitionen in Höhe von 750 bis 800 Milliarden Euro pro Jahr – nahezu fünf Prozent der EU-Wirtschaftsleistung. Im Rahmen des Marshallplans seien nach dem Zweiten Weltkrieg ein bis zwei Prozent der Wirtschaftsleistung bereitgestellt worden – erheblich weniger, als heute nötig sei. Unterblieben die Investitionen, dann drohe ein weiterer Abstieg; dann sei auch „das europäische Sozialmodell“ nicht mehr finanzierbar.[12]
„Wenn die EU jetzt nicht handelt“, sagt Draghi voraus, „steht ihr ein langsamer, aber qualvoller Niedergang bevor.“
[1] Die eine Grenze ist nicht wie die andere. Frankfurter Allgemeine Zeitung 11.09.2024.
[2] Jon Henley: ‘The end of Schengen‘: Germany’s new border controls put EU unity at risk. theguardian.com 10.09.2024.
[3] Bisher sind die Nachbarn nicht auf Streit aus. Frankfurter Allgemeine Zeitung 10.09.2024.
[4] Matthias Lehnert, Robert Nestler: Der Mythos von der Notlage. verfassungsblog.de 09.09.2024.
[5], [6] Mona Jaeger: Wer wird bereits zurückgewiesen? Frankfurter Allgemeine Zeitung 10.09.2024.
[7], [8] Polen nennt Grenzkontrollen „inakzeptabel“. Maßnahme muss laut EU-Kommission „absolute Ausnahme bleiben“. tagesspiegel.de 11.09.2024.
[9] Bisher sind die Nachbarn nicht auf Streit aus. Frankfurter Allgemeine Zeitung 10.09.2024.
[10] S. dazu Festung Deutschland
[11] Carsten Volkery: Draghi fordert massive Investitionen – und neue EU-Schulden. handelsblatt.com 09.09.2024.
[12] Draghi warnt vor qualvollem Niedergang. Frankfurter Allgemeine Zeitung 10.09.2024.
Setzt China künftig die Standards für Künstliche Intelligenz?
Seit der Trump-Regierung haben die USA China mit Wirtschaftssanktionen überzogen, in erster Linie im Halbleiterbereich.
Bislang haben die Sanktionen ihr Ziel nicht erreicht, Chinas Aufstieg zu stoppen.
Vor allem haben sie nicht verhindert, dass China bei einer Schlüsseltechnologie der Zukunft, der Künstlichen Intelligenz, weiter aufgeholt hat.
Schon 2018 spielten nach Einschätzung von McKinsey nur noch die USA und China eine wesentliche Rolle auf dem Gebiet der Künstlichen Intelligenz.
Europa war längst abgeschlagen (FT, 2.5.18). Seitdem herrscht unter den Eliten in den USA die Paranoia, dass es mit der technologischen Vormachtstellung der USA demnächst vorbei ist. „Diese Technologien sind so umwälzend, dass das in den KI-Technologien führende Land nicht nur einen wirtschaftlichen oder technologischen Vorsprung hat, sondern auch bei der nationalen Sicherheit vorne ist“, zitierte die Financial Times einen Cyber-Experten aus dem US-Sicherheitsapparat. Künstliche Intelligenz verändert die Kriegsführung und hat das Potential zur Neuordnung der globalen Machtverteilung.
Bislang hatten die USA den meisten Experten zufolge einen Vorsprung, vor allem, weil sie die besten Algorithmen haben und über den Zugriff auf dedizierte Computer-Hardware, also Chips, verfügen, die die ultraschnelle Durchforstung riesiger Datenmengen ermöglichen. Die USA sind in der Grundlagenforschung stark. Aber China hat aufgeholt: Schon 2018 teilten sich der chinesische Konzern Alibaba und Microsoft die Siegerprämie bei einem Wettbewerb um das Leseverständnis von KI-Software und ebenso bei Wettbewerben um Gesichtserkennung.
Unter dem Begriff der Künstlichen Intelligenz als Teilgebiet der Informatik werden Technologien zusammengefasst, die es ermöglichen, kognitive Fähigkeiten der Menschen - nämlich aus Daten Informationen zu erfassen und zu sortieren - durch Hardware und Software zu imitieren. Diese Intelligenz kann auf programmierten Abläufen nach klaren Regeln basieren oder aber durch sogenanntes maschinelles Lernen erzeugt werden.
Durch die zunehmende Verfügbarkeit von großen Datenmengen und höher Rechenleistung wurden zuletzt vor allem im Bereich des maschinellen Lernens große Fortschritte gemacht. Dabei generiert ein Lernalgorithmus aus den Beispieldaten eine Funktion, die auch für neue Daten eine korrekte Ausgabe erzeugt.
Lernalgorithmen können Lösungen für Probleme lernen, die zu kompliziert sind, um sie mit Regeln zu beschreiben, zu denen es aber viele Daten gibt, die als Beispiele für die gewünschte Lösung dienen können.
Ein Lernalgorithmus bildet vorgegebene Beispieldaten auf ein mathematisches Modell ab. Dabei passt der Lernalgorithmus das Modell so an, dass es von den Beispieldaten auf neue Fälle verallgemeinern kann, der Algorithmus wird trainiert. Das so statistisch, durch Wiederholung trainierte Modell kann für neue Daten Vorhersagen treffen oder Empfehlungen und Entscheidungen erzeugen.
Die Software lernt, selbstständig die Struktur der Daten zu erkennen. So können Roboter selbst erlernen, wie sie bestimmte Objekte greifen müssen, um sie von A nach zu B transportieren. Sie bekommen nur gesagt, von wo und nach wo sie die Objekte transportieren sollen. Wie genau der Roboter greift, erlernt er durch das wiederholte Ausprobieren und durch Feedback aus erfolgreichen Versuchen.
Als generative KI werden Modelle des maschinellen Lernens bezeichnet, die auf der Basis von Eingabedaten in Form von Texten, Bildern, Videos oder Audioformaten neue Inhalte generieren. Eine Sonderform der generativen KI sind große Sprachmodelle (LLM, large language models), die aus unspezifischen Spracheingaben jeder Art (juristische Texte oder Gebrauchsanweisungen oder Kurzgeschichten …) neue Textdokumente generieren.
Bei der Künstlichen Intelligenz geht es u.a. um Anwendungen wie Muster- und Gesichtserkennung durch Computer, die automatisierte Beantwortung von Kundenanfragen oder das autonome Steuern von Autos, Drohnen oder Booten. Die KI-Technologien können aber genauso militärisch genutzt werden.
2030 will China bei KI an der Weltspitze sein
In Chinas staatlicher Wirtschaftsplanung für die nächsten Jahrzehnte hat die Künstliche Intelligenz (KI) eine Schlüsselstellung. Schon seit der Jahrtausendwende spielt die KI in allen Staatsplänen eine prominente Rolle. Auch bei der Dritten Plenartagung des ZK der KP, die in diesem Sommer stattfand und die sich auf die Wirtschaftspolitik konzentrierte, ging es um die Förderung der neuen Produktivkräfte und die Künstliche Intelligenz. Die chinesische Regierung sieht in KI und allgemein in den neuen Produktivkräften die Motoren für die weitere wirtschaftliche und soziale Entwicklung des Landes.
2030 will China bei der Künstlichen Intelligenz an der Weltspitze sein. 2017 war Chinas Sputnik-Moment, als die von Google erworbene DeepMind-Software im Go-Spiel, einem komplexen alten chinesischen Brettspiel, den weltweit führenden Go-Spieler Ke Jie besiegte. Das demonstrierte die Kapazität von KI und war ein Weckruf für die chinesische Führung.
Für den Autor Kai-Fu Lee, früher Chef von Google China und jetzt Venture-Kapitalist und Buchautor („AI Superpowers: China, Silicon Valley and the New World Order“, New York 2018) ist China erstmals seit der Industriellen Revolution an der Spitze einer enormen technologischen und wirtschaftlichen Umwälzung.
Nach seiner Analyse wird China das Wettrennen um KI gegen die USA deshalb gewinnen, weil China in vier entscheidenden Feldern, die über den Einsatz von KI entscheiden, vorne ist: Erstens bei den qualifizierten Arbeitskräften. Zweitens beim Einsatz von Kapital. Drittens bei der staatlichen Regulierung. Und schließlich viertens bei der Verfügbarkeit von Daten.
Lee behauptet nicht, dass China in der Grundlagenforschung, den grundlegenden Innovationen auf diesem Gebiet führend ist. Aber das mache nichts, weil die großen intellektuellen Durchbrüche schon längst passiert sind. Was Lee zufolge jetzt zählt, ist die Implementation, der praktische Einsatz von KI, nicht die Innovation.
China hat hochqualifizierte Arbeitskräfte
Und dabei hat China besondere Vorteile: Nicht nur, dass die Arbeiten führender KI-Forscher leicht verfügbar sind, vor allem durch das Internet. Inzwischen kommen etwa 40% aller Forschungsarbeiten weltweit zum Thema KI aus China, nur etwa 10% aus den USA und 15% aus Europa. Eine der meistzitierten Forschungsarbeiten überhaupt, die demonstrierte, wie neuronale Netze zur Bildverarbeitung trainiert werden können, wurde von KI-Forschern aus China verfasst. Ein amerikanischer Experte urteilte, dass Chinas KI-Forschung Weltklasse ist und dass China einen signifikanten Vorsprung bei der Bilderkennung und in der Robotik hat (Economist, 15.6.24).
Zwar ziehen die USA, speziell das Silicon Valley, immer noch Top-Talent an. Ein chinesischer Entwickler schätzte, dass 2020 ca. die Hälfte aller KI-Entwickler im Silicon Valley Chinesen waren. Noch 2019 blieben nur 38% der chinesischen Universitätsabsolventen mit KI-Schwerpunkt in China, aber 2022 waren es schon fast 60%. Die alte Weltordnung in den Naturwissenschaften, dominiert von den USA, Japan und Europa, gehe dem Ende entgegen, diagnostiziert der Economist (15.6. 24). Dabei dominiert China in den angewandten Wissenschaften, besonders in den Ingenieurwissenschaften, während die USA und Europa bei der Grundlagenforschung noch vorne sind. Nach einer Erhebung der Stanford University entfielen 2022 über 60% aller KI-Patente auf chinesische Unternehmen und Organisationen und nur etwa 20% auf die USA (Nikkei Asia, 11.8.24).
China hat ein extrem wettbewerbsorientiertes Wirtschaftssystem, das KI fördert
Zweitens hat China laut Lee eine extrem wettbewerbsorientierte und unternehmerische Ökonomie nach dem Motto: Move fast and break things! Im erbitterten Konkurrenzkampf haben chinesische Unternehmen führende westliche Unternehmen in ihrem Heimatmarkt längst übertrumpft. Die Methode von ständigem „Versuch-und-Irrtum" des chinesischen Geschäftsmodells sei bestens geeignet, die Ergebnisse der KI in der Volkswirtschaft zu verbreiten.
Für westliche Ohren, die mit der KP Chinas und mit Staatsplanung immer wirtschaftliche Stagnation und verkrustete Strukturen assoziieren, mag die Beschreibung der chinesischen Volkswirtschaft als einer extrem wettbewerbsorientierten, dynamischen Ökonomie bizarr erscheinen. Doch z.B. der Erfolg und das Innovationstempo der vielen chinesischen Autobauer müsste doch inzwischen auch den eingefleischtesten Neoliberalen zum Grübeln bringen.
Auch die Entwicklung der chinesischen KI-Branche ist ein Beispiel dafür, wie die den Rahmen definierende Planung und die begleitende Co-Finanzierung auf allen staatlichen Ebenen zusammen mit hunderten privaten Start-ups ein Ökosystem im ganzen Land geschaffen haben, dass die weitere Entwicklung der KI-Technologien fördert und für den praktischen Einsatz in der chinesischen Volkswirtschaft sorgt. So stellen mit ultraschnellen Chips ausgestattete staatliche Rechenzentren den KI-Start-ups, die wegen der US-Sanktionen keine leistungsfähigen Rechner mehr bekommen, günstig Rechenzeit zur Verfügung. Und natürlich werden diese jungen Unternehmen bei öffentlichen Ausschreibungen und von Staatsunternehmen bevorzugt. Noch vor zwei Jahren – nach dem Markteintritt von ChatGPT und anderer Modelle von generativer KI im Westen - schien China den technologischen Wettlauf mit den USA zu verlieren. Inzwischen sind aber zahlreiche chinesische KI-Produkte von den chinesischen Internet-Giganten wie Baidu, Tencent oder Bytedance, aber auch von den zahllosen Start-ups auf dem Markt, die in ihrer Leistung den Produkten etwa der US-Konzerne vergleichbar sind (Wallstreet Journal, 23.8.24).
Für Kai-Fu Lee sind Chinas große Schwärme von KI-Unternehmen und den damit verbundenen Chip-Startups vielleicht ineffizient, aber insgesamt effektiv. Das zähle.
Für die Berliner Analysten von Sinolytics, einem auf China spezialisierten Forschungsinstitut, könnte die Arbeitswelt der Zukunft sogar in China entschieden werden (China.Table vom 21. August 2024). Denn in Chinas geschütztem Markt entstehen äußerst konkurrenzfähige Anwendungen, die früher oder später ihren Weg nach Europa finden.
“Während im Westen ChatGPT, Claude, Otter.ai, Gamma und andere Anwendungen das Arbeitsleben der verändern, treiben in China Akteure wie KimiChat von Moonshot AI, Ernie Bot von Baidu, Spark von iFLYTEK, Tongyi Qwen von Alibaba oder dem an der Tsinghua-Universität entstandenem Start-up Zhipu AI diesen Trend voran.
Generell unterscheiden sich die chinesischen GenAI-Anwendungen nicht wesentlich von vergleichbaren Angeboten US-amerikanischer oder europäischer Anbieter. Allerdings profitieren sie von gewissen Vorteilen: einer Fülle an Trainingsdaten und der Offenheit der chinesischen Nutzer gegenüber neuen Apps und digitalen Produkten. Hinzu kommen ein harter Wettbewerb unter den starken chinesischen Anbietern, ein großer Pool an KI-Fachkräften und eine beträchtliche politische Unterstützung. Zudem sind die Anbieter durch gesetzliche Einschränkungen vor internationaler Konkurrenz geschützt. All diese Vorteile könnten ein perfekter Nährboden für die nächste Welle chinesischer Technologieunternehmen sein, die sich auf dem Weltmarkt etablieren wollen. Chinas KI-Unternehmen sind hoch ambitioniert …”
Verfügbarkeit von Daten
Ob Bilderkennung, Spracherkennung oder die automatisierte Auswertung oder Erstellung von Dokumenten: die Leistungsfähigkeit der KI-Systeme basiert auf der Masse von Daten, die in diese Systeme eingeflossen sind.
Daten sind der Rohstoff für die KI-Technologien, und hier verfügt China über mehr Daten als alle anderen Volkswirtschaften - nicht nur wegen der Besonderheiten seines gesellschaftlichen Systems.
China hat mehr Internet-Nutzer als Europa und die USA zusammen. Chinas hochentwickelte Internet-Ökonomie generiert ein Vielfaches an Daten im Vergleich zu anderen Volkswirtschaften. Digitale Zahlungssysteme sind selbstverständlich. Ebenso der Kauf von Tickets per Spracheingabe. Zudem bringt die Bevölkerungsdichte eine riesige Nachfrage nach Auslieferungen und anderen Dienstleistungen.
Spezialisierte KI-Anwendungen basieren für ihr Training auf der Verfügbarkeit größter Datenmengen. So hat China als Fabrik der Welt wahrscheinlich bei Produktionsdaten und bei Robotik die Nase vorn. Ebenso bei der Auswertung von Gesundheitsdaten etwa zur Prognose von Risiken für Herzerkrankungen. In Chinas Krankenhäusern werden mit KI Tumore entdeckt. An den meisten Gerichten hat Spracherkennung die Gerichtsstenografen ersetzt. Ambulanzen und Lieferanten von dringend benötigten Medikamenten können die Anfahrtszeiten durch smarte Steuerung von Ampeln etc. halbieren. Smart-City-Dienste von KI helfen etwa beim Auffinden von vermissten Kindern und Alten.
Gesichtserkennungssysteme Made in China, die auf KI-Bilderkennungs-Software basieren, sind inzwischen weltweit verbreitet. Nach einer US-Studie werden sie inzwischen von 52 Ländern eingesetzt. 2018 kontrollierte China die Hälfte des weltweiten Marktes für Gesichtserkennungs-Software und der entsprechenden Hardware, Kameras etc. Die Exporte dieser Technologien aus China wuchsen um 13,5% im letzten Jahr. Ein großer Lieferant ist Huawei, daneben Hikvision, SenseTime, Dahua und ZTE. Natürlich wird China angeklagt, mit diesen Technologien Autoritarismus zu exportieren.
Aber es gibt auch Konkurrenz aus den USA (IBM, Palantir und Cisco), Israel und Japan (NEC), über die im westlichen Medien kaum berichtet wird.
Chinas Polizei hat die größte Bild-Datenbank mit über 1 Mrd. Gesichtern. China technischer Vorsprung liegt aber auch darin, dass viele Transaktionen wie das Einchecken im Hotel oder auch im Krankenhaus, die Zugbuchung und Bankgeschäfte inzwischen ganz per Gesichtserkennung laufen als „real-name identification“ oder die sonstige Identifikation zumindest ergänzen. Aber als die Pharmazeutische Hochschule Nanjing ein Hörsaal-Monitoring-System mit Gesichtserkennung einführen wollte, um die Anwesenheit der Studenten zu checken oder sie beim Quatschen oder Surfen zu ertappen, gab es einen Aufstand der Studenten.
Datenbanken mit Dokumenten in chinesischer Sprache für das Training von KI-Systemen sind nur begrenzt verfügbar. In einer Open-Source-Datenbank für KI-Trainingszwecke namens Common Crawl sind weniger als 5% der Daten in chinesischer Sprache. Deswegen fördert die chinesische Regierung jetzt eigene Datenbanken. Ein Anbieter ist ein Ableger der Pekinger Volkszeitung (Renmin Ribao), der lokalen KI-Firmen jetzt Daten mit dem Label “mainstream values corpus” anbietet, also als Partei-konform zertifiziert.
Staatliche Regulierung und Definition von KI-Standards
Für die Regierung hat die praktische Förderung der Künstlichen Intelligenz und anderer Schlüsseltechnologien Priorität. Der Begriff Regierung meint dabei alle Ebenen des chinesischen Staatsapparates, von der Zentralregierung bis zur Administration einer kleinen Stadt. In einer Rede rief der damalige Ministerpräsident Li Keqiang schon 2014 zu „Mass entrepreneurship” und “Mass innovation“ auf, forderte also Massenbewegungen für Unternehmertum und Innovation.
Aber die chinesische Regierung will nicht nur die grundlegende Technologie entwickeln, sondern vor allem ihre praktische Anwendung fördern. Der 14. Fünfjahrplan für den Zeitraum von 2021 bis 2025 fordert ausdrücklich die Integration digitaler Technologien wie KI in die Gesellschaft. So breitet sich die generative KI längst in vielen Industrien und Dienstleistungen in China aus und wird z.B. zur Inspektion von Autoteilen oder auch zur Ausarbeitung von Studienplänen für Schulen zur Prüfungsvorbereitung genutzt (Nikkei Asia 11.8.24).
Für die Entwicklung der Künstlichen Intelligenz hat der chinesische Staatsrat eine nationale Strategie beschlossen. Für die Ziele geht China Risiken ein und baut auch eine komplementäre Infrastruktur. So haben alle großen chinesischen Internet-Firmen gemeinsame Forschungslabore mit der chinesischen Regierung.
Ein Schwerpunkt der chinesischen Regierung ist die Definition von Standards für Künstliche Intelligenz, die möglichst weltweit gültig sind und die damit auch die Verbreitung chinesischer KI-Produkte fördern. So nimmt nach Angaben der UN-Unterorganisation ITU, der International Telecommunication Union, Chinas Einfluss zu. Die Standards, deren Verabschiedung ca. 2 Jahre dauert, sind ein wichtiges Mittel der Wirtschafts- und Industriepolitik. So hat die deutsche Industrie historisch positive Erfahrungen und gute Geschäfte mit den DIN-Normen gemacht.
Lokale Experimente und Nomen, um später einmal landesweite Standards zu definieren, gelten für Chinas Versuche mit dem autonomen Fahren. Chinesische Software- und Autofirmen sind technologisch führend in der KI-Entwicklung für die Autoindustrie. Von den Lokalbehörden werden entsprechende Experimente unterstützt. Das ist ein wesentlicher Grund, warum die deutschen Auto-OEMs ihre Entwicklungszentren in China weiter ausbauen. Die Technologie für das autonome Fahren wird dort entwickelt, und die Standards werden dort gesetzt.
Bei den Standards für KI geht es auch um Gesetze und Vorschriften. Nach Daten der OECD gibt es weltweit inzwischen über 1.000 Gesetze und staatliche Vorschriften, die den Einsatz der KI regulieren sollen. In China sind inzwischen zahlreiche Gerichtsverfahren entschieden, bei denen es u.a..um den Schutz von Persönlichkeitsdaten und das Rechtes auf das eigene Bild in KI-Projekten ging. Die Befassung der chinesischen Justiz mit diesen Themen zeigt, wie weit KI inzwischen in das Alltagsleben in China eingedrungen ist. Das zeigt gleichzeitig, dass auch in China der Schutz der Persönlichkeitsdaten ein wesentliches Thema ist. Nach der Einschätzung westlicher Juristen haben die inzwischen erlassenen chinesischen Datenschutzgesetze durchaus "Biss”, auch wenn der Arbeitnehmer-Datenschutz dabei keine große Rolle spielt (Nikkei Asia 11.8.24).
Definiert die KP den Wissenskanon, den die KI-Sprachmodelle lernen sollen? Alle KI-Modelle haben ein Bias, sind tendenziös. Viele Untersuchungen haben nachgewiesen, dass KI-Ergebnisse etwa nach Rasse, Geschlecht und sozialer Herkunft entzerrt sind. Die Sorge mancher Experten im Westen: Wie die chinesische KP erfolgreich das Internet in China per Firewall abgeschottet hat, so könne die KP auch die KI und insbesondere die KI-Sprachmodelle steuern, dass die Werte und Ziele der KP dabei nicht verletzt werden. So ein Kommentar im britischen Guardian (22.4.24).
Die meisten generativen KI-Sprachmodelle brauchen in China das Okay der Cyberspace Administration, des chinesischen Internet-Regulators, bevor sie auf den Markt kommen. Die chinesischen KI-Firmen müssen zwischen 20.000 und 70.000 Fragen vorbereiten, mit denen ihre Systeme, z. B. Suchmaschinen, getestet werden, ob sie zuverlässige Antworten produzieren. Für die Freigabe müssen sie zusätzlich außerdem Datensätze von bis zu 10.000 Fragen einreichen, auf die das jeweilige Sprachmodell keine Antwort gibt. Ein großer Teil dieser Fragen bezieht sich auf die politische Ideologie und auf Kritik an der KP.
Im Mai veröffentlichte Chinas Cyberspace-Administration Pläne für einen Chatbot, einen Textgenerator, der auf Basis von KI funktioniert und eine Unterhaltung simuliert, als würde man mit einem Menschen schreiben. Der geplante Jackpot soll u.a. auf der Basis der politischen Philosophie von Xi Jinping trainiert werden. Unternehmen und Behörden hätten damit einen Chatbot als Option zur Verfügung mit der Garantie, nicht die politischen roten Linien zu verletzen.
Warum die immer neuen Chip-Sanktionen zu immer neuen KI-Innovationen führen
Chinesische KI-Firmen, die durch die US-Sanktionen von ultraschnellen Chips von Halbleiterfirmen wie Nvidia abgeschnitten sind, haben einen Weg gefunden, damit die nötigen Millionen Lernzyklen für die großen KI-Sprachmodelle dennoch erfolgreich gerechnet werden können: Sie entwickeln viel leistungsfähigen Programmcode, der auch auf Rechnern mit Chips älterer Generationen abläuft, berichtet das Wallstreet Journal (23.8.24).
Viele chinesische KI-Start-ups arbeiten für ihre KI-Sprachmodelle mit sehr effizientem Programmcode, um diese Einschränkungen zu umgehen. Andere entwickeln jetzt kleinere, spezialisierte Sprachmodelle oder nutzen auch Trainingsmethoden für die KI-Software, die weniger Rechenzyklen und damit weniger Energie und Zeit erfordern. Die Firma 01.AI, von dem oben genannten Buchautor Kai-Fu Lee gegründet und von den chinesischen Privatkonzernen Alibaba und Xiaomi unterstützt, arbeitet mit einem Trainingsformat, das den Zeit- und Energieaufwand reduziert. Die Firma könne nicht auf viele GPUs (spezialisierte Chips für Grafikverarbeitung und KI) zugreifen. Das zwinge zur Entwicklung einer sehr effizienten KI-Infrastruktur, zitiert das Wallstreet Journal Kai-Fu Lee. Der Chef von Baidu, einer Internet-Plattform, zugleich spezialisiert auf autonomes Fahren, warnte auf einer Konferenz im Juli 2024 in Peking vor einer Verschwendung knapper Computer-Ressourcen für die Entwicklung großer KI-Sprachmodelle. Wichtiger seien KI-gestützte Apps, also kleine Programme, die praktischen Nutzen hätten.
Der chinesische Bytedance-Konzern, Chinas “App-Fabrik”, aus dem die weltweit verbreitete App TikTok stammt, hat in den letzten Monaten mehr als 20 auf KI basierende Apps veröffentlicht, darunter einen Englisch-Tutor und ein Programm zur Erstellung eigener Videos. Andere Apps generieren aus Texten Videos. Drei der zehn KI-Apps mit den meisten Downloads in diesem Jahr in den USA stammen von chinesischen Firmen.
Auf der Konferenz im Juli in Peking erklärte ein Manager von Huawei, es sei falsch zu glauben, China könne nicht bei der Künstlichen Intelligenz führend sein, nur weil es nicht die modernsten Chips habe. In Unternehmen, staatlichen Rechenzentren und Forschungseinrichtungen werde fast die Hälfte aller großen KI-Sprachmodelle auf Ascend-Chips von Huawei trainiert. Andere chinesische Technologiekonzerne wie Baidu, Alibaba und Tencent nutzen eigene, inhouse entwickelte Chips, um ihre KI-Modelle zu testen.
Es ist offensichtlich, dass die US-Chip-Sanktionen Chinas Vormarsch auf dem Gebiet der Schlüsseltechnologie künstliche Intelligenz nicht gestoppt haben.
Wirtschaftskooperation zwischen China und Afrika: FOCAC
Auf dem diesjährigen Wirtschaftsforum für chinesisch-afrikanische Zusammenarbeit, FOCAC, in der chinesischen Hauptstadt Beijing vereinbaren China und Afrika eine Fortsetzung und Vertiefung ihre Wirtschafts- und Handelspartnerschaft.
FOCAC steht für "Forum on China–Africa Cooperation", das die Zusammenarbeit zwischen China und den Staaten Afrikas fördert. Seit seiner Gründung im Jahr 2000 hat sich das Forum FOCAC auf die Verwirklichung von gemeinsamem Wohlstand und nachhaltiger Entwicklung für die Völker Chinas und Afrikas konzentriert. Der institutionelle Aufbau und die praktische Zusammenarbeit im Rahmen des Forums hat zu bemerkenswerten Ergebnissen geführt. Es umfasst alle afrikanischen Länder, mit Ausnahme von Eswatini, das keine diplomatischen Beziehungen zu China unterhält.
Seit dem Bestehen von FOCACseit 2000 waren die vier größten Projekte, die durch chinesische Darlehen an afrikanische Staaten finanziert wurden, Verkehr mit 38,2 Milliarden US-Dollar, gefolgt von Energie/Energie mit 30,1 Milliarden US-Dollar, Bergbau/Öl mit 19,2 Milliarden US-Dollar und schließlich die Kommunikation mit 7,0 Milliarden US-Dollar.
China war in den letzten 15 Jahren der größte Handelspartner des afrikanischen Kontinents und eine wichtige Quelle für ausländische Investitionen.
Das Handelsvolumen erreichte im Jahr 2023 einen Rekordwert von 282 Milliarden Dollar, was einem Anstieg von 1,5 % gegenüber dem Vorjahr entspricht.[1]
Das FOCAC-Forum hat sich seit seiner Gründung im Jahr 2000 zu einer effizienten und einzigartigen Plattform für die Süd-Süd-Kooperation entwickelt. Das diesjährige Gipfeltreffen war das vierte Treffen auf Führungsebene unter Beteiligung von 53 Staats- und Regierungschefs afrikanischer Länder, an dem auch der Generalsekretär der Vereinten Nationen, Antonio Guterres teilnahm.
Im Mittelpunkt des Forums stand die Förderung der gegenseitigen Partnerschaft, die Stärkung der industriellen Integration und die Vertiefung der Zusammenarbeit in zukünftig wirtschaftlich relevanten Sektoren.[2]
Zukünftige Kooperation und finanzielle Unterstützung Afrikas in den nächsten drei Jahren
Die chinesische Regierung wird 360 Milliarden Yuan (50,7 Milliarden US-Dollar) an finanzieller Unterstützung für die Umsetzung der vereinbarten Maßnahmen bereitstellen, wobei die Unterstützung von 29.508.465.000 US-Dollar in Form von Kreditlinien , 11.245.905.760 US-Dollar an Hilfe in verschiedenen Formen und mindestens 9.840.167.540,00 US-Dollar an Investitionen in Afrika durch chinesische Unternehmen
als finanzielle Unterstützung für die Umsetzung verschiedener Modernisierungsinitiativen und weitere Förderungen der afrikanischen Entwicklung umfassen.
China will dabei etwa 1 Million Arbeitsplätze in Afrika schaffen, Kooperationsprojekte in den Bereichen saubere Energie und digitale Technologie initiieren und ein Programm zur Stärkung afrikanischer KMUs (kleine und mittlere Unternehmen) auflegen.[3]
Als eine besondere Maßnahme zur Förderung der Süd-Süd-Kooperation ist die Entscheidung der chinesischen Regierung anzusehen, dass alle am wenigsten entwickelten Länder (LDC), die diplomatische Beziehungen zu China unterhalten, einschließlich der 33 afrikanischen Länder, von Handelszöllen befreit werden sollen., d. h. eine unilaterale Nullzollbehandlung für 100 Prozent der Einfuhrgüter erhalten.
Die Vereinten Nationen definieren die "Least Developed Countries" (LDCs) oder die am wenigsten entwickelten Länder als „Länder mit niedrigem Einkommen, die mit schwerwiegenden strukturellen Hindernissen für eine nachhaltige Entwicklung konfrontiert sind“ Derzeit führen die UN-Behörden 45 dieser Länder auf ihrer Liste. Die Hauptkriterien sind dabei ein niedriges Bruttonationaleinkommen, (pro Kopf unter 1.018 US-Dollar), ein geringes Humankapital und eine hohe wirtschaftliche Verwundbarkeit (Anfälligkeit für externe wirtschaftliche Schocks und Naturkatastrophen.)[4]
Zum Status der Handelsbeziehungen China : Afrika
Der Handel zwischen Afrika und China stieg 2023 auf einen neuen Rekord von 282,1 Milliarden US-Dollar, ein Zuwachs von 100 Millionen US-Dollar oder 1,5 Prozent gegenüber dem Vorjahr. [5]
Chinas Importe afrikanischer Waren erreichten in der ersten Hälfte dieses Jahres einen Wert von 60,1 Milliarden Dollar, was einem Anstieg von 14 Prozent im Vergleich zum Vorjahr entspricht, teilte das Handelsministerium mit. Die umfangreichen Einfuhren landwirtschaftlicher Erzeugnisse aus Afrika sind ein wichtiger Aspekt der chinesisch-afrikanischen Handelskooperation. Der Umfang der aus Afrika eingeführten landwirtschaftlichen Erzeugnisse ist in den letzten sieben Jahren kontinuierlich gestiegen, soll aber durch die erwähnten unilateralen Erleichterungen der Zollbestimmungen intensiviert werden.
Neue partnerschaftliche Modernisierungsmaßnahmen
In den nächsten drei Jahren sind im Rahmen der FOCAC Süd-Süd Kooperation mehrere neue Projekte und Kooperationsbereiche zwischen China und Afrika in Vorbereitung:
Erneuerbare Energien. Hier ist ein signifikanter Schwenk hin zur Energieproduktion aus erneuerbaren Ressourcen in Afrika vorgesehen. Es geht um die Nutzung von Sonnen- und Windenergie, die auf dem afrikanischen Kontinent weithin verfügbar sind, ebensoum die Bereitstellung chinesischer Technologien für erneuerbare Energien und um die Erschließung Afrikas als wichtiger Absatzmarkt für "grüne" Technologien aus China.
Neue Industriezweige sollen ebenso wie die Integration von Liefer- und Produktionsketten in der Zusammenarbeit im Bereich neuer Energiefahrzeuge aufgebaut und gefördert werden. Gleichzeitig soll der Austausch zwischen chinesischen und afrikanischen Unternehmern über "Integration von Industrie- und Lieferketten" und "Entwicklung neuer Industrien" die weitere Zusammenarbeit fördern.
Digitale Innovation als ein sich abzeichnender neuer Sektor mit starken Asuwirkungen aüf die zukünftige Wirtschaftsentwicklung soll sich auch in der Kooperation zum partnerschaftlichen Vorteil stark gefördert werden.
Infrastrukturprojekte bleiben als Voraussetzung für die Wirtschaftsentwicklung weiterhin wichtig, So soll der Bau und die Modernisierung von Straßen, Eisenbahnen, Brücken und Häfen zur Verbesserung des afrikanischen Verkehrsnetzes weiterhin besondere Förderung erfahren.[6]
Medienberichten zufolge hat China den Bau und die Verbesserung von über 10.000 Kilometern Eisenbahnstrecke, fast 100.000 Kilometern Straßen, fast 1.000 Brücken und fast 100 Häfen in Afrika unterstützt. Diese Infrastrukturprojekte haben die Konnektivität, die wirtschaftliche und soziale Entwicklung sowie die Industrialisierung und Modernisierung des gesamten Kontinents erheblich verbessert. [7]
Auch die Zusammenarbeit im Rahmen der Belt and Road Initiative (BRI) soll im Zuge neuer vorgestellter Kooperationspläne vertieft werden.
Finanzielle Zusammenarbeit. Hier werden neue Ansätze für die finanzielle Zusammenarbeit diskutiert, nachdem das Volumen chinesischer Kredite für Projekte in Afrika in den letzten Jahren zurückgegangen ist.
Die neuen Projekte und Kooperationsbereiche zielen darauf ab, die China-Afrika-Beziehungen auf ein höheres Niveau zu heben und die Zusammenarbeit an die aktuellen globalen Herausforderungen und Möglichkeiten anzupassen.[8]
China zeigt sich nach Meinungen von Beobachtern der FOCAC 24 entschlossen, im Rahmen der partnerschaftlichen Modernisierungsmaßnahmen die Zusammenarbeit mit Afrika vor allem in den zuvor genannten Bereichen wie der digitalen Wirtschaft, der künstlichen Intelligenz und der neuen Energie zu verstärken.
Afrikanische Beamte und Führungskräfte aus der Wirtschaft bringen zum Ausdruck, dass die praktischen Initiativen, die auf dem Gipfeltreffen des China-Afrika-Kooperationsforums 2024 vorgestellt wurden, vielversprechend seien, um die Modernisierungsbemühungen der afrikanischen Länder zu beschleunigen.
Als ein Beleg dafür sind Beleg zwei ausgewählte Beispiele für die Süd-Süd Kooperation zu nennen:
Südafrika - Mit seiner riesigen Verbraucherbasis, seinem vielversprechenden Wachstumspotenzial und seiner Innovationskraft habe sich China zu einem Magneten für südafrikanische Unternehmen entwickelt, die ihre Präsenz ausbauen und von der wirtschaftlichen Dynamik des Landes profitieren wollen, sagte David Karl Ferreira, CEO von Vitality China under Discovery Ltd - einem in Südafrika ansässigen Finanzdienstleister.
Xiaomi -Gründer und Vorsitzender des chinesischen Smartphone-Herstellers Xiaomi, Lei Jun sagte, dass Afrikas Wirtschaftswachstum über dem globalen Durchschnitt liege und die Errichtung der Freihandelszone des Kontinents die grenzüberschreitende Handels-kooperation und Marktintegration fördere.[9]
Chinas Investitionen in Afrika gehen demzufolge über die traditionelle Rohstoffgewinnung hinaus und erstrecken sich auch auf das verarbeitende Gewerbe, den erwähnten Bau von Infrastrukturen, die digitale Wirtschaft und die Ausbildung von Arbeitskräften. Dieser diversifizierte Investitionsansatz hilft den afrikanischen Ländern nicht nur bei der Entwicklung ihrer Industriesysteme und der Steigerung des Produktwerts, sondern soll auch ihre Wettbewerbsfähigkeit auf dem Weltmarkt verbessern.
Bewährte Kooperation zur landwirtschaftlichen Entwicklung
Afrika kämpft seit langem mit der großen Herausforderung der Nahrungsmittelknappheit. Die afrikanische Landwirtschaft war während des langen Prozesses der Globalisierung immer wieder von verschiedenen Störungen wie etwa den Kolonialismus belastet und insofern unterentwickelt. Einer der Hauptgründe für die Stagnation der landwirtschaftlichen Produktion sind veraltete Produktionstechnologien und traditionelle landwirtschaftliche Praktiken. In diesem Zusammenhang hat die chinesische Hybridreis-Technologie, die für ihre hohe Effizienz und beeindruckenden Erträge bekannt ist, zu einem revolutionären Wandel in der Wahrnehmung der Landwirtschaft auf dem gesamten Kontinent geführt.
Chinas Hybridreis wird inzwischen in mehr als 20 afrikanischen Ländern angebaut.
Die Anwendung von Chinas Hybridreis-Technologie wird von Ernährungs-Experten als eine der wichtigsten Errungenschaften der landwirtschaftlichen Zusammenarbeit zwischen China und Afrika angesehen, die die Selbstversorgung der afrikanischen Länder mit Getreide erheblich verbessert hat.
China hat 24 landwirtschaftliche Technologie-Demonstrationszentren auf dem gesamten Kontinent eingerichtet und fördert dort mehr als 300 fortschrittliche und praktische Technologien, darunter Maisanbau, Gemüseanbau und Maniokvermehrung. Diese Entwicklung hat zu einer beeindruckenden Steigerung der lokalen Ernteerträge geführt, die zwischen 30 und 60 Prozent im Vergleich zu früheren Werten liegen.[10]
Insgesamt hat die landwirtschaftliche Zusammenarbeit zwischen China und Afrika sowohl in technischer als auch in wirtschaftlicher Hinsicht zu bedeutenden Erfolgen geführt. Noch wichtiger ist, dass sie einen Wandel der gesellschaftlichen Perspektiven in ganz Afrika gefördert und damit die Modernisierung des Agrarsektors des Kontinents vorangetrieben hat. Dies soll auch im Zuge der Modernisierungsmaßnahmen weiter vorangetrieben werden.
Im Zuge der Fortsetzung der FOCAC-Kooperation soll des Weiteren eine gemeinsame Krankenhausallianz gegründet werden, im Rahmen dessen gemeinsame medizinische Zentren zu errichten sind. Als ein erster Schritt werden 2000 medizinische MitarbeiterInnen in Afrika tätig werden und dazu beitragen, die vereinbarten Programme für Gesundheitseinrichtungen und Malariabehandlung umzusetzen.[11]
China wird Afrika 140.512.590 Mil. US-Dollar an militärischer Unterstützung zukommen lassen, 6.000 Militärangehörige und 1.000 Polizei- und Strafverfolgungsbeamte aus Afrika ausbilden und 500 junge afrikanische Militäroffiziere zu einem Besuch in China einladen, um die Partnerschaft für gemeinsame Sicherheit zu stärken.
Westliche Sichtweisen der Süd-Süd-Kooperation
Westliche Analysen, die sich mit den wirtschaftspolitischen Maßnahmen auf der Grundlage von FOCAC befassen, betonen trotz ihrer Vorbehalte gegenüber der chinesischen Politik die positiven Auswirkungen für die afrikanische Bevölkerung. [12]
„China verzahnt in Afrika bei der Entwicklungszusammenarbeit zahlreiche Instrumente der Außenpolitik wie Propaganda, Diplomatie, Handel, Investition, Entwicklungshilfe und Militärkooperation eng miteinander. Diese wirken sich zwar auch negativ auf bestimmte Bereiche des Alltags vieler Afrikanerinnen und Afrikaner aus, aber unterstützen zugleich das Wachstum, die Beschäftigungsverhältnisse und die Handlungsfreiheit der jeweiligen Regierungen und sogar der intergouvernementalen Institution der Afrikanischen Union. Somit verdrängt China die Afrikapolitik anderer Akteure wie der USA, Frankreich und der EU.“[13]
Der IWF kommt in seiner Bewertung der Handelsbeziehungen zwischen China und Afrika zu der Einschätzung, dass Chinas Engagement in Afrika zum Wirtschaftswachstum vieler afrikanischer Länder beigetragen hat. Die chinesischen Investitionen und der Handel haben neue Arbeitsplätze geschaffen und die Infrastruktur verbessert. Diversifizierung der Partner: Die Präsenz Chinas als Handelspartner hat den afrikanischen Ländern eine Alternative zu traditionellen westlichen Partnern geboten. Dies hat ihre Verhandlungsposition gestärkt und neue Möglichkeiten eröffnet. Entwicklungsmodell: China wird als Vorbild für schnelles wirtschaftliches Wachstum gesehen. Länder wie Äthiopien haben Aspekte des chinesischen Entwicklungsmodells übernommen, was zu Fortschritten in bestimmten Sektoren geführt hat.[14]
Auch betont der IWF die Wichtigkeit der Multilaterale Zusammenarbeit und ermutigt China sogar, sich stärker in globale Entwicklungsinitiativen einzubringen. Es ist davon auszugehen, dass der IWF Insgesamt sowohl Chancen als auch Herausforderungen in den chinesisch-afrikanischen Handelsbeziehungen sieht und plädiert nachvollziehbar für einen ausgewogenen Ansatz, der die Vorteile maximiert und die Risiken minimiert. [15]
Bereits in den 2010er Jahren kommt der wissenschaftliche Dienst des deutschen Bundestages zu der Erkenntnis, dass China trotz aller Bedenken der Konkurrenz zu deutschen und europäischen Projekten bei der Etablierung multilateraler Machtpole darauf bedacht sei, sich nicht durch Aktionen zu isolieren wie in der Vergangenheit. Auch halten sie eine Sichtweise, wonach China in Afrika als neokolonialistischer Rohstoff-Extrakteur auftrete, für verkürzt und verweisen auf den vielfältigen sozioökonomischen Aufschwung, den gerade die Technologie- und Infrastrukturabkommen der jüngsten Zeit den afrikanischen Staaten tatsächlich bringen könnten.[16]
Der Plattform „China Global South Projekt“ ist zu entnehmen, dass China sich als eine Art moralischer und politischer Sprecher für den globalen Süden positioniere, wobei Afrika eine Schlüsselrolle einnehme und China bemüht sei, neue Absatzmärkte zu finden. [17]
Nur zum Verständnis, FOCAC wurde im Jahr 2000 begründet und inzwischen sind schon viele Projekte realisiert bzw. initiiert worden, so dass der Warenaustausch nicht erst in diesem Jahr in den Beziehungen eine Rolle spielt.
Chinas Beteiligung an Friedenssicherungsmaßnahmen und Konfliktlösungen auf dem Kontinent spiegelt dabei ein wachsendes Engagement für politische Stabilität in der Region wider. Gemäß dem Stockholm International Peace Research Institute (SIPRI) hat China signifikant zur UN-Friedenssicherung in Afrika beigetragen, mit über 2.500 chinesischen Soldaten in verschiedenen Missionen.[18]
Der am Wirtschaftsgipfel teilnehmende UN-Generalsekretär António Guterres betonte in seiner Rede in Beijing, dass u. a. auch China und Afrika gemeinsam in der Lage seien,
die dringend nötige »Revolution« hin zu erneuerbaren Energien sowie zu digitalen Technologien auf dem afrikanischen Kontinent zu steuern. Die China-Afrika- Zusammenarbeit sei »eine Säule« der Süd-Süd-Kooperation, die notwendig sei, um die UN-Entwicklungsziele zu erreichen. Beide Seiten hätten dabei die volle Unterstützung der Vereinten Nationen.[19]
Westliche Polemik „Schuldenfalle“
Beim letzten Treffen 2018, ebenfalls in Peking, sagte der chinesische Staatspräsident Xi den afrikanischen Ländern Finanzmittel in Höhe von 60 Mrd. USD zu, darunter 20 Mrd. USD in Form von Kreditlinien sowie 15 Mrd. USD in Form von Zuschüssen, zinslosen Darlehen und Darlehen zu Vorzugsbedingungen. Die praktischen Ergebnisse der Zusammenarbeit zwischen China und Afrika liefern seit langem einen belegbaren Beweis, dass die systemkonkurrenz-getriebene Voreingenommenheit westlicher Länder gegenüber der bilateralen Süd-Süd-Kooperation von China und Afrika wenig zutreffend ist. Lange Zeit stand der Westen der Zusammenarbeit zwischen China und Afrika voreingenommen gegenüber, betrachtete Chinas Investitionen in Afrika durch die Brille des Kalten Krieges und verbreitete sogar bösartige Narrative wie „Neokolonialismus“ und „Schuldenfalle“. China würde afrikanischer Staaten in eine „Schuldenfalle“ locken bei der Bewilligung von Krediten.
Dazu ist anzumerken, dass zum Mythos der „Schuldenfalle Diplomatie“ der Politikwissenschaftler Ajit Singh von der Manitoba Universität, Kanada jahrzehntelang nachweist und auch belegt, dass chinesische Kredite nicht die Hauptursache für die Verschuldungsproblematik sind. Zudem läßt sich belegen, dass China kein räuberisches Verhalten gegenüber den Schuldnerländern an den Tag legt, indem es Schulden dazu nutzt, die Übernahme strategischer Vermögenswerte und natürlicher Ressourcen zu erleichtern oder die militärische Expansion zu fördern.[20]
Eine Schlussbemerkung
Es bleibt zu verfolgen, in welchem Maße und in welchem Zeitraum sich die Kooperation zwischen China und Afrika im Rahmen von FOCAC und der Initiative Belt and Road entwickelt. Die weitere Entwicklung hängt nicht zuletzt von dem sich verschärfenden Konflikt zwischen dem globalen Norden und dem globalen Süden ab, im Rahmen dessen auch die partnerschaftlichen Beziehungen von China und Afrika zu beobachten sind, ebenso wie die Bemühungen westlicher Länder und auch der EU, verloren gegangenes Vertrauen in Afrika wieder aufzubauen und mit China geopolitisch zu konkurrieren.
Quellenangaben
2 https://www.caixinglobal.com/2024-09-05/china-africa-summit-xi-pledges-50-billion-in-financial-aid-102233825.html;
https://www.kapitalkompakt.de/blog/china-afrika-gemeinschaft-globale-zusammenarbeit
5 https://table.media/africa/news/china-afrika-handel-auf-rekordhoch
6 https://2024focacsummit.mfa.gov.cn/eng/
https://www.globaltimes.cn/page/202408/1318438.shtml?id=11
8 Jörg Kronauer: https://www.jungewelt.de/artikel/483195.focac
9 https://www.chinadailyhk.com/hk/article/592416#Connectivity-of-industrial-chains-to-be-enhanced
10 https://www.globaltimes.cn/page/202409/1319253.shtml
11 Jörg Kronauer: https://www.jungewelt.de/artikel/483195.focac
12 https://www.megatrends-afrika.de/publikation/mta-spotlight-37-focac-2024-welche-strategie-im-umgang-mit-china-in-afrika
19 Jörg Kronauer: https://www.jungewelt.de/artikel/483195.focac
20 Ajit Singh: Der Mythos der "Schuldenfalle Diplomatie" und die Realitäten der chinesischen Entwicklungsfinanzierung, https://www.tandfonline.com/doi/full
Selbstbewusste Belegschaft: Wir sind Volkswagen – ihr seid es nicht!
Was für ein Schmalz, was für ein ideologisches Geschwätz bei der Androhung von Massenentlassungen und einer ersten Werksschließung in Brüssel.
Unter der Überschrift „Festgefahren“ wurde in „arranca“1 im Juli diesen Jahres ein Aufsatz von mir veröffentlicht, in dem beschrieben ist, wie die Autoindustrie die Verkehrswende blockiert und mit ihrer hochpreisigen Luxusstrategie in eine strategische Sackgasse rast.
Die Anzahl der Beschäftigten in der Auto- und Zulieferindustrie sank in den letzten vier Jahren um ca. 50.000, mit Ford hat einer der großen Hersteller bereits eine Fabrik in Saarlouis geschlossen, die Inlandsproduktion sank fast um die Hälfte von 5,7 Mio. auf 3 Mio. Fahrzeuge, während die Profite auf sagenhafte 60 Milliarden Euro stiegen. Bei der jüngsten Betriebsversammlung im Wolfsburger Werk am 4. September sagte der Finanzchef von VW: „Es fehlen uns die Verkäufe von rund 500.000 Autos, die Verkäufe für rund zwei Werke. Und das hat nichts mit unserer Produktion zu tun oder schlechter Leistung des Vertriebs. Der Markt ist schlicht nicht mehr da.“ Überraschend ist das nicht, was jetzt bei VW passiert. Bisher wurden die Überkapazitäten in der Autoindustrie immer beim jeweils anderen Hersteller oder „in China“ verortet.
Erstmals werden jetzt bei VW innerhalb eines Konzerns Überkapazitäten eingestanden.
Natürlich müssen diese Überkapazitäten abgebaut werden – durch den Aufbau von Produktion für nachhaltige öffentliche Mobilität und durch Arbeitszeitverkürzung.
Ende Mai dieses Jahres haben wir bei einem Ratschlag der Rosa-Luxemburg-Stiftung dazu eine Erklärung verabschiedet: Verkehrswende jetzt – für Klimaschutz und gutes Leben. Ein Diskussionsangebot des Gesprächskreises Zukunft Auto Umwelt Mobilität der Rosa-Luxemburg-Stiftung.2
Arbeitszeitverkürzung gehört, wie die Vier-Tage-Woche 1994, selbstverständlich zu den Maßnahmen, die sofort umgesetzt werden können, um Überkapazitäten abzubauen und die bisher verweigerte Verkehrswende einzuleiten.
Im vom damaligen Bezirksleiter der IG Metall Jürgen Peters herausgegebenen kleinen, inzwischen vergriffenen Büchlein, wurde die Erfahrungen festgehalten: „Modellwechsel – Die IG Metall und die Viertagewoche bei VW“ (Steidl-Verlag Göttingen, Dezember 1998).
Nun also, passend zur Mobilmachung, zur Erzeugung der Kriegstüchtigkeit und zum super Rüstungsetat, die Kriegserklärung des Porsche-Piëch -Clans und seines Managements an die hunderttausend Arbeiterinnen und Arbeiter der Marke Volkswagen und an die 3.000 Malocher bei Audi in Brüssel. Es geht bei der Androhung von Massenentlassungen und Werksschließungen nicht um auszugleichende Verluste, sondern letztlich um eine Umgruppierung des Kapitals zu lasten derjenigen, die den sagenhaften Reichtum der Großaktionäre erst geschaffen haben.
Wenn mit Rüstung und Krieg mehr Geld verdient werden kann als mit zum Beispiel Autos, dann gruppiert sich das Kapital eben um.
Falls jemand über die Not in den Werken von Volkswagen diskutieren will:
137 Milliarden Euro Gewinnrücklagen und mehr als 16 Milliarden Euro Nettogewinn 2023 in der Bilanz des Konzerns. Davon ausgeschüttet wurden 4,5 Milliarden 2024, gut 1,5 Milliarden Euro direkt an den Porsche-Piëch-Clan.Die Gift-Küche des VW-Managements: Spalten, herrschen, Kosten senken.
Das Management von VW verbreitet das Märchen, es würden vier Milliarden Euro fehlen. Aber es geht nur darum, die Kosten schneller zu senken, die hohen Gewinnerwartungen schneller zu erfüllen. Die vier Milliarden Euro fehlen ihnen zu einer angepeilten Umsatzrendite von 6,5 Prozent3. Darum geht es. Auch die Marke VW hat in zurückliegenden Jahren Umsatzrenditen in Höhe von mehr als vier Prozent geliefert. Bei hundert Milliarden Euro Umsatz kommen da ein paar Milliarden leicht zusammen, das Ziel von 10 Milliarden rückt aber mit der Unterauslastung der Fabriken in unerreichbare Ferne. Der Finanzvorstand Arno Antlitz bringt keinerlei Belege, wenn er bei der Betriebsversammlung in Wolfsburg behauptet, für die Marke VW würde „seit geraumer Zeit“ mehr Geld ausgegeben als eingenommen. Nun also die Kriegserklärung gegenüber allen, die diesen Reichtum geschaffen haben, an die Arbeiter_innen, Ingenieur_innen und Kaufleute:
- Der Tarifvertrag zur Beschäftigungssicherung soll gekündigt werden. Damit sollen, erstmals seit 1994, betriebsbedingte Entlassungen möglich werden.
- Das wäre Voraussetzung für den zweiten Punkt, nämlich die Androhung von Werksschließungen.
- Markenchef Schäfer sagt, die Reduzierung der Personalkosten um 20 Prozent reichten nicht aus,
- eben so wenig wie Abfindungen oder Altersteilzeit,
- die Anzahl der Auszubildenden muss reduziert werden und
- die höchsten Entgeltstufen, Tarif-Plus, sollen abgeschafft werden.
Es ist die Strategie des Managements, die Belegschaft gegeneinander auszuspielen: Alt gegen Jung, Büro gegen Fließband, Emden gegen Zwickau.
Konzernboss Oliver Blume wärmte die Story von der schwäbischen Hausfrau wieder auf und „verwies auf eine am Monatsende leere Familienkasse. Wenn dann der Fernseher kaputt geht, dann müssen Oma oder der reiche Onkel einspringen.“ Blume versucht es auf die sentimentale Tour: „Wir führen VW wieder dorthin, wo die Marke hingehört – das ist die Verantwortung von uns allen. Ich komme aus der Region, arbeite seit 30 Jahren im Konzern. Ihr könnt auf mich zählen und ich zähle auf Euch – Wir sind Volkswagen“.
Aber tausende in der Halle skandieren selbstbewusst:
„Wir sind Volkswagen – aber ihr seid es nicht!“4
Massenentlassungen und Werksschließungen? Die Rückkehr des Klassenkampfes
Die Herren machen das selber, dass ihnen der arme Mann Feind wird (Thomas Müntzer). Die Ankündigung von Massenentlassungen und Werksschließungen hat zu einem vieltausendfachen Aufschrei von Emden über Osnabrück, Hannover und Dresden bis Zwickau und Chemnitz, von Wolfsburg über Braunschweig und Salzgitter bis Kassel geführt. Zehntausende Arbeiterinnen und Arbeiter nahmen in den letzten Tagen an den Betriebsversammlungen in allen Werken von Volkswagen teil.
Eine Kollegin aus der Wolfsburger Personalabteilung berichtet mir: „So voll hab ich die Halle selten gesehen. Extrem große Geschlossenheit der Belegschaft. Hab noch nie erlebt, dass eine Betriebsratsvorsitzende derart deutlich unterstützt wurde. Volle Rückendeckung für Daniela Cavallo. Hervorragende Rede von ihr. Hat ihre Person ins Wort gestellt, dass es mit ihr keine Standortschliessungen gibt.
Auch gute Rede von IG Metall Bezirksleiter Thorsten Gröger. Applaus und Pfeifkonzert jeweils minutenlang! Hab ich so noch nie erlebt. Blume und Schäfer eher unbeeindruckt. Nichts Konkretes vom Vorstand, nur die üblichen Sprechblasen.“ Und ein Kollege aus dem Karrosseriebau ergänzt: „Es gab viel Stoff für den Vorstand und ihrem Versagen …. viel Gegenwind von Betriebsrat und IG Metall und nur Pfiffe für den Vorstand …. so richtig geil waren die Reden von unserer Seite und es wurde deutlich Kampfbereitschaft signalisiert …. hoffentlich bleibt das auch so.“ Flavio Benites, der Geschäftsführer der Wolfsburger IG Metall sagt: „Der Vorstand von Volkswagen hat die Axt an die Wurzeln von Volkswagen gelegt. Damit werden sie nicht durchkommen. Die IG Metall steht mit zehntausenden Mitgliedern bereit, unseren Forderungen Nachdruck zu verleihen.“
Der IG Metall-Bezirksleiter Thorsten Gröger war in Wolfsburg auf der Betriebsversammlung. Er kritisiert im Anschluss scharf: „Der Vorstand hat einen unverantwortlichen Plan präsentiert, der die Grundfesten von Volkswagen erschüttert und Arbeitsplätze sowie Standorte massiv bedroht. Dieser Kurs ist nicht nur kurzsichtig, sondern hochgefährlich – er riskiert, das Herz von Volkswagen zu zerstören. Ein solcher Kahlschlag wäre inakzeptabel und wird auf entschlossenen Widerstand stoßen. Wir werden mit aller Kraft, notfalls im harten Konflikt, für den Erhalt aller Standorte sowie der Jobs unserer Kolleginnen und Kollegen kämpfen! Pläne, die das Unternehmen auf Kosten der Belegschaft macht und die Regionen in unserem Land massiv zersetzen, werden wir nicht tolerieren.“
Ein Montagearbeiter aus Emden erzählt von der Betriebsversammlung: „Der Manni (Manfred Wulff, Betriebsratsvorsitzender) versprüht die Hoffnung, dass es mit der Stückzahl wieder hoch gehen und die Fabrik ausgelastet sein wird. Keine Ahnung, wo dieser Optimismus herkommt. Der Markenchef Schäfer hat ganz klar gesagt, dass Geld eingespart werden muss und die Beschäftigungssicherung gekündigt werden soll. Das würde bedeuten, dass eine 3-monatige Schonzeit für die Beschäftigten besteht. Danach könnte betriebsbedingte gekündigt werden. Eine einzige Katastrophe. Im Management sind diejenigen, die den Laden mit Volldampf gegen die Wand fahren. Bei der Betriebsversammlung fingen sie ihre Reden mit ‚Liebe Kolleginnen und Kollegen‘ an. Aber ihr seid nicht meine und nicht unsere Kollegen.“
Eine Kollegin aus der Lackiererei in Zwickau berichtet: „Die Motivation zu kämpfen ist am Standort nach den Ereignissen vom Montag hoch. Schäfer ist heute vom gesamten Werk lautstark mit Trillerpfeifen und Buhrufen empfangen worden. Die Stimmung zur Betriebsversammlung war kochend und brennend. Momentan kann noch niemand die Lage einschätzen. Das wird erst in den nächsten 2-3 Monaten sich zeigen. Es gibt auch Vermutungen, das VW das gemacht hat, um noch mehr Subventionen vom Land und vom Bund zu kassieren. Die ersten Reaktionen gibt es ja schon. In Gänze aber eine Katastrophe für die Belegschaft, die mal wieder den doofen macht.“ Die IG Metall aus Zwickau berichtet: Minutenlange Pfeifkonzerte nach jedem 3. Satz von VW-Markenvorstand bei der Betriebsversammlung im Fahrzeugwerk Zwickau – die Stimmung unter den rund 3000 Kolleginnen und Kollegen in Halle 26 und weiteren tausenden Beschäftigten vor der Halle kocht!! Und BR-Vorsitzender Uwe Kunstmann fand sehr deutliche Worte: „Werke in Frage zu stellen, ist als ob man ganze Regionen dem Erdboden gleich macht! Aber nicht mit uns!“5
Der Kasselaner Betriebsratsvorsitzende Carsten Büchling erklärt in einem Interview mit der Frankfurter Rundschau: „Dass jetzt betriebsbedingte Kündigungen und Werksschließungen im Raum stehen, ist Wasser auf die Mühlen der AfD. Es gibt keine Alternative zum Verbrenner-Aus! Es war schon eine Katastrophe, dass im Rahmen der EU diese Transformation zum Teil wieder infrage gestellt worden ist. Die Technik der E-Fuels, die da immer wieder als Alternative in Aussicht gestellt wird, ist nicht massentauglich. Sie ist eine Lösung für Porschefahrer. Wenn wir mehr Einfluss hätten auf strategische Entscheidungen über die Produktion, dann könnten solche krisenhaften Zuspitzungen wie jetzt bei VW vermieden werden. Unser Ziel muss sein, dass die Beschäftigten über die Produktion entscheiden. Die Beschäftigten müssen zu Miteigentümern der Betriebe werden.“6
Ein Gesetz gegen Betriebsschließungen?
Zur Frage der Möglichkeit von Werksschließungen bei Volkswagen hilft ein Blick ins Gesetzbuch: Im VW-Gesetz heißt es u.a.: (§4.2) „Die Errichtung und die Verlegung von Produktionsstätten bedürfen der Zustimmung des Aufsichtsrats. Der Beschluss bedarf der Mehrheit von zwei Drittel der Mitglieder des Aufsichtsrats.“ Mit dem Anteil des Landes und den zwei Mitgliedern der Landesregierung sowie den 10 Vertreter*innen der Beschäftigten im Aufsichtsrat wäre die „Verlegung von Produktionsstätten“ zu verhindern – aber auch die Schließung? Es gibt da noch die Satzung der Volkswagen AG, in der es konkreter formuliert ist in § 9.1: „Der Vorstand bedarf der vorherigen Zustimmung des Aufsichtsrats zur Vornahme folgender Geschäfte: 1. Errichtung und Aufhebung von Zweigniederlassungen; 2. Errichtung und Verlegung von Produktionsstätten.“
Das herrschende Recht ist das Recht der Herrschenden und das VW-Gesetz ist seit Jahrzehnten unter Dauerfeuer der neoliberalen Ideologen7. So wie der Tarifvertrag zur Beschäftigungssicherung eine Revisionsklausel hat, so gelten Gesetze auch nur so lange, wie sie den Herrschenden nutzen, sind erstens veränderbar und zweitens tatsächlich von der wirtschaftlichen Konjunktur abhängig. Deshalb bedarf es des Widerstandes gegen Hochrüstung und Sozialabbau, deshalb bedarf es des Kampfes um Mitbestimmung auch über strategische Unternehmensentscheidungen. Lange ist klar, dass es in der Weltautomobilindustrie massenhaft Überkapazitäten gibt und dass es mit der Autoproduktion und dem individuellen motorisierten Verkehr so nicht weitergehen kann. Landauf und landab ist bekannt, dass VW mit seiner Luxusstrategie am Markt vorbei plant. Deshalb hat der Kasselaner Betriebsratsvorsitzende Recht: Geld ist genügend da, es darf nur nicht von den Managern in die falsche Produktion bzw. auf die Konten des Porsche-Piëch-Clans umgeleitet werden.
Unser Grundgesetz schreibt keineswegs die kapitalistische Marktwirtschaft als einzig geltende Wirtschaftsform fest. In Artikel 14 und 15 geht es um die Pflicht des privaten Eigentums, dem Allgemeinwohl zu dienen und dessen mögliche Enteignung zum Zwecke der Vergesellschaftung und Überführung in Gemeineigentum.
Wann, wenn nicht jetzt ist es Zeit, den Rahmen für eine demokratische Wirtschaftsplanung zu schaffen, um soziale und politische Katastrophen bei VW oder anderen Autoherstellern zu verhindern.
Dazu sollten demokratische regionale Transformationsräte geschaffen werden mit Beteiligung aller wesentlichen Akteure aus der Wirtschaft und der Politik, natürlich der Gewerkschaften, aber auch der Wissenschaft, den Umwelt-, Klima- und Verkehrsinitiativen. Ohne Klassenkampf ist das aber nicht zu machen, es helfen am Ende nur das Unternehmensrecht und das Arbeitsrecht, wenn es im Arbeitskampf durchgesetzt wird.
Zum Schluss etwas BWL: Der Porsche-Piech-Clan verfügt über gut 50% der Stimmrechte (Stammaktien) und 32% der Anteile (Aktien inkl. Vorzugsaktien) insgesamt, das macht in der Addition ca. 165 Millionen Aktien x 9 Euro pro Aktie = 1,5 Milliarden Euro Dividende für den Clan.
Bei den Gewinnrücklagen in Höhe von über 130 Milliarden Euro handelt es sich um Jahresüberschüsse, die nicht ausgeschüttet, sondern einbehalten wurden. Diese sind Bestandteil des Eigenkapitals, quasi ein finanzielle Reserveposten. Aus dem Volkswagen-Geschäftsbericht 2021: „Aus den Anderen Gewinnrücklagen wurde ein Betrag von 13,5 Mrd. € entnommen und in den Bilanzgewinn umgegliedert.“
1https://arranca.org/ausgaben/nichts-zu-verlieren/den-g%C3%BCrtel-anders-schnallen
2https://www.rosalux.de/news/id/50452/verkehrswende-jetzt-fuer-klimaschutz-und-gutes-leben
3file:///C:/Users/User/Downloads/PM_Markengruppe_Core_steigert_im_Jahr_2023_Ergebnis_und_Rendite_engere_Zusammenarbeit_zwischen_den_Volumenmarken_greift.pdf
4Wolfsburger Nachrichten, 5.9.2024
5https://igm-zwickau.de/aktuelles/meldung/vw-betriebsversammlung-letztens-waren-wir-noch-die-perle-des-unternehmens-heute-fuehlen-wir-uns-eher-wie-eine-auster-die-ausgesaugt-wird
6https://www.fr.de/wirtschaft/wasser-auf-die-muehlen-der-afd-93281901.html
7Hier das Urteil des EuGH nach Klage gegen das VW-Gesetz: https://curia.europa.eu/de/actu/communiques/cp07/aff/cp070074de.pdf
Eine desolate Spaltung der Linken in Europa
Die neue Organisation wird den Namen "European Left Alliance for the People and the Planet" (Europäische Linksallianz für die Menschen und den Planeten) tragen.
Laut Satzung will die neue Organisation "die feministischen Parteien der grünen Linken vereinen, um ein anderes Europa der Zusammenarbeit, des sozialen Fortschritts und der Arbeiterrechte aufzubauen".
Wenn man sich die Zusammensetzung der neuen politischen Einheit ansieht, ist sie nicht leicht zu verstehen. Es gibt sieben Gründungsmitglieder: La France Insoumise, die in diesen Tagen im Mittelpunkt des französischen Geschehens steht und auch in Europa ein zentraler Knotenpunkt der Linken ist, Bloco de Esquerda (Linksblock, Portugal), Podemos (Spanien), Lewica Razem (Linke Gemeinsam, Polen), Enhedslisten De Rød-Grønne (rot-grüne Einheitsliste, Dänemark), Vänsterpartiet (Linkspartei, Schweden) und Vasemmistoliitto (Linksallianz, Finnland).
Der portugiesische Bloco de Esquerda, die dänischen Einheitslisten und die finnische Linksallianz waren bis vor kurzem Mitglied der Partei der Europäischen Linken (EL).
Die Vorgängerpartei von La France Insoumise, die Parti de Gauche, ist schon 2018 aus der EL ausgetreten. Podemos, die schwedische Linkspartei und die polnische Razem waren nie Mitglied der EL.
Die Gründung dieser neuen Partei geht nicht auf eine Spaltung in Bezug auf die Haltung zum Krieg zurück, zu der es unter den Gründungsparteien selbst noch große Differenzen gibt.
In der Frage des Friedens – insbesondere zur Frage der Zustimmung zu Waffenlieferungen an die Ukraine bzw. der Politik der Solidarität mit Palästina - sind die Positionen der europäischen Linken recht unterschiedlich.
Nur in Italien (Rifondazione Comunista, Sinistra Italiana, Movimento 5 Stelle) und Spanien (PCE, Izquierda Unida, Sumar, Podemos) gibt es einen breiten Konsens über eine klare Position zum Krieg: keine Waffen an kriegführende Länder; Solidarität mit Palästina.
Ganz entgegengesetzt die Position der dänischen Einheitslisten in Bezug auf den Krieg um die Ukraine. Ihr Spitzenkandidat zur EU-Wahl, Per Clausen, forderte im Wahlkampf ein Waffenexportverbot der EU in Drittländer, weil alle Waffen aus der EU in die Ukraine geliefert werden müssten. ""Die gesamte europäische Waffenproduktion sollte in die Ukraine gehen. Der Verteidigungskampf der Ukraine ist wichtiger als die Profite der Waffenhersteller - und wichtiger als EU-Missionen in Ländern wie Mali, die weit von den Grenzen der EU entfernt sind. (...) Die EU muss der Ukraine die von uns versprochenen Waffen und Munition liefern. Und wir müssen es pünktlich und ohne Verzögerung liefern. Deshalb schlage ich einen Stopp des Munitionsexports vor, damit jede in Europa hergestellte Patrone, Granate und Rakete an die Ukrainer gehen kann." [1]
Mehr als die Positionen zum russisch-ukrainischen Krieg, zum Atlantizismus oder zum israelischen Krieg gegen Palästina, die in der Fraktion unterschiedlich sind und selbst innerhalb dieser Zusammensetzung vielfältig bleiben (von der radikalen Ablehnung des Krieges durch Podemos bis zu den Kiew-nahen Positionen der Nordischen Linken), werden diese Formationen von dem Wunsch angetrieben, bestimmte Muster der Partei der Europäischen Linken zu durchbrechen, denen die deutsche Linke und die Griechen von Syriza anhängen, die noch bis vor zwei Legislaturperioden die führenden Parteien der Fraktion waren.
Schon seit einiger Zeit schwelt ein Unbehagen in Bezug auf die EL, ihre effektive Repräsentativität für eine europäische Linke, die in ihren Arbeits- und Entscheidungsmethoden vielfältiger geworden ist.
Auch nationale Fragen spielen eine Rolle: Die französische Insoumise beispielsweise waren nicht erfreut darüber, dass die Spitzenkandidatin bei den letzten Wahlen nicht die scheidende Europaabgeordnete Manon Aubry war, die von der Kommunistischen Partei Frankreichs, einem Gründungsmitglied der Europäischen Linken, mit einem Veto belegt wurde. Der portugiesische Linksblock hatte grundsätzliche Vorbehalte gegen die Aufstellung eines Spitzenkandidaten der EL für die EU-Wahl. In Spanien bekämpfen sich Sumar und Podemos.[2]
Angesichts der Tatsache, dass häufig große Verwirrung zwischen der Europäischen Partei (jetzt Parteien) und der im Brüsseler Parlament tätigen Fraktion The Left (früher GUE/NGL) herrscht, ist klarzustellen, dass letztere keine Veränderungen erfahren wird und ein einheitlicher, breiter und pluraler Raum bleibt. Zwar hat die Aussicht auf diese Spaltung zwischen den Parteien zu Beginn der Legislaturperiode zu nicht einfachen Diskussionen über die Struktur, die Arbeitsmethoden und die internen Gleichgewichte geführt, ohne jedoch jemals diesen gemeinsamen Raum in Frage zu stellen, der vor fast einem halben Jahrhundert auf Initiative der kommunistischen Parteien entstanden ist und nach und nach auch durch ganz neue Formationen bereichert wurde.
Waren es lange die DIE LINKE aus Deutschland und die ab 2015 in Griechenland erfolgreiche Partei Syriza unter Alexis Tsipras, die eine größere Anzahl Abgeordnete in die linke Fraktion im EU-Parlament sandte, nehmen nun die französische La France Insoumise und die bei den EU-Wahlen sehr erfolgreichen nordischen Linken eine führende Rolle ein. Dazu kamen nach der Wahl im Juni jetzt auch noch Abgeordnete der italienischen "Alleanza Verdi e Sinistra" (AVS) – ein Bündnis der Linkspartei Sinistra Italiana und der Partei der Grünen – und die Abgeordneten der Fünf-Sterne-Bewegung. Der Versuche des Bündnis Sahra Wagenknecht in die Fraktion aufgenommen zu werden, wurde abgeschmettert. (Parteien in der Linksfraktion: https://left.eu/delegations
Zumindest im Moment, so berichten verschiedene Parteien vor Ort, ist die Existenz der Fraktion (eine Garantie für Interventionsmöglichkeiten und Beweglichkeit in Brüssel und Straßburg) nicht gefährdet. Tatsache ist jedoch, dass die treibende Kraft hinter der Fraktion, die Partei der Europäischen Linken, im Zentrum von Spannungen und Distanzierungen steht und demnächst noch eine zweite europäische Linkspartei hinzukommt.
"Es wäre sicherlich besser gewesen, diesen gemeinsamen Geist beizubehalten, auch wenn es tiefgreifende und notwendige Veränderungen gab", meint die italienische Kommunistin Luciana Castellina in einem Kommentar zur Gründung einen neuen europäischen Linkspartei.
Die Italienerin Eleonora Forenza von Rifondazione Comunista und Mitglied des Sekretariats der Partei der Europäischen Linken: "Wir werden weiterhin für die Einheit der gesamten radikalen Linken arbeiten, die sich auf die einheitliche Fraktion Die Linke im Europäischen Parlament bezieht. Die Fraktion war schon immer intern plural".
Anmerkungen
[1] https://enhedslisten.eu/nyheder/opinion/hele-den-europaeiske-vaabenproduktion-boer-gaa-til-ukraine/
[2] neue-progressive-koalitionsregierung-in-spanien
zum Thema
kommunisten.de:
- Der-rechte-wind-ueber-der-union-linksfraktion-stabil
- Europaeische-linke-our-moment
- KEU-Parlament: Konservative, Sozialdemokraten, Grüne und Faschisten für Kampfjets für die Ukraine
- Linksbuendnis-finnland-nato-beitritt-kein-grund-fuer-austritt-aus-der-regierung
- Neue-progressive-koalitionsregierung-in-spanien
- Nicht nur DIE LINKE in Deutschland, auch SYRIZA zerlegt sich gerade selbst
Rosa Luxemburg Stiftung:
Streit um das Verbrenner-Aus
Das schadet dem Klima und droht die EU-Politik weiter für die extreme Rechte zu öffnen.
Die Unionsparteien erhöhen den Druck zugunsten einer Abkehr vom Verbrenner-Aus in der EU – mit ernsten Folgen das für Klima, die Umwelt und die europäische Politik. Wie Angelika Niebler, stellvertretende CSU-Vorsitzende und Europaabgeordnete, bekräftigt, betrachtet ihre Partei die für 2026 angekündigte Überprüfung des Verbrenner-Verbots als geeignetes „Einfallstor“, um das Verbot zu kippen. Die bereits beschlossene Ausnahme für E-Fuels reiche ihr nicht aus. Dies entspricht den Forderungen von Teilen der deutschen Kfz-Branche; während manche Konzerne wie etwa Volkswagen erklären, sie wünschten mehr Maßnahmen zur Unterstützung der Umstellung auf Elektromobilität, dringen andere, so etwa BMW, vor allem aber zahlreiche Kfz-Zulieferer auf eine längere Zulassung von Autos mit Verbrennungsmotor.
Als Brückentechnologie bewirbt die Verbrennerlobby E-Fuels, die allerdings klima- und umweltpolitisch scharf kritisiert werden: Ihre Energiebilanz gilt als verheerend; zudem setzen sie giftige Stickoxide in großen Mengen frei.
Eine Mehrheit für eine Abkehr vom Verbrenner-Aus wäre in Brüssel zudem nur mit einer Einbindung der ultrarechten EKR-Fraktion, also einer Öffnung für die extreme Rechte, zu erreichen.
Weg vom Verbrennungsmotor
Die Automobilindustrie ist – so formuliert es etwa die Bundesregierung – „der mit Abstand bedeutendste Industriezweig in Deutschland“.[1] Sie erzielte im vergangenen Jahr einen Umsatz von rund 564 Milliarden Euro, mehr als zwei Drittel davon – 393 Milliarden Euro – im Ausland. Mit beinahe 780.000 Beschäftigten ist die Branche zudem ein bedeutender Arbeitsplatzgarant. Die Umstellung auf Elektromobilität ist schon seit langer Zeit in Planung. Der Dieselskandal des Jahres 2015 schien die Stimmung weiter zu ihren Gunsten zu verschieben. Im vergangenen Jahr beschloss die EU schließlich, die Neuzulassung von Autos mit Verbrennungsmotor ab 2035 prinzipiell zu untersagen. In Deutschland ist die Umstellung auf Elektroautos jedoch in jüngster Zeit ins Stocken geraten; das Auslaufen der Umweltprämie, das die Bundesregierung sogar noch kurzfristig von 2024 auf den 18. Dezember 2023 vorzog, hat sie zusätzlich verlangsamt.
Im Juli 2024 erreichte der Anteil der Elektroautos an den Neuzulassungen in Deutschland gerade einmal 12,9 Prozent – deutlich weniger als im Vorjahresmonat (20 Prozent).[2] Dabei lag die Bundesrepublik schon im vergangenen Jahr weit etwa hinter China zurück: Waren dort bereits 7,6 Prozent aller auf den Straßen befindlichen Fahrzeuge Elektroautos, so waren es auf deutschen Straßen gerade einmal 5,4 Prozent.[3]
Zulieferer unter Druck
Bezüglich der schleppenden Umstellung auf Elektromobilität ist die deutsche Kfz-Branche gespalten. Während beispielsweise VW sich offiziell dafür einsetzt, am Verbrenner-Aus im Jahr 2035 festzuhalten und den Erwerb von Elektroautos sogar wieder stärker zu fördern [4], macht sich etwa BMW für eine Verschiebung des Verbrenner-Verbots stark [5]. Letztere wird vor allem aber von zahlreichen Kfz-Zulieferern gefordert. Zum einen tun sich manche der – oft mittelständischen – Zulieferer schwer damit, die notwendigen Investitionen zu tätigen, um eine neue Nische in den Lieferketten der Elektromobilität zu finden. Zum anderen geht die Umstellung auf Elektroantriebe nicht selten mit der Verlagerung von Zulieferfirmen ins ost- und südosteuropäische Ausland einher, wo die Löhne niedriger sind.[6] Dies hat dazu geführt, dass seit 2018 die Zahl der Arbeitsplätze bei den deutschen Kfz-Zulieferern von gut 311.000 auf 273.500 im Jahr 2023 geschrumpft ist.
Aktuell kommt hinzu, dass manche Zulieferer – etwa ZF Friedrichshafen – von der Umstellung in eine nächste Krise geraten, weil die Zahl der verkauften Elektroautos sinkt und ihre erfolgreich auf Elektromobilität umgerüsteten Sparten nun ebenfalls gravierende Absatzprobleme verzeichnen.
ZF hat kürzlich angekündigt, bis zu 14.000 Beschäftigte zu entlassen.[7]
„Falsch abgebogen“
Zu den Kfz-Zulieferern, die öffentlich eine Verschiebung des Verbrenner-Verbots gefordert haben, zählen etwa Bosch, Schaeffler oder Mahle. „Wir müssen das von der EU beschlossene vollständige Verbot für Fahrzeuge mit Verbrenner aufheben“, verlangte im März Mahle-Chef Arnd Franz [8], während Bosch-Chef Stefan Hartung erklärte, „die Welt“ werde noch bis zum Jahr 2060 benötigen, um „alle Autos zu elektrifizieren“ [9]. Ähnlich äußern sich Verbände, die Kfz-Zulieferer vertreten. Das gilt zum Beispiel für Niedersachsenmetall, einen Verband, der vor allem für die Kfz-Zulieferer des Bundeslandes eintritt; VW gehört ihm nicht an.
„Mit dem Verbrennerverbot ist die europäische Politik falsch abgebogen“, behauptete im Mai Volker Schmidt, Hauptgeschäftsführer von Niedersachsenmetall: „Die Entscheidung muss dringend korrigiert werden“.[10] Laut dem Verband werden gegenwärtig – noch – „75 Prozent der Wertschöpfung in der Automobilindustrie ... in der Zulieferbranche“ erzielt.[11]
„Gruselige Energiebilanz“
Um dem Interesse von Teilen der deutschen Kfz-Branche und insbesondere der Kfz-Zulieferer Rechnung zu tragen, hat die Bundesregierung im Frühjahr 2023 in der EU durchgesetzt, dass Pkw in bestimmten Fällen auch nach 2035 mit Verbrennungsmotoren betrieben werden dürfen [12] – und zwar dann, wenn es sich bei den verwendeten Treibstoffen um die sogenannten E-Fuels handelt. Diese dürfen zumindest am Auspuff keine CO2-Emissionen ausstoßen. Allerdings attestierten ihnen Fachleute wie der Kfz-Experte Ferdinand Dudenhöffer bereits im vergangenen Jahr eine „gruselige Energiebilanz“ (german-foreign-policy.com berichtete [13]). Ihr Wirkungsgrad wird mit lediglich 13 Prozent beziffert; der Großteil der Energie, die sie enthalten, verpufft als Wärme.
Mit Blick auf den Strom, der zu ihrer Herstellung nötig ist, konstatiert der Direktor des Center of Automotive Management (CAM), Stefan Bratzel: „Mit der gleichen Menge Strom kann ein Elektroauto etwa viermal weiter fahren als ein Verbrenner, der E-Fuels nutzt.“[14]
Darüber hinaus sind synthetische Kraftstoffe zwar möglicherweise CO2-neutral, stoßen bei ihrer Nutzung in Verbrennungsmotoren aber unter anderem giftige Stickoxide aus – und zwar nicht weniger als traditionelle fossile Kraftstoffe.
Die eFuel Alliance
Dessen ungeachtet setzen sich einige Autohersteller wie Porsche und Mazda, zudem diverse Energieunternehmen – darunter ENI, ExxonMobil und Repsol –, vor allem aber bedeutende Kfz-Zulieferer wie Bosch, Mahle, Webasto oder ZF unter dem Dach der Lobbyorganisation eFuel Alliance [15] für die Nutzung synthetischer Treibstoffe ein. Vorsitzende der eFuel Alliance ist die Sozialdemokratin und einstige Greenpeace-Aktivistin Monika Griefahn, vormals auch Umweltministerin Niedersachsens. Der Lobbyorganisation hat sich zudem Niedersachsenmetall angeschlossen.
Auf dem Weg nach rechts
Zugleich machen sich Teile der deutschen Politik für eine Verschiebung des Verbrenner-Verbots stark. Dies gilt etwa für die Unionsparteien und die Freien Wähler im Bundesland Bayern; so hat sich Manfred Weber (CSU), Partei- und Fraktionsvorsitzender der Europäischen Volkspartei (EVP), mehrfach gegen das Verbrenner-Aus ausgesprochen [16], während etwa Hubert Aiwanger (Freie Wähler) kürzlich bekräftigte: „Das Verbrenner-Aus ist tödlich für die deutsche Autoindustrie.“[17] Auch die FDP setzt sich – nicht zuletzt im Interesse mittelständischer Kfz-Zulieferer – für eine längere Zulassungsdauer von Fahrzeugen mit Verbrennungsmotor ein.[18]
Weil das Verbrenner-Aus auf EU-Ebene festgelegt wurde, also auch auf EU-Ebene gekippt werden muss, ist mit harten Auseinandersetzungen im Europaparlament zu rechnen. Dort beharren vor allem Grüne und SPD auf dem Verbrenner-Aus im Jahr 2035. Eine Mehrheit ist voraussichtlich nur mit den Stimmen der Rechtsaußenfraktion der Europäischen Konservativen und Reformer (EKR) zu erreichen, die von den ultrarechten Fratelli d’Italia (FdI) der italienischen Ministerpräsidentin Giorgia Meloni geführt wird.
Damit treibt die Forderung nach einer Abkehr vom Verbrenner-Aus die Einbindung der äußersten Rechten zur Beschaffung von Mehrheiten auf EU-Ebene voran.[19]
[1] Automobilindustrie. bmwk.de.
[2] Pkw-Neuzulassungen Juli 2024: Weniger E-Autos als im Vorjahr. adac.de 07.08.2024.
[3] Global EV Data Explorer. iea.org 23.04.2024.
[4] VW-Chefin fordert klares Bekenntnis zum Verbrenner-Aus. focus.de 26.03.2024.
[5] Joaquim Oliveira: BMW verrät, welche Fahrzeuge den Kunden nach 2035 angeboten werden. focus.de 05.04.2024.
[6] Christian Müßgens, Henning Peitsmeier, Benjamin Wagener: Endspiel der Autozulieferer. faz.net 25.06.2024.
[7] Martin-W. Buchenau: ZF streicht bis zu 14.000 Stellen in Deutschland. handelsblatt.com 26.07.2024.
[8] Oliver Schmale, Benjamin Wagener: „Wir müssen das vollständige Verbot für Fahrzeuge mit Verbrenner aufheben“. faz.net 12.03.2024.
[9] Bosch-Chef will noch lange an Verbrennertechnologie festhalten. spiegel.de 03.03.2024.
[10] Christian Müßgens: Pläne für Verbrenner-Aus belasten Autozulieferer. faz.net 25.05.2024.
[11] Unser Wirtschaftsstandort benötigt dringend ein umfangreiches Update. niedersachsenmetall.de 02.11.2023.
[12] EU beschließt weitgehendes Verbrenner-Aus. tagesschau.de 28.03.2023.
[13] S. dazu Deindustrialisierung in der Autobranche
[14] Simone Miller: Warum E-Fuels die Klimaprobleme des Verkehrs nicht lösen. greenpeace.de 15.05.2024.
[15] Mitglieder. efuel-alliance.eu.
[16] „Der Anstieg der Importe von chinesischen E-Fahrzeugen ist ein Alarmsignal“. adac.de 17.05.2024.
[17] Julia Meidinger: Aiwanger: Verbrenner-Aus ist „tödlich“ für die Automobilindustrie. br.de 24.07.2024.
[18] Nils Metzger, Nathan Niedermeier: Wie Wissing das Verbrenner-Aus kippen will. zdf.de 17.07.2024.
[19] S. auch Die Brandmauer rutscht
Drohungen, Schikane, Perspektivwerkstatt - wie Unternehmen Personalkosten senken
Das Ifo-Institut warnt vor drohendem Stellenabbau in Industrie und Handel.
„Die Unternehmen in Deutschland korrigieren aufgrund fehlender Kunden und Aufträge ihre Personalplanung“, meldet das Handelsblatt (1).
„Die schwache Wirtschaftsentwicklung schlägt sich auch in einer schwachen Beschäftigungsentwicklung nieder“, sagt Ifo-Umfragenleiter Klaus Wohlrabe. „Der Auftragsmangel bremst die Unternehmen bei Neueinstellungen.“. Eine leicht positive Einstellungstendenz gibt es bei den Dienstleistern, vor allem in der IT-Branche und im Tourismus. In der Industrie sieht es anders aus: „Immer mehr Unternehmen denken über einen Abbau von Arbeitsplätzen nach“, betonen die Forscher.
Personalabbau bei VW
Das Beispiel VW: Bis 2026 will der Volkswagen-Konzern zehn Milliarden Euro einsparen. Gelingen soll dies mit dem intern „Performance Programm“ getauften Vorgehen. Im Rahmen des Programms will VW vor allem die Personalkosten senken. Dazu sollen offensichtlich auch mehrere hundert Arbeitsplätze an Fremdfirmen ausgelagert werden.
Die bisherigen Maßnahmen des Managements um Thomas Schäfer (54) reichen nicht. Also wurden die Beschäftigten über die nächste Eskalationsstufe informiert“ schreibt Marleen Gründel für manager-magazin.de. Wer gehen soll, aber nicht will, wird in die „Perspektivwerkstatt“ geladen. „Das Wort klingt weniger dramatisch, als es ist“, ist sich die m-m-Autorin sicher (2). Denn Beschäftigte, die durch Umstrukturierungen ihren Arbeitsplatz verlieren, werden von ihren Aufgaben freigestellt und wechseln in die Räumlichkeiten und die Kostenstelle einer „Perspektivwerkstatt“. „Prozessbegleiter“ sollen „unterstützen“, „neue individuelle berufliche Perspektiven“ zu entwickeln, zitiert www.businessinsider.de aus einer internen Mail (3).
Die Beschäftigten durchlaufen dann „verschiedene, teils verpflichtende“ Maßnahmen, um ihre eigenen Vermittlungschancen zu erhöhen.
Mobbing als Kostensenkungsmaßnahme
Andere Unternehmen ergreifen noch massivere Maßnahmen – vor 20 Jahren wurde die MobbingLine NRW gegründet, eine Beratungsstelle auf Landesebene (4). Mehr als 60.000 Menschen haben sich seit Gründung der Hotline hilfesuchend an die circa 70 Beraterinnen und Berater gewandt und dort eine erste telefonische Beratung erhalten. Bei Bedarf werden auch weitergehende Hilfsangebote vermittelt. „Durch sie konnte in den letzten beiden Jahrzehnten zehntausenden Menschen geholfen werden. Mein großer Dank gilt daher allen Beraterinnen und Beratern sowie den Partnern der MobbingLine, die mit ihrem ehrenamtlichen Engagement das Beratungsangebot erst ermöglichen“, so NRW-Arbeitsminister Karl-Josef Laumann.
Konflikte, Diskussionen oder Streit gibt es in jedem Betrieb. Gehen Auseinandersetzungen jedoch so weit, dass Kollegen krank werden, darf nicht mehr von Normalität gesprochen werden. Häufig ist dafür Mobbing die Ursache. Mobbing bedeutet, dass eine Person am Arbeitsplatz systematisch und über einen längeren Zeitraum schikaniert, drangsaliert, benachteiligt und ausgegrenzt wird.
Wenn Softwareexperten dazu abkommandiert werden, Akten im Keller zu sortieren, hat diese einzelne Handlung allein schon das Ziel, zu verletzen. Das Signal an den Beschäftigten in Zeiten von Personalabbau ist deutlich: „Du bist nicht mehr erwünscht“. Mobbing kann deshalb auch direkt vom Vorgesetzten ausgehen. Wenn Personalabbau geplant ist, ist es aus Sicht mancher Unternehmen günstiger, Mobbing in der Belegschaft zu dulden oder zu fördern, um Sozialplankosten zu sparen. Einzelne sollen unter Druck gesetzt werden, aber auch Uneinigkeit unter den Beschäftigten hat Vorteile aus Unternehmenssicht, denn so ist Gegenwehr unwahrscheinlich.
Gegen Personalabbau wehren sich die Stahlwerker von ThyssenKrupp. Konzernchef Lopez möchte die Stahlsparte in die Selbständigkeit entlassen, um Risiken für den Mutterkonzern zu minimieren. Betriebsräte und Gewerkschaft verlangen, dass ThyssenKrupp den Stahlbereich vorher finanziell ausreichend ausstattet, um den Umbau auf klimafreundliche Stahlproduktion stemmen zu können.
„Die Belegschaft hat Angst um ihre Arbeitsplätze. Der Vorstand muss gehen, aber die Probleme bleiben, das reicht nicht. Da kommen noch mal 50 Probleme dazu, es hat sich nichts geändert.", äußert sich der Betriebsratsvorsitzende am Standort Duisburg/Beeckerwerth, Ali Güzel, im WDR-Interview (5).
„Stahl ist Zukunft“ ist die Losung der Beschäftigten, nicht erst seit heute. Durch gemeinsame Aktionen protestieren die Arbeiterinnen und Arbeiter jetzt gegen die Pläne des Vorstands.
Nachweise:
- https://www.handelsblatt.com/politik/konjunktur/jobs-ifo-warnt-vor-drohendem-stellenabbau-in-handel-und-industrie/100063892.html
- https://www.manager-magazin.de/ueber-uns/vw-continental-nvidia-telegram-berkshire-hathaway-edeka-brose-das-war-donnerstag-29-08-2024-a-cb7accda-4ebd-4af6-afe6-147d672d8941
- https://www.businessinsider.de/wirtschaft/vw-so-lagert-der-autobauer-mitarbeiter-aus-um-zu-sparen
- https://www.mags.nrw/pressemitteilung/20-jahre-mobbingline-nrw
- https://www1.wdr.de/nachrichten/ruhrgebiet/thyssenkrupp-stahl-stellen-100.html
Die Rechte ist kein Ossi-Problem
Die AfD ist kein Problem des Ostens. So lautete der Titel meiner Kolumne im Februar 2024. Heute kommt Teil 2 – denn auch wenn alle Finger gerade auf den vermeintlich braunen Osten zeigen, ist und bleibt „die Rechte“ kein „Ossi-Problem“.
Sie ist eine deutsche, europäische und globale Aufgabe. Das heißt, die Wahlergebnisse in Sachsen und Thüringen stehen für einen Rechtsruck, der keine Grenzen kennt.
Medial existiert dieser Rechtsruck vor allem in ostdeutschen AfD-Hochburgen. Diese Hochburgen führen oft westdeutsche Politik-Eliten, beispielsweise Thüringens AfD-Landeschef BjörnHöcke. Er kommt aus Nordrhein-Westfalen. Die AfD ist hier keine Ausnahme. Schon im Jahr 2022 beschrieb Denis Huschka in der Berliner Zeitung, Wie der Osten zum Sprungbrett für Politiker aus dem Westen wurde“ Laut Huschka ist der Grund für die mangelnde Teilhabe Ostdeutscher in der Politik nicht deren Unwille. Es gebe strukturelle Gründe, wie ein „Wahlkreisroulette“. Das bevorzuge westdeutsche Politiker:innen, repräsentiere aber kaum die Menschen vor Ort. Diese Lücke nutzt die AfD: Sie gibt sich volksnah, repräsentativ und schlägt Profit aus der ostdeutschen Geschichte.
Blick auf die politische Deutschlandkarte
Das heißt auch, wir sollten die Probleme dort suchen, wo sie liegen – nicht nur in Sachsen und Thüringen, sondern vor unser aller Haustür. Ein Blick auf die politische Deutschlandkarte kann hier helfen. Beispiel Baden-Württemberg: Laut dem Südwestrundfunk verloren alle im Landtag vertretenen Parteien im Jahr 2023 Mitglieder – bis auf die AfD. Nach eigenen Angaben wuchs sie um 44 Prozent. Sie legte bei den Kommunalwahlen zu und war bei der Europawahl 2024 die zweitstärkste Partei im Land. Warum sehen wir das nicht in der Tagesschau?
Beispiel Bayern: Bei der letzten Landtagswahl erzielten die AfD und die rechtskonservativen Freien Wähler zusammen mehr als 30 Prozent. Die erzkonservative CSU schaffte es auf 37 Prozent. Zusammen kamen die Rechtskonservativen in Bayern so auf fast 70 Prozent. Kürzlich machte der AfD-Landesverband in der Süddeutschen Zeitung Schlagzeilen. Neuerdings sollen AfD-Mitglieder die „Verfehlungen anderer Parteien“ per E-Mail melden, inklusive Beweismaterial. „Demokratiewächter“ nennt es die AfD, einschüchternde „Stasimethode“ die CSU. Warum schwingt die CSU die DDR-Keule und vergisst die bayerische Diktaturgeschichte?
Die AfD schüchtert aber nicht nur Politiker:innen ein. Erst am Wochenende forderte der hessische AfD-Landtagsabgeordnete Maximilian Müger mit dem Sturmgewehr im Anschlag den Kampf gegen Migration. Das heißt: mehr Waffen für weniger Migrant:innen. Der hessische AfD-Landeschef Robert Lambrou fand das TikTok-Video toll. Es bringe „inhaltlich vieles auf den Punkt“, sagte er dem Hessischen Rundfunk. Das ist Wildwest-Manier, die man im Osten vergeblich sucht. Sie schafft es immerhin auf tagesschau.de.
Die Liste geht weiter. Sie zeigt: Das Abschieben „der Rechten“ auf „den Osten“ ist keine Lösung. Denn das Abstempeln von Menschen und Regionen verschleiert nur die Gründe für die AfD-Erfolge. Rechtspopulist:innen gewinnen, weil die Volksparteien versagen.
Und Nachrichtenmedien verlieren Vertrauen, weil sie zu oft an der Oberfläche kratzen.
Bis heute scheinen „der Osten“ Stasiland und der AfD-Erfolg die logische Folge zu sein. Es wird Zeit, diese Geschichte endlich umzuschreiben.
Erstveröffentichung: Berliner Zeitung
Festung Deutschland
Polens Regierung protestiert, die Grenzkontrollen, die Deutschland schon seit dem Herbst 2023 durchführe, riefen beträchtliche „Schwierigkeiten beim Grenzverkehr“ hervor. Tschechiens Innenministerium wiederum warnt, es drohe ein „Dominoeffekt“; mit diesem stünde möglicherweise die Einführung von Kontrollen im gesamten Schengen-Raum bevor.
Mit großer Skepsis werden Grenzkontrollen vor allem in der Industrie beobachtet, die bei einer Verlangsamung grenzüberschreitender Lieferketten Milliardenverluste befürchtet.
Bei den Kontrollen, die einige wenige reiche EU-Staaten bereits heute durchführen, lassen sich Verluste noch begrenzen, da Warentransporte in der Regel ausgenommen sind.
Unklar ist jedoch, ob dringend benötigte Pendler aus Osteuropa weiterhin zur Arbeit in die Bundesrepublik fahren werden, sollten Dauerkontrollen ihre Anreise übermäßig erschweren.
Dauerhafte Grenzkontrollen brechen darüber hinaus EU-Recht und erschweren es Berlin, andere Staaten unter Berufung auf EU-Normen zu disziplinieren.
Aktuelle Grenzkontrollen
Kontrollen an den Schengen-Binnengrenzen werden zur Zeit von einer Minderheit reicher EU-Mitgliedstaaten durchgeführt – vor allem von Deutschland. Die Bundesregierung hat sie erstmals im Jahr 2015 in Gang gesetzt, um die Einreise von Flüchtlingen zu bremsen; an der Grenze zu Österreich hält sie seitdem an der Maßnahme fest.
Grenzkontrollen, die im Jahr 2020 während der Covid-19-Pandemie eingeführt wurden, wurden inzwischen wieder beendet. Auch die bundesweiten Grenzkontrollen während der Fußball-EM in Deutschland sind nicht mehr in Kraft, und diejenigen an der Grenze zu Frankreich, die zu Beginn der dortigen Olympischen Spiele eingeführt wurden, sollen nach dem Ende der Paralympischen Spiele aufgehoben werden.
Jedoch gilt eine Verlängerung der Kontrollen an den Grenzen zu Polen, zu Tschechien und zur Schweiz, die im Herbst vergangenen Jahres zur Flüchtlingsabwehr eingeführt wurden und die zumindest bis Dezember 2024 andauern sollen, als ohne weiteres vorstellbar. Grenzschließungen haben neben Deutschland auch Frankreich und Österreich verhängt; Österreich hat, in Reaktion auf die deutschen Grenzkontrollen, schon 2015 eigene Kontrollen an seiner Grenze zu Slowenien eingeführt. Kontrollen nehmen auch Dänemark, Schweden und das Nicht-EU-, aber Schengen-Mitglied Norwegen vor.
„Schurkenregierungen“
Dass Kontrollen an den Schengen-Binnengrenzen dauerhaft durchgeführt werden, ist eindeutig illegal. Grundsätzlich sind sie laut der im Frühjahr verabschiedeten Überarbeitung des Schengen-Kodex lediglich bei einer „ernsthaften Bedrohung der öffentlichen Ordnung oder der inneren Sicherheit“ zulässig; dazu zählen neben Terrorgefahr sowie internationalen Veranstaltungen „großen Umfangs oder mit hoher Öffentlichkeitswirkung“ nicht zuletzt sogenannte Migrationskrisen.[1]
Allerdings dürfen Kontrollen nur als „letztes Mittel“ zum Einsatz kommen; sie sind jeweils auf sechs Monate beschränkt und können auf bis zu zwei, in Sonderfällen auf bis zu drei Jahre [2] verlängert werden. Mehr ist auf legalem Weg nicht möglich.
Mit Blick auf Österreichs Kontrollen an der Grenze zu Slowenien urteilte im April 2022 der Europäische Gerichtshof (EuGH), die Kontrollen seien rechtswidrig; es sei daher legal, sich ihnen beim Grenzübertritt konsequent zu verweigern.[3]
Kritiker äußern sich mittlerweile recht scharf.
Eine kleine Gruppe von „Schurkenregierungen“ weigere sich, EU-Recht zu wahren, erklärte bereits im September 2023 Sergio Carrera vom Brüsseler Centre for European Policy Studies (CEPS); man müsse sie „vor Gericht ziehen“, und die EU-Kommission müsse ihrem Treiben umgehend ein Ende setzen.[4]
Milliardenverluste drohen
Klare Ablehnung gegenüber Grenzkontrollen an den Schengen-Binnengrenzen wird seit je aus Wirtschaftskreisen laut. Ursache ist, dass Kontrollen nicht nur den Export fertiger Waren bremsen, sondern vor allem auch grenzüberschreitende Lieferketten stören; dies kostet die Industrie, die sich die jeweiligen Standortvorteile der unterschiedlichen EU-Staaten zunutze macht, um ihre Profite zu optimieren, viel Geld.
Als mehrere EU-Staaten 2015 zum ersten Mal umfangreiche Kontrollen an den Schengen-Binnengrenzen einführten, wurden eine Reihe von Berechnungen über die dadurch entstehenden Schäden angestellt.
Eine Analyse etwa, die im Mai 2016 im Auftrag des Europaparlaments veröffentlicht wurde, kam zu dem Schluss, Grenzkontrollen in der kompletten Schengen-Zone würden binnen zwei Jahren Kosten in Höhe von bis zu 51 Milliarden Euro verursachen.[5] Zu den Ländern, die davon besonders stark getroffen würden, zähle Deutschland, hieß es. Aktuell bleibt der Protest aus der Wirtschaft über die neuen Vorstöße zur Ausweitung der Grenzkontrollen noch recht verhalten. Ursache ist, dass Warentransporte von den Kontrollen bisher ausgenommen sind; „wesentliche Störungen“ seien derzeitt „nicht feststellbar“, bestätigte erst vor kurzem der Bundesverband Spedition und Logistik (DSLV).[6]
Der Warentransport müsse aber kontrollfrei bleiben.
„Ressource für den deutschen Arbeitsmarkt“
Getroffen werden von Kontrollen an den Schengen-Binnengrenzen allerdings Grenzpendler. Deren Zahl ist seit der Einführung der sogenannten Arbeitnehmer-freizügigkeit für die neuen EU-Mitgliedstaaten in Ost- und Südosteuropa zum 1. Mai 2011 deutlich gestiegen. Lag sie im Jahr 2010 noch bei 66.487 Personen in West- und bei 2.087 Personen in Ostdeutschland, so waren es im Jahr 2023 bereits 144.057 im Westen und 73.193 im Osten der Bundesrepublik – 0,51 Prozent der Beschäftigten in West-, 1,15 Prozent der Beschäftigten in Ostdeutschland. Die meisten kamen aus Polen (94.173) und aus Tschechien (38.244). Sie seien „häufig in Engpassberufen“ tätig, stellten also „eine wichtige Ressource für den deutschen Arbeitsmarkt“, hieß es im April in einer Untersuchung aus dem Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung (IAB); man solle deshalb für Rahmenbedingungen „Sorge“ tragen, die ihre „Erwerbstätigkeit in Deutschland“ auch für die Zukunft sicherten.[7] Mit der Einführung umfassender Grenzkontrollen wäre das womöglich nicht mehr gewährleistet. Auch droht eine Art Kettenreaktion: Führt Deutschland dauerhafte Grenzkontrollen ein, werden Staaten wie etwa Tschechien oder die Slowakei, um nicht zum Auffangbecken für Flüchtlinge zu werden, mutmaßlich nachziehen. Das Schengen-System droht zu kollabieren.
Proteste
Haben nun deutsche Politiker wie etwa Oppositionschef Friedrich Merz (CDU) und der stellvertretende Vorsitzende der CDU/CSU-Bundestagsfraktion Jens Spahn in Reaktion auf das Attentat von Solingen die Einführung dauerhafter Grenzkontrollen gefordert [8], so werden in gleich mehreren Nachbarstaaten Proteste dagegen laut. Solche Kontrollen an den deutschen Außengrenzen seien „eine fundamentale Abkehr von ... dem Schengen-Prinzip“, erklärte eine Sprecherin des tschechischen Innenministeriums; sie würden „zweifellos zu einem Dominoeffekt von Kontrollen“ in der gesamten Schengen-Zone führen.[9] In Polen teilte das Innenministerium mit, schon jetzt riefen die Grenzkontrollen „Schwierigkeiten beim Grenzverkehr“ hervor; Berlin solle sie keinesfalls verlängern, sondern sie „frühzeitig abschaffen“. Unmut äußerte nicht zuletzt die belgische Regierung, die einen Sprecher erklären ließ, für ein Land wie Belgien, „das im Herzen Europas liegt und eine sehr offene Wirtschaft hat“, sei „das reibungslose Funktionieren der Schengen-Zone wesentlich“.[10]
Neue Spannungen
Geht die Bundesregierung tatsächlich zu dauerhaften Grenzkontrollen über, kommt zu den zahlreichen Streitpunkten in der EU, wie schon jetzt die Proteste aus Polen, Tschechien und Belgien zeigen, ein weiterer hinzu.
Darüber hinaus ist nicht ersichtlich, wieso Staaten wie Ungarn es sich weiterhin gefallen lassen sollten, wegen Verstößen gegen EU-Normen gemaßregelt zu werden, wenn die deutsche EU-Zentralmacht ihrerseits nach Belieben das Kernregelwerk des Schengen-Systems bricht. Damit verschärft bereits die Forderung, dauerhafte Kontrollen an den deutschen Außengrenzen einzuführen, die Spannungen in der EU.
[1] Thomas Gutschker, Mona Jaeger: Wie könnten die EM-Grenzkontrollen verlängert werden? faz.net 15.07.2024.
[2] EU erlaubt längere Grenzkontrollen im Schengen-Raum. rsw.beck.de 08.02.2024.
[3] Sigrid Melchior, Pascal Hansens, Nico Schmidt, Amund Trellevik, Ingeborg Eliassen: EU-Staaten brechen den Schengen-Vertrag. investigate-europe.eu 09.09.2022.
[4] Davide Basso, Nikolaus J. Kurmayer: Schengen: How Europe is ruining its ‘crown jewel’. euractiv.com 28.09.2023.
[5] Cost of non-Schengen: the impact of border controls within Schengen on the Single Market. European Parliamentary Research Service, May 2016.
[6] Dietmar Neuerer: Ampelpolitiker wollen Grenzkontrollen nach der EM beibehalten. handelsblatt.com 04.07.2024.
[7] Holger Seibert: Immer mehr Menschen pendeln aus Osteuropa nach Deutschland. iab-forum.de 15.04.2024.
[8] War der Täter von Solingen wirklich untergetaucht? faz.net 26.08.2024.
[9], [10] Oliver Noyan: German neighbours ring alarm bells over potential border controls. euractiv.com 26.08.2024.
Kursk und die Folgen
Verhandlungsbemühungen sind durch den Angriff auf Kursk zunichte gemacht worden.
Die Bundesregierung hat vor kurzem mitgeteilt, über die bereits für Kiew verplanten Mittel hinaus keine neuen Ausgaben zur Unterstützung der Ukraine tätigen zu wollen; das Land soll nun auf Basis der Zinserträge aus den eingefrorenen Auslandsguthaben der russischen Zentralbank finanziert werden. Kiewer Regierungsangaben zufolge reicht das nicht aus; es sollen deshalb die Guthaben selbst beschlagnahmt werden.
Faktisch wäre das ein Präzedenzfall für den Diebstahl fremden Staatseigentums, der weltweit Folgen hätte – wohl auch für Auslandsvermögen westlicher Staaten.
Die Debatte spitzt sich auch deshalb zu, weil die Ukraine faktisch bankrott ist.
Weckten noch kürzlich Äußerungen von Präsident Wolodymyr Selenskyj und die Entsendung von Außenminister Dmytro Kuleba nach China Hoffnung auf Waffenstillstand und Wiederaufbaumaßnahmen, so sind diese nach dem Angriff der Ukraine auf das russische Gebiet Kursk zerstoben.
Der Angriff habe Verhandlungen unmöglich gemacht, werden Diplomaten zitiert.
Anlass zu Verhandlungen
Zur Aufnahme von Gesprächen mit Moskau hatte Kiew aus verschiedenen Gründen Anlass. Zum einen war sein Versuch, auf dem vorgeblichen Friedensgipfel Mitte Juni in der Schweiz eine Reihe einflussreicher Staaten des Globalen Südens auf seine Seite zu ziehen und damit Russland politisch zu isolieren, gescheitert; die Regierungen etwa Indiens, Brasiliens oder Südafrikas hatten sich Abschlusserklärung des Gipfels mit dem Hinweis verweigert, Friedensgespräche mit nur einer Konfliktpartei ergäben keinen Sinn.[1]
War zumindest das Vortäuschen von Verhandlungsbereitschaft also Voraussetzung für weitere Bemühungen, den Globalen Süden für die Ukraine zu gewinnen, so zeichnete sich zusehends auch materieller Druck ab. Die russischen Angriffe auf die ukrainische Energieinfrastruktur, die Kiew zum Einlenken nötigen sollten, haben der Washington Post zufolge mittlerweile neun der 18 Gigawatt vernichtet, die die Ukraine im kalten Winter zu Spitzenzeiten benötigt.[2]
Bereits jetzt ist die Bevölkerung der Ukraine mit schweren Stromausfällen konfrontiert; die ohnehin stark geschädigte Wirtschaft wird durch den Energiemangel zusätzlich beeinträchtigt. Die ukrainischen Angriffe auf Russlands Erdölindustrie dagegen fügen Moskau relativ geringere Schäden zu – und weil sie zeitweise den Ölpreis in die Höhe getrieben haben, stoßen sie in den westlichen Hauptstädten intern auf Unmut.
„Von der Tagesordnung genommen“
Laut der Washington Post ließ sich Kiew deshalb kurz nach dem Schweizer Ukraine-Gipfel auf einen Vorstoß Qatars ein, zu Verhandlungen mit Moskau überzugehen.[3]
Demnach sollte zunächst ein beidseitiger Verzicht auf Angriffe auf die Energie- bzw. die Ölinfrastruktur in Kraft treten – dies mit der Perspektive, zu einem umfassenderen Waffenstillstand ausgeweitet zu werden.
Qatar habe darüber fast zwei Monate lang mit beiden Seiten verhandelt, hieß es unter Berufung auf Diplomaten; die Regierung in Doha habe gehofft, in Kürze eine Einigung zu erzielen. Der ukrainische Angriff auf das Gebiet Kursk habe die Bemühungen jetzt aber umgehend zunichte gemacht. Der liberale russische Politiker Grigori Jawlinski etwa ließ sich von der New York Times mit der Aussage zitieren, in Moskau habe man Hoffnung gehegt, „die Kämpfe könnten dieses Jahr enden“.[4] Der Angriff auf das Gebiet Kursk habe nun aber die Chancen dafür nicht nur reduziert, sondern sie sogar „von der Tagesordnung genommen“. Zwei ehemalige russische Regierungsmitarbeiter schlossen sich gegenüber der US-Zeitung dieser Einschätzung an. Ausdrücklich bestätigte Juri Uschakow, außenpolitischer Berater des russischen Präsidenten Wladimir Putin, angesichts der jüngsten Kiewer „Eskapade“ werde man zumindest vorläufig „nicht verhandeln“.[5]
Vermittler düpiert
Hinzu kommt, dass Kiew mit seinem Vorgehen einmal mehr potenzielle Vermittler verprellt. Erst im Juli hatte China den ukrainischen Außenminister Dmytro Kuleba zu Gesprächen nicht zuletzt mit seinem Amtskollegen Wang Yi empfangen – in der Absicht, Wege zu einer Verhandlungslösung zu bahnen.[6]
Zudem hatte Indien mit der ukrainischen Regierung über einen Besuch von Ministerpräsident Narendra Modi verhandelt – sozusagen als Ausgleich für Modis Besuch im Juli in Moskau.
Während Kiew mit Beijing und New Delhi über Wege zu einer Konfliktlösung diskutierte, bereitete es hinter deren Rücken längst den Angriff auf Kursk vor. Modi trifft am heutigen Freitag düpiert in der ukrainischen Hauptstadt ein. Auch Qatars Regierung muss konstatieren, dass sie mit ukrainischen Gesprächspartnern über Wege aus dem Krieg verhandelte, während Kiew insgeheim bereits die Eröffnung eines neuen Schlachtfeldes auf russischem Territorium plante. Doha, gleichfalls düpiert, sagte die schon in Kürze geplanten Gespräche inzwischen ab.[7]
„Der Topf ist leer“
Gleichzeitig zeichnen sich neue Spannungen zwischen Kiew und Berlin ab. Wie bereits am vergangenen Wochenende berichtet wurde, will die Bundesregierung ab sofort keinerlei neue Mittel mehr für die Ukraine zur Verfügung stellen. Bereits fest verplant sind die knapp acht Milliarden Euro, die der Bundeshaushalt 2024 für die Unterstützung der Ukraine vorsieht. Im Bundeshaushalt 2025 sind weitere vier Milliarden Euro für Kiew enthalten; diese sind aber, wie es heißt, „offenbar schon überbucht“.[8] Für 2026 ist von drei, für 2027 und 2028 jeweils von einer halben Milliarde Euro die Rede. Weitere Mittel sollen – darauf beharren Kanzler Olaf Scholz und Finanzminister Christian Lindner – lediglich dann gewährt werden, wenn für die entsprechenden Vorhaben „eine Finanzierung gesichert“ sei. Hintergrund sind die Berliner Bestrebungen, die Staatsausgaben einzuschränken, um die Neuverschuldung zu begrenzen. Zwar würden bereits getätigte Zusagen noch realisiert, heißt es; doch wird ein Mitarbeiter der Bundesregierung mit der Feststellung zitiert: „Ende der Veranstaltung. Der Topf ist leer.“[9]
Präzedenzfall
Gedeckt werden soll Kiews Finanzbedarf nach dem Willen Berlins nicht mehr aus deutschen Mitteln, sondern stattdessen aus Zinserträgen, die die im Westen eingefrorenen Mittel der russischen Zentralbank einbringen – insgesamt gut 260 Milliarden Euro. Konkret werden zur Zeit die Zinsen der gut 173 Milliarden Euro ins Visier genommen, die der Finanzkonzern Euroclear mit Sitz in Brüssel verwaltet.
Die G7 haben beschlossen, die Zinsen zugunsten der Ukraine zu beschlagnahmen und Kiew auf ihrer Grundlage einen Kredit zu ermöglichen; jährlich könnten damit mehrere Milliarden Euro beschafft werden, heißt es.[10]
Allerdings sind noch diverse Fragen offen. So wird berichtet, Experten rechneten mit einer Laufzeit des Kredits von möglicherweise 20 Jahren. Das setze faktisch voraus, dass die russischen Gelder auch noch nach einem etwaigen Friedensschluss mit der Ukraine eingefroren blieben, sollte ein solcher zustande kommen.
Hinzu kommt das nach wie vor ungelöste Problem, dass ein westlicher bzw. ukrainischer Zugriff auf russisches Staatseigentum als klarer Präzedenzfall gewertet würde.
Westliche Staaten müßten damit rechnen, dass ihr Eigentum im Ausland im Konfliktfall gleichfalls enteignet werden könnte, nicht nur zur Entschädigung von Kriegs-, sondern auch von Kolonial- und insbesondere von NS-Verbrechen.
Finanzdesaster
Umso schwerer wiegt, dass Kiew jetzt, wie die stellvertretende Finanzministerin Olga Zykova aktuell auf einer Videokonferenz des Kiewer Centre for Economic Strategy erklärte, nicht nur die schnelle Freigabe der Kreditmittel auf Basis der Zinserträge des eingefrorenen russischen Staatsvermögens fordert, sondern den Zugriff auf das Staatsvermögen selbst. Das sei nötig, heißt es, um den ukrainischen Staatshaushalt zu stabilisieren, der zuletzt zu mehr als 50 Prozent aus auswärtigen Zuwendungen gespeist worden sei.[11]
Für das Jahr 2025 benötige man Hilfsgelder in Höhe von mindestens 35 Milliarden US-Dollar; 15 Milliarden US-Dollar fehlten noch.
Als einziger Ausweg aus dem zunehmenden Finanzierungsdesaster gilt ein Ende des Krieges und der Wiederaufbau des Landes; beides aber ist nach dem ukrainischen Angriff auf Kursk weniger in Sicht denn je.
[1] S. dazu Ziele klar verfehlt
[2] Isabelle Khurshudyan, Siobhán O’Grady, John Hudson, Catherine Belton: Ukraine’s offensive derails secret efforts for partial cease-fire with Russia, officials say. washingtonpost.com 17.08.2024.
[4], [5] Anton Troianovski, Andrew E. Kramer, Kim Barker, Adam Rasgon: Ukraine Says Its Incursion Will Bring Peace. Putin’s Plans May Differ. nytimes.com 19.08.2024.
[6] S. dazu Diplomatie statt Waffen
[7] Isabelle Khurshudyan, Siobhán O’Grady, John Hudson, Catherine Belton: Ukraine’s offensive derails secret efforts for partial cease-fire with Russia, officials say. washingtonpost.com 17.08.2024.
[8], [9] Peter Carstens, Konrad Schuller: Kein neues Geld mehr für die Ukraine. Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung 18.08.2024.
[10] Christian Schubert: Ein russischer Hebel gegen Putin. Frankfurter Allgemeine Zeitung 21.08.2024.
[11] Andreas Mihm: Kiew: Brauchen Milliarden schnell. Frankfurter Allgemeine Zeitung 22.08.2024.
Marxistische Selbstverständigung. Wege des Antifaschismus: marxistische Studienwoche
Hintergrund: Rechtsentwicklung
Der Faschismusforscher Reinhard Opitz schrieb in seinem Aufsatz »Was ist rechts? Was sind Rechtstendenzen?«, der 1980 im zweiten Heft der Marxistischen Blätter erschien, dass »linksgerichtete Bewegungen oder Kräfte« solche wären, die »zu ihrer Zeit auf den historisch objektiv möglichen nächsthöheren Verwirklichungsgrad von Demokratie hindrängen oder ihm punktuell vorarbeiten«.
Rechtsgerichtete Bewegungen oder Kräfte seien dagegen solche, die »hinter den zu ihrer Zeit jeweils schon erreichten relativen historischen Realisationsgrad von Demokratie oder auch nur Artikulationsspielraum der demokratischen (linken) Kräfte zurückdrängen«.
Auch für die hiesige Linke stellen sich akut zwei Fragen:
Was sind Ursachen der Rechtsentwicklung?
Und wie können Marxisten sie nicht nur analysieren, sondern bekämpfen?
Den Versuch, darauf adäquate Antworten zu finden, hat vom 12. bis 15. August in Frankfurt am Main die marxistische Studienwoche mit über 50 Teilnehmern unternommen. Seit 2008 wird die Tagung von der Zeitschrift Marxistische Erneuerung, der Heinz-Jung-Stiftung und dem Institut für sozialökologische Wirtschaftsforschung, isw, organisiert. Den Auftakt machte am Montag vergangener Woche ein Podium, das die historischen Rechtsentwicklungen diskutierte.
Stefan Bollinger griff dazu mehr als 100 Jahre zurück und referierte über die Konterrevolution von 1848/49 bis Kaiser Wilhelm II. Frank Deppe betrachtete die Weimarer Republik und Silvia Gingold sprach über die Renazifizierung ab 1945 in der BRD sowie die Berufsverbote, von denen sie selbst betroffen war. So forderten Proteste und Solidaritätskomitees für Betroffene demokratische Rechte ein. Aber auch heute bestehe Gingold zufolge die Gefahr von Berufsverboten. Sie verwies dazu auf die anhaltende Repression gegen die Palästina-Solidarität und die Friedensbewegung sowie auf Pläne des Innenministeriums für Berufsverbote für »Extremisten« und »Verfassungsfeinde«. Der einzig wirksame Schutz der Verfassung, sagte Gingold, sei eine breite demokratische Öffentlichkeit.
Philipp Becher erkannte den Rechtsruck in Anlehnung an Faschismusforscher Reinhard Opitz als Ausdruck einer Integrationskrise der bürgerlichen Gesellschaft. Die Liaison von Kapitalismus und parlamentarischer Demokratie sei kein historischer Normalfall, die Klassenherrschaft der Bourgeoisie an keine Staatsform gebunden, erklärte er und erinnerte daran, dass demokratische Elemente der bürgerlichen Gesellschaft von der Arbeiterbewegung erkämpft und von ihr auch verwirklicht werden. Im Bündnis mit Sozialliberalen gelte es, »jeden Keim zu packen« – aber sich als Marxisten seine Unabhängigkeit zu bewahren.
Ein weiteres Podium setzte sich mit internationalen Rechtsentwicklungen auseinander.
So deutete Ingar Solty den Aufstieg des »Bonapartisten« Donald Trump als Folge einer Hegemoniekrise in den USA, die ihre ökonomische Grundlage in der Verarmung breiter Bevölkerungsteile seit dem Volcker-Schock 1978 habe. Trumps mögliche Wiederwahl würde einen verstärkten autoritären Staatsumbau bedeuten. Sabine Kebir wies auf die politische Flexibilität von Italiens Regierungschefin Giorgia Meloni hin, die innerhalb der EU klug laviere, allerdings auch strikt atlantisch gegen Russland und China ausgerichtet sei. Für ihre außenpolitische Treue ließen ihr EU und USA in Italien freien Spielraum gegen den Sozialstaat, Frauenrechte und Geflüchtete.
Andrés Musacchio erklärte den Aufstieg des argentinischen Präsidenten Javier Milei aus der Schwäche einer krisengeplagten, aber auch inkonsequenten peronistischen Linken und einer an Kapitalflucht und Ausverkauf interessierten wirtschaftlichen Elite. Milei zerstöre im Eiltempo soziale, wissenschaftliche und kulturelle Institutionen, während er das Militär und die Polizei ausbaue. Cornelia Hildebrandt gab einen Überblick zur Rechtsentwicklung in der EU.
Für die BRD erläuterte Gerd Wiegel Ursachen und Dimensionen der Rechtsentwicklung hierzulande.
Andreas Fisahn erörterte die Rolle des bürgerlichen Rechts im Kampf gegen Faschismus, konkret anhand der Debatte über ein AfD-Verbot und Rechtsmittel gegen deren Thüringer Landes- und Fraktionschef Björn Höcke. Arbeitsgruppen setzten sich unter anderem mit der politischen Bildung im Kampf gegen rechts, dem Kampf um eine humane Asylpolitik und der Frage nach einer neuen Volksfrontstrategie auseinander.
Ein Abschlussplenum mit Violetta Bock, Andrea Hornung und Wiegel erörterte aktuelle Wege antifaschistischer Politik.
Die marxistische Studienwoche wurde von den TeilnehmerInnen als erkenntnisreich gelobt. Die Analyse antifeministischer Kräfte wäre eine gute Ergänzung gewesen, wie von den TeilnehmerInnen angemerkt wurde. Zudem seien die ökonomischen Ursachen genauer zu untersuchen. Die Vorstellung der nächsten Ausgabe der Zeitschrift Marxistischen Erneuerung am 29. September zum Thema »Zeitenwende: Autoritärer Kapitalismus – BRD-Wirtschaft unter dem Druck geopolitischer Umtriebe« wird daran anknüpfen.
Der Sozialistisch-demokratische Studierendenverband erinnerte in seinem Vortrag an ein Zitat aus Bert Brechts »Leben des Galilei«:
»Wenn die Wahrheit zu schwach ist, um sich zu verteidigen, muss sie zum Angriff übergehen.«
Die Rückkehr der (Atom-) Raketen
Ihr Protest hatte dazu beigetragen, dass am 8. Dezember 1987 die Sowjetunion und die USA den sog. INF-Vertrag unterzeichneten.
Im INF-Abkommen (Intermediate-Range Nuclear Forces) verpflichteten sich die beiden atomaren Supermächte auf Entwicklung, Besitz und die Stationierung landgestützter Atomraketen (damals Pershing II und cruise missiles „Tomahawk“) mit einer Reichweite von 500 bis 5.500 Kilometern zu verzichten. Der INF-Vertrag war bislang das einzige Abkommen, das zu einer realen Atom-Abrüstung geführt hat; insgesamt 2692 Raketen wurden verschrottet.
Die Atomkriegs-Gefahr in Europa schien weitgehend gebannt.
Der fast vierzigjährige „Atom-Friede“ ist nun gefährdet.
Der damalige US-Präsident Donald Trump kündigte am 20. Oktober 2018 einseitig den INF-Vertrag; zum 1. Februar 2019 stiegen die USA aus dem Vertragswerk aus. Russland zog nach. Damit konnten wieder Mittelstrecken in Europa stationiert werden.
Dies soll nun 2026 geschehen. Eher beiläufig gaben Kanzler Scholz und Präsident Biden am Rande der NATO-Jubiläumskonferenz im Juli 2024 in Washington bekannt, dass ab 2026 auf deutschem Boden wieder Mittelstrecken-Raketen aufgestellt werden, und zwar Cruise missiles vom Typ „Tomahawk“ mit einer Reichweite von etwa 2.500 – also bis tief nach Russland hinein. Dazu ist die Installation von SM 6-Flugabwehr-Raketen mit einer Reichweite von 370 KM und 3,5-facher Schallgeschwindigkeit plus neue Hyperschall-Raketen verabschiedet.
Die Marschflugkörper können konventionelle wie atomare Sprengköpfe tragen. Angeblich werden sie nur konventionell bestückt, was ein Beschwichtigungsmanöver sein dürfte. Denn kein Militär schießt eine konventionelle Rakete 2500 KM weit, nur um ein Loch in einen Bunker zu sprengen. Zudem kann keine deutsche Behörde die Bestückung überprüfen, da die Raketen auf US-Militäreinrichtungs-Geländen in Deutschland stationiert werden, auf denen deutsches Hoheitsrecht endet.
Auf Deutschland fällt die erste Bombe
Wenn es noch eines Beweises für die enge Verzahnung des deutschen MIK mit dem Militär- und Kriegsgeflecht der USA bedurfte, hier ist er: Die neuen Mittelstrecken-Raketen werden in Europa diesmal allein in Deutschland stationiert. Mit den neuen Raketen wird das Pulverfass Deutschland weiter hochexplosiv aufgeladen. Sie kommen zu den deutschen Atombombern mit US-Atombomben auf den Fliegerhorst Büchel dazu, zur Ramstein Air Base, der größten US-Luftwaffenbasis im Ausland, zur Kommandozentrale für US-Drohnen-Killer- und Kampfeinsätze insbesondere im Nahen Osten und in Afrika, zu diversen US-Hauptquartieren, Truppenübungsplätzen, usw. usf.
Kein Land der Welt ist so intensiv und massiv mit US-Soldateska und -Militäreinrichtungen bestückt, wie Deutschland.
Wann immer es in Europa zu kriegerischen Auseinandersetzungen kommen sollte, wäre Deutschland im Fokus.
Kein Zweifel: Auf Deutschland fällt die erste Bombe!
Unser Land würde zum atomaren Schlachtfeld. Die USA aber würden dagegen von Mittelstrecken-Raketen nicht erreicht.
Die ganz große Raketenkoalition aus Ampel-Regierung und CDU/CSU-Opposition sieht darin kein Problem. Sie giert geradezu nach den neuen Waffen. Das SPD-Präsidium preist sie gar als Friedenstauben speziell für Kinder (s.u.). Der SPD-Vorsitzende Klingbeil ließ noch in der Sommerpause im Eilverfahren eine Zustimmungserklärung durch das SPD-Präsidium peitschen, um die Diskussion in der Partei im Keim zu ersticken. Ihm selbst wird Affinität zum MIK nachgesagt. Jahrelang war er in den Präsidien der Rüstungs-Lobbyorganisationen Deutsche Gesellschaft für Wehrtechnik und Förderkreis Deutsches Heer aktiv.
In dem SPD-Präsidiumsbeschluss heißt es u.a.
„Als SPD übernehmen wir Verantwortung dafür, dass kein Kind, das heute in Deutschland geboren wird, wieder Krieg erleben muss. Die Vereinbarung der SPD-geführten Bundesregierung mit der
US-Administration, ab 2026 US-amerikanische Raketen mit größerer Reichweite in Deutschland zu stationieren, ist dafür ein wichtiger Baustein“.
Erstschlag-Option
Weshalb sind die geplanten Mittelstrecken so gefährlich? Sie würden für Russland eine tödliche Bedrohung darstellen: aufgrund der geringen Vorwarnzeit und der Zielgenauigkeit dieser Systeme. Aufgrund der längeren Flugzeit gilt bei Interkontinentalraketen eine Vorwarnzeit von etwa 30 Minuten. Der Angegriffene ist in der Lage, seine Raketen aus den Silos abzuschießen und so den Gegenschlag zu führen. Dieses „Gleichgewicht des Schreckens“ wurde auf die Formel gebracht: „Wer als erster schießt, stirbt als zweiter“.
Kurze Vorwarnzeiten würden einen Atomkrieg aus Versehen wahrscheinlicher machen, könnten aber auch zum atomaren Überraschungsangriff verleiten.
Bei Mittelstrecken-Raketen verkürzt sich diese Vorwarnzeit auf wenige Minuten. Marschflugkörper haben zwar eine längere Flugzeit, da sie aber in geringer Höhe operieren, unterfliegen sie das gegnerische Abwehr-Radar. Dazu kommt die hohe Präzision bei modernen Raketen; sie können ihre Ziele fast punktgenau treffen.
Das kann zu neuen Szenarien des „fürbaren Atomkrieges“ verleiten, wie sie die USA nach dem Abwurf der Atombomben immer wieder anstrebten. Durch präventive „chirurgische Erstschläge“, so genannte Enthauptungsschläge, sollen militärische Kommandozentralen vernichtet und die gegnerischen Atomraketen noch am Boden bzw. noch in den Silos zerstört werden. Die wenigen übrigen Raketen, die vom Angegriffenen noch auf die Flugbahn gebracht werden können, sollen dann durch die Raketen-Abwehrsysteme abgefangen und unschädlich gemacht werden.
Die Raketenabwehr ist kein defensives System, sondern Teil einer atomaren Offensivstrategie.
„Fähigkeitslücke“ oder Gedächtnis-Lücke
Der Vorwand für den damaligen einseitigen Ausstieg der USA aus dem Vertrag (Russland hat lediglich nachgezogen): Russland habe gegen den Vertrag verstoßen, indem es neue Raketenstellungen installiert habe. Beweise? Keine!
An der Beweislage hat sich bis heute nichts geändert. Häufig werden die in Kaliningrad installierten Iskander-Raketen als „Beweise“ angeführt, auch von den „Militärexperten“ der Stiftung Wissenschaft und Politik (Claudia Major) und den Bundeswehr-Professoren (z.B. Carlo Masala) wird das immer wieder erzählt. Es ist schon peinlich, wenn so genannte und selbst ernannte „Militärexperten“ offensichtlich nicht zwischen Kurzstrecken-Raketen bis 500 KM – z.B. die in Kaliningrad installierte Iskander - und Mittelstrecken-Raketen unterscheiden können.
Zudem: Zu etwaigen Verstößen gab es im INF-Vertrag klare Verifizierungsmechanismen, die von den USA nicht genutzt wurden. So schreibt die NaturwissenschaftlerInnen-Initiative: „Wenn es Verletzungen des INF-Abkommens gegeben haben sollte, hatte das INF-Vertragswerk dazu klare Regelungen. Die entsprechende Kommission der beiden Unterzeichnerstaaten muss einberufen werden. Dieses ist seit 2017 nicht mehr geschehen. Propagandistische Anklagen helfen nicht weiter und lenken von den wahren Motiven ungehemmter Aufrüstung ab“. (natwiss.de, 22.10.18).
Und die regierungsnahe Stiftung Wissenschaft und Politik wies bereits im März 2018 darauf hin: „Um die gegenseitigen Vorwürfe auszuräumen, wären wechselseitige Informationen und Inspektionen notwendig. Dazu müsste das 2001 beendete INF-Inspektionsregime reaktiviert und modifiziert werden“ (SWP-aktuell, 15. März 2018).
2001 ist auch das Jahr, in dem die USA einseitig den ABM-Vertrag (Anti-Ballistic-Missile: Vertrag über die Begrenzung von Raketenabwehrsystemen) kündigten und in der Folgezeit mit der Errichtung von ABM-Stellungen in Europa begannen.
Die USA verweigerten jede Inspektion vor Ort.
Eine russische Vertragsverletzung wird einfach behauptet und daraus eine „Fähigkeitslücke“ (Scholz) der westlichen Raketenrüstung abgeleitet, die wieder einmal zur „Nachrüstung“ herhalten soll. Als Juso-Fuktionär und Nachrüstungsgegner in den 80er Jahren, wusste Scholz es besser, was von solchen behaupteten Waffen-„Lücken“ zu halten ist.
Schade, dass sich bei ihm da eine Gedächtnislücke auftut.
Ein „Mittleres Einkommen“ oder ist es die Rentabilitätsfalle?[1]
Die Realität ist, dass im 21. Jahrhundert fast alle Länder und Bevölkerungen des so genannten „Globalen Südens“, d. h. der armen Peripherie außerhalb der fortgeschrittenen kapitalistischen Volkswirtschaften des Globalen Nordens, nicht aufholen.
Diese Realität wird von Mainstream-Ökonomen und insbesondere von den Ökonomen der internationalen Organisationen wie dem IWF und der Weltbank oft geleugnet.
Daher war es überraschend, dass die Weltbank in ihrem jüngsten Weltentwicklungsbericht,2024 einräumte, dass die meisten Volkswirtschaften des Globalen Südens die Lücke beim Pro-Kopf-Einkommen oder der Arbeitsproduktivität gegenüber den fortgeschrittenen kapitalistischen Volkswirtschaften nicht schließen. In der Vergangenheit erkannte die Bank an, dass es viele sehr arme Länder wie die afrikanischen Länder südlich der Sahara gibt, die in verzweifelter Armut verharren. Die Ökonomen der Bank waren jedoch im Allgemeinen optimistischer für die so genannten „Volkswirtschaften mit mittlerem Einkommen“, d. h. die Länder mit einem jährlichen Pro-Kopf-Einkommen zwischen 1.136 und 13.845 Dollar (und das soll „mittel“, sein, wohl eher nicht).
In ihrem jüngsten Bericht schätzt die Weltbank die Zukunft der 108 Länder, die sie als Länder mit mittlerem Einkommen“ einstuft, pessimistischer ein. Auf sie entfallen fast 40 Prozent der weltweiten Wirtschaftstätigkeit, mehr als 60 Prozent der Menschen, die in extremer Armut leben, und mehr als 60 Prozent der weltweiten Kohlendioxidemissionen (CO2).
Die Weltbank drückt es so aus: "Die Länder mit mittlerem Einkommen befinden sich in einem Wettlauf mit der Zeit. Seit den 1990er Jahren haben viele von ihnen genug getan, um das Niveau der Niedrigeinkommen zu verlassen und die extreme Armut zu beseitigen, was zu der allgemeinen Auffassung geführt hat, dass die letzten drei Jahrzehnte für die Entwicklung großartig waren. Dies ist jedoch auf die abgrundtief niedrigen Erwartungen zurückzuführen - Überbleibsel aus einer Zeit, als mehr als zwei Drittel der Weltbevölkerung von weniger als einem Dollar pro Tag lebten. Die 108 Länder mit mittlerem Einkommen haben sich zum Ziel gesetzt, innerhalb der nächsten zwei oder drei Jahrzehnte den Status eines Landes mit hohem Einkommen zu erreichen. Gemessen an diesem Ziel ist die Bilanz düster: Die Gesamtbevölkerung der 34 Länder mit mittlerem Einkommen, die seit 1990 den Status eines Landes mit hohem Einkommen erreicht haben, beträgt weniger als 250 Millionen Menschen, was der Bevölkerung Pakistans entspricht.
Das durchschnittliche jährliche Einkommenswachstum in diesen Ländern mit mittlerem Einkommen ist in den ersten beiden Jahrzehnten dieses Jahrhunderts um fast ein Drittel gesunken - von 5 Prozent in den 2000er Jahren auf 3,5 Prozent in den 2010er Jahren.
Und die Weltbank kommt zu dem Schluss, dass "eine baldige Trendwende nicht wahrscheinlich ist, weil die Länder mit mittlerem Einkommen mit immer stärkerem Gegenwind konfrontiert sind. Sie haben mit zunehmenden geopolitischen Spannungen und Protektionismus zu kämpfen, die die Verbreitung von Wissen in Ländern mit mittlerem Einkommen verlangsamen können, mit Schwierigkeiten bei der Bedienung von Schulden und mit den zusätzlichen wirtschaftlichen und finanziellen Kosten des Klimawandels und der Klimaschutzmaßnahmen“.
In der Tat, so ist es. Aber wer ist daran schuld? Ganz klar sind es die imperialistischen Länder des Nordens, die im letzten Jahrhundert Milliarden an Profiten, Zinsen, Mieten und Ressourcen aus dem Süden gezogen haben, die am meisten zur globalen Erwärmung beigetragen haben (siehe Tabelle oben) und die Kriege um die Kontrolle des Südens oder gegen jedes Land geführt haben, das sich ihren Interessen widersetzt.
Jüngste Arbeiten von marxistischen und sozialistischen Ökonomen haben das Ausmaß dieser imperialistischen Ausbeutung offengelegt.[2]
Dies wird von der Weltbank ignoriert. Die Erklärung für das Versäumnis, aufzuholen, liegt darin, dass die Länder mit mittlerem Einkommen nicht die richtige „Entwicklungsstrategie“ anwenden. Diese Länder haben sich nämlich zu lange darauf verlassen, nur den Kapitalstock aufzubauen, was allmählich „abnehmende Erträge“ erbringt. In der Sprache der neoklassischen Ökonomie meinen die Ökonomen der Weltbank, dass „Faktorakkumulation allein die Ergebnisse stetig verschlechtern wird - ein natürlicher Vorgang, da die Grenzproduktivität des Kapitals sinkt.“
Mit marxistischen Begriffen läßt sich dies deutlicher darstellen. Adalmir Marquetti drückt es folgendermaßen aus:
„Ja, die Ökonomen der Weltbank erkennen an, dass die Grenzproduktivität des Kapitals, die Profitrate in der neoklassischen Tradition, aufgrund der Kapitalakkumulation während des „Aufholprozesses“ sinkt. Aber es ist die sinkende Profitrate, die die Hauptursache für den Rückgang der Kapitalakkumulation und der Investitionen ist. Das Problem ist, dass sich die Profitrate viel schneller dem Niveau der Vereinigten Staaten annähert als die Arbeitsproduktivität. Im Wesentlichen ist die Falle der mittleren Einkommen eine „Profitratenfalle“.
Gulglielmo Carchedi und ich kommen zur gleichen Einschätzung:
„In einer kapitalistischen Wirtschaft gerät eine geringere Rentabilität in Konflikt mit dem Produktivitätswachstum“. [3]
Marxistisch ausgedrückt: Wenn diese Länder versuchen, sich zu industrialisieren, wird das Verhältnis zwischen Kapital und Arbeit steigen[4] und damit auch die Produktivität der Arbeit. Wenn die Arbeitsproduktivität schneller wächst als in den „führenden Ländern“, dann wird ein Aufholprozess stattfinden. Allerdings wird die Rentabilität des Kapitals tendenziell schneller sinken, was schließlich den Anstieg der Arbeitsproduktivität verlangsamt.
Guglielmo Carchedimir und ich haben in einer gemeinsamen Arbeit unter Verwendung marxistischer Kategorien festgestellt, dass die Rentabilität der „beherrschten Länder“ aufgrund ihrer geringeren organischen Zusammensetzung des Kapitals zunächst höher ist als die der imperialistischen Länder, ABER „die Rentabilität der beherrschten Länder ist zwar dauerhaft höher als die der imperialistischen Länder, fällt aber stärker als die des imperialistischen Blocks.“[5]
Die Weltbank hat also die „Rentabilitätsfalle“ erkannt, aber im Format der neoklassischen Ökonomie schlägt sie eine Entwicklungslösung vor, bei der die Volkswirtschaften mit „mittlerem Einkommen“ bessere Technologie aus dem Globalen Norden „einfließen“ lassen und dann die „Innovation“ durch private Unternehmen erfolgt.
"In der ersten Variante werden die Investitionen durch Infusionen ergänzt, so dass sich die Länder (vor allem die Länder mit niedrigem mittlerem Einkommen) auf die Nachahmung und Verbreitung moderner Technologien konzentrieren. Im zweiten Fall wird die Mischung aus Investitionen und Infusion durch Innovation ergänzt, so dass sich die Länder (vor allem die Länder mit mittlerem Einkommen) auf den Aufbau inländischer Fähigkeiten konzentrieren, um den globalen Technologien einen Mehrwert zu verleihen und letztlich selbst zu Innovatoren zu werden. Im Allgemeinen müssen Länder mit mittlerem Einkommen die Mischung der drei Triebkräfte des Wirtschaftswachstums - Investitionen, Infusionen und Innovationen - neu kalibrieren, wenn sie den Status eines Landes mit mittlerem Einkommen erreichen.
Aha, Marx hat sich geirrt: Diese Länder mit mittlerem Einkommen sind nicht zu ständiger Armut und Kontrolle durch imperialistische Volkswirtschaften verurteilt, oder „dass marktwirtschaftliche Volkswirtschaften von einer wachsenden Konzentration des Reichtums und von Krisen heimgesucht werden, bis der Kapitalismus durch den Kommunismus ersetzt wird.“
1942 zeigte der österreichische Wirtschaftswissenschaftler Joseph Schumpeter in seiner Abhandlung „Kapitalismus, Sozialismus und Demokratie“ den kapitalistischen Ausweg auf: durch „schöpferische Zerstörung“. Aus Krisen können Wiederherstellung und Wachstum entstehen.
Ja, die Krisen des Kapitalismus sind schmerzhaft, aber sie schaffen auch die Voraussetzungen für Wohlstand.
Die Ökonomen der Weltbank kommen in ihrer Weisheit zu dem Schluss, dass „fast ein Jahrhundert später viele von Schumpeters Erkenntnissen bestätigt zu sein scheinen“. Und worauf stützen sie diese Schlussfolgerung, nachdem sie gerade erklärt haben, dass die große Mehrheit der armen Länder (Entschuldigung: Länder mit mittlerem Einkommen) in relativer Armut gefangen ist?
Nun, sie wenden sich einigen Länderfallstudien zu, die offenbar den Weg weisen.
In Lateinamerika ist das Chile. Die Weltbank berichtet, dass Chile im Jahr 2012 als erstes lateinamerikanisches Land den Status eines Landes mit hohem Einkommen erreicht hat. "Chile hat seine Exporte seit den 1960er Jahren, als der Bergbau etwa vier Fünftel seiner Ausfuhren ausmachte, gesteigert und diversifiziert. Heute beträgt dieser Anteil etwa die Hälfte. Der Wissenstransfer aus den fortgeschrittenen Volkswirtschaften wurde sowohl von öffentlichen als auch von privaten Einrichtungen unterstützt." Tatsächlich wird dann auf öffentliche Investitionen als Hauptantrieb für bessere Technologie und diversifizierte Exporte verwiesen; durch die öffentliche chilenische Agentur für Exportförderung (ProChile) und die gemeinnützige Fundación Chile, die den Technologietransfer für inländische Unternehmen fördert.
Die Weltbank erwähnt nicht den schrecklichen Militärputsch in Chile durch Pinochet im Jahr 1973, der die sozialistische Allende-Regierung gewaltsam absetzte und Zehntausende von Menschen tötete und damit die Grundlage für eine verstärkte Ausbeutung der Arbeitskräfte legte. Ironischerweise lag die durchschnittliche reale BIP-Wachstumsrate in Chile von 1951 bis 1973 bei 4,3 % pro Jahr; nach Pinochet und den nachfolgenden pro-kapitalistischen Regierungen lag sie jedoch bei 4,1 % pro Jahr. Trotz der Unterdrückung der Arbeitseinkommen sank die Kapitalgewinnrate in Chile Anfang der 1980er Jahre auf einen Tiefstand, stieg dann (wie in vielen anderen Ländern) während der neoliberalen Erholungsphase an, ist aber seit dem globalen Finanzcrash und der Großen Rezession (wie auch anderswo) rückläufig.
Also eigentlich keine kapitalistische Erfolgsgeschichte.
In Asien verweist die Weltbank auf Korea als erfolgreiches Entwicklungsmodell. Die Ökonomen der Bank formulieren es folgendermaßen: "Während Brasilien im eigenen Land strauchelte, raste Korea um die Welt und machte die Infusion ausländischer Technologie zum Eckpfeiler der heimischen Innovation. Im Jahr 1980 lag die durchschnittliche Produktivität eines koreanischen Arbeiters bei nur 20 Prozent der Produktivität eines durchschnittlichen US-Arbeiters. Bis 2019 hatte sie sich auf mehr als 60 Prozent verdreifacht. Im Gegensatz dazu waren brasilianische Arbeiter, die 1980 40 Prozent so produktiv waren wie ihre US-Kollegen, 2018 nur noch 25 Prozent so produktiv." Der Erfolg Koreas ist offenbar auf eine „Infusion ausländischer Technologie“ zurückzuführen. Die Bank verweist nicht auf die massiven staatlichen Anstrengungen zur Industrialisierung in den 1980er Jahren oder die ausländischen Investitionen der USA zur Unterstützung einer kapitalistischen Wirtschaft als Bollwerk gegen die Sowjets und China nach dem Koreakrieg. Und dann war da noch die massive Ausbeutung der koreanischen Arbeiter durch ein Militärregime über Jahrzehnte hinweg. Dies erklärt in hohem Maße den Unterschied zwischen der Entwicklung Koreas und Brasiliens, dessen industrielle Strategie vom amerikanischen Kapital abgewürgt wurde.
Dann ist da noch Polen, die europäische Erfolgsgeschichte der Weltbank. Der Beitritt zur Europäischen Union mit massiven Subventionen für den Agrarsektor, riesige Kapitalinvestitionen der deutschen Industrie und eine umfangreiche Auswanderung von Arbeitslosen waren der Schlüssel zu Polens relativem Aufstieg. Die Weltbank drückt es bescheiden aus:
„Gebildete Polen setzten ihre Fähigkeiten (Fähigkeiten aus der Sowjet-Ära - MR) in der gesamten Europäischen Union ein und eröffneten damit einen weiteren Kanal, um globales Wissen in die polnische Wirtschaft einzubringen.“
Das ist die Gesamtheit der Erfolgsgeschichten der Weltbank, die auf dem „Schumpeter-Modell“ der Entwicklung basieren. Und die Ökonomen der Bank sind gezwungen zuzugeben, dass der Aufstieg dieser Länder in den Status eines Landes mit hohem Einkommen von Wirtschaftskrisen durchsetzt war... die Verschiebungen in definierten Phasen, von 1. Investment zu 2.Investment plus Infusion und dann zu 3., Strategien mit Investment plus Infusion plus Innovation keinesfalls glatt noch linear verlaufen."
Der „Elefant im Raum“ des Entwicklungsmodells der Weltbank wird nicht erwähnt: China.
Warum hat China, das in den 1950er Jahren zu den ärmsten Ländern der Welt gehörte, in den 1990er Jahren schnell den Status eines Landes mit mittlerem Einkommen erlangt und schließt im 21. Jahrhundert?. Warum sind Länder wie Vietnam und sogar Laos ebenfalls erfolgreich dem chinesischen Entwicklungsmodell gefolgt? Die Ökonomen der Weltbank sagen dazu nichts. Wie Marquetti hervorhebt: "Unser Buch enthält eine Zahl, die zeigt, dass China, Vietnam und Laos trotz sinkender Rentabilität ein hohes Investitionsniveau beibehalten haben. Dies ist eine Grundvoraussetzung für den Aufholprozess."
Die Weltbank ignoriert das chinesische Entwicklungsmodell der staatlich gelenkten Investitionen, der staatlichen Finanzierung von Infrastruktur und Technologie auf der Grundlage von nationalen Plänen mit Zielvorgaben, wo die „Rentabilitätsfalle“ der Volkswirtschaften mit mittlerem Einkommen nicht gilt.
In unserem Buch zeigen wir, dass es in China im Vergleich zu anderen Volkswirtschaften, insbesondere zu denen mit mittlerem Einkommen, nur eine minimale Korrelation zwischen Veränderungen der Rentabilität und dem realen BIP-Wachstum gab.
China hat keine Produktions- und Investitionskrisen aufgrund sinkender Rentabilität erlitten, wie dies bei den Favoriten der Weltbank der Fall war.
Die Ökonomen der Weltbank ignorieren die Rolle der staatlichen Investitionen und Planung. Stattdessen will die Bank „global anfechtbare Märkte schaffen, Faktor- und Produktmarktregulierungen abbauen, unproduktive Firmen entlassen, den Wettbewerb stärken, die Kapitalmärkte vertiefen“.
Doch welches Entwicklungsmodell hat Aussicht auf Erfolg?
Das von Schumpeter, das auf Krisen und Rentabilität basiert, oder das marxistische, das auf öffentlichem Eigentum und Planung beruht?
Wir können die Abbildung der Weltbank vom Anfang dieses Beitrags wiederholen, um China einzubeziehen und so die Fortschritte der beiden Modelle zu vergleichen, d. h. China und die Erfolgsgeschichten der Weltbank (deren drei, wie zuvor ausgeführt).
Wir stellen fest, dass Chiles Aufholprozess zum Stillstand gekommen ist: Das Verhältnis des Pro-Kopf-Einkommens zu den USA ist von 29,9 % im Jahr 2000 auf jetzt 28,6 % gefallen. In Korea hat sich das Verhältnis im letzten Jahrzehnt (auf hohem Niveau) eingependelt. Polen hatte am Ende der Sowjetära das höchste ratio im Vergleich zu den USA, fiel dann drastisch ab, stieg aber nach dem EU-Beitritt wieder an.
Polens Pro-Kopf-Verhältnis zu den USA ist seit 2000 um über 74 % gestiegen.
Im Vergleich dazu ist das Pro-Kopf-Einkommen Chinas im Verhältnis zu den USA um unglaubliche 314 % gestiegen.
Betrachtet man den globalen Süden als Ganzes, so holt er den globalen Norden nicht ein. Mit Ausnahme von China ist eher eine zunehmende Divergenz als eine Konvergenz zu beobachten.
Darüber hinaus wird die Ungleichheit von Vermögen und Einkommen innerhalb der Länder mit mittlerem Einkommen nicht erwähnt, die insbesondere seit den 1980er Jahren zugenommen hat (siehe dazu die World Inequality Database).[6]
Der Weltbankbericht endete mit der Bemerkung des neoklassischen Ökonomen Robert Lucas, der die Entwicklungsstrategie, die zu dem spektakulären Wirtschaftswachstum in Korea führte, mit einem „Wunder“ verglich.
Der Bericht schloss: "In Anbetracht der Veränderungen in der Weltwirtschaft seit der Zeit, in der Korea eine Volkswirtschaft mit mittlerem Einkommen war, wäre es ein Wunder, wenn die heutigen Volkswirtschaften mit mittlerem Einkommen in 50 Jahren das schaffen würden, was Korea in nur 25 Jahren geschafft hat. Es wäre sogar ein Wunder, wenn sie die beeindruckenden Erfolge anderer erfolgreicher Länder wie Chile und Polen wiederholen könnten."
Es wäre wohl ein Wunder.
[1] Eine "Profitability Trap" oder Rentabilitätsfalle beschreibt eine Situation, in der Unternehmen oder Investoren aufgrund einer zu starken Fokussierung auf kurzfristige Rentabilitätskennzahlen in die Irre geführt werden können. Dies kann zu Fehleinschätzungen und suboptimalen Entscheidungen führen.
[2] https://www.academia.edu/66353020/The_Economics_of_Modern_ImperialismRicci:
https://thenextrecession.wordpress.com/wp-content/uploads/2021/09/wp_ricci_unequal_exchange_and_global_inequality-1-1.pdf;
Jason Hickel: https://www.nature.com/articles/s41467-024-49687-y?sfnsn=scwspmo
[3] https://www.plutobooks.com/9780745340883/capitalism-in-the-21st-century
[4] Das Verhältnis zwischen Kapital und Arbeit ist definiert als der gesamte Kapitalstock geteilt durch den gesamten Arbeitseinsatz, der in der Regel in Form von Arbeitsstunden oder der Zahl der Beschäftigten gemessen wird.
[5]https://www.academia.edu/66353020/The_Economics_of_Modern_Imperialism
[6] https://inequalitylab.world/en/
Ökonomie der Zeit – Eine linke Kontroverse um Arbeitszeitverkürzung
John Maynard Keynes prognostizierte für das Jahr 2030 die 15-Stunden-Woche, sie ist eine langjährige Forderung der Frauenbewegung.
Die 25-Stunden-Woche steht als Forderung im SPD-Programm und in vielen Ländern wird erfolgreich der 6-Stunden-Tag erprobt.
Es ist höchste Zeit für den nächsten Schritt, für die 28-Stunden-Woche bei vollem Lohnausgleich, für kurze Vollzeit für alle, für Arbeitszeiten, die zum sich verändernden Leben passen!
Ökonomie der Zeit, darin löst sich schließlich alle Ökonomie auf.
Die IG Metall setzt schon länger die Vier-Tage-Woche wieder auf die Tagesordnung1 und Wissenschaftler wie Heinz-J. Bontrup von der Arbeitsgruppe Alternative Wirtschaftspolitik (Memo-Gruppe) begründen die Überfälligkeit kollektiver Arbeitszeitverkürzung2.
Im VSA-Verlag ist im Frühjahr 2024 ein Buch zur neuen Aktualität von Arbeitszeitverkürzung3 mit Beiträgen von Margareta Steinrücke, Beate Zimpelmann, Philipp Frey, Sophie C. Jänicke, Steffen Liebig, Lia Becker, Andreas Ypsilanti, Nina Treu und anderen erschienen.
In den Texten wird herausgearbeitet, warum Arbeitszeitverkürzung aktueller ist denn je.
Ohne Arbeitszeitverkürzung werden sich die drängenden Probleme der Menschen heute nicht lösen lassen, sei es die sozial gerechte Bewältigung der Klimakrise, die geschlechtergerechte Vereinbarkeit von Beruf und Privatleben oder die Angst vor Arbeitsplatzverlust und Abstieg, der die Menschen in die Arme der Rechten oder einfach in die Politikverdrossenheit führt.
Sophie Jänicke, Ressortleiterin im Funktionsbereich Traifpolitik beim Vorstand der IG Metall schreibt darin u.a.: „Dass die IG Metall eine Verkürzung der Wochenarbeitszeit fordert, ist Ausdruck einer arbeitszeitpolitischen Entwicklung, die die Organisation, ebenso wie andere Gewerkschaften, in den letzten Jahren vorangetrieben hat. … Die IG Metall hat in der Tarifbewegung 2023 für die deutsche Stahlindustrie den Vorstoß gemacht, die Vier-Tage-Woche auch in der Industrie umzusetzen. Denn die Vier-Tage-Woche als Chiffre für eine verkürzte Arbeitszeit, die mehr Work-Life-Balance verspricht, ist ein gutes Modell für die Arbeit der Zukunft in einer digitalisierten, klimaneutralen Industrie. … Die gesellschaftliche Resonanz, die die Vier-Tage-Woche und damit einhergehend die aktuelle Forderung nach Arbeitszeitverkürzung in der Stahl-Industrie findet, zeigt, dass Beschäftigungssicherung nicht das einzig gute Argument für kürzere Arbeitszeiten ist.“
In vielen Branchen haben Arbeiterinnen und Arbeiter in diversen Befragungen den Wunsch nach kürzerer Arbeitszeit zum Ausdruck gebracht. Mehr als 80 Prozent der Vollzeitbeschäftigten befürworten die Vier-Tage-Woche. Allerdings haben viele Angst vor Lohneinbußen. Darum ist klar: Arbeitszeitverkürzung nur bei vollem Lohnausgleich!
Wir sind viel zu bescheiden!
Im Programm der Partei Die Linke heißt es u.a.: „Die Linke steht für die Umverteilung von Arbeit durch Arbeitszeitverkürzung, für gleichen Lohn bei gleicher Arbeit und einen existenzsichernden, gesetzlichen Mindestlohn. Durch die Reform des Arbeitszeitgesetzes soll die höchstzulässige durchschnittliche Wochenarbeitszeit auf 40 Stunden begrenzt werden. Perspektivisch streben wir eine Obergrenze von 35 Stunden, längerfristig von 30 Stunden an. Wir wollen, dass dabei für die Beschäftigten ein voller Lohnausgleich gesichert wird. Die Mitbestimmungsrechte von Personal- und Betriebsräten sind vor allem im Hinblick auf Personal- und Stellenpläne zu erweitern. So ist zu erreichen, dass die Verkürzung der Wochenarbeitszeit zu mehr Beschäftigung führt und der Leistungsdruck abgebaut wird.“4 „Die Verkürzung der Arbeitszeit“, so Bernd Riexinger vor wenigen Jahren als Parteivorsitzender, „auf vier Tage oder 30 Stunden pro Woche trifft den Nerv der Zeit. Aus gutem Grund: Mit Arbeitszeitverkürzung können wir Arbeitsplätze retten, für mehr Lebensqualität sorgen, aber auch Menschen in unfreiwilliger Teilzeit ermöglichen, endlich wieder mehr zu arbeiten. Im Gegensatz zu den bisherigen Flexibilisierungen der Arbeitszeit, die immer zu Lasten der Beschäftigten gingen, ermöglicht die Verkürzung der Arbeitszeit eine Flexibilisierung, die den Beschäftigten nützt und sie sogar ein Stück weit vor Entlassungen schützt.“5 Bereits 2017 haben Lia Becker und Bernd Riexinger, weil das alte Normal erodiert, Vorschläge für ein neues Normalarbeitsverhältnis vorgelegt.6 Diese Vorschläge beruhen auf den fünf Säulen guter Lohn, Planbarkeit, Humanisierung, kurze Vollzeit und Demokratie, sie werden von den beiden Autor*innen als „Schicksalsfrage der Gewerkschaftsbewegung“ bezeichnet. Das scheint sich jetzt in der De-Industrialisierung und im Mitgliederschwund der Industriegewerkschaften zu bestätigen.
Das Konzeptwerk Neue Ökonomie hat jüngst „Bausteine für Klimagerechtigkeit“ publiziert, darin der Baustein „Für die Vier-Tage-Woche und ein gutes Leben für alle“ mit Theorie, u.a. Frigga Haugs 4-in-1-Modell, und vielen praktischen Beispielen.7
Das Institut Solidarische Moderne (ISM) bereitet ein Papier zur Arbeitszeitverkürzung vor mit dem Ziel, unterschiedliche Akteure im Bereich Arbeitszeitverkürzung zu einem möglichst breit geteilten Verständnis von solidarischer und emanzipativer Arbeitszeitverkürzung zu artikulieren. Zum anderen soll das Papier als Aufhänger dienen, um den öffentlichen Diskurs aus progressiver Perspektive mit zu beeinflussen. Darin auch das Netzwerk Care-Revolution mit einer Perspektive der Geschlechtergerechtigkeit auf die bezahlte und unbezahlte gesellschaftlich notwendige Arbeitszeit. Ich will auf Andrè Gorz hinweisen, der im Zusammenhang mit einer Ökonomie der Gemeinschaftlichkeit auf folgendes hinweist: „Das Maß des Reichtums ist hier ebenso wenig der Tauschwert wie die Arbeitszeit.“8 Schließlich will ich den Vortrag von Ingrid Kurz-Scherf benennen, den sie anlässlich der Veranstaltung der attac AG ArbeitFairTeilen und der RLS zum 100. Jahrestag des 8-Stunden-Tages am 27. Oktober 2018 in Erfurt hielt: „Und es hat wenig Sinn, sich darüber hinwegzutäuschen, dass sich der Glanz des Achtstundentags aktuell nicht übersetzt in eine Euphorie in Bezug auf den Sechsstundentag. Ich bin da gar nicht festgelegt, wir können auch über eine 28-Stunden-Woche reden. Ich habe sogar gelesen, die Zeit sei reif für eine 15-Stunden-Woche. Vielleicht sind wir immer noch viel zu bescheiden.“9
Die Kontroverse
Eigentlich verwundert es, dass ausgerechnet Vertreter der sich selbst als gewerkschaftlich orientierte Strömung bezeichnenden Sozialistischen Linken (SL), die „an linkssozialistische, links-sozialdemokratische und reformkommunistische Traditionen“ behauptet anzuknüpfen, schon länger und jetzt wieder gegen kollektive Arbeitszeitverkürzung argumentiert. Einer ihrer Protagonisten schrieb (im Zusammenhang mit einer Argumentation zur Ablehnung des bedingungslosen Grundeinkommens bzw. eines Antrages zur Ablehnung des Mitgliederentscheides zum Grundeinkommen): „Arbeitszeitverkürzung ist dann sinnvoll, wenn Kapazitäten voll ausgelastet sind und Arbeitslosigkeit vorliegt, die durch andere Auslastung der Kapazitäten abgebaut werden kann. Dem ist aber heute nicht so, wir haben Fachkräftemangel in vielen Bereichen, ergo sind die die Kapazitäten gegenüber dem gesellschaftlichen Bedarf unter-ausgelastet und eine Arbeitszeitverkürzung die falsche Lösung. Deswegen ist auch die in unserer Partei leider ebenfalls ohne all zu viel Nachdenken vertretene Forderung nach einer Vier-Tage-Forderung blanker Unfug.“ Die Sozialistische Linke sagt selbst von sich: „Wichtige Grundlagen unserer Positionen bilden marxistische Gesellschaftsanalyse und Strategiediskussion sowie links-keynesianische Positionen alternativer Wirtschaftspolitik.“
Ganz kurz Marx dazu:
„Gemeinschaftliche Produktion vorausgesetzt, bleibt die Zeitbestimmung natürlich wesentlich. Je weniger Zeit die Gesellschaft bedarf, um Weizen, Vieh etc. zu produzieren, desto mehr Zeit gewinnt sie zu andrer Produktion, materieller oder geistiger. Wie bei einem einzelnen Individuum hängt die Allseitigkeit ihrer Entwicklung, ihres Genusses und ihrer Tätigkeit von Zeitersparung ab.
Ökonomie der Zeit, darin löst sich schließlich alle Ökonomie auf.
Ebenso muß die Gesellschaft ihre Zeit zweckmäßig einteilen, um eine ihren Gesamtbedürfnissen gemäße Produktion zu erzielen; wie der einzelne seine Zeit richtig einteilen muß, um sich Kenntnisse in angemeßnen Proportionen zu erwerben oder um den verschiednen Anforderungen an seine Tätigkeit Genüge zu leisten. Ökonomie der Zeit sowohl wie planmäßige Verteilung der Arbeitszeit auf die verschiednen Zweige der Produktion bleibt also erstes ökonomisches Gesetz auf Grundlage der gemeinschaftlichen Produktion.“10
Dem Protagonisten von der SL ist zugestanden, dass es ein kurzer Einwurf in einer Debatte um die Position zum bGE war. Dennoch können bestimmte Aussagen so nicht stehen bleiben und sind schlicht unhaltbar. „Wir haben Fachkräftemangel in vielen Bereichen“ kann mensch nicht behaupten, wenn gleichzeitig zu wenig ausgebildet wird, wenn gleichzeitig gesellschaftlich unnützes oder gar schädliches produziert wird (ich verzichte hier auf Beispiele), wenn gleichzeitig die industrielle Produktivität signifikant steigt. Partieller Fachkräftemangel ist nicht zu belegen, wenn es drei Millionen Erwerbslose gibt, wenn viele Menschen unfreiwillig in Minijobs schuften und drei Millionen junge Menschen keinen Berufsabschluss haben. Der logische Schluss aus einer falschen Annahme muss natürlich falsch sein: Weil wegen des unterstellten Fachkräftemangels die Kapazitäten unausgelastet seien, sei Arbeitszeitverkürzung „die falsche Lösung … und die in der Linken vertretene Forderung nach einer Vier-Tage-Forderung ohne all zu viel Nachdenken blanker Unfug.“
Es ist also der Blickwinkel, der die aufgeworfene Frage unterschiedlich beantworten lässt: Erwerbsarbeit als ökonomische Größe im Kapitalismus ohne alle anderen Implikationen und Dimensionen einerseits – oder Arbeit im umfassenden, die Gesellschaft und den Menschen formenden Sinne11 unter Berücksichtigung von Arbeitsteilung und Geschlechtergerechtigkeit. Wenn menschliche Arbeit und der Zeitaufwand dafür nur ökonomische Kategorien wären, hätte der Genosse der SL auch nur zum Teil Recht wegen der oben genannten Widersprüche bezüglich „Fachkräftemangel“.
Aber Mensch, Arbeit und Zeit sind eben auch gesellschaftliche, politische, gesundheitliche, soziale Kategorien.
Der Kampf um Arbeitszeitverkürzung ist Kampf um Emanzipation, um Gesundheit, Recht auf Leben, Teilhabe und Demokratie.
Nach einem linken, marxistisches Verständnis der politischen Ökonomie ergibt sich das Primat der Gesellschaft und der Politik über die Ökonomie. Um diesen Kampf kann kein Bogen gemacht werden.
Wenn die Arbeiter*innenklasse den Kampf um Verkürzung der Arbeitszeit nicht führt, dann gewinnen die ökonomisch und politisch Herrschenden den Kampf um die Verlängerungen der Arbeitszeit. Deshalb hat der Genosse der SL nicht einmal zum Teil Recht mit der Behauptung, Arbeitszeitverkürzung sei „die falsche Lösung“.
Ein aktuelles Beispiel:
Die Kapazitäten in der Industrie, namentlich in der Autoindustrie, sind katastrophal unterausgelastet. Die Aufträge brechen weg, Autos werden auf Halde produziert, Zehntausende von Jobs werden gestrichen, ganze Fabriken werden geschlossen – bei Continental, Bosch, Opel, Ford und jetzt auch bei Volkswagen und Audi.
Bei den Arbeiterinnen und Arbeitern, aber auch bei den Managern auf Werksebene macht sich Panik breit, ist Verzweiflung angesagt, liegen die Nerven blitzeblank. Da kommen zwei Vorschläge aus Regierung und der Industrie:
- Rheinmetall bekommt Rüstungsaufträge in Milliardenhöhe und übernimmt Personal und leerstehende Fabriken.
- Das Aus vom Verbrenner-Aus wird propagiert von CDU/CSU, AfD, BSW und jetzt auch von der FDP. Damit wird die reaktionäre Hoffnung geschürt, es könnte alles so bleiben, wie es war. Dadurch werden Milliarden an Investitionen verbrannt und die umgebauten Fabriken sind samt der dort beschäftigten Arbeiterinnen und Arbeiter dem Untergang geweiht.
Zur Sozial-ökologischen Transformation gehören beide Komponenten: einerseits die soziale, materielle Absicherung von Wohnung, Bildung, Gesundheit, Teilhabe (Demokratie), Mobilität und guter Arbeit der Menschen auch durch Arbeitszeitverkürzung und andererseits die Nachhaltigkeit, die Dekarbonisierung von Produktion und Produkten – einschließlich des Verzichts auf unnütze und schädliche Produkte wie überdimensionierte Autos, teure Werbung und Rüstungsproduktion.
Bertolt Brecht
Wer zu Hause bleibt, wenn der Kampf beginnt.
Und lässt andere kämpfen für seine Sache
Der muss sich vorsehen: denn
Wer den Kampf nicht geteilt hat
Der wird teilen die Niederlage.
Nicht einmal den Kampf vermeidet
Wer den Kampf vermeiden will: denn
Es wird kämpfen für die Sache des Feinds
Wer für seine eigene Sache nicht gekämpft hat.
1Richard Detje und Otto König; SOZIALISMUS 9/2020, Seite 47
2Ebd. Seite 51
3https://www.vsa-verlag.de/nc/buecher/detail/artikel/weniger-arbeiten-mehr-leben/
4https://www.die-linke.de/partei/programm/
5https://www.die-linke.de/start/detail/die-4-tage-woche-konkret-machen/
6https://www.sozialismus.de/fileadmin/users/sozialismus/pdf/Supplements/Sozialismus_Supplement_2017_09_Riexinger_Becker_NAV.pdf
7https://www.oekom.de/buch/bausteine-fuer-klimagerechtigkeit-9783987260735
8https://rotpunktverlag.ch/buecher/auswege-aus-dem-kapitalismus
9https://stephankrull.info/2019/01/11/vielleicht-sind-wir-immer-noch-viel-zu-bescheiden/
10Karl Marx; Grundrisse, Das Kapitel vom Geld, MEW Bd. 42, S. 105
11Fridrich Engels; Der Anteil der Arbeit bei der Menschwerdung des Affen; MEW Bd. 20, Seite 444
Arbeitsschutz in der Defensive: Job-Crafting statt Zeiterfassung
Unternehmen sind in der Pflicht, die Arbeitszeit der Beschäftigten zu dokumentieren.
Das ignoriert jedoch ein großer Teil der Unternehmen.
Die Umfrage von SD Worx unter 18.000 Beschäftigten und unter 5.118 Unternehmensvertretern in 18 europäischen Ländern ergibt, dass in Deutschland nur bei 41 Prozent der Beschäftigten Zeiterfassung erfolgt.
Die Hälfte der deutschen Befragten gibt in der Studie an, regelmäßig Überstunden zu machen.
Das ist deutlich mehr als der europäische Durchschnitt mit 40 Prozent. (1) Das Bundesarbeitsgericht sieht die Erfassung der Zeiten als wichtiges Instrument des Arbeitsschutzes.
Fehltage wegen psychischer Belastungen
Deshalb überraschen Meldungen über hohe Krankentage kaum: „Die Zahl der Fehltage wegen psychischer Krankheiten ist im ersten Halbjahr 2024 stark gestiegen“, meldet das Ärzteblatt. Im Vergleich zum Vorjahr gab es 14,3 Prozent mehr Arbeitsausfälle durch Depressionen oder Anpassungsstörungen (2). „Der weitere Anstieg der Fehltage aufgrund psychischer Erkrankungen ist besorgniserregend“, sagte DAK-Vorstandschef Andreas Storm. Er forderte Unternehmen dazu auf, sich verstärkt mit der psychischen Gesundheit ihrer Belegschaft zu beschäftigen (3).
Job-Crafting als neues Modell
Um die Motivation zu erhöhen, wird zunehmend auf das Konzept des „Job Crafting“ verwiesen.
Der Begriff stammt aus dem Englischen und bedeutet sinngemäß „Arbeit gestalten“.
Beschäftigte sollen unternehmerisch denken und in die Lage versetzt werden, das Arbeitsumfeld und „die Abläufe im Job aktiv neu und für sie selbst möglichst optimal zu gestalten“, betont die Personalberatung Personio. „Job Crafting soll Mitarbeitenden weniger Frust und mehr Freude vermitteln“ (4).
Die ersten Methoden entwickelten die US-amerikanischen Organisationspsychologinnen Amy Wrzesniewski und Jane Dutton von der Yale University. Am Anfang steht dabei die Analyse der Aufgaben, der sozialen Beziehungen im Unternehmen und der eigenen Einstellung zum Job.
Job Crafting ist ein Konzept der positiven Organisationspsychologie. Bedeutsam ist „Cognitive Crafting“, das sich auf die Veränderung der Wahrnehmung der eigenen Arbeit bezieht.
„Individuellen Stärken und Vorstellungen stehen die Ziele auf Team- und Unternehmensebene gegenüber. Aufgabe des Unternehmens, der Führungskräfte oder der Präventionsberatung ist es, eine Balance zwischen diesen beiden Polen zu finden“, beschreibt iga, die „Initiative Gesundheit und Arbeit“ der gesetzlichen Unfallversicherung. (5).
Auch die Ludwig-Maximilians-Universität München berichtet von Job Crafting und beschreibt, wie Beschäftigten geholfen wird, „ihre Arbeit zu lieben“ (6).
Job Crafting sollte „unbedingt als methodischer Lösungsansatz“ genutzt werden, empfehlen die Berater von Personion. Dies fördere die Gesundheit, nach dem Motto: Mehr Freude an der Arbeit bedeutet bessere Gesundheit. Ein Vorgesetzter gab im Betrieb das Motto aus: „Man muss seine Arbeit aus dem Holz schnitzen, das man zur Verfügung hat“.
Arbeitsschutz wird vernachlässigt
Unberücksichtigt bleibt dabei, dass über Personalausstattung und Arbeitsmenge die Unternehmensleitung entscheidet. Dazu passen Untersuchungen der Gewerkschaften. Der Arbeits- und Gesundheitsschutz in den Betrieben des Dienstleistungssektors wird trotz hoher Belastungen der Beschäftigten sträflich vernachlässigt. Das zeigt etwa die Untersuchung „Arbeitsbelastung hoch, Arbeitsschutz mangelhaft" von Ver.di. Als „eine echte Katastrophe für die Arbeitswelt“ bezeichnet Ver.di-Vorstand Rebecca Liebig die Ergebnisse (7).
Nur knapp über die Hälfte der befragten Beschäftigten sagt, dass sie unter den derzeitigen Arbeitsbedingungen bis zur Rente durchhalte.
„Wir brauchen gerade im wachsenden Dienstleistungssektor dringend gut qualifizierte, motivierte und vor allem gesunde Fachkräfte, um die anstehenden Transformationsprozesse zu meistern“, so Liebig und ergänzt: „Wir fordern die Arbeitgeber auf, ihren gesetzlichen Arbeitsschutz-Pflichten endlich nachzukommen.“
Zentral für das Erreichen von gesunden und guten Arbeitsplätzen ist die Durchführung einer sogenannten Gefährdungsbeurteilung, betont Ver.di (8).
Dies ist im Arbeitsschutzgesetz festgeschrieben und soll Gefahren aus Sicht der Beschäftigten ermitteln.
Der Betrieb muss dabei aufzeigen, welche Gefahren für die Gesundheit der Beschäftigten bestehen. Und dann ist festzulegen, welche Maßnahmen zum Gesundheitsschutz erforderlich sind, also was gegen die Gefährdungen unternommen wird. Das kann auch Stress am Arbeitsplatz betreffen. Viele Unternehmen ignorieren diese Vorgabe.
Quellen:
(2) www.aerzteblatt.de/nachrichten/153033/Fehltage-durch-psychische-Krankheiten-stark-gestiegen
(4) www.personio.de/hr-lexikon/job-crafting
(5) www.iga-info.de/veroeffentlichungen/igawegweiser-co/wegweiser-job-crafting
(6) www.psy.lmu.de/evidenzbasiertesmanagement/dokumente/ebm_dossiers/ebm_27_job_crafting.pdf
WAPE 2024 - World Association of Political Economy
Die WAPE ist eine von China geführte akademische Wirtschaftsorganisation, die sich weltweit mit marxistischen Ökonomen vernetzt.
"Auch wenn das wie eine Voreingenommenheit erscheinen mag, bieten die WAPE-Foren und -Zeitschriften ein wichtiges Forum, um alle Entwicklungen in der kapitalistischen Weltwirtschaft aus einer marxistischen Perspektive zu diskutieren.
Marxistische Ökonomen aus der ganzen Welt sind willkommen, dem WAPE beizutreten und an den WAPE-Foren teilzunehmen." (WAPE-Statement).
Anbei einige Anmerkungen zu den Referaten auf der WAPE 2024, auf die hier eingegangen werden soll, ohne dabei den Anspruch einer Vollständigkeit zu erheben. Es ist eher als eine Anregung zur Vertiefung der Auseinandersetzung um die marxistische Theorie gedacht.
Technologie
Mike Nolan vom Rochester Institute of Technology hielt einen Vortrag über Revolutionary Technology: The Political Economy of Left-Wing Digital Infrastructure" vor. Nolan argumentiert, dass die "dezentralisierte Natur" des Internets und der sozialen Online-Medien dazu tendiert, die Klassenpolitik zu brechen und zu schwächen. Nötig sei eine "einheitliche digitale Infrastruktur", damit "linke Organisationen die Kosten für die Aufrechterhaltung der Infrastruktur teilen und gleichzeitig eine bessere Kontrolle über die Form dieser Infrastruktur ausüben können". Klingt vernünftig, aber die Machbarkeit einer solchen "linken digitalen Infrastruktur" ist nicht klar.
João Romeiro Hermeto von der Freien Universität Berlin stellte sein Buch The Paradox of Intellectual Property in Capitalism vor, in dem er das Wesen des geistigen Eigentums unter der kapitalistischen Produktionsweise diskutiert. Insbesondere versucht er zu erklären, was Wissen ist und wie es produziert wird. Er betont, wie Wissen von Big Pharma und den Tech-Giganten in "geistiges Eigentum" verwandelt wird. Es geht um die Kontrolle über die Aneignung der gesellschaftlichen Mehrarbeit, die im Kapitalismus die spezifische Form des Mehrwerts annimmt. Das ist zweifellos richtig, aber es blieb etwas unkeklärt, wohin uns das Buch dann führt. Es bietet sich vielleicht an, Hermetos Analyse des Wissens in seinem Buch mit Guglielmo Carchedis Analyse des Wissens und der geistigen Arbeit mit dem Buch des Autors, Capitalism in the 21st Century, vergleichen (siehe Kapitel 5, S. 161-187) zu vergleichen.
Quantitative politische Ökonomie
Es gab einen sehr wichtigen Teil des WAPE-Programms, die quantitative politische Ökonomie. Thanos Poulakis und Persefoni Tsaliki von der Universität Mazedonien stellten ihre scharfsinnige Analyse der Kaufkraftparität (KKP) vor, der wichtigsten Methode, mit der der IWF und die Weltbank das BIP in Volkswirtschaften messen. Der Zweck des Kaufkraftparitäts-Wechselkurses besteht darin, die Landeswährung eines jeden Landes in eine gemeinsame Basiswährung - in der Regel den US-Dollar - umzurechnen. Auf diese Weise kann die Wirtschaftsleistung anhand einer einzigen gemeinsamen Währung verglichen werden und nicht anhand von Dutzenden von Landeswährungen, deren Marktwechselkurse sich schnell ändern können.
Poulakis und Tsaliki zeigen, dass die Wechselkurse tatsächlich durch die realen Arbeitskosten bestimmt werden, und wenn diese Stückkosten sorgfältig gemessen würden, könnte man genauere Schätzungen der KKP vornehmen und eine wirksamere Wechselkurspolitik entwickeln. Eine solche empirische Analyse ist nicht neu. Siehe das Papier von Francisco Martinez. Poulakis und Tsaliki haben jedoch ihre früheren Arbeiten auf 163 Länder ausgeweitet.
Eine wichtige Schlussfolgerung daraus ist, dass Handelsüberschüsse und Handelsdefizite die direkte Folge der relativen Wettbewerbsposition der Länder in Bezug auf die realen Arbeitskosten sind. Wechselkursabwertungen haben also nur eine vorübergehende Wirkung auf die nationale Wettbewerbsfähigkeit, wenn die allgemeinen Produktionsbedingungen nicht verbessert werden. Solange die am wenigsten wettbewerbsfähigen Volkswirtschaften auf internationaler Ebene ihre allgemeinen technischen Produktionsbedingungen nicht verbessern können, werden ihre nationalen Industrien strukturell nicht wettbewerbsfähig sein, und infolgedessen würden diese Länder permanente Handelsdefizite aufweisen.
Terms of Trade[1]
Carlos Alberto Duque Garcia hielt einen Vortrag zum Thema "Terms of trade and the rate of profit: a suggested framework and evidence from Latin America". Carlos Duque von der Autonomous Metropolitan University in Mexiko hat bereits eine hervorragende empirische Arbeit über Profitabilitätswellen in Kolumbien mit dem Titel Economic Cycles, Investment and Profits in Colombia, 1967-2019 vorgelegt. In dieser Arbeit fand Duque Belege für die Marx'sche Hypothese, dass sowohl die Profitrate als auch die Masse der Profite die Investitionen bestimmen, während es im Gegenteil keine Belege dafür gab, dass die Investitionen entweder die Profitrate oder die Masse der Profite bestimmen.
Dies war eine weitere Bestätigung des Marx'schen Gesetzes der Rentabilität.
Messung der Profitrate
Dimitris Paitaridis und Lefteris Tsoulfidis gingen der Frage nach, ob eine genaue Messung des Bruttokapitalstocks für die Messung der Profitrate des Kapitals von Bedeutung ist. Dies mag selbstverständlich erscheinen. Aber es ist Gegenstand einer Debatte. Einige argumentieren, dass der Kapitalstock nicht mit offiziellen Daten gemessen werden kann, weil er auf falschen neoklassischen Konzepten beruht. Und es ist sicherlich richtig, dass die in offiziellen Datenbanken (z. B. AMECO der EU) verwendeten Kapitalstockmessungen fragwürdig sind. Die Autoren haben jedoch eine Reihe hervorragender Arbeiten zur Messung des Kapitalstocks vorgelegt und belegen ausführlich den empirischen Zusammenhang zwischen einer zunehmenden organischen Zusammensetzung des Kapitals (der Kapitalstock wächst stärker als das variable Kapital) und einer sinkenden Gewinnrate auf den Kapitalstock.
Nikolaos Chatzarakis referierte ebenfalls über die Art der langen und kurzen Zyklen in der kapitalistischen Akkumulation. Auch hier handelte es sich um eine weitere Arbeit über Zyklen, die der Autor und andere an der Universität von Mazedonien bereits durchgeführt haben. Ihr Zyklusmodell zeigte eine Periodizität, die durch die langfristige Entwicklung der Rentabilität und das dahinterstehende Wachstum der Mehrwertrate als regulierende Variable für die Zyklen bedingt ist. Der äußerst wertvolle Beitrag der marxistischen Wissenschaftler in Mazedonien und Griechenland insgesamt zur marxistischen Wirtschaftstheorie und zu empirischen Studien kann nicht unterschätzt werden. Siehe meine Rezension des bahnbrechenden Buches von Tsoulfidis und Tsaliki. [2]
Apropos Theorie: Das Marx'sche Wertgesetz wurde in Fred Moseleys neuem Buch "Marx's Theory of Value in Chapter 1 of Capital: A Critique of Heinrich's Value Form Interpretation".[3] Der Autor hat die Argumente in dem Buch im Anschluss an eine Debatte zwischen Moseley und dem deutschen Marxisten Michael Heinrich[4] auf der letztjährigen Konferenz zum Historischen Materialismus überprüft.
Fallende Profitrate
Christos Balomenos von der Nationalen und Kapodistrianischen Universität Athen stellte seine Doktorarbeit vor: "Eine theoretische und archivarische Untersuchung von Marx' Analyse des zinstragenden Kapitals und des Kredits im Manuskript von 1864-65 und dessen Bearbeitung durch Engels". In dieser Arbeit untersuchte Balomenos Heinrichs Argumente für die Existenz einer entscheidenden theoretischen Verschiebung in Marx' Denken während der 1870er Jahre, die sich um seine angeblichen Zweifel an der Gültigkeit des Gesetzes der fallenden Profitrate drehte. In seiner Untersuchung kommt er zu dem Schluss, dass "die Manuskripte und Briefe, auf die sich Heinrich beruft, um seine Argumente zu stützen, weder eine Unsicherheit von Marx hinsichtlich der Gültigkeit des Gesetzes der fallenden Profitrate noch eine Veränderung seiner Meinung in den 1870er Jahren hin zu einer vorrangigen Rolle der kapitalistischen Zirkulation und insbesondere des Kredits bei der Erklärung der Wirtschaftskrise belegen."
Auf der WAPE 24 löste Fred Moseleys Interpretation der Marxschen Werttheorie jedoch einen kontroversen Disput aus. Alan Freeman kritisierte Moseley für seine Behauptung, dass die Marktpreise um die langfristigen Produktionspreise oszillieren, die als Gravitationskraft wirken und die Preise mit den Arbeitswerten verbinden. Freeman argumentiert, dass die Outputpreise nicht mit den Inputpreisen übereinstimmen und sich ständig ändern, auch wenn sich die Produktivität nicht ändert. Die Marktpreise oszillieren also nicht um die langfristigen Produktionspreise, die als Gravitationskraft wirken und die Preise an den Wert der Arbeit binden, wie Moseley argumentiert.
Freeman sieht darin eine Gleichgewichtstheorie des Mainstreams, die von Marx in seinem zeitlichen Ansatz abgelehnt wird.
Anmerkungen
[1] Terms of Trade (TOT) ist ein wirtschaftlicher Indikator, der das Verhältnis zwischen dem Preisniveau der Exporte und Importe eines Landes darstellt.
[2] Michael Roberts: Ricardo and/or Marx? A Review of Classical Political Economics and Modern Capitalism: Theories of Value, Competition and Trade by Lefteris Tsoulfidis and Persefoni Tsalik.
Er würdigt das Buch für seine überzeugende und solide theoretische Analyse des Kapitalismus. Er weist jedoch auf einen merkwürdigen Aspekt des Ansatzes der Autoren hin: Sie kategorisieren die Marxsche Ökonomie als einen Strang der klassischen politischen Ökonomie, anstatt sie als Kritik der klassischen Ökonomie anzuerkennen, wie es Marx selbst tat. Roberts findet die Entwicklung der Marxschen Theorie durch die Autoren besonders überzeugend, wenn man sie mit klassischen und neoklassischen Analysen vergleicht.
[3] Fred Moseley: "Marx's Theory of Value in Chapter 1 of Capital: A Critique of Heinrich's Value-Form Interpretation". Es handelt sich um eine detaillierte Kritik Michael Heinrichs Interpretation der Marx'schen Werttheorie, wie sie in Kapitel 1 des "Kapital" dargestellt wird. Moseley argumentiert gegen Heinrichs Wertforminterpretation, die die relationalen und sozialen Aspekte des Werts betont und suggeriert, dass der Austausch die Produktion bestimmt.
Stattdessen verteidigt Moseley ein produktionszentriertes Verständnis des Wertes und behauptet, dass der Wert durch die Produktion bestimmt wird und dass der Tausch daraus folgt.
[4] Michael Heinrichs Interpretation von Marx' Werk unterscheidet sich in mehreren wesentlichen Punkten von anderen Ansätzen:
- Kritik des Weltanschauungsmarxismus: Heinrich kritisiert den sogenannten "Weltanschauungsmarxismus", der durch einen simplen Materialismus und deterministischen Geschichtsverständnis geprägt ist. Er lehnt die Vorstellung ab, dass der Kapitalismus und die proletarische Revolution als naturgesetzliche Notwendigkeiten betrachtet werden können
- Fokus auf Fetischismus: Heinrich betont Marx' Rolle als Kritiker der durch den Wert vermittelten, fetischisierten Vergesellschaftung. Er sieht den Fetischismus als einen Verblendungszusammenhang, dem sowohl Kapitalisten als auch Arbeiter unterliegen, und lehnt die Vorstellung einer privilegierten Erkenntnisposition der Arbeiterklasse ab.
- Unvollständigkeit von Marx' Werk: Heinrich hebt hervor, dass Marx' Werk kein abgeschlossenes System darstellt, sondern aus vielen Fragmenten besteht. Er betont, dass die MEGA (Marx-Engels-Gesamtausgabe) zeigt, dass Marx' Kritik der politischen Ökonomie nicht vollständig fertiggestellt war, sondern dass es sich um ein gigantisches Forschungsprojekt handelt, von dem nur Fragmente realisiert wurden.
- Materialistische Betrachtung: Heinrich verfolgt einen materialistischen Ansatz, der nicht nur die theoretischen Inhalte von Marx' Texten untersucht, sondern auch die materiellen Bedingungen ihrer Entstehung. Er sieht Marx' Texte als politische Interventionen, die in spezifische Debatten und Konflikte eingreifen.
- Kritik an der monetären Werttheorie: Heinrich wird von Vertretern der Neuen Marx-Lektüre dafür kritisiert, dass er eine Zweiteilung der Ökonomie postuliert, die nicht über Marx hinausgeht, sondern hinter ihn zurückfällt.
Quellen dazu:
Marx, Leben und Werk, Z, Zeitschrift marxistische Erneuerung, 2017;
Michael Heinrich: Wie das Marxsche Kapital lesen? Hinweise zur Lektüre und Kommentar zum Anfang von »Das Kapital«, Stuttgart 2008.
Die Federal Reserve scheitert
Dies geschah, obwohl sie feststellte, dass sich die US-Wirtschaft abkühlte, die Arbeitslosigkeit zu steigen begann und die Wirtschaftstätigkeit sich abschwächte.
Das Problem für die Fed bestand wie immer darin, einerseits die Kreditkosten hochzuhalten, um die Inflation einzudämmen, und andererseits dem Risiko entgegenzuwirken, dass die hohen Kreditkosten dazu führen, dass die Haushalte ihre Ausgaben kürzen und die Unternehmen ihre Investitionen und die Beschäftigung zurückfahren.
Die Fed hat wie andere Zentralbanken in den großen Volkswirtschaften ein willkürliches (und ziemlich sinnloses) Inflationsziel von 2 % pro Jahr; im Gegensatz zu anderen Zentralbanken hat sie jedoch ein "doppeltes Mandat", nämlich zu versuchen, die Beschäftigung und das Wirtschaftswachstum zu erhalten und gleichzeitig die Inflation zu senken.
Kann die Fed dieses doppelte Mandat erfüllen?
Die Fed behauptet gerne, dass sie es schaffen wird; auch unter den führenden Wirtschaftswissenschaftlern herrscht Einigkeit darüber, dass sie dieses "Goldlöckchen-Szenario" von niedriger Inflation und Arbeitslosigkeit bei gleichzeitig mäßig solidem Wirtschaftswachstum erreichen wird.
Aber wenn das doppelte Mandat erreicht wird, wird das nicht an der Zinspolitik der Fed liegen. Wie ich bereits mehrfach dargelegt habe, steuert die Geldpolitik angeblich die "Gesamtnachfrage" in einer Volkswirtschaft, indem sie die Kreditaufnahme für Ausgaben (sei es für Konsum oder Investitionen) teurer oder billiger macht. Doch die Erfahrung mit dem jüngsten Inflationsschub seit dem Ende der Pandemiekrise im Jahr 2020 ist eindeutig:
Die Inflation stieg aufgrund der geschwächten und blockierten Lieferketten und der langsamen Erholung der verarbeitenden Industrie an, nicht aufgrund einer "übermäßigen Nachfrage", die entweder durch eine staatliche Ausgabenwut oder "übermäßige" Lohnerhöhungen oder beides verursacht wurde.
Und die Inflation begann zu sinken, sobald die Energie- und Nahrungsmittelknappheit und die Preise nachließen, die Blockaden in den globalen Lieferketten abgebaut wurden und die Produktion wieder anlief.
Die Geldpolitik hatte mit diesen Bewegungen wenig zu tun.
Und entgegen den Hoffnungen und Erwartungen des Fed-Vorsitzenden Jay Powell und aller Mainstream-Ökonomen gibt es in der US-Wirtschaft Tendenzen, die darauf hindeuten, dass das doppelte Mandat wahrscheinlich nicht erreicht werden wird.
Erstens bleibt die Inflation "hartnäckig", d. h. sie liegt deutlich über der angestrebten Jahresrate von 2 %. Die Fed misst die US-Inflation gerne anhand des Preisindexes für die persönlichen Konsumausgaben (PCE). Dabei handelt es sich um ein kompliziertes Maß, das die Produktionspreise sowie die Energie- und Lebensmittelpreise ausschließt - kaum ein genaues Maß für den Preisanstieg bei der Mehrheit der Amerikaner!
Dennoch liegt der PCE-Kernpreisindex derzeit bei 2,6 % und damit unter dem Höchstwert von 5,6 % im Jahr 2022, aber immer noch deutlich über 2 % und der Rate für 2019.
Die Gesamtinflationsrate der Verbraucherpreise ist viel höher als die Messung der Fed.
Sie liegt derzeit bei 3,0 % und damit unter dem Höchstwert von 9 % im Jahr 2002, aber immer noch einen vollen Prozentpunkt über dem illusorischen Ziel der Fed und doppelt so hoch wie die Rate im Jahr 2019.
Und wie zu sehen ist, scheint der Verbraucherpreisindex bei 3 % zu verharren, ohne dass es trotz der optimistischen Äußerungen der Mainstream-Ökonomen Anzeichen für einen weiteren Rückgang gibt. Die Gründe dafür liegen für mich auf der Hand. Erstens ist die Inflation, wie ich schon früher und weiter oben dargelegt habe, nicht auf eine "übermäßige Nachfrage" zurückzuführen, sondern auf ein schwaches Angebot, d. h. ein geringes Produktivitätswachstum und hohe Rohstoffpreise. Zweitens sind die Preise vieler Produkte in der US-Wirtschaft in den letzten zwei Jahren stark gestiegen, was sich anscheinend nicht in den offiziellen Preisangaben niederschlägt.
Dazu gehören insbesondere die stark gestiegenen Wohnkosten, Kranken- und Kfz-Versicherungen. In einem kürzlich erschienenen FT-Artikel wird eingeräumt: "Beide sind zum Teil ein Produkt der pandemischen Angebotsschocks - verringerte Bautätigkeit und ein Mangel an Fahrzeugteilen -, die immer noch durch die Lieferkette sickern. In der Tat sind die teureren Kfz-Versicherungen jetzt ein Produkt des früheren Kostendrucks bei Fahrzeugen. Die Nachfrage ist nicht das zentrale Problem; hohe Tarife können nur wenig ausrichten."
Es gibt noch ein weiteres Maß für die Inflation in der US-Wirtschaft, den so genannten "Sticky Price Consumer Price Index" (SCPI), der auf der Grundlage einer Untergruppe von Waren und Dienstleistungen berechnet wird, die im VPI enthalten sind und deren Preise sich relativ selten ändern, so dass sie von Nachfrageänderungen kaum betroffen sind. Dieser Index zeigt erneut eine viel höhere Inflationsrate an, die derzeit bei 4,2 % im Jahresvergleich liegt und damit dreimal so hoch ist wie Anfang 2021.
US-Inflation bei "hartnäckigen" Preisen
Dieses Maß deutet darauf hin, dass die Inflation in der Wirtschaft verankert ist und die Unternehmen jede Gelegenheit nutzen, um die Preise zu erhöhen, aber keine Gelegenheit, sie zu senken. Vergessen Sie nicht, dass die amerikanischen Haushalte in den letzten drei Jahren einen durchschnittlichen Preisanstieg von 20 % bei den von ihnen gekauften Waren und Dienstleistungen hinnehmen mussten - die derzeitige Verlangsamung der Inflation bedeutet also nichts anderes, als dass die Preise zwar immer noch enorm steigen, aber nicht mehr so schnell. Diese Preisinflation hat die Realeinkommen der meisten Amerikaner in den letzten Jahren aufgefressen, so dass sich der Lebensstandard verschlechtert hat, auch wenn alle eine Arbeit haben (meist eine schlecht bezahlte im Dienstleistungsbereich).
Im Gegensatz zu dem, was die Fed sagt, ist der "Krieg gegen die Inflation" also noch nicht gewonnen. Infolgedessen hat die Fed ihren Leitzins noch immer nicht gesenkt. Der hohe Leitzins der Fed sorgt jedoch dafür, dass die Kreditzinsen hoch bleiben, was sich auf die Gewinne vor allem kleiner Unternehmen auswirkt, die häufig Kredite aufnehmen müssen, um zu investieren und Arbeitsplätze zu schaffen, sowie auf die Kreditkarten- und Hypothekenzinsen der Haushalte.
Dies wirft die Frage auf, ob die US-Wirtschaft wirklich vorankommt und somit einen Abschwung vermeiden kann, der durch den Druck auf die Gewinne aufgrund der hohen Zinssätze verursacht wird. Die jüngste Vorausschätzung des realen BIP-Wachstums in den USA für das zweite Quartal dieses Jahres, das von 1,4 % im ersten Quartal auf 2,8 % im Jahresvergleich gestiegen ist, wurde viel beachtet. Doch diese Schlagzeile hat viele Schwachstellen.
Erstens handelt es sich um eine "annualisierte" Rate, was bedeutet, dass der vierteljährliche Anstieg des realen BIP im zweiten Quartal in Wirklichkeit nur 0,7 % betrug. Zweitens enthält die Gesamtrate wichtige Beiträge aus den folgenden Bereichen: Gesundheitsdienstleistungen (0,45 Prozentpunkte), Vorräte (0,82 Prozentpunkte) und Staatsausgaben (0,53 Prozentpunkte). Die Gesundheitsdienstleistungen sind eigentlich ein Maß für die steigenden Kosten der Krankenversicherung und nicht für eine bessere Gesundheitsversorgung, und diese Kosten sind in den letzten drei Jahren in die Höhe geschnellt. Unter Vorräten versteht man Bestände an unverkauften Waren, mit anderen Worten: Produktion ohne Verkauf; und die Staatsausgaben dienten hauptsächlich der Rüstungsproduktion, was kaum einen produktiven Beitrag darstellt.
Wenn man all diese Komponenten ausklammert und die so genannten "realen Endverkäufe an private inländische Käufer" betrachtet, ein besseres Maß für die US-Wirtschaftstätigkeit, dann gab es keine Verbesserung gegenüber dem schwachen ersten Quartal. Tatsächlich lag das Wachstum der realen Endverkäufe in der ersten Hälfte dieses Jahres bei Null, verglichen mit rund 2 % im gesamten Jahr 2023.
Und die Verkäufe an die Verbraucher waren besser als das Wachstum des realen persönlichen Einkommens.
Im Durchschnitt verzeichnen die amerikanischen Haushalte nach zwei Jahren des Rückgangs der Realeinkommen jetzt nur einen sehr geringen Anstieg. Das real verfügbare persönliche Einkommen (das ist das Einkommen, das den Menschen nach Abzug von Inflation und Steuern zur Verfügung steht) stieg auf Jahresbasis nur um 1 % und damit langsamer als im ersten Quartal.
Kein Wunder, dass die Stimmung der US-Verbraucher auf den niedrigsten Stand seit acht Monaten gefallen ist.
Der von der University of Michigan ermittelte Index der Verbraucherstimmung erreichte im Juli einen Wert von 66,4 und damit den niedrigsten Stand seit November. Die etablierten Wirtschaftswissenschaftler, die davon ausgehen, dass die Verbraucherausgaben und -einkommen boomen, sind darüber verwundert und sprechen von einer "Vibecession". Die amerikanischen Haushalte scheinen nicht zu erkennen, dass es ihnen sehr gut geht! Aber "die hohen Preise drücken weiterhin auf die Stimmung, vor allem bei denjenigen, die über ein geringeres Einkommen verfügen", so Joanne Hsu, die Leiterin der Umfrage in Michigan. Das ist die Verbraucherfront.
An der Produktionsfront sieht es nicht viel besser aus. Die Saison der Unternehmensgewinne in den USA hat begonnen, und es gab durchweg schlechte Nachrichten, insbesondere von den Mega-Tech- und Social-Media-Unternehmen, die den US-Aktienmarkt dominieren und den Großteil der Gewinne im Unternehmenssektor einfahren.
Vier der so genannten "Magnificent Seven", die in den letzten neun Monaten die US-Börsenrallye angetrieben haben, https://thenextrecession.wordpress.com/2024/04/07/from-the-magnificent-seven-to-the-desperate-hundred/
beendeten die Woche mit Kursverlusten von mehr als 10 Prozent gegenüber den jüngsten Höchstständen im "Korrekturbereich". Zwei weitere - Microsoft und Amazon - stehen kurz vor den zweistelligen Kursverlusten, die eine Korrektur definieren. Von den glorreichen Sieben zu den gebrochenen Fünf!
Big Tech hat sich voll auf die zu erwartenden riesigen Gewinne aus der KI festgelegt. Sie haben Investitionen in noch nie dagewesenem Umfang getätigt und sind damit zum Haupttreiber der Unternehmensinvestitionen in der US-Wirtschaft geworden. Microsoft hat erklärt, dass "wir in diesem Jahr einen erheblichen Anstieg der Investitionsausgaben erwarten" und dass "die kurzfristige KI-Nachfrage unsere verfügbaren Kapazitäten ein wenig übersteigt". Amazon sagt, die starke Nachfrage nach Cloud-Diensten und KI bedeute, dass das Unternehmen seine Investitionsausgaben "deutlich erhöhen" werde. Meta sagt, dass KI sowohl in diesem Jahr als auch bis 2025 zu höheren Investitionen führen wird. Allerdings werden Zweifel an der schnellen Realisierung höherer Gewinne durch KI laut, und wenn Big Tech beginnt, seine Ausgaben zu kürzen, wird sich dies auch auf die Wirtschaft der Unternehmen auswirken. Es wird vermehrt von einem "Tail Risk" für den Aktienmarkt gesprochen.
Kommt noch mehr dazu?
Auch die Aktienkurse des Zustelldienstes UPS, der oft als Indikator für die Wirtschaft im Allgemeinen gilt, fielen um 12 %, nachdem UPS seine Prognosen für den Rest des Jahres zurückgenommen hatte. Seit dem Ende der Pandemie gab es einen enormen Anstieg der Investitionen in Transportausrüstung, um den Anstieg der weltweiten Produktion zu bewältigen. Diese Entwicklung scheint sich jedoch ihrem Ende zu nähern.
Zur Beschäftigung
Was die Beschäftigung anbelangt, so zeichnet sich auch hier das Gesamtbild eines schwächeren Beschäftigungswachstums und einer steigenden Arbeitslosigkeit ab. Die ADP-Daten zeigen, dass die Zahl der Beschäftigten in kleinen Unternehmen mit 20 bis 49 Mitarbeitern im Jahresvergleich um 88.000 abgenommen hat. Und die Tendenz ist bei allen Unternehmen außer den sehr großen negativ.
Die Dynamik der Wirtschaftstätigkeit schwächt sich ab.
Tatsache ist, dass die US-Wirtschaft unter den führenden G7-Volkswirtschaften zwar am besten abschneidet, aber nicht in Fahrt kommt. https://www.isw-muenchen.de/online-publikationen/texte-artikel/5260-eine-sanfte-landung-oder-ein-faules-ei-a-soft-landing-or-curates-egg
Dennoch ist die Situation in Europa und Japan noch viel schlimmer - darauf werde ich in einem späteren Beitrag zurückkommen. Im Vereinigten Königreich ist die Lage so schlecht, dass die Bank of England beschlossen hat, ihren Leitzins jetzt zu senken. Die Gesamtinflation im Vereinigten Königreich ist drastisch auf 2 % gesunken, aber nur, weil die britische Wirtschaft stagniert.
Zusammenfassend bleibt festzuhalten:
Die US-Notenbank wird mit ziemlicher Sicherheit auf ihrer September-Sitzung mit der Senkung ihres Leitzinses beginnen - genau das hat sie angedeutet.
Sie hat auch keine andere Wahl, wenn sie eine Stagnation oder gar Rezession in der Wirtschaft vermeiden will, wie es die Bank of England bereits tut.
Die Fed wird also damit leben müssen, dass sie ihr Inflationsziel von 2 % nicht erreicht.
Und die amerikanischen Haushalte werden mit einer noch höheren Inflation in den Geschäften und bei wichtigen Dienstleistungen konfrontiert werden.
Diplomatie statt Waffen
Selenskyj zieht „Diplomatie statt Waffen“ in Betracht;
Beijing verhandelt mit Kiew;
Finnlands Präsident wünscht Gespräche.
Berlin unternimmt zur Kriegsbeendigung nichts.
Ohne jegliches Zutun der Bundesregierung zeichnen sich vorsichtige Bemühungen um ein Ende des Krieges in der Ukraine und um eine mögliche Friedenslösung ab.
So hat etwa der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj in einem Interview mit französischen Medien erklärt, er bestehe nicht mehr darauf, die territoriale Integrität der Ukraine „mit Waffen“ zu erkämpfen; denkbar seien stattdessen auch diplomatische Schritte. Selenskyj wünscht zudem die Teilnahme russischer Delegierter an einem Friedensgipfel; auch eine Vermittlung durch China schließt er nicht aus.
Zugleich lädt Kiew nach mehrtägigen, als produktiv bezeichneten Gesprächen von Außenminister Dmytro Kuleba in der Volksrepublik nun Chinas Außenminister Wang Yi zu einer Fortsetzung der Verhandlungen in die ukrainische Hauptstadt ein.
Beijing hat sich bislang Gesprächen, die es lediglich zum Ziel hatten, Russland zu isolieren, anstatt nach einer Friedenslösung zu suchen – so etwa der Ukraine-Gipfel in der Schweiz –, konsequent verweigert.
Als erster Hardliner aus dem Westen hat sich auch Finnlands Präsident Alexander Stubb für Verhandlungen ausgesprochen. Hintergrund sind die für Kiew miserablen Kriegsperspektiven.
Frontlage: „Viele Probleme auf einmal“
Die Lage an der Front verschlechtert sich laut Berichten für die ukrainischen Streitkräfte zusehends. Demnach hat Russland in der vergangenen Woche in Donezk seine umfassendste Offensive in diesem Jahr gestartet, ist zuletzt vergleichsweise rasch vorgerückt und droht wichtige ukrainische Versorgungslinien abzuschneiden.
Für die ukrainischen Truppen, urteilt Gustav Gressel, Militärexperte des European Council on Foreign Relations (ECFR), „kommen jetzt viele Probleme auf einmal zusammen: abgekämpfte Einheiten, hohe Verluste von qualifiziertem Personal vor allem im Frühjahr, fehlende Munition, fehlendes Material (vor allem gepanzerte Fahrzeuge), Verwundbarkeit gegenüber russischen Gleitbombenangriffen, kaum Möglichkeiten, russische Aufklärungsdrohnen abzufangen“.[1] „Frisch mobilisierte Soldaten“ seien außerdem „in neue Brigaden“ abkommandiert und nicht in bestehende Brigaden integriert worden; für sie fehle es „am geeigneten Führungspersonal“. Ob die vielgepriesenen Kampfjets F-16 überhaupt „in der Nähe der Front“ operieren könnten, um Angriffe mit Gleitbomben zu verhindern, sei unter anderem wegen der geringen Reichweite ihres Radars ungewiss. Zu hierzulande so beliebten Berichten über „Schwächen der russischen Armee“ äußert Gressel, sie täuschten darüber hinweg, dass die Ukraine „ähnliche Probleme“ habe.
Zum Gebietsverzicht bereit
Gressel weist zudem darauf hin, dass der Krieg „auch abseits der Front ... zunehmend die Moral, Ressourcen und Infrastruktur der Ukraine“ strapaziert.[2]
In der Tat sprachen sich im Juli im Rahmen einer Umfrage in der ukrainischen Bevölkerung 44 Prozent dafür aus, in Friedensverhandlungen mit Russland einzutreten.
Im Mai 2023 hatten dies kaum 23 Prozent getan.[3] Eine weitere Umfrage ergab, dass der Anteil derjenigen, die zum Erreichen von Frieden zur Preisgabe von Territorien bereit wären, von rund 9 Prozent im Februar 2023 auf nun 32 Prozent gestiegen war.
Der Anteil derjenigen, die jeglichen Gebietsverzicht dezidiert ablehnten, war von rund 74 Prozent im Dezember 2023 auf nur noch 55 Prozent gefallen.[4]
Hintergrund sind unter anderem die wachsenden Belastungen durch massive Zerstörungen der Infrastruktur. Auf politischer Ebene kommt starke Unklarheit darüber hinzu, wie ein etwaiger US-Präsident Donald Trump sich gegenüber Kiew verhielte.
Wie BRD und DDR
Vor diesem Hintergrund mehren sich die Zeichen, die Ukraine könne sich für Verhandlungen über einen Waffenstillstand und eine etwaige Friedenslösung öffnen.
Nachdem der Versuch gescheitert ist, auf einem vorgeblichen „Friedensgipfel“ in der Schweiz den Globalen Süden gegen Russland in Stellung zu bringen (german-foreign-policy.com berichtete [5]), hat Präsident Wolodymyr Selenskyj vor rund zehn Tagen mitgeteilt, er schließe Gespräche mit Russlands Präsident Wladimir Putin nicht mehr aus [6]. In einem am Mittwoch erschienenen Interview mit französischen Medien äußerte Selenskyj nun explizit, er wünsche eine Präsenz russischer Delegierter auf einem nächsten „Friedensgipfel“.[7]
Selenskyj teilte zudem mit, Kiew bestehe weiterhin auf der territorialen Integrität der Ukraine; diese müsse man aber nicht unbedingt „mit Waffen“ erkämpfen – denkbar seien auch diplomatische Schritte. Damit nähert sich Selenskyj der bereits im vergangenen Jahr diskutierten Option an, die Frontlinie einzufrieren und zu einem praktischen Nebeneinander mit Russland zu finden, ohne die Annexion ukrainischer Territorien in aller Form anzuerkennen.[8]
Man könne die Territorien vielleicht auf ähnliche Weise wiedergewinnen wie einst die BRD das Territorium der DDR, heißt es meistens dazu.
China als Vermittler
Selenskyj schließt zudem eine Vermittlung durch China nicht aus.
Zwar ziehe er es vor, wenn Beijing nicht zwischen Kiew und Moskau vermittle, sondern stattdessen seinen Einfluss auf Russland nutze, um es zur Beendigung des Krieges und zum Abzug seiner Streitkräfte zu zwingen, teilte Selenskyj mit. Eine offene Ablehnung chinesischer Bemühungen, den Krieg durch einen Abgleich zwischen den beiden Seiten zu beenden, unterließ er allerdings.[9]
Das ist deshalb von Bedeutung, weil einschlägige Gespräche kürzlich begonnen haben und jetzt möglicherweise fortgesetzt werden. In der vergangenen Woche hielt sich der ukrainische Außenminister Dmytro Kuleba zum ersten Mal seit Kriegsbeginn zu Gesprächen in Beijing auf, die sich insgesamt über einige Tage zogen und als durchaus produktiv eingestuft wurden. Kuleba bestand lediglich auf der Souveränität und auf der territorialen Integrität der Ukraine; diese freilich waren schon Bestandteil des chinesischen Zwölf-Punkte-Plans vom Februar 2023, den Kiew damals in ersten Reaktionen begrüßt hatte.[10]
Am Dienstag teilte die ukrainische Regierung mit, sie habe Chinas Außenminister Wang Yi zu weiteren Gesprächen nach Kiew eingeladen; Wang habe sich offen dafür gezeigt.
Man schließe selbst ein Treffen zwischen Selenskyj und Chinas Präsident Xi Jinping nicht mehr aus.[11]
„Abzug keine Vorbedingung“
Selbst im Westen gibt es vorsichtige Hinweise auf ein Einlenken. Dies ergibt sich aus Äußerungen von Finnlands Präsident Alexander Stubb, der mit Blick auf den Ukraine-Krieg bisher eher als Hardliner auftrat. Im Mai hatte er noch erklärt, „der einzige Weg zum Frieden“ führe „über das Schlachtfeld“.[12] Am Wochenende urteilte er nun aber in einem Interview mit der französischen Abendzeitung Le Monde, man sei „an einem Punkt angekommen, an dem Verhandlungen beginnen müssen“.[13] Einen Abzug der russischen Streitkräfte, der auch in Berlin unablässig als Voraussetzung für Verhandlungen gefordert wird, könne man nicht „als Vorbedingung betrachten“, äußerte Stubb nun. Klar sei, dass Selenskyj bezüglich der von Russland annektierten Gebiete eine Entscheidung treffen müsse. Darüber hinaus seien Sicherheitsgarantien westlicher Staaten für die Ukraine erforderlich. Diese liegen mittlerweile zahlreich vor, haben jedoch aus Kiewer Sicht durchweg den Nachteil, dass sie für den Fall eines erneuten russischen Angriffs keine feste Verteidigungszusage geben, sondern lediglich versprechen, innerhalb kürzester Frist zu Gesprächen zusammenzukommen und Kiew auf ähnliche Weise zu unterstützen wie im aktuellen Krieg. Das gilt auch für die deutsche Sicherheitsgarantie (german-foreign-policy.com berichtete [14]). Selbstverständlich benötige die Ukraine auch Wiederaufbauhilfen, konstatierte Stubb. Man darf vermuten, dass Kuleba dies bei seinem Besuch in Beijing ebenfalls besprach.
Deutschland? Fehlanzeige.
Beobachter weisen darauf hin, dass die Gespräche über einen etwaigen Waffenstillstand sich allenfalls in einem frühen Stadium befinden und die Erfolgsaussichten völlig ungewiss sind. Zumindest indirekt sind inzwischen allerdings auch europäische Politiker involviert; so tauschte sich – nach dem kürzlichen Besuch von Ungarns Ministerpräsident Viktor Orbán in Beijing [15] – zu Wochenbeginn Italiens Ministerpräsidentin Giorgia Meloni im Gespräch mit Chinas Präsident Xi Jinping über den Ukraine-Krieg aus.
Sie sei der Auffassung, Beijing könne „ein Schlüsselakteur“ bei dem Versuch werden, „Elemente eines gerechten Friedens“ für die Ukraine zu identifizieren, teilte Meloni nach dem Gespräch mit.[16]
Von etwaigen Bemühungen deutscher Regierungspolitiker, Wege hin zu einem Waffenstillstand zu finden, ist nichts bekannt.
[1], [2] Tobias Mayer: Militärexperte über die Lage im Ukrainekrieg: „Friedensverhandlungen sind pure Spekulation von Biertischdiplomaten“. tagesspiegel.de 30.07.2024.
[3] Nate Ostiller: 44% of Ukrainians believe it’s time to start official peace talks with Russia, survey finds. kyivindependent.com 15.07.2024.
[4] Brendan Cole: Ukrainian Support for Ceding Territory Surges. newsweek.com 23.07.2024.
[5] S. dazu Ziele klar verfehlt
[6] Ella Strübbe: Kreml lobt Selenskyj. tagesspiegel.de 22.07.2024. S. auch Streit um Viktor Orban
[7] Thomas d’Istria: Volodymyr Zelensky : renoncer à des territoires ukrainiens est « une question très, très difficile ». lemonde.fr 31.07.2024.
[8] S. dazu Der Korea-Krieg als Modell und Der Übergang zur Diplomatie
[9] Thomas d’Istria: Volodymyr Zelensky : renoncer à des territoires ukrainiens est « une question très, très difficile ». lemonde.fr 31.07.2024.
[10] S. dazu Auf der SEite der Diplomatie (III)
[11] Dan Peleschuk: Kyiv hails dialogue with Beijing, hints at potential Zelenskiy-Xi meeting. reuters.com 30.07.2024.
[12] „Gerade führt der einzige Weg zum Frieden über das Schlachtfeld“. Frankfurter Allgemeine Zeitung 10.05.2024.
[13] Philippe Ricard: Alexander Stubb, president finlandais, à propos de la guerre en Ukraine : « Nous arrivons à un point où les négociations doivent commencer ». lemonde.fr 27.07.2024.
[14] S. dazu Die Dominanz im Mittel- und Osteuropa
[15] S. dazu Streit um Viktor Orban
[16] Riyaz ul Khaliq, Giada Zampano: China can become ‘key player’ to help identify peace in Ukraine, says Italian premier. aa.com.tr 30.07.2024.
Panzer und Subventionen für die Konzerne statt Kindergrundsicherung
Jetzt kam das Aus: Rüstung statt Kinder.
Subventionen für die Aktionäre der Konzerne: 10,7 Milliarden Euro im Jahr 2023 für die DAX-Konzerne. Die Ampel-Regierung zeigt wieder einmal, dass sie fest an der Seite der Konzerne und Reichen steht!
Die Kindergrundsicherung war als größte Sozialreform der Ampelkoalition angekündigt. Der Start der Kindergrundsicherung war für Januar 2025 geplant. Doch weder das Datum, noch das Geld oder die notwendigen Stellen konnte Bundesfamilienministerin Lisa Paus (Grüne) durchsetzen. Die Kindergrundsicherung - einst als das größte sozialpolitische Vorhaben der Grünen gestartet - ist auf fünf Euro mehr beim Kindergeld geschrumpft.
Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) erklärte bei der Sommer-Pressekonferenz am Mittwoch vergangener Woche (24.7.), dass die Kindergrundsicherung in dieser Legislatur nicht mehr umgesetzt werde. Gegenwärtig, sagte Scholz, diskutierten Regierung und Koalitionsparteien über erste Schritte zur Einführung: "Und dann auch darüber, wie man den Weg zum zweiten Schritt formuliert, der vermutlich dann nicht in dieser Legislaturperiode sich ereignen wird."
Da es aber voraussichtlich eine weitere Legislaturperiode dieser Koalition nicht mehr geben wird, wird auch die Kindergrundsicherung nicht mehr kommen.
Geplant war, verschiedene staatliche Leistungen wie Kindergeld oder Kinderzuschlag für einkommensschwache Familien sowie Sozialleistungen für Kinder zu bündeln. Die Grundsicherung sollte dann aus zwei Teilen bestehen: einem fixen Grundbetrag, dem Kindergarantiebetrag - heute das Kindergeld - und einem flexiblen Zusatzbetrag - dem Kinderzusatzbetrag -, der abhängig vom Einkommen der Eltern sein sollte. Dafür sollte der Antrag für die Familien einfacher, übersichtlicher und digitaler werden, damit am Ende mehr Kinder profitieren.
Doch jetzt bleibt es bei einer "ersten Stufe", mit einer geringfügigen Erhöhung beim Kinderzuschlag und Kindergeld um fünf Euro. Mit einem Kindergrundsicherungscheck sollen Familien leichter wissen, ob sie einen Anspruch auf staatliche Leistungen haben. Zusätzlich soll es ein weiteres Portal im Netz geben: Familien mit wenig Einkommen sollen darüber leichter Zuschläge für Musikschulen oder etwa Sportvereine bekommen. (Frage: Warum wird Sport und Musik nicht mehr im normalen Schulunterricht angeboten?) Dieser erste Schritt soll noch vor der nächsten Bundestagswahl kommen, hofft die grüne Familienministerin.
"Ein weiterer Schritt ist gegenwärtig nicht etatreif" blockte Bundesfinanzminister Christian Lindner (FDP) den "zweiten Schritt" ab. Es dürften "nicht immer neue Subventionen, neue Sozialausgaben, neue Standards dazukommen." Sonst sei die zur Sicherung der "Freiheit" des Westens nötige Erhöhung der Verteidigungsausgaben nicht möglich, so Lindner.
Stolz betonte Lindner im ARD-Sommerinterview, dass Deutschland die Rüstungsausgaben erhöht habe. "Deutschland erfüllt das NATO-Ziel von zwei Prozent der Wirtschaftsleistung für die äußere Sicherheit. Wann in den letzten Jahrzehnten hat es das gegeben? Wir tun mehr als Frankreich und Italien beispielsweise."
An die Adresse von Verteidigungsminister Boris Pistorius (SPD) gerichtet, der eine noch stärkere Steigerung der Rüstungsausgaben fordert, sagte er: "Herr Pistorius hat ein 100-Milliarden-Euro-Sonderprogramm für die Ertüchtigung der Streitkräfte, das hatte keiner seiner Vorgänger."
Deutschland hat der NATO für das laufende Jahr geschätzte Verteidigungsausgaben von 90,6 Milliarden Euro gemeldet (davon 51,95 Milliarden Euro aus dem regulären Verteidigungshaushalt) und erreicht damit derzeit klar das Zwei-Prozent-Ziel des Bündnisses.[1]
Für den Krieg um die Ukraine hat Deutschland der Ukraine inzwischen Militärhilfen in Höhe von etwa 28 Milliarden Euro zur Verfügung gestellt beziehungsweise für die kommenden Jahre bereitgestellt.[2]
Im Haushaltsentwurf für das Jahr 2025 Entwurf 2025 sind 53,25 Mrd. Euro (+2,5 Prozent) im regulären Verteidigungshaushalt (Einzelplan 14, Bundesministerium der Verteidigung) vorgesehen. Bis 2028 sollen die Ausgaben auf 80 Mrd. Euro steigen.
Bundesregierung: Kanonen statt Butter
"Kanonen und Butter, das ist Schlaraffenland", hatte ifo-Chef Clemens Fuest bei der Talk-Runde von Maybrit Illner am 22. Februar vorhergesagt und war damit auf heftigen Widerspruch von SPD und Grünen gestoßen. "Wir dürfen die Sicherheit nach außen nicht gegen soziale Sicherheit im Land ausspielen", hatte die Grünen-Vorsitzende Ricarda Lang entgegnet. (siehe kommunisten.de, 29.2.2024: "Kanonen statt Butter"
Doch jetzt bestätigen sich die Erfahrungen aus der Vergangenheit auf die Ifo-Chef Fuest hingewiesen hatte: "Wenn man mehr für das Militär ausgeben musste, dann blieb eben weniger für andere Dinge."
Dafür klingeln bei der Rüstungsindustrie die Kassen.
2023: 10,7 Milliarden Euro Subventionen für die Aktionäre der DAX-Konzerne
Genügend Geld gibt es aber auch für Subventionen an die großen Konzerne. Wie das Magazin Monitor unter Bezug auf eine Analyse des Flossbach von Storch Research Institute berichtete, sind in den letzten fünf Jahren sind nicht nur die Gewinne der 40 DAX-Konzerne gestiegen, sondern auch die staatliche Unterstützung hat heftig zugelegt. Allein 2023 flossen mindestens 10,7 Milliarden Euro an die deutschen DAX-Unternehmen. Fast doppelt so viel wie im Vorjahr.
Laut der Studie lagen die Subventionen bis 2018 bei jährlich rund zwei Milliarden Euro. Danach seien die staatlichen Unterstützungen jedes Jahr gestiegen. Insgesamt seien von 2016 bis 2023 rund 35 Milliarden Euro staatlicher Gelder an die größten Börsenkonzerne gegangen. Unabhängig davon, wie viel Gewinn sie gemacht haben.
RWE und E.ON hätten deswegen in der Nettobetrachtung in den vergangenen acht Jahren "keinen Beitrag zu den öffentlichen Kassen geleistet".
Besonders davon profitiert hat der Energiekonzern E.ON mit 9,3 Milliarden Euro seit 2016. Die Gesellschaft erhielt aufgrund des Strompreisbremsegesetz und Erdgas-Wärme-Preisbremsengesetz besonders viele Gelder. Darüber hinaus erhielten sie Investitionszuschüsse.
Auf Platz 2 folgt Volkswagen mit 6,4 Milliarden Euro Subventionen seit 2016. Diese gingen auf Steuervergünstigungen und Förderungen für Forschungen in der Antriebs- und Digitaltechnik. BMW erhielt 2,3 Milliarden, unter anderem für den Bau von neuen Standorten.
Im Vergleich zum Vor-Pandemie-Jahr 2019 stieg die Ausschüttungssumme der DAX-Konzerne im Jahr 2023 um 54 Prozent.
Für das Jahr 2024 erwarten die Experten der DekaBank, dass die DAX-Konzerne 54,6 Milliarden Euro an Dividende ausschütten. Das sind 1,6 Milliarden Euro mehr als 2023 und ein neuer Höchstwert. Bezuschußt mit Steuermilliarden.
Der Ampel geht es mehr um den Wohlstand der großen Unternehmen und seiner Aktionäre als um den Wohlstand der Bevölkerung. Sie subventioniert die maßlosen Gehälter der Konzernvorstände – VW-Vorstandschef Oliver Blume erhält ein Jahresgehalt von zehn Millionen, Bjorn Gulden (Adidas) 9,2 Millionen Euro, Christian Sewing (Deutsche Bank) 9,0 Millionen Euro, Christian Klein (SAP) 8,8 Millionen, Roland Busch (Siemens) 8,5 Millionen Euro -, hat aber kein Geld für die Kindergrundsicherung mit veranschlagten Kosten von 5 Milliarden Euro.
Die Ampel zeigt wieder einmal, dass sie fest an der Seite der Konzerne und Reichen steht!
[1] Tagesschau, 18.6.2024: NATO-Verteidigungsausgaben deutlich gestiegen
https://www.tagesschau.de/ausland/europa/nato-verteidigungsausgaben-106.html
[2] Bundesregierung, 29.7.2024: Diese Waffen und militärische Ausrüstung liefert Deutschland an die Ukraine
https://www.bundesregierung.de/breg-de/schwerpunkte/krieg-in-der-ukraine/lieferungen-ukraine-2054514