
ISW München
"Es geht nicht mehr alles." Außer bei der Rüstung
Kürzungen überall, außer bei der Rüstung.
Zeitgleich zum Einfrieren des Klimafonds erreicht die Welttemperatur Spitzenwerte. Infrastruktur verrottet.
61,7 Mrd. Euro fließen aus Deutschland in die Ukraine.
Linke will Abgabe auf Vermögen oberhalb von zwei Millionen und Aussetzen der Schuldenbremse.
Bundeskanzler Olaf Scholz hat in der heutigen Bundestagsdebatte eingeräumt, dass das Karlsruher Urteil die Arbeit seiner Ampelkoalition deutlich erschwert. "Dieses Urteil schafft eine neue Realität - für die Bundesregierung und für alle gegenwärtigen und die zukünftigen Regierungen, im Bund und in den Ländern. Eine Realität, die es allerdings schwieriger macht, wichtige und weithin geteilte Ziele für unser Land zu erreichen", sagte Scholz in der Regierungserklärung.
Diese "neue Realität" hat das Bundesverfassungsgericht in Karlsruhe am 15. November herbeigeführt, in dem es einen von Olaf Scholz (SPD) 2020 im Bundesfinanzministerium eingeführten Haushaltstrick für verfassungswidrig erklärte. Geklagt hatten Abgeordnete der CDU/CSU-Bundestagsfraktion.
Das Bundesverfassungsgericht hat eine Umwidmung nicht genutzter Corona-Kredite in Höhe von 60 Milliarden Euro auf den Klima- und Transformationsfonds (KTF) für nichtig erklärt. Zugleich gerierten sich die Richter als strenge Verteidiger des Neoliberalismus und der Austerität und entschieden, dass sich der Staat Notlagenkredite nicht für spätere Jahre auf Vorrat zurücklegen dürfe. Denn das wäre eine Umgehung der Schuldenbremse.
Die Schuldenbremse ist Zukunftsbremse
Die Schuldenbremse wurde im Jahr 2009 von der damaligen Großen Koalition ins Grundgesetz geschrieben. Die Schuldenbremse, volkstümlich die "Schwarze Null", wird von CDU/CSU, SPD, FDP, Bündnis 90/Die Grünen und AfD verteidigt. DIE LINKE stimmte dagegen, spätere Anträge auf Aufhebung der Schuldenbremse stießen auf die geschlossene Ablehnung durch die anderen Bundestagsparteien.
"Einnahmen und Ausgaben sind grundsätzlich ohne Einnahmen aus Krediten auszugleichen." So lautet der erste Satz von Artikel 115 des Grundgesetzes. Das ist die Grundregel der Schuldenbremse. Sie bedeutet allerdings nicht automatisch "0,0 Prozent neue Schulden". Der Bund darf jedes Jahr bis zu 0,35 Prozent seines Bruttoinlandsprodukts an neuen Schulden aufnehmen. Außerdem sind "bei einer von der Normallage abweichenden konjunkturellen Entwicklung" in gewissen Grenzen neue Schulden möglich, heißt es in der Vorschrift ergänzend.
Im Zentrum der aktuellen Diskussion steht: Neben der Grundregel sieht Artikel 115 des Grundgesetzes eine Ausnahme von der Schuldenbremse vor. "Im Falle von Naturkatastrophen oder außergewöhnlichen Notsituationen, die sich der Kontrolle des Staates entziehen und die staatliche Finanzlage erheblich beeinträchtigen", kann man von der Grundregel der Schuldenbremse abweichen. Der Bundestag darf diese Ausnahme unter bestimmten Voraussetzungen mit einfacher Mehrheit beschließen.
Schuldenbremse, das ist Neoliberalismus per Gesetz, sogar per Verfassungsrang; sie verpflichtet den Staat zur Untätigkeit und zu ständigem Abspecken, während Unternehmensgewinne und Privatvermögen explodieren. Gleichzeitig bleibt dank Schuldenbremse die brachliegende Infrastruktur all jenen Unternehmen überlassen, die sich seit 20 Jahren in Public-Private-Partnerships die öffentliche Daseinsvorsorge unter den Nagel reißen, um sie zu verscheuern oder vor die Wand zu fahren.
Bei Teilen von SPD und Grünen hat nun eine Diskussion über eine Reform der Schuldenbremse begonnen, damit staatliche Investitionen nicht mehr durch die Schuldenbremse verhindert werden.
Nachdem das Bundesverfassungsgericht die Umwidmung nicht genutzter Corona-Kredite in Höhe von 60 Milliarden Euro auf den Klima- und Transformationsfonds (KTF) für nichtig erklärt hat, klafft eine große Lücke im Bundeshaushalt. Geplante Vorhaben zum Beispiel zur ökologischen Transformation sowie staatliche Subventionen in die Industrie können aktuell nicht umgesetzt werden.
"Nach dem Urteil des Bundesverfassungsgerichts müssen alle Sondervermögen des Bundes überprüft werden, nur nicht das Sondervermögen für die Bundeswehr. Dieses ist im Grundgesetz verankert. Damit sind Kürzungen in Größenordnungen nur noch im Sozialbereich, bei Bildung und Forschung und im Verkehr denkbar."
Gesine Lötzsch, haushaltspolitische Sprecherin der Linksfraktion im Deutschen Bundestag
Auch im vierten Jahr in Folge soll für 2023 die Schuldenbremse ausgesetzt werden - das hat die Ampel mit ihrem Nachtragshaushalt beschlossen. Die FDP ruft nun zum "strikten Haushalten" und zur Setzung von Prioritäten auf. "Bund und Länder haben ein Ausgabenproblem, und an der Stelle ist Sparen angesagt", sagte FDP-Fraktionschef Christian Dürr. "Sparen ist das Gebot der Stunde."
Zeitgleich zum Einfrieren des Klimafonds erreicht die Welttemperatur Spitzenwerte
Zwar muss die Bundesregierung im kommenden Jahr nicht die vollen 60 Milliarden Euro einsparen oder anders finanzieren, die sie dem KTF zugeschoben hatte, denn das Geld floss in die Rücklage des Fonds und war für Auszahlungen über mehrere Jahre gedacht. Im bisherigen Haushaltsentwurf für 2024 waren für den KTF Ausgaben von rund 57,6 Milliarden Euro geplant. Der Fonds hat aber neben der Rücklage eigene Einnahmen durch die Co2-Abgabe und die Erlöse aus dem Handel mit Co2-Zertifikaten. Zudem gibt es aufgrund günstiger Umstände aus den Vorjahren eine Mehreinnahme von 9,3 Milliarden Euro. Aus der Rücklage würden deswegen nur rund 29,2 Milliarden entnommen.
Zur Sperre des Klima- und Transformationsfonds kommt hinzu, dass auch der Wirtschaftsstabilisierungsfonds WSF infrage gestellt wird. Der ist zwar nicht direkt von dem Karlsruher Urteil betroffen, Experten wie der Bundesrechnungshof gehen aber davon aus, dass dessen Finanzierung ebenfalls illegal war. Die von Finanzminister Christian Lindner (FDP) verhängte Haushaltssperre trifft deshalb auch den Wirtschaftsstabilisierungsfonds (WSF).
Der von Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) als "Doppelwumms" gefeierte Fonds zur Dämpfung der Energiepreise war 2022 unter Aussetzung der Schuldenbremse mit Kreditermächtigungen von 200 Milliarden Euro ausgestattet worden, die größtenteils aber erst 2023 und 2024 verwendet werden sollen. Aus dem WSF flossen bis Ende Oktober insgesamt 31,2 Milliarden Euro. Davon entfielen 11,1 Milliarden Euro auf die Gaspreisbremse und 11,6 Milliarden auf die Strompreisbremse, dazu 4,8 Milliarden auf eine Erdgassoforthilfe und 3,7 Milliarden Euro Zuschüsse für Netzentgelte. Für 2024 waren Ausgaben von 13,9 Milliarden Euro geplant. Da der WSF nur aus seiner Rücklage finanziert wird, müsste diese Summe komplett gegenfinanziert werden.
Somit muss die Bundesregierung im kommenden Jahr 43,1 Milliarden Euro finanzieren. Insgesamt sind mit dem Urteil um die 100 Milliarden in den aktuellen Haushaltsplänen nichtig.
"Wir werden die Ukraine weiter unterstützen… Und das gilt auch für das große Projekt der industriellen Modernisierung in Deutschland."
Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD)
Scholz bekräftigte, dass die wichtigen Ziele der Bundesregierung bestehen bleiben: "Wir werden die Ukraine weiter unterstützen. Wir werden alles dafür tun, um ökonomische Folgen aus dem Krieg abzufedern", so Scholz. "Wir werden alles dafür tun, den Zusammenhalt im Land zu bewahren. Und das gilt auch für das große Projekt der industriellen Modernisierung in Deutschland."
Doch ohne die Kredite für das "Sondervermögen" Klima- und Transformationsfonds (KTF) hängen wichtige Investitionen in der Luft.
So hat Bundeswirtschaftsminister Robert Habeck (Grüne) der Halbleiterindustrie Subventionen aus dem Klima- und Transformationsfonds (KTF) fest zugesagt - 20 Milliarden Euro über mehrere Jahre. Den Löwenanteil haben sich der us-amerikanische Halbleiterkonzern Intel mit knapp 10 Milliarden Euro für den Bau einer Fabrik in Magdeburg mit 3.000 Beschäftigten, und der taiwanesische Halbleiterkonzern TSMC mit fünf Milliarden für den Bau einer Fabrik in Dresden in der einmal 2000 Menschen arbeiten sollen, unter den Nagel gerissen. Im Jahr 2024 sollen vier Milliarden fließen.
Die Subventionen für die Halbleiter-Multis sind heftig umstritten.So sieht der Präsident des Leibniz-Instituts für Wirtschaftsforschung in Halle, Reint Gropp, in den Subventionen für Intel eine Verschwendung von Steuergeldern. Man könnte das Geld "deutlich besser anderweitig" ausgeben, meint er. Es sei außerdem fraglich, ob die geostrategischen Ziele der Ansiedlung überhaupt erreicht würden. Die Produktion erfolgt für den Weltmarkt, so dass die "deutsche" Industrie trotz der staatlichen Milliardensubventionen keinen bevorzugten Zugriff auf die produzierten Halbleiter hat. Und mittel- und langfristig könne Deutschland im globalen "Subventionswettlauf“ sowieso nicht mithalten, so Gropp. "Die überwiegende Menge an Chips wird weiterhin woanders produziert werden. Die Vorprodukte für die Chip-Produktion in Magdeburg werden weiterhin aus Asien kommen. Wir werden also auch nicht unabhängiger sein. Und wir subventionieren mit großen Mengen Geld Arbeitsplätze in einem Arbeitsmarkt, wo Arbeitskräftemangel herrscht“, sagte Gropp.
Trotzdem ist damit zu rechnen, dass an dieser Subvention "für das große Projekt der industriellen Modernisierung in Deutschland" (Olaf Scholz) festgehalten wird. Bundeswirtschaftsminister Robert Habeck bekräftigt: "Alle Projekte müssen möglich gemacht werden. Sie haben alle ihren guten Grund." Zur Begründung verweist er darauf, dass irreparable Schäden für den Wirtschaftsstandort und dessen internationale Konkurrenzfähigkeit entstehen würden. Wirtschaftspolitik sei "Wettbewerbs- und Konkurrenzpolitik geworden", sagte Habeck.
Aus dem Klima- und Transformationsfonds (KTF) sollten auch die Strompreis-Zuschüsse für energieintensive Unternehmen finanziert werden.
Betroffen von der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts sind auch die 12,5 Milliarden Euro, die bis 2027 aus dem Klima- und Transformationsfonds an die Bahn für die Erneuerung des DB-Schienennetzes gehen sollten. Betroffen sind zahlreiche weitere Projekte, vom Aufbau einer Wasserstoffwirtschaft bis zur Wärmeversorgung in Kommunen.
Klimageld
In ihrem Koalitionsvertrag hatten SPD, Grüne und FDP ein sogenanntes Klimageld versprochen: Die Einnahmen aus dem Emissionshandel sollen regelmäßig durch die Anzahl der Bürger:innen geteilt werden, und jede:r bekommt dieselbe Summe überwiesen. Wer selbst besonders wenig Emissionen verursacht, bekäme vielleicht sogar mehr zurück, als er:sie über den eigenen Konsum in den Emissionshandel eingezahlt hat. Andere würden draufzahlen.
Weil arme Menschen allein schon aus finanziellen Gründen oft zur ersten Gruppe gehören, würde ein solches Klimageld nicht nur ökologisches Verhalten belohnen, sondern auch für eine Umverteilung von Reich zu Arm sorgen. Doch das Klimageld blieb schon bisher auf der Strecke.
Infrastruktur verrottet
Es gehört zur Ironie der Situation, dass zeitgleich zum Einfrieren des Klimafonds die Welttemperatur Spitzenwerte erreicht: Zum ersten Mal liegt sie bestätigt zwei Grad über dem vorindustriellen Niveau. Dass dagegen nichts in der erforderlichen Geschwindigkeit und Radikalität unternommen wird, dass die Welt sehenden Auges in die Katastrophe gesteuert wird, daran haben auch all jene Schuld, die die Haushalte auf Sparsamkeit festzurren wollen.
Währenddessen verrotten Bahnstrecken und Brücken, steht der Gesundheits- und Pflegebereich vorm Kollaps, verschwinden Sozialwohnungen, sind Verwaltungen auf einem vorsintflutlichen Niveau. Das Land lebt von Strukturen aus den 1990ern.
Überall kursieren jetzt Kürzungsvorschläge, Sozialraubzüge werden geplant.
"Wenn Lindner und Merz Prioritäten fordern, dann meinen sie eigentlich Sozialkürzungen."
Gesine Lötzsch, haushaltspolitische Sprecherin der Linksfraktion im Deutschen Bundestag
Die staatlichen Strom- und Gaspreisbremsen werden schon zum 31. Dezember auslaufen - und damit drei Monate früher als geplant. Das hatte Finanzminister Christian Lindner (FDP) bereits nach dem Urteil angekündigt. Auf die Frage, ob der Staat im kommenden Jahr bei hohen Gaspreisen einspringen werde, sagte Lindner: "Davon ist nicht auszugehen." Der Bundeskanzler hat dies nun in seiner Regierungserklärung bestätigt.
CDU-Chef Friedrich Merz fordert einen Verzicht auf die Kindergrundsicherung, das Heizungsgesetz und auf ein höheres Bürgergeld. "Es geht eben nicht mehr alles", sagte er in der ARD-Talkrunde "Maischberger". Eine Lockerung der Schuldenbremse sehe er "im Augenblick nicht", sagte Merz - ebenso wenig wie höhere Steuern.
"Es geht eben nicht mehr alles", aber die Finanzierung der von Verteidigungsminister Boris Pistorius (SPD) verkündeten neuen deutschen Waffenhilfe über 1,3 Milliarden Euro für die Ukraine ist nach Angaben eines Ministeriumssprechers gesichert. Er könne aber noch keine Aussage machen, ob die ebenfalls geplante Aufstockung der Militärhilfe um weitere vier Milliarden Euro im Haushalt 2024 kommen werde.
"Die acht Milliarden Euro für die Ukraine dagegen sind Stand jetzt nicht sicher. Sie müssen gesondert begründet werden Daran arbeiten wir ebenso wie an der weiteren Sicherstellung der Ausrüstung der Bundeswehr", verlautet es aus dem Ministerium.
24 + 4 + 1,3 + 20,4 +12 = 61,7 Mrd. Euro fließen aus Deutschland in die Ukraine
Die Bundesregierung muss sich entscheiden zwischen der wirtschaftlichen Entwicklung im eigenen Land und der Unterstützung der Ukraine, sagt die Bundestagsabgeordnete Sevim Dagdelen, früher Linksfraktion.
"Während die Ampel gerade die Haushaltsmittel für 2024 eingefroren hat und noch nicht klar ist, wo im sozialen Bereich noch weiter gekürzt wird, nachdem die Strom- und Gaspreisbremse schon zum Jahresende gestoppt wird, oder die Schulden einfach künftigen Generationen übergestülpt werden, sollen die Gelder der auf vier Jahre angelegten EU-Militär- und Finanzhilfen für die korrupte Ukraine in Höhe von 50 Milliarden Euro weiter fließen. Jeder vierte (!) Euro davon kommt von den deutschen Steuerzahlern!
Rechnet man alles zusammen, dann sind die deutschen Waffengeschenke und Finanzhilfen die Ukraine größer als das gerade gefundene Haushaltsloch der Ampel:
- Die Bundesregierung hat der Ukraine nach eigenen Angaben Hilfen im Gesamtwert von rund 24 Milliarden Euro zur Verfügung gestellt - für Waffen, als direkte Zahlungen oder in Form humanitärer Hilfe. Im Haushalt 2024 sind die Waffengeschenke von 4 Mrd. Euro auf 8 Mrd. Euro verdoppelt worden, d.h. verfeuert schon 28 Mrd. Euro. Und während FDP-Finanzminister Lindner in Berlin eine Haushaltssperre verkündete, sagte SPD-Verteidigungsminister Pistorius beim Kurzbesuch in Kiew 1,3 Mrd. Euro für weitere Waffen zu.
- Die EU hat die Ukraine in den vergangenen 21 Monaten mit 85 Mrd. Euro unterstützt. Kommissionspräsidentin von der Leyen hat vorgeschlagen, dass der EU-Beitrittskandidat bis Ende 2027 weitere 50 Mrd. Euro erhalten soll.
- Rund 24% des EU-Haushalts werden von den deutschen Steuerzahlern finanziert, d.h. jeder vierte Euro an EU-Geldern für die Ukraine kommt aus Deutschland. Über die EU sind von Deutschland demnach bereits 20,4 Mrd. Euro (24% von 85 Mrd. Euro) in die Ukraine geflossen. Rechnet man die zudem angekündigten von-der-Leyen-Hilfen für die kommenden Jahre um, sind das weitere 12 Mrd. Euro aus deutschen Geldbeuteln.
Kleine Additionsaufgabe für Viertklässler:
24 + 4 + 1,3 + 20,4 +12 = 61,7 Mrd. Euro fließen aus Deutschland in die Ukraine
Es ist Zeit für Vernunft und Diplomatie. Dieser Krieg muss endlich mit Verhandlungen beendet werden, statt weiterhin einen ganzen Staat zu alimentieren und dafür im eigenen Land einen sozialen Kahlschlag einzuleiten!"
Alle Ministerien müssen kürzen, mit Ausnahme des Verteidigungsministeriums
"Die Regierung hat schon jetzt im Bundeshaushalt klare Prioritäten gesetzt. Bei der Haushaltsaufstellung wurde die Richtung vorgegeben: Alle Ministerien müssen kürzen, mit Ausnahme des Verteidigungsministeriums. Für die Bundeswehr sind nach NATO-Kriterien 85,5 Milliarden Euro vorgesehen. Wenn der Haushalt beschlossen werden sollte, dann ist es das größte jemals im Bundestag beschlossene Rüstungsbudget" kritisiert die haushaltspolitische Sprecherin der Linksfraktion im Deutschen Bundestag, Gesine Lötzsch.
Es gibt nur eine schnelle Lösung: Die Aussetzung der Schuldenbremse
"Die Regierung hat schon jetzt im Bundeshaushalt klare Prioritäten gesetzt. Bei der Haushaltsaufstellung wurde die Richtung vorgegeben: Alle Ministerien müssen kürzen, mit Ausnahme des Verteidigungsministeriums. Für die Bundeswehr sind nach NATO-Kriterien 85,5 Milliarden Euro vorgesehen. Wenn der Haushalt beschlossen werden sollte, dann ist es das größte jemals im Bundestag beschlossene Rüstungsbudget.
Nach dem Urteil des Bundesverfassungsgerichts müssen alle Sondervermögen des Bundes überprüft werden, nur nicht das Sondervermögen für die Bundeswehr. Dieses ist im Grundgesetz verankert. Damit sind Kürzungen in Größenordnungen nur noch im Sozialbereich, bei Bildung und Forschung und im Verkehr denkbar.
Es gibt nur eine schnelle Lösung: Die Aussetzung der Schuldenbremse. Dagegen stemmt sich der Bundesfinanzminister Lindner. Er hat sein politisches Schicksal an die Schuldenbremse gefesselt. Das kann ihm jetzt zum Verhängnis werden. Neuwahlen sind nicht mehr ausgeschlossen.
Als Haushälterin sehe ich drei Möglichkeiten, wie wir den Haushalt wieder in Ordnung bringen können.
- Wir müssen die Schuldenbremse kurzfristig aussetzen, langfristig reformieren und letztendlich abschaffen. Sie ist zu einer Zukunftsbremse geworden.
- Wir müssen umweltschädliche Subventionen streichen. Diese kosten uns pro Jahr über 60 Milliarden Euro.
- Wir brauchen dringend eine Steuerreform, die die Krisengewinner zur Kasse bittet. Allein der Panzerbauer Rheinmetall konnte seit Beginn des Ukraine-Krieges seinen Aktienkurs verdreifachen.
Ein Waffenstillstand zwischen der Ukraine und Russland würde viele Menschenleben retten und auch Geld sparen. Seit Beginn des Krieges hat der Bund 24 Milliarden Euro für die Unterstützung der Ukraine aufgebracht."[1]
LINKE will Abgabe auf Vermögen oberhalb von zwei Millionen
Bei den Ampelparteien und der Union geht es bei allen Vorschlägen darum, wo sich Ausgaben kürzen lassen. Im Visier haben sie dabei vor allem Ausgaben für Soziales. Höhere Einnahmen wären aber eben auch eine Möglichkeit, den Haushalt auszugleichen. DIE LINKE bringt deshalb wieder ihre Forderung nach einer Vermögensabgabe in die Debatte.
Im November 2020 hatte die Linksfraktion im Bundestag eine Studie vorgestellt, die sie zusammen mit der parteinahen Rosa-Luxemburg-Stiftung beim Deutschen Institut für Wirtschaftsforschung (DIW) in Auftrag gegeben hatte. Demnach könnte der Staat je nach Ausgestaltung über einen Zeitraum von 20 Jahren zwischen 369 bis 560 Milliarden Euro einnehmen. Das jährliche Abgabeaufkommen beträgt bei diesen Szenarien 20 bis 35 Milliarden Euro.
Das Konzept sieht eine jährliche Abgabe von einem Prozent für alle vor, deren Nettovermögen mehr als zwei Million Euro beträgt, wobei der Satz progressiv ansteigen soll. Für Betriebsvermögen sollen hohe Freibeträge von 5 Millionen Euro gelten. Ab dieser Schwelle soll ein Abgabensatz von mindestens zehn Prozent gelten, der gleichmäßig steigt, bis er ab einem Vermögen über 100 Millionen Euro maximal 30 Prozent beträgt. [2]
Außerdem machte sich die Partei erneut für eine Abschaffung der Schuldenbremse im Grundgesetz stark, um mehr Kredite für Investitionen aufnehmen zu können, etwa in Bildung, Bahn oder Klimaschutz.
[1] Schuldenbremse aussetzen! Gesine Lötzsch über die Haushaltskrise, die eine Regierungskrise geworden ist
https://www.rosalux.de/news/id/51287
[2] Linksfraktion und DIW: Die Superreichen sollen zahlen
https://kommunisten.de/rubriken/deutschland-100/8026-linksfraktion-und-diw-die-superreichen-sollen-fuer-covid-zahlen
Fragwürdiger Autogipfel: Bündnis fordert Neuausrichtung von Politik und Autoindustrie!
Spitzengespräch im Kanzleramt: Weder die Bahn noch die Schienenfahrzeughersteller, weder das Bündnis für eine sozialverträgliche Verkehrswende noch Verkehrswendeinitiativen sind beteiligt, der brüchige Rückhalt in Bevölkerung und Belegschaften für den Wandel gerät in Gefahr. Sozial- und Umweltverbände sowie Klima- und Verkehrsinitiativen müssen in die Transformationsnetzwerke einbezogen werden!
Das Bündnis für eine sozial gerechte Mobilitätswende kritisiert die Zusammensetzung des Autogipfels und fordert eine Neuausrichtung der Autoindustrie: Wie wir das Klima schützen und eine sozial gerechte Mobilitätswende umsetzen können! Als zivilgesellschaftlicher Akteur mit sozialer und ökologischer Ausrichtung fordert das Bündnis eine aktivere Begleitung des Wandels, mehr Demokratie und eine deutliche Regulation durch die Bundesregierung.
Auf Einladung von Bundeskanzler Scholz findet am 27.11.2023 das zweite Spitzengespräch der „Strategieplattform Transformation der Automobil- und Mobilitätswirtschaft“ im Bundeskanzleramt statt. An dem Gespräch nehmen neben dem Bundeskanzler und den zuständigen Ministerien die Vorstandsvorsitzenden der in Deutschland produzierenden Automobilunternehmen sowie Unternehmenschefs der Zulieferbrache, Vertreterinnen und Vertreter der Gewerkschaften und Betriebsräte der Unternehmen teil. Außerdem sind Personen aus der Energiewirtschaft, von Halbleiter- und Batterieproduzenten und technischen Wissenschaften erwartet. Im Zentrum steht die Frage, wie das Ziel von 15 Millionen elektrischen Autos bis 2030 in Deutschland erreicht und der Absatz von E-Autos gestärkt und beschleunigt werden kann.
Die Bundesregierung lässt sich von einem Expertenrat beraten, der überwiegend besetzt ist mit Unternehmensvertretern, autoaffinen technischen Wissenschaftler*innen und neoliberalen Wirtschaftswissenschaftler*innen.
Geeinte Kritik und alternative Vorschläge
Das Bündnis für eine sozial gerechte Mobilitätswende kritisiert diese Beratung in ihrer Zusammensetzung und in der Konzentration bzw. Beschränkung auf die Autoindustrie:
„Die Transformation im Bereich industrieller Arbeit und Wertschöpfung kann nur erfolgreich sein, wenn Politik und Unternehmen den Wandel aktiver gestalten und einen klaren Rahmen setzen“, so das Bündnis in einem aktuell veröffentlichten Papier zum Strukturwandel in der Autoindustrie.
Die notwendige Transformation des Mobilitätssystems kann in ihrer Gesamtheit nur dann gelingen, wenn neben Schlüsselbereichen wie Finanzierung und Ausbau von Schiene und ÖPNV, Verlagerung von Gütern und der Umgestaltung städtischer Verkehrsräume auch die deutsche Automobilindustrie ihr Potential im Bereich nachhaltigere Mobilität ausschöpft und sich sozial, innovativ und zukunftsgerichtet aufstellt. Als geeinte Stimme aus Gewerkschaften, Sozial- und Umweltverbänden sowie der Evangelischen Kirche in Deutschland spricht sich das Bündnis sozialverträgliche Mobilitätswende daher ausdrücklich für eine aktiv gestaltete Transformation der Automobilwirtschaft als Schlüsselindustrie aus und bedauert es, nicht zum Autogipfel im Kanzleramt geladen zu sein.
Die etwa 750.000 Beschäftigten in der Automobil- und Zulieferindustrie sind von den laufenden und anstehenden Entwicklungen besonders betroffen, so das Bündnis. Arbeitsplätze gehen bereits jetzt in hohem Tempo verloren, etwa 60.000 in den zurückliegenden vier Jahren. Gleichzeitig fehlen qualifizierte Fachkräfte in expandierenden Zukunftsbereichen. „Für eine vorausschauende Beschäftigungs- und Rentenpolitik, Vorbeugung zunehmender Altersarmut sowie breitem gesellschaftlichen Rückhalt für die notwendige Mobilitätswende und des Antriebswechsels ist eine sozialverträgliche und proaktive Gestaltung dieses Wandels unumgänglich“, so das Bündnis in seinem vorgelegten Papier. Der Ausstieg aus dem Verbrennungsmotor muss politisch eng begleitet und Beschäftigung durch die Ansiedlung neuer Schlüsselbereiche gesichert werden. Das Bündnis fordert Unternehmen und Politik auf, ihrer Verantwortung schnell und umfassend nachzukommen.
Es wird konstatiert, dass der Absatz elektrisch betriebener Fahrzeuge massiv eingebrochen ist. Durch die oftmals zu hohen Preise sind die Fahrzeuge für einen Großteil der Menschen nicht finanzierbar und vor allem Haushalte mit geringem Einkommen werden vom Antriebswechsel ausgeschlossen.
Transformationsfonds statt umweltschädlicher Subventionen
Für eine Verkehrswende und eine sozialverträgliche und aktive Gestaltung der Transformation der Automobilwirtschaft fordert das Bündnis unter anderem eine veränderte Modellpolitik hin zu kleinen, ressourcenschonenden und preiswerten Fahrzeugen. Auch kleinere und neue Fahrzeugmodelle mit verschiedenen Verwendungszwecken (On-Demand, Handwerk, barrierefreie Taxen, Pflege, etc.) sollen gebaut und angeboten werden. Die Ladeinfrastruktur soll schnell und barrierefrei ausgebaut werden. Sinnvoll wären, so das Bündnis, etwa die CO2-orientierte Anpassungen von Dienstwagenbesteuerung und Kfz-Steuer (perspektivisch Bonus/Malus), die Ausrichtung der Förderinstrumente am produktions- und transportbedingten CO2-Fußabdruck sowie dessen preisliche Berücksichtigung im internationalen Handel. Gefordert werden für kleinere und mittlere Unternehmen Transformationsfonds, die bei Investitionen in die Zukunft helfen. Solche Liquiditätshilfen müssen an klare umwelt- und sozialpolitische Bedingungen geknüpft sein. So müssen geförderte Unternehmen tarifgebunden sein und die Neuentwicklungen zukunftsweisender klima- wie umweltfreundlicher Produkte aus einer ebensolchen sozialen Produktionsweise sein. Gefordert wird eine präventive Strukturpolitik auf Bundes- und regionaler Ebene: In stark von der Automobilwirtschaft abhängigen Regionen können Transformationsnetzwerke aus Industrie- und Handelskammern, Unternehmen, Gewerkschaften, Sozial- und Umweltverbänden, Weiterbildungsträgern und weiteren Beteiligten regionale Transformationsstrategien entwickeln. Bisher sind Sozial- und Umweltverbände sowie Klima- und Verkehrsinitiativen weitgehend aus diesen Transformationsnetzwerken ausgeschlossen.
In einigen Fällen werden Standorte hierzulande geschlossen und im Ausland neu aufgebaut, wo geringere Umwelt- und Sozialstandards gelten sowie niedrigere Steuern und Löhne gezahlt werden. Das Bündnis spricht sich ausdrücklich gegen ein solches Vorgehen aus. Es gefährdet massiv den Rückhalt in Bevölkerung und Belegschaften für die dringend notwendige Transformation. Gewerkschaften und Betriebsräte können hier ein Schlüssel für eine nachhaltige Standortsicherung sein.
Die Erklärung des Bündnisses und die Kritik am heutigen Autogipfel im Kanzleramt beschäftigt sich mit einem wichtigen Teilaspekt der sozialverträglichen Mobilitätswende. Viele Forderungen aus Verkehrswende- und Klimabewegung, Forderungen die auch im Gesprächskreis der Rosa-Luxemburg-Stiftung „Zukunft Auto Umwelt Mobilität“ beraten und entwickelt wurden, finden sich in dieser Erklärung wieder: Eine gute Voraussetzung, um öffentlichen Druck für eine zu sozial-ökologische Verkehrswende zu entwickeln.
https://www.ekd.de/buendnis-sozialvertragliche-mobilitaetswende-81779.htm
https://expertenkreis-automobilwirtschaft.de/
Umstrittenes Glyphosat-Herbizid um 10 Jahre verlängert
Die Europäische Kommission will trotz einer fehlenden Mehrheit der EU-Mitgliedsländer und des Widerstands von Umweltorganisationen die Zulassung des Umweltgifts Glyphosat um 10 Jahre verlängern
Die derzeitige Genehmigung für den Einsatz des Umweltgiftes Glyphosat läuft am 15. Dezember aus. Ursprünglich lief die Zulassung des Herbizids in der EU bereits Mitte Dezember 2022 aus, wurde aber vorübergehend um ein Jahr verlängert, um weitere Informationen von der EU-Behörde für Lebensmittelsicherheit (EFSA) abzuwarten.
Im Dezember 2019 wurde von der Glyphosate Renewal Group, einem Konsortium von acht Glyphosatherstellern unter der Leitung von Bayer, ein Dossier eingereicht, in dem eine erneute Zulassung des Pestizids gefordert wird.
Eine Untersuchung der 53 Studien, die von den Glyphosatherstellern im Rahmen des vorherigen Glyphosat-Zulassungsverfahrens vorgelegt wurden, kam zu dem Ergebnis, dass nur zwei als wissenschaftlich "zuverlässig" eingestuft werden können, wenn man die geltenden OECD-Leitlinien zugrunde legt. Von den Studien waren 34 "nicht zuverlässig" und 17 nur "teilweise zuverlässig". [1]
Für das laufende Zulassungsverfahren wurden 38 der gleichen Genotoxizitätsstudien von der Industrie bei den EU-Behörden erneut eingereicht.
Doch die mangelnde wissenschaftliche Qualität der Studien ficht die EU-Kommission nicht an.
Die EU wird das umstrittene Pestizid Glyphosat noch mindestens 10 Jahre lang verwenden können. Diese Entscheidung hat die Europäische Kommission angesichts der tiefen Spaltung der EU-27 heute angekündigt, die sich weder auf ein Verbot noch auf eine Verlängerung des Einsatzes des Mittels geeinigt haben.
EU-Kommission im Alleingang
In Ermangelung einer qualifizierten Mehrheit – für einen Beschluss ist die Unterstützung von 55% der Mitgliedstaaten, die 65% der EU-Bevölkerung repräsentieren, erforderlich - kann die EU-Kommission im Alleingang eine Entscheidung treffen: Die Genehmigung zur Verwendung des Giftes wird mit einigen Einschränkungen und Bedingungen um 10 Jahre verlängert, und zwar auf der Grundlage von Bewertungen der Europäischen Behörde für Lebensmittelsicherheit (EFSA).
Eine neue Untersuchung dieser Behörde sieht keine "inakzeptablen Gefahren", räumt aber ein, dass es "einige Datenlücken" in mehreren Bereichen gebe. Zu den Aspekten, die nicht abschließend geklärt wurden, gehören laut EFSA etwa ernährungsbedingte Risiken für Verbraucher und die Bewertung der Risiken für Wasserpflanzen. Auch mit Blick auf den Artenschutz ließen die verfügbaren Informationen keine eindeutigen Schlussfolgerungen zu.
Glyphosat, das von Monsanto entwickelt wurde und nach der Übernahme des US-Konzerns für die Rekordsumme von 60 Milliarden Euro heute zum Chemieriesen Bayer gehört, ist das weltweit am häufigsten verwendete Herbizid, das vor allem zur Unkrautbekämpfung eingesetzt wird, und hat wegen seiner schädlichen Auswirkungen Schadenersatzforderungen in Millionenhöhe nach sich gezogen.
Warnungen vor dem Umweltgift
Der Entscheidung vorausgegangen war eine monatelange hitzige Debatte über die Auswirkungen des in Europa am häufigsten verwendeten Herbizids auf die Gesundheit und die Umwelt, insbesondere über die Frage, ob Glyphosat als krebserregend - d. h. als Auslöser von Krebs beim Menschen - angesehen werden kann.
Die Umweltorganisation BUND weist darauf hin, dass Glyphosat massives Artensterben verursacht. Zusätzlich zu den Umweltschäden gilt Glyphosat als wahrscheinlich krebserregend und neurotoxisch beim Menschen. Eine neue Langzeitstudie zeigt sogar einen Zusammenhang zwischen Glyphosat und der Entstehung von Leukämie auf. Die Fälle von Leukämie traten auch bei Dosierungen auf, die EU-Behörden als "sicher" eingestuft haben, warnt die Organisation.
Umweltorganisationen mobilisierten EU-weit für ein Glyphosatverbot. Insgesamt 196 Umweltorganisationen schrieben einen Brief an die Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen, indem sie die Rücknahme der jahrzehntelangen Verlängerung der Zulassung von Glyphosat mit der Begründung fordern, dass es "ein hohes Risiko für die menschliche Gesundheit und die Ökosysteme" darstellt.
"Es sollte nicht vergessen werden, dass die Internationale Agentur für Krebsforschung der WHO Glyphosat mit der Entstehung bestimmter Tumore in Verbindung gebracht hat. Es ist schwer zu verstehen, dass jetzt vorgeschlagen wird, seine Verwendung für 10 Jahre zu verlängern, während sie beim letzten Mal, im Jahr 2017, nur für 5 Jahre verlängert wurde, und nicht für 15 Jahre, wie ursprünglich beabsichtigt, gerade wegen der zunehmenden wissenschaftlichen Beweise über die Schäden, die es verursacht", sagte Carlos de Prada, Direktor der Initiative Toxic-Free Home, in einer Erklärung.
Allen Bedenken zum Trotz schlug die Europäische Kommission den Mitgliedstaaten vor, die Genehmigung für den Einsatz von Glyphosat um 10 Jahre zu verlängern, und stützte sich dabei auf den EFSA-Bericht, der seine Verwendung befürwortete.
"die Verwendung von Glyphosat für einen Zeitraum von zehn Jahren unter bestimmten neuen Bedingungen und Einschränkungen verlängern"
Da es im Oktober für die Verlängerung unter den EU-Ländern keine Mehrheit gab, wurde der Kommissionsvorschlag an einen Berufungsausschuss verwiesen. Doch auch im Berufungsausschuss gab es heute weder eine qualifizierte Mehrheit für noch gegen den Vorschlag - 17 Mitgliedsländer mit einem Anteil von 41,71% an der EU-Bevölkerung haben für den Vorschlag der EU-Kommission gestimmt; drei mit einem Bevölkerungsanteil von 3,01% dagegen; sieben mit einem Bevölkerungsanteil von 55,28% haben sich enthalten –, so dass die EU-Kommission im Alleingang entscheiden kann.
"Auf der Grundlage der von der Europäischen Behörde für Lebensmittelsicherheit (EFSA) und der Europäischen Chemikalienagentur (ECHA) durchgeführten gründlichen Sicherheitsbewertungen wird die Kommission nun gemeinsam mit den EU-Mitgliedstaaten die Verwendung von Glyphosat für einen Zeitraum von zehn Jahren unter bestimmten neuen Bedingungen und Einschränkungen verlängern", heißt es in der Erklärung der Kommission.
Zu den Beschränkungen, die in der neuen Zulassung umgesetzt werden sollen, gehören ein Verbot der Verwendung als Trocknungsmittel vor der Ernte und die Notwendigkeit, bestimmte Maßnahmen zum Schutz von nicht zur Zielgruppe gehörenden Organismen vor dem Herbizid zu ergreifen. Pro Hektar und Jahr ist für die landwirtschaftliche Nutzung eine Höchstmenge von 1,44 Kilogramm zugelassen. Durch die Einrichtung von Pufferzonen von fünf bis zehn Metern und die Verwendung von Geräten, die die Verwehung des Stoffes durch den Wind verhindern, sollen die Risiken beim Sprühen des Giftes vermindert werden. Die Mitgliedsstaaten sollen zudem die Menge und die Häufigkeit für den Einsatz des Mittels beschränken können.
"trägt nicht dazu bei, das Vertrauen in die Europäischen Institutionen zu stärken"
"Dass die EU-Kommission trotz mangelnder Unterstützung durch die Mitgliedstaaten und trotz der erdrückenden Beweislast für die Gefahren durch Glyphosat das Pflanzengift im Alleingang für weitere 10 Jahre genehmigen will, trägt nicht dazu bei, das Vertrauen in die Europäischen Institutionen zu stärken. Besonders brisant ist, dass erst vor wenigen Tage besorgniserregende Daten aus der ersten unabhängigen tierexperimentellen Krebsstudie mit Glyphosat vorgestellt wurden und die Kommission nicht einmal deren Prüfung durch die Behörden abgewartet hat”, erklärt Helmut Burtscher-Schaden, Biochemiker bei der Umweltorganisation GLOBAL 2000.
Erwartungsgemäß begrüßte der Chemiemulti Bayer in einer ersten Stellungnahme die Entscheidung der EU-Kommission. "Diese erneute Genehmigung ermöglicht es uns, Landwirten in der gesamten Europäischen Union weiterhin eine wichtige Technologie für die integrierte Unkrautbekämpfung zur Verfügung stellen zu können", heißt es von Seiten des Konzerns. Die Lobbyarbeit, die die Glyphosathersteller im Laufe des Abstimmungsprozesses massiv intensivierten hat sich ausgezahlt.
Deutschland enthält sich
Obwohl die Ampelkoalition in ihrem Koalitionsvertrag festgelegt hat, Glyphosat in Deutschland bis Ende 2023 vom Markt zu nehmen, hat sich Deutschland bei der Abstimmung enthalten.
Man wolle nun “sehr genau prüfen, was aus der Entscheidung der Kommission folgt und welche nationalen Handlungsmöglichkeiten wir haben, um den Koalitionsvertrag so weit wie möglich umzusetzen”, erklärte Bundesagrarminister Cem Özdemir (Grüne).
Aktuell ist bereits ein Anwendungsverbot für Glyphosat ab Ende des Jahres in der Pflanzenschutz-Anwendungsverordnung verankert. Ob dieses bestehen bleibt, lies Cem Özdemir zunächst offen.
FDP und Union fordern, das Anwendungsverbot nun zu revidieren.
Özdemir müsse “der Ankündigung der EU-Kommission umgehend Rechnung tragen und das Anwendungsverbot für Glyphosat außer Kraft setzen”, erklärte der stellvertretende Vorsitzende der CDU/CSU-Fraktion, Steffen Bilger.
Auch die FDP-Agrarpolitikerin Carina Konrad begrüßte die Entscheidung der EU-Kommission als “erforderlich für die rechtliche Sicherheit unserer europäischen Landwirte und schafft Planbarkeit.” Auch Konrad forderte Özdemir auf, “die nationale Pflanzenschutz-Anwendungsverordnung anzupassen und die Zulassungsverlängerung von Glyphosat in Deutschland rechtssicher und praktikabel für die Landwirte umzusetzen.”
Fußnoten
[1] Glyphosate EFSA studies SK & AN, Evaluation of the scientific quality of studies concerning genotoxic properties of glyphosate
https://s3.amazonaws.com/s3.sumofus.org/images/Evaluation_scientific_quality_studies_genotoxic_glyphosate.pdf
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Xi trifft Biden
US-Präsident Joe Biden und der chinesische Präsident Xi Jinping trafen sich während des APEC-Gipfels (Asia-Pacific Economic Cooperation) in San Francisco.
Es war erst das zweite Treffen von Angesicht zu Angesicht während Bidens Präsidentschaft. Ziel des Treffens war es offenbar, zu klären, wie nah die USA und China an einem Konflikt über Taiwan und andere Sicherheitsfragen sind, und zu versuchen, nach jahrelangen Bemühungen der USA, den Aufstieg Chinas im Bereich der Hochtechnologie und anderer Produkte (EVs), die die Hegemonie der USA bedrohen, in gewissem Maße Fortschritte im Handel zu erzielen. Xi traf sich auch mit US-Wirtschaftsführern, um ihnen zu versichern, dass sie in China investieren können, obwohl die chinesische KP in letzter Zeit die Kontrollen im kapitalistischen Sektor verschärft hat.
Es scheint, dass bei dem Treffen nicht viel herauskam, außer dass man sich darauf einigte, sich nicht "aus Versehen" gegenseitig anzugreifen. Doch während die beiden Regierenden über "Puten" sprachen, ist die wirtschaftliche Realität, dass die Bemühungen der USA, die chinesische Wirtschaft zu strangulieren, nicht funktionieren dürfte.
Westliche "Experten" fahren mit ihrer nicht enden wollenden Botschaft fort, dass China kurz vor einem Schuldenkollaps steht [1], dass Chinas Immobilienmarkt implodiert und vor allem, dass Chinas früheres phänomenales Wachstum nun vorbei ist und die Wirtschaft seit COVID zum Stillstand kommt und wie Japan in einem Meer von Schulden stagnieren wird.
Wenn das wirklich so wäre, dann hätten Biden und das amerikanische Kapital nichts zu befürchten - aber sie machen sich Sorgen, und das zu Recht. Ja, Chinas Immobilienblase ist geplatzt, und einige sehr große private Bauträger gehen in Konkurs. In früheren Beiträgen habe ich argumentiert, dass es ein großer Fehler der chinesischen KP-Führung war, das westliche kapitalistische Modell für die Stadtentwicklung zu übernehmen. Anstatt den Wohnungsbau in den öffentlichen Sektor zu verlagern, um Wohnungen zu vernünftigen Mieten für die Hunderte von Millionen Chinesen zu bauen, die in die Städte gezogen sind, um dort zu arbeiten, ließ die Regierung private Bauträger (mit milliardenschweren Eigentümern) diese Aufgabe übernehmen, und das Ergebnis ist nun eine klassische schuldengetriebene Blase, die geplatzt ist.
Und ja, die Gesamtverschuldung im kapitalistischen Sektor ist in die Höhe geschossen. Nun wird die Regierung gezwungen sein, viele dieser Bauträger zu liquidieren und/oder ihre Betriebe mit staatlichen Geldern "umzustrukturieren". Das bedeutet aber nicht, dass China vor einem deflationären Crash steht. Chinas Nettoverschuldung im Verhältnis zum BIP (Schuldenlast) beträgt nur 12 % des Durchschnitts der G7-Länder. Der Staat verfügt über ein riesiges Finanzvermögen, so dass er diesen Immobilieneinbruch problemlos bewältigen kann.
Die Regierung hat gerade angekündigt, dass ihre neue Zentrale Finanzkommission die Volksbank und die bestehende Finanzaufsichtsbehörde ablösen und die Kontrolle über den privaten Finanzsektor Chinas übernehmen wird. Die "westlichen Experten" lehnen diesen Schritt ab, weil sie glauben, dass der Markt Investitionen besser verteilen kann als der Staat. "Die Versuchung, in die Kapital- und Kreditvergabe einzugreifen, sei es aufgrund von Risiko- oder Managementfehlern oder aufgrund politischer Weisungen, wird wahrscheinlich groß sein", so der langjährige China-Skeptiker George Magnus. Er fügte hinzu. "Diese Merkmale verheißen nichts Gutes für Chinas finanzielle Stabilität oder wirtschaftliche Aussichten".
Der Punkt ist, dass die Xi-Führung den westlich ausgebildeten Ökonomen in der Volksbank nicht mehr zutraut, den Privatsektor zu regulieren - die Bank ist eine Festung der neoklassischen Pro-Marktwirtschaft. Die Ökonomen der Bank würden Magnus' Ansatz unterstützen, den Finanzsektor zu befreien - etwas, das in westlichen Volkswirtschaften so erfolgreich ist! Aber die KP-Führer schrecken immer noch davor zurück, diese spekulativen Finanz- und Immobilienspekulanten in öffentliches Eigentum zu überführen (zweifellos haben einige Führer persönliche Verbindungen). Solange sie das nicht tun, wird die Finanzspekulation die Wirtschaft noch viel stärker verzerren als jede willkürliche Politik der Parteiführung.
Die chinesische Wirtschaft wird nicht in eine Rezession abgleiten. Der IWF hat soeben prognostiziert, dass das reale BIP Chinas in diesem Jahr um 5,4 % steigen wird - und das ist eine Anhebung gegenüber seiner vorherigen Prognose. Der Wohnungsmarkt mag Probleme haben, aber der produktive Industriebau boomt. China hat bereits genügend Solarzellenfabriken gebaut, um den gesamten Bedarf der Welt zu decken. Es hat genug Autofabriken gebaut, um jedes in China, Europa und den USA verkaufte Auto herzustellen. Bis Ende nächsten Jahres wird China in nur fünf Jahren so viele petrochemische Fabriken gebaut haben, wie Europa und das übrige Asien jetzt haben.
Und nehmen Sie Hochgeschwindigkeitszüge und Infrastrukturprojekte. Zurück in den USA macht Biden viel Aufhebens von seinem Infrastrukturprogramm, nachdem die US-Verkehrseinrichtungen jahrzehntelang verfallen und vernachlässigt wurden. Aber das ist nichts im Vergleich zum raschen Ausbau von Hochgeschwindigkeitszügen und anderen Verkehrsprojekten, die inzwischen die riesigen Regionen Chinas miteinander verbunden haben.
Ein Vergleich mit dem Zustand der Infrastruktur in der Gegend von San Francisco, die Xi besucht, zeigt deutliche Unterschiede.
Aber, US-amerikanische Stimmen sagen, Chinas Wirtschaft sei ernsthaft "unausgewogen". Es wird "zu viel" in solche Projekte investiert und nicht genug Geld an die Bevölkerung verteilt, damit diese es für Konsumgüter wie I-Phones oder Dienstleistungen wie Tourismus und Restaurants ausgibt. China kann nicht mehr wachsen, wenn es die Haushalte nicht vom Sparen auf Ausgaben und von Investitionen auf Konsum umstellt.
Das alte staatlich gelenkte Investitions- und Exportmodell liegt im Sterben.
China wird nun wie Japan enden, stagnierend mit nahezu Nullwachstum und einer sinkenden Bevölkerungszahl.
Bei mehreren Gelegenheiten habe ich auf den Unsinn dieser Ansicht hingewiesen. Chinas Wachstum basierte auf einer hohen Rate an produktiven Investitionen, solange, bis der weitgehend fremdfinanzierte Immobilien-Sektor mit Schulden überfrachtet wurde.
Hohe Investitionen bedeuten aber nicht niedriges Konsumwachstum - im Gegenteil, Investitionen führen zu mehr Produktion, mehr Arbeitsplätzen und damit zu mehr Einkommen und Konsum.
Die vermeintlich niedrige Konsumquote Chinas im Verhältnis zum BIP im Vergleich zu den westlichen kapitalistischen Volkswirtschaften geht mit einem viel schnelleren Wachstum der Ausgaben der privaten Haushalte einher. Tatsächlich stiegen die Einzelhandelsumsätze im Oktober um 7,6 % gegenüber dem Vorjahr - was nicht auf einen völlig schwachen Verbraucher schließen lässt. Chinas Arbeiter haben vielleicht kein direktes Mitspracherecht bei den Entscheidungen ihrer Regierung, aber dennoch steigen ihre Löhne schneller als irgendwo sonst in Asien.
Und diese Lohnerhöhungen werden nicht von der Inflation aufgefressen, wie es in den letzten Jahren in den übrigen G20-Ländern der Fall war. Chinas Inflationsrate liegt nahe Null, während die Inflation in den USA und Europa trotz des jüngsten Rückgangs um ein Vielfaches höher ist - in der Tat sind die Preise für US-Arbeitnehmer seit dem COVID um 17 % gestiegen.
Die westlichen Mainstream-Ökonomen verkünden Chinas "enttäuschende" wirtschaftliche Verlangsamung (reales BIP-Wachstum 5,4 % und prognostizierte 4,5 % im nächsten Jahr), aber sie sagen beispielsweise wenig über Japan. Japan befindet sich auf dem Weg in die Stagnation und sogar in den Abschwung. Im 3. Quartal 2203 sank das reale BIP um 2,1 % auf das Jahr hochgerechnet (das Maß, das US-Wirtschaftswissenschaftler verwenden, um den US-Kurs zu stützen); die Verbraucherausgaben stagnieren, und der Rückgang der Unternehmensinvestitionen beschleunigt sich.
Wie ein Großteil der Eurozone, des Vereinigten Königreichs, Kanadas, Schwedens, Neuseelands usw. wird auch Japan im kommenden Jahr schrumpfen. Sieh hierzu: https://www.isw-muenchen.de/online-publikationen/texte-artikel/5165-die-regel-fuer-rezession-weist-auf-den-globalen-abschwung-hin
Biden´s politische Wunschvorstellung, dass die bevorstehenden Präsidentschaftswahlen in Taiwan zu einem Sieg des für die Unabhängigkeit eintretenden Kandidaten der Demokratischen Partei führen werden, könnte eine Überraschung erleben. Es scheint, dass die beiden anti-unabhängigen, pro-chinesischen Parteien, die Kuomintang und die Volkspartei, planen, einen einzigen Kandidaten für die Präsidentschaft aufzustellen, und aktuelle Umfragen zeigen, dass ein solcher Kandidat gewinnen würde. Das könnte also bedeuten, dass Taiwan im nächsten Jahr einen pro-chinesischen Präsidenten bekommt.
Zu (1:) „China und die Experten“
Zum Auftakt des jährlichen Nationalen Volkskongresses (5. – 13. März 2023, kündigte der scheidende Ministerpräsident Li Keqiang heute ein reales BIP-Wachstumsziel von 5 % an, das zuvor bei 5,5 % gelegen hatte. Priorität habe die Wirtschaft, so Li, aber auch die Verteidigungsausgaben sollen bis 2023 um 7,2 % steigen. Li setzte das Ziel für das chinesische Haushaltsdefizit in diesem Jahr auf 3 % des BIP fest und versprach, 12 Mio. neue Arbeitsplätze in den Städten zu schaffen und die Arbeitslosenquote bei etwa 5,5 % zu halten. Er sagte, China müsse den Marktzugang für ausländische Investoren erweitern, den Konsum ankurbeln und die Risiken im Immobiliensektor kontrollieren.
In Bezug auf Chinas angeschlagenen Immobiliensektor, in dem viele Unternehmen mit ihren Schulden in Verzug geraten sind, versprach Li, "hochwertigen, führenden Immobilienunternehmen" zu helfen und gleichzeitig eine "unregulierte Expansion" zu verhindern. Einige westliche "Experten" äußerten sich verhalten positiv. Ich denke, dass der Bericht im Großen und Ganzen darauf abzielt, ausländische Investoren zu beruhigen, dass China immer noch ein guter Ort ist, um Geschäfte zu machen", sagte Willy Lam, ein "Experte" für chinesische Politik bei der Denkfabrik Jamestown Foundation in Washington.
Präsident Xi tritt eine beispiellose dritte Amtszeit an und ersetzt Li durch Li Qiang, einen engen Mitarbeiter, der im vergangenen Jahr die Abriegelung (Chaos) in Schanghai leitete, als Chef der Kommunistischen Partei der Stadt. Er hatte in den 2000er Jahren mit Xi in der Provinz Zhejiang zusammengearbeitet. Der chinesische Präsident hat das oberste Entscheidungsgremium der Kommunistischen Partei, den siebenköpfigen Ständigen Ausschuss des Politbüros, im Oktober komplett neu besetzt.
Zu Beginn des Nationalen Volkskongresses sagen westliche "China"-Experten und sogar viele in China selbst eine Stagnation oder sogar einen Absturz voraus, da der verschuldete Immobiliensektor implodiert. Das Bevölkerungswachstum in China ist zum Stillstand gekommen, und die Zahl der Arbeitskräfte nimmt ab. Das Wachstum verlangsamt sich. China ist in die "Falle des mittleren Einkommens" getappt. Angesichts der enormen Verschuldung in allen Sektoren wird China in der Tat stagnieren, wie es Japan in den letzten drei Jahrzehnten getan hat. Die einzige Möglichkeit, eine "Japanisierung" zu vermeiden, besteht nach Ansicht dieser Experten darin, die Wirtschaft von "Überinvestitionen" und "Exportbesessenheit" auf eine verbraucherorientierte Binnenwirtschaft wie im Westen umzustellen und die staatliche Kontrolle der Wirtschaft zu verringern, damit der private Sektor florieren kann.
Die Stichhaltigkeit dieser Argumente hat der Autor in verschiedenen Beiträgen ausführlich erörtert, um zu erklären, warum ein Großteil dieses "Expertengeredes" nicht stimmt.
Medien-Anforderung: Kriegsverbrechen sind Kriegsverbrechen und müssen so genannt werden
In Großbritannien ist die öffentliche Debatte zum Krieg in Israel und Gaza breiter, differenzierter als in Deutschland.
Ich bin zurzeit in London und froh darüber. Am 11. November wurde hier der Tag des Waffenstillstands gefeiert, der den Ersten Weltkrieg beendete. Gleichzeitig demonstrierten Hunderttausende friedlich in den Straßen Londons und forderten ein Ende der Gewalt in Gaza. Muslime, Juden, Christen – alle marschierten gemeinsam für den Frieden. Das scheint in Deutschland aktuell nur schwer vorstellbar.
In Großbritannien ist die öffentliche Debatte zum Krieg in Israel und Gaza breiter, differenzierter und kritischer als alles, was ich aus Deutschland kenne. Es gibt weniger Entweder-oder, Ja-aber und Ja-nein. Die Gräueltaten der radikalislamistischen Hamas in Israel werden als unmenschlich grausame Verbrechen anerkannt. Gleichzeitig wird die Verhältnismäßigkeit der Reaktion der Regierung Israels hinterfragt: Sie hat Gaza von Strom, Treibstoff und Wasser abgeschnitten. Tausende kamen durch die Bombardierung von Wohngebieten ums Leben. Trotz Israels Recht auf Selbstverteidigung ist die Frage berechtigt: Handelt es sich um kollektive Bestrafung und damit um ein Kriegsverbrechen?
Die deutschen Nachrichtenmedien schleichen um diese Frage mit der Kneifzange herum. Das scheint unnötig, denn Kriegsverbrechen sind klar definiert. Als „schwere Verstöße gegen Regelungen des humanitären Völkerrechts“ sind sie nie legitimiert, auch nicht als Akt der Selbstverteidigung. Ihr Verbot gilt für alle Staaten – die USA und Russland, genauso wie für Israel. Gleichzeitig gelten Menschenrechte für alle – Juden und Palästinenser. Diese Punkte sind wichtig.
Journalistische Glanzleistungen: in Deutschland selten
Laut dem Menschenrechtsbeauftragten der Vereinten Nationen, Volker Türk, verübten tatsächlich sowohl die Hamas als auch Israel im vergangenen Monat Kriegsverbrechen. Das heißt, die „von bewaffneten palästinensischen Gruppen am 7. Oktober verübten Gräueltaten (…) waren Kriegsverbrechen“. Gleichzeitig stellt die „kollektive Bestrafung palästinensischer Zivilisten durch Israel (…) ebenfalls ein Kriegsverbrechen dar, ebenso wie die unrechtmäßige Zwangsevakuierung von Zivilisten“. Das berichtete der US-amerikanische Sender CNN am 9. November. In den deutschen Medien muss man diese Sowohl-als-auch-Debatte suchen.
Stattdessen fluten Direktzitate von Politiker:innen unsere Schlagzeilen. „In diesen Tagen sind wir alle Israelis“, meinte etwa Außenministerin Annalena Baerbock kurz nach den Hamas-Angriffen; „Hamas muss zerstört werden“, legte Vizekanzler Robert Habeck kürzlich nach. In diesem Klima der Kriegsparolen gibt es kaum wirkliche Debatten. Noch seltener gibt es journalistische Glanzleistungen, die kritisch einordnen, was faktisch passiert.
Eine Ausnahme brachte vor wenigen Wochen der Sender Al Jazeera: Der US-Amerikaner Marc Lamont Hill interviewte den ehemaligen stellvertretenden israelischen Außenminister Danny Ayalon zu möglichen Kriegsverbrechen Israels. Dieses Interview war bemerkenswert. Gut recherchiert, klar und angstfrei. Lamont lässt nicht locker, hakt nach und bekommt Antworten, die in keine Entweder-oder-Kategorie passen.
Davon brauchen wir mehr, auch in Deutschland. Denn wir haben eine dunkle Geschichte des Antisemitismus, die wir ehrlich angehen müssen. Auch Kriegsverbrechen sind Teil dieser Geschichte. Ihr Verbot war eine Folge des Zweiten Weltkriegs. Es sollte garantieren, dass solch ein Grauen nie wieder passiert.
Erstveröffentlichung berliner-zeitung, 13.11.2023
Die Regel für Rezession weist auf den globalen Abschwung hin
Nach den relativ guten Zahlen zum realen Bruttoinlandsprodukt (BIP) der USA für das dritte Quartal dieses Jahres herrscht offensichtlich Einigkeit darüber, dass die USA weder in diesem noch im nächsten Jahr in eine Rezession geraten werden. Im Gegenteil, die Investmentbank Goldman Sachs prognostiziert für 2024 nicht nur ein gewisses Wirtschaftswachstum, sondern eine Beschleunigung der US-Wirtschaft und der großen Volkswirtschaften.
Nicht jeder ist so zuversichtlich und stellt diese Prognose in Frage, dass die US-Wirtschaft in den nächsten 12 Monaten eine Rezession vermeiden wird. So äußert sich der ehemalige Chef der New Yorker Federal Reserve Bank, FED, William Dudley: "Zwei Jahre lang war ich der Meinung, dass wir irgendwann eine Rezession erleben werden .... Ich war schon immer der Meinung, dass die Wahrscheinlichkeit einer Rezession dramatisch steigt, sobald die Arbeitslosenquote über einen bestimmten Wert hinaus ansteigt. Das ist jetzt die entscheidende Frage: Muss die Arbeitslosenquote auf 4,25 bis 4,5 Prozent steigen, damit die Fed ihr Ziel erreicht, die Inflation wieder auf 2 Prozent zu senken? Wenn das der Fall ist, dann ist eine harte Landung sehr wahrscheinlich.“ https://www.ft.com/content/079e1706-5118-4e7f-a0dd-e182b520deb6
Und zu dieser Thematik hat die Arbeit von Claudia Sahm, einer anderen ehemaligen Fed-Ökonomin, einige Aufmerksamkeit erregt. Claudia Sahm geht davon aus, dass eine Arbeitslosenquote, die drei Monate lang um 0,5 Prozentpunkte über dem Tiefpunkt liegt, ein sehr starker Indikator für eine Rezession der Produktion ist. "Ich habe die ganze Zeit gesagt, dass wir keine Rezession brauchen, aber wir könnten eine bekommen", betont Sahm und verweist auf die nach ihr benannten Regel:
"Ich habe die Sahm-Regel im Jahr 2019 als Auslöser für den Beginn einer Rezession entwickelt. Sie ist keine Vorhersage, sondern ein Indikator. Die Regel hat in jeder einzelnen Rezession seit den 1970er Jahren funktioniert und im Grunde genommen bei allen, die bis zum Zweiten Weltkrieg zurückreichen - sie schaltet sich nicht außerhalb von Rezessionen ein, und sie schaltet sich auch in einer Rezession nicht aus. Und sie zeigt sich früh, also ist sie sehr genau. Der Wert der Sahm-Regel lag im Oktober bei 0,3 Prozentpunkten, und obwohl er sich insbesondere in der zweiten Jahreshälfte nach oben bewegt hat, deutet dieser Wert noch nicht darauf hin, dass wir uns in einer Rezession befinden oder in eine solche eintreten werden. .... Aber es ist beunruhigend - die Arbeitslosenquote steigt an.“ https://fortune.com/2023/11/03/what-is-sahm-rule-unemployment-predictor-recession/
Selbst wenn die USA in den nächsten Quartalen einen völligen Rückgang des realen BIP vermeiden, ist es wahrscheinlich, dass die USA im nächsten Jahr eine deutliche Verlangsamung bis hin zur Stagnation erleiden werden, da die Inflation immer noch weit über dem Durchschnitt vor der Pandemie und dem eigenen Ziel der Fed von 2 % pro Jahr liegt.
Was die übrigen großen Volkswirtschaften betrifft, so scheint eine Rezession sehr viel wahrscheinlicher. Die weltweite Wirtschaftstätigkeit kam im Oktober zum Stillstand, als der globale Einkaufsmanagerindex 50,0 erreichte. Der globale Einkaufsmanagerindex ist ein zuverlässiges Maß für die Wirtschaftstätigkeit in den Volkswirtschaften – und die 50er-Marke ist die Schwelle zwischen Expansion und Kontraktion. Der globale PMI ist seit der globalen Finanzkrise nicht mehr unter 50 gefallen.
Globales Wirtschaftswachstum und PMI
Quelle: S&P Global PMI mit J.P. Morgan, S&P Global Market Intelligence, 2023. Daten bis November 2023 einschließlich PMI-Daten bis Oktober 2023. PMI (Purchase Managers+ Index) Wert von 50 = keine Veränderung zum Vormonat.
In den wichtigsten entwickelten kapitalistischen Volkswirtschaften lag der Wert weiterhin unter 50 - was auf eine Schrumpfung hindeutet. In der Tat befinden sich viele fortgeschrittene kapitalistische Volkswirtschaften bereits in der Rezession. Die Wirtschaft der Eurozone schrumpfte im dritten Quartal. Das reale BIP sank um -0,1 % und markierte damit den ersten Rückgang seit 2020, als die Covid-19-Pandemie das Land belastete. Es sieht nach einer "technischen" Rezession aus - zwei aufeinanderfolgende vierteljährliche Rückgänge, da auch das vierte Quartal eine Schrumpfung aufweisen könnte. Schweden schrumpft, Kanada schrumpft, und die jüngsten Zahlen für UK zeigen, dass die Wirtschaft auf eine Rezession zusteuert. Das reale BIP stagnierte im dritten Quartal und das vierte Quartal hat sehr schwach begonnen. Die Bank of England prognostiziert nun fünf Quartale mit bestenfalls Nullwachstum. Und das reale BIP-Wachstum liegt immer noch weit unter den Wachstumstrends von vor der Globalen Finanzkrise.
Selbst wenn die großen Volkswirtschaften im Jahr 2024 keinen Rückgang bei Produktion, Investitionen und Beschäftigung erleiden, sind die Aussichten für den Rest dieses Jahrzehnts nicht gut. In einem Bericht über die G20-Volkswirtschaften https://www.imf.org/external/np/g20/110723.htm (das sind die 19 wichtigsten Volkswirtschaften plus die Eurozone) geht der IWF davon aus, dass sich das globale Wachstum von 3,5 Prozent im Jahr 2022 auf 3,0 Prozent im Jahr 2023 und 2,9 Prozent im Jahr 2024 abschwächen wird, und dies schließt Prognosen für ein schnelleres Wachstum in China und Indien im nächsten Jahr ein.
Besonders ausgeprägt ist die Verlangsamung in der Europäischen Union, wo das Wachstum von 3,6 Prozent im Jahr 2022 auf 0,7 Prozent in diesem Jahr zurückgehen wird. Für die meisten G-20-Schwellenländer außer Brasilien, China und Russland wird in diesem Jahr ebenfalls mit einer Verlangsamung gerechnet.
Viele der sogenannten Schwellenländer leiden unter der Schuldenkrise. Der IWF geht davon aus, dass die Kosten für den Schuldendienst wahrscheinlich stark ansteigen werden, und da viele arme Volkswirtschaften in hohem Maße von Fremdwährungskrediten abhängig sind, sind sie anfällig für einen Währungsabsturz.
Unterdessen schätzt das Welternährungsprogramm, dass im Jahr 2023 etwa 345 Millionen Menschen von Ernährungsunsicherheit betroffen sein werden - fast 200 Millionen mehr als noch Anfang 2020. "Die hohen Energiepreise, insbesondere für Erdgas, haben zu höheren Lebensmittelpreisen beigetragen und die Abhängigkeit von emissionsintensiven Brennstoffen wie Kohle verstärkt, was den grünen Übergang verzögert." (IWF).
Der IWF fasst es zusammen: "Die mittelfristigen Aussichten für das globale Wachstum sind so niedrig wie seit Jahrzehnten nicht mehr. Die Fünfjahresprognosen des IWF für das globale Wachstum sind von einem Höchststand von 4,9 Prozent im Jahr 2013 auf nur noch 3,1 Prozent im Jahr 2023 gesunken, was das Tempo der Konvergenz des Lebensstandards zwischen den Schwellen- und Entwicklungsländern und den fortgeschrittenen Volkswirtschaften verringert und gleichzeitig Herausforderungen für die Schuldentragfähigkeit und Investitionen in den Klimawandel mit sich bringt."
Mittelfristiges globales Wachstum
Fünf-Jahres-Wachstums-Prognosen
Quellen: IWF, Weltwirtschaftsausblick, und IWF-Stab
Anmerkung: AEs: Advanced economies, EMDEs: Emerging Market and Developing Economies
Die vorhergesagte Variable ist das reale BIP-Wachstum. Die Jahre auf der horizontalen Achse beziehen sich auf das prognostizierte Jahr unter Verwendung des Frühjahrsjahrgangs, so dass die Prognose für 2028 auf dem Frühjahrsjahrgang 2023 basiert, usw.
Der IWF verweist auf "geldpolitische Straffung zur Eindämmung der anhaltenden Inflation" (steigende Zinssätze), "Haushaltskonsolidierung" (Kürzungen der öffentlichen Ausgaben und höhere Steuern) und das Ende dessen, was ich als "Zuckerrausch" im Aufschwung nach der Pandemie in den Jahren 2021 und 2022 bezeichnet habe.
Aber was ist das eigentliche Problem? Laut IWF sind es "die Verlangsamung des Wachstums in Schwellenländern wie China, die Folgen der Pandemie, ein schwaches Produktivitätswachstum, ein langsameres Tempo der Strukturreformen und die zunehmende Gefahr einer geoökonomischen Fragmentierung, während die demografischen Herausforderungen durch die Alterung der Bevölkerung zu einer Verlangsamung der Erwerbsbeteiligung in den fortgeschrittenen Volkswirtschaften beitragen dürften."
Ich bin sicher, dass all diese Faktoren eine Rolle spielen, aber sie sind nur oberflächliche Faktoren. Die Ursache für die Verlangsamung der Produktivität und des Welthandels sowie für die zunehmenden geopolitischen Rivalitäten ist in der Verlangsamung des Wachstums der produktiven Investitionen in den großen Volkswirtschaften zu suchen. Was das Wachstum bisher aufrechterhalten hat, waren unproduktive Investitionen in den Bereichen Finanzen, Immobilien und jetzt auch Militär. Die Investitionen in Technologie, Bildung und Produktion sind zurückgegangen. Und der Hauptgrund dafür ist die stagnierende und sogar rückläufige Tendenz der globalen Rentabilität des produktiven Kapitals in den 23 Jahren des 21.
Der IWF berichtet, dass "die Entwicklungsländer einen großen Finanzierungsbedarf haben, um ihre Entwicklungsziele zu erreichen und in den Klimaschutz zu investieren - in der Größenordnung von 3 Billionen Dollar zusätzlicher jährlicher Ausgaben bis 2030 für die aufstrebenden Marktwirtschaften (ohne China) - aber viele haben nach mehrfachen Schocks einen begrenzten politischen Spielraum".
Der IWF weist darauf hin, dass "das Kapital im Allgemeinen nicht ungehindert aus den fortgeschrittenen Volkswirtschaften in die Schwellen- und Entwicklungsländer geflossen ist, wo die Kapitalrenditen in der Regel relativ höher sind."
Die imperialistischen Länderblöcke haben die Kapitalexporte reduziert; stattdessen ziehen sie Kapital und Gewinne aus den peripheren Volkswirtschaften ab. "Trotz einer gewissen Umkehr nach der Globalen Finanz- Krise sind die Kapitalströme aus den Schwellen- und Entwicklungsländern in die fortgeschrittenen Volkswirtschaften im Jahr 2022 wieder angestiegen. Künftig könnte eine anhaltende Verschärfung der globalen Finanzbedingungen zu breit angelegten Kapitalabflüssen aus anfälligen Schwellen- und Entwicklungsländern führen.
Friendshoring" heißt das Spiel, bei dem Unternehmen aus dem so genannten globalen Norden ihre Investitionen in Länder verlagern, die ähnliche geopolitische Ansichten vertreten" und sich von ihren vermeintlichen Feinden wie China, Russland oder blockfreien Ländern fernhalten. Der Kapitalismus schafft es nicht, seine eigenen Ziele zu erreichen: ein schnelleres reales Produktionswachstum, höhere Investitionen und vor allem eine höhere Rentabilität des Kapitals zu realisieren. Der IWF fordert "Strukturreformen". Was sind diese "angebotsseitigen" Maßnahmen? Der IWF will mehr "Flexibilität auf dem Arbeitsmarkt". Das mag bedeuten, dass mehr Frauen in Jobs gelangen, aber es bedeutet auch schwächere Gewerkschaften und dass Arbeitsschutzgesetze und -rechte abgeschafft werden; im Endeffekt bedeutet es mehr Ausbeutung.
Der IWF will eine "Haushaltskonsolidierung". Das bedeutet höhere Steuern und niedrigere öffentliche Ausgaben, um die "Schuldentragfähigkeit" wiederherzustellen. Er will mehr Investitionen in saubere Energien, "um die Klimaverpflichtungen zu erfüllen". Und "eine verstärkte multilaterale Zusammenarbeit, um globale Herausforderungen zu bewältigen und eine weitere Fragmentierung zu verhindern." Angesichts der steigenden Ausgaben für die Produktion fossiler Brennstoffe und des globalen Temperaturanstiegs sind diese Vorschläge jedoch wilde, utopische Hoffnungen. Eine multilaterale Zusammenarbeit bei der "Schuldenlösung" für verschuldete arme Länder findet nicht statt, geschweige denn ein Erlass der "abscheulichen Schulden", die diesen Ländern aufgezwungen wurden.
Im Gegenteil, der IWF ist immer noch begeistert von dem, was er "finanzielle Globalisierung" nennt, die "durch die Erleichterung größerer grenzüberschreitender Kapitalströme zur wirtschaftlichen Entwicklung in der ganzen Welt beigetragen hat." Dies liegt nicht nur daran, dass ausländische Investitionen armen Ländern helfen könnten (und wir haben gesehen, dass dies zweifelhaft ist), sondern auch daran, dass "Kapitalflüsse indirekte Vorteile bringen können, indem sie die makroökonomische Politik disziplinieren" - mit anderen Worten, sie können als Erpressung benutzt werden, um nationale Regierungen davon abzuhalten, Maßnahmen zu ergreifen, um die "finanzielle Globalisierung" zu stoppen.
In der Tat räumt der IWF ein, dass "trotz der entscheidenden Vorteile der finanziellen Globalisierung, diese die Länder auch bestimmten Risiken aussetzt, insbesondere in Krisenzeiten. Kapitalströme können den Aufbau von systemischen Anfälligkeiten in Form von Währungs- und Laufzeitinkongruenzen fördern. Übermäßige Volatilität der Kapitalströme und Anfälligkeit für plötzliche Stopps und Umkehrungen können in Ländern mit schwacher geldpolitischer Glaubwürdigkeit besonders schwerwiegend sein. Eine stärkere Integration in die globalen Finanzmärkte setzt eine Volkswirtschaft auch den Spillover-Effekten des globalen Finanzzyklus aus, was die Wirksamkeit der Geldpolitik beeinträchtigen kann, da die politischen Entscheidungsträger die Kontrolle über die inländischen Zinssätze verlieren." Ganz genau! Fragen Sie Afrika, Lateinamerika und Südasien.
Eine weitere "Reform", die der IWF zur Ankurbelung des kapitalistischen Wachstums befürwortet, besteht darin, "Ineffizienzen im Zusammenhang mit staatlichen Unternehmen" zu verringern (d. h. zu privatisieren), "regulatorische Hindernisse für den Markteintritt zu senken" (weniger Regulierung und Handelshemmnisse) und den "Zugang zu Finanzmitteln zur Förderung der Unternehmensdynamik" zu verbessern (die Banken sollen regieren).
Bei der Reform des Klimawandels geht es dem IWF um die Bepreisung von Kohlendioxid, eine Marktlösung zur Verringerung der Emissionen, die bisher völlig versagt hat. Der IWF hofft auf eine "sorgfältige internationale Koordination und die Berücksichtigung internationaler Spillover-Effekte". Aber warten Sie nicht auf irgendetwas von der kommenden internationalen Klimakonferenz COP28. Dubai.[1]
[1] Auf der jährlichen Klimakonferenz der Vereinten Nationen (UN), die auch als "Konferenz der Vertragsparteien" oder "COP" bezeichnet wird, kommen Staats- und Regierungschefs, Minister und Verhandlungsführer aus aller Welt zusammen, um sich über den Umgang mit dem Klimawandel zu einigen.
Migration. Eigene Interessen
„Sichere Drittstaaten“, Migrationsabkommen: Europa möchte seine Abschottung weiter auslagern.
Doch die Externalisierungspolitik stößt an Grenzen.
Als die britische Regierung 2022 das „Ruanda-Modell“ vorstellte, war die Empörung in anderen Ländern Europas und vor allem in Deutschland noch groß. Das Modell sieht vor, Asylverfahren von Menschen, die an den Grenzen Großbritanniens ankommen, in sogenannte Drittstaaten außerhalb Europas auszulagern. Ins 6.600 Kilometer entfernte Ruanda zum Beispiel. Ein Paradebeispiel für eine Externalisierungspolitik, die ihr Grenzregime nach außen, ins weit entfernte Afrika auslagern will. Aus den Augen, aus dem Sinn. Allein die Bezeichnung „Drittstaat“ macht deutlich, dass es sich um ein Denken in neokolonialen Mustern handelt: Während des Kolonialismus wurden die „Überseegebiete“ oft als Zwangsexil für Menschen genutzt, die sich in anderen Kolonien gegen die Herrschaft aufgelehnt hatten.
Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte stoppte im Juni einen ersten Abschiebeflug aus Großbritannien in den ostafrikanischen Staat. Die Vereinten Nationen sahen in dem Modell einen Bruch internationalen Rechts. Wenige Monate später ist die Empörung verflogen, die höchstrichterlichen Bedenken beiseitegeschoben und der Vorschlag, ganz im Zeichen des galoppierenden Rechtsrucks, auch in Deutschland hoffähig geworden. Im Vorfeld des jüngsten Bund-Länder-Gipfels hatten die unionsgeführten Bundesländer zusammen mit dem grünen Ministerpräsidenten Baden-Württembergs Winfried Kretschmann eine Forderung nach Auslagerung der Asylverfahren an Dritte auf den Tisch gelegt: Die „Feststellung des Schutzstatus von Geflüchteten [solle] unter Achtung der Genfer Flüchtlingskonvention und der Europäischen Menschenrechtskonvention zukünftig auch in Drittstaaten erfolgen“.
Unterstützung bekommt der Vorschlag von einem Impulspapier aus der SPD-Bundestagsfraktion. Darin werden ebenfalls „Rückführungsabkommen der EU mit sicheren Drittstaaten“ vorgeschlagen. In sogenannten „Migrations-Zentren“ in Afrika sollen „irregulär in die EU gelangte Personen“ untergebracht werden und dort ihr Asylverfahren durchlaufen. Ein Bezug der geflohenen Person zu dem „Drittstaat“, in den sie per Flugzeug verfrachtet werden soll, ist nicht vorgesehen. Sie käme dort an, ohne das Land jemals zuvor gesehen zu haben. Dass das Impulspapier ausgerechnet vom SPD-Abgeordneten Lars Castellucci mitgetragen wird, der in Migrationsfragen bisher eher progressive Standpunkte vertreten hatte, ist bezeichnend. Damit wird das „Ruanda-Modell“ nun auch von links als vermeintliche Lösung präsentiert. Am Ende des Bund-Länder-Gipfels wurde bekannt gegeben, dass die Durchführung von Asylverfahren außerhalb der EU geprüft werden solle.
Der Albanien-Deal
Auch in Dänemark, Österreich und Italien gibt es ähnliche Externalisierungspläne. Einen davon präsentierte diese Woche Georgia Meloni, die neofaschistische Ministerpräsidentin Italiens. Sie steht unter Druck, denn trotz gegenläufiger Wahlversprechen, kommen gerade so viele Menschen wie seit langem nicht über das Mittelmeer. Seit Januar 145.000. Deshalb sollen Menschen, die ab dem kommenden Frühjahr im Mittelmeer von der italienischen Küstenwache oder der Finanzpolizei abgefangen werden, nach Albanien gebracht werden. Dort will Italien Lager finanzieren, in denen Geflüchtete untergebracht werden, bis ihr Asylantrag entschieden ist. Kapazitäten für 36.000 Menschen pro Jahr sind eingeplant. In der Logik des Migrationsregimes werden diese Menschen eingesperrt werden müssen, da sie sich sonst über die Balkanroute weiter auf den Weg nach Zentraleuropa machen könnten. Im Gegenzug will sich Italien für einen schnellen EU-Beitritt des Landes einsetzen.
Egal ob Ruanda- oder Albanien-Modell, die Einhaltung der Genfer Flüchtlingskonvention und der Europäischen Menschenrechtskonvention ist nicht möglich. Schon jetzt sind in den „Closed Controlled Access Center“ – riesigen gefängnisähnlichen Lagern auf den griechischen Inseln – die Anerkennungsraten bei Asylverfahren um ein Vielfaches geringer als in Deutschland. Selbst Geflüchtete aus Syrien und Afghanistan können aus Griechenland in die Türkei abgeschoben werden, weil diese im Juni 2021 von Griechenland als „sicherer Drittstaat“ eingestuft wurde. Und das obwohl aus der Türkei jährlich tausende Menschen in die Taliban-Diktatur und den syrischen Bürgerkrieg abgeschoben werden. Nur die Verweigerung der türkischen Behörden, diese Menschen aus Griechenland zurückzunehmen, verhindert diese Kettenabschiebung zurzeit.
Es braucht keine Kristallkugel, um vorherzusagen, dass die Zahl der positiven Asylbescheide in „Migrationszentren“ tausende Kilometer entfernt noch geringer sein wird. Ohne Zugang zu unabhängiger Asylberatung, juristischem Beistand und Berufungsrechten – Grundprinzipien der Rechtsstaatlichkeit, gegen die schon an Europas Rändern tagtäglich verstoßen wird. Was die zu „sicheren Drittstaaten“ degradierten Ländern mit Geflüchteten machen sollen, die einen negativen Asylbescheid erhalten, steht ebenfalls in den Sternen. Es ist Teil der Fiktion „Migrationskontrolle“, dass demokratische Prinzipien und Grundrechte aufgegeben werden.
Migrationsabkommen mit Placebo-Effekt
Neben dem Modell der „sicheren Drittstaaten“ arbeitet die Bundesregierung zurzeit an Migrationsabkommen, die als weiteres Werkzeug im Kampf gegen sogenannte „irreguläre Migration“ auserkoren wurden. Ende Oktober war Bundeskanzler Scholz in Nigeria und Ghana, Bundesinnenministerin Faeser zeitgleich in Marokko, um über die Rücknahme von Migrant:innen zu verhandeln. Zurückgekehrt sind sie mit fast leeren Händen. „Maximal unkonkret“ titelte die Tagesschau zu Scholz´ Reise und auch Faeser erhielt nur eine vage Absichtserklärung ihres marokkanischen Amtskollegen.
Auch hier ist das Ziel vor allem innenpolitisch: Handlungsfähigkeit suggerieren und vorgeben, die Zahl der Menschen, die zu uns kommen und die der „Ausreisepflichtigen“ zu reduzieren. Das Beispiel Marokko macht dies deutlich. 3600 Marokkaner:innen in Deutschland sind „ausreisepflichtig“, mehr als zwei Drittel von ihnen haben aber eine Duldung. Es ginge also nur um etwas mehr als 900 Menschen, die nach Marokko zurückgeschickt werden könnten.
Neben Nigeria und Marokko verhandelt die Bundesregierung mit vielen weiteren Ländern, unter anderem Tunesien, Kenia, Kolumbien, Kirgistan und Usbekistan. Eine signifikante Reduzierung der „irregulären Migration“ und ein Einlösen des Versprechens endlich „in großem Stil“ abzuschieben, wird das alles nicht mit sich bringen. Mit den Ländern, aus denen mehr als 70 Prozent der Menschen stammen, die in diesem Jahr in Deutschland Asyl beantragt haben – Syrien, Afghanistan, Türkei, Irak und Iran – gibt es keine Verhandlungen. Das liegt vermutlich auch daran, dass die Abschiebeaussichten schlecht sind, weil die Menschen ein Recht auf Schutz haben: Die bereinigte Schutzquote für alle Menschen, die 2022 in Deutschland Asyl beantragt haben, lag mit 72 Prozent so hoch wie noch nie.
Europa ist nicht alternativlos
Die Externalisierung der Migrationsfrage könnte aber auch aus anderen Gründen an Grenzen gelangen. Es stellt sich die Frage, ob es zukünftig für Europa überhaupt noch möglich sein wird, das Thema mit viel Geld an afrikanische und andere Staaten auszulagern. Seit Jahren geistert die Idee der Migrationskontrolle durch die europäischen Hauptstädte, ein „verlässlicher“ Partnerstaat hat sich dafür in Afrika aber nie finden lassen.
Europa steht nicht gut da in der Welt. Schon beim Aufkauf der Corona-Impfstoffe wurde die „Europe first“-Mentalität bitter registriert, während afrikanische Länder meist leer ausgingen. In der Front gegen den russischen Angriffskrieg auf die Ukraine zeigen sich große Lücken, weil dieser Krieg vielerorts als regionale Angelegenheit Europas wahrgenommen wird. Und Europa seinerseits auf viele Konflikte in Afrika nur anhand eigener Interessen reagierte. Zudem bietet die „konfliktuelle Multipolarität“, die sich als Welt(un)ordnung derzeit abzeichnet, auch Chancen für den globalen Süden. Russland und insbesondere China treten schon länger als vermeintlich neutrale Akteure auf, die Infrastrukturprojekte finanzieren und andere wirtschaftliche Beziehungen aufbauen. Europa ist nicht mehr alternativlos.
Die westliche Reaktion auf Israels Gaza-Krieg infolge der Hamas-Massaker vom 7. Oktober setzt Europa nun erneut dem Vorwurf der Doppelmoral aus. Denn „die Bilder eines ukrainischen Wohnhauses, das von einer russischen Rakete in Schutt und Asche gelegt wurde, sehen von Afrika aus betrachtet nicht sehr viel anders aus als die Bilder eines Wohnhauses im Gazastreifen, das von einer israelischen Rakete in Schutt und Asche gelegt wurde“, schreibt Josef Kelnberger in der Süddeutschen Zeitung. Nur dass die Reaktionen der Bundesregierung sehr unterschiedlich ausfallen.
Vielleicht werden Lager in Albanien entstehen. Vielleicht wird es Deutschland und der EU gelingen, mit einigen afrikanischen Staaten Migrationsabkommen zu schließen. Die Putschdynamik in der Sahelzone, die für die europäische „Migrationskontrolle“ so wichtig ist, macht jedoch deutlich, dass diese Form der Gelddiplomatie begrenzt ist und vielerorts als Herrschaftsinstrument betrachtet wird. Echte Partnerschaften lassen sich so nicht aufbauen.
Erstveröffentlichung medico
Autoindustrie blockt Verkehrswende. Autowerbung sagt: „Vernunft kann warten!“
Autoindustrie vergesellschaften, da sie dem Allgemeinwohl schadet. IG Metall: Chance zur Verkehrswende nutzen oder mit der Autoindustrie verlieren; Ressourcen für nachhaltige Produktion freisetzen; Arbeitszeitverkürzung!
Der gewerkschaftliche Anspruch, Teil der Umweltbewegung zu sein, ist noch nicht eingelöst.
Freiheit statt Tempolimit – sagt der VW-Boss. Wessen Freiheit, wessen Tempo, wessen Limit? „Sie steigen auf ihrem Bürodach in die Drohne und fliegen über alle Staus hinweg zum Flughafen, da dürfte es jedem Innovationsfan in den Fingern kribbeln.“ Konstrukt der Konkurrenz als Produktivitätspeitsche. Bahn für Alle? Das erfordert unglaublich viel Arbeit. Arbeiter*innen wissen um die Notwendigkeit der Verkehrswende. Das Kapital nimmt keine Rücksicht auf die Bedürfnisse der Arbeiterinnen und Arbeiter, sondern orientiert sich ausschließlich an den erwarteten Profiten. Gewerkschaften, Klimabewegung und Transformationsräte. Die IG Metall nutzt die Chance nicht, ihre Stärke in der Bahnindustrie auszubauen.
Die Autoindustrie in Deutschland (VW, Daimler und BMW) hält an ihrem umweltzerstörerischem Wachstumsmodell fest. Elektroantriebe sind kein Weg, die Klimakatastrophe zu begrenzen, sondern führen zu zusätzlichen globalen Verwerfungen. Die Anzahl der Beschäftigten in der Auto- und Zulieferindustrie sank in den letzten vier Jahren um ca. 60.000, die Inlandsproduktion sank von 5,7 Mio. auf 3,4 Mio., während die Profite auf sagenhafte 60 Milliarden Euro stiegen. Die IG Metall hat noch hunderttausende Mitglieder in der Autoindustrie (ca. 750.000 Beschäftigte), nutzt die Chance jedoch nicht, ihre Stärke in der Bahnindustrie (ca. 200.000 Beschäftigte) auszubauen. Während die Autoindustrie trotz hoher Gewinne mit Milliarden durch die Bundes- und Landesregierungen subventioniert wird, werden die Kapazitäten in der Bahnindustrie vernichtet und Betriebe geschlossen. Die Mächtigen haben die Karre in den Dreck gefahren und blockieren jetzt die möglichen und überfälligen Veränderungen.
Daraus ergeben sich erste Thesen:
- Die Big three der Autoindustrie können nach Artikel 14/15 vergesellschaftet werden, da dieses Eigentum an Produktionsmitteln dem Allgemeinwohl schadet.
- Die IG Metall hat die Chance, die Verkehrswende mitzugestalten und zu gewinnen – oder sich an die Autoindustrie zu ketten und zu verlieren.
- Weniger umweltzerstörerische Produkte (z.B.Autos) setzen Ressourcen frei für nachhaltige Produktion (z.B. Fahrzeuge für den öffentlichen Verkehr) und kollektive Arbeitszeitverkürzung.
Wessen Freiheit, wessen Tempo, wessen Limit?
„Freiheit statt Tempolimit“ – tönte vor kurzer Zeit der oberste VW-Manager Blume (NDR, 28.10.22). Für ihn ist es ein Gütezeichen, dass Fahrzeuge in einem Land entwickelt werden, in dem es kein Tempolimit gibt. Die Wolfsburger Presse schreibt von „Balsam für die Werker-Seele“. Was für ein Schmalz, was für ein ideologisches Geschwätz. Angesichts tiefgreifender ökonomischer und politischer Krisen, angesichts teuren Öls und knapper elektrischer Energie muten solche Aussagen wie die von Wahnsinnigen an. Manager des Autokapitals sprechen über die Freiheit der Reichen, tun und lassen zu können, was ihnen beliebt – ohne Rücksicht auf die Mehrheit der Menschen, ohne Rücksicht gegenüber schrumpfenden Ressourcen, ohne Rücksicht gegenüber dem erreichten Limit von Natur und Klima. Deren Freiheit ist purer Egoismus. Die Mächtigen im Land glauben sich in Übereinstimmung mit den 750.000 Beschäftigten der Autoindustrie. Das Freiheitsgerede und die Milliarden Euro Kurzarbeitergeld seit 2020 sollen die Beschäftigten bei Laune halten. Das funktioniert zu einem guten Teil, weil das Leben für viele fast so weitergeht, als gäbe es keine Unsicherheit des Arbeitsplatzes und keine Reallohnsenkungen. Stehen die EU und die Regierungen der Länder wie Deutschland, Frankreich, Polen, Rumänien, Portugal und die Slowakei machtlos gegen die mächtigen Autokonzerne? Es ist immer das Zusammenwirken von Kapital und neoliberaler Politik, wie an zwei weiteren Beispielen deutlich wird:
- In Chattanooga/USA ist es der rechten Administration durch das Zusammenspiel mit dem Management von VW gelungen, eine gewerkschaftliche Interessenvertretung zu verhindern. Als Dank hat VW jetzt entschieden, für zwei Milliarden $ zwei weitere Fabriken in den USA für dort beliebte riesige Pick-ups zu bauen. Betriebsrat und IG Metall erklären lapidar, das Projekt werde „die Transformation in Richtung Elektromobilität weiter vorantreiben, dabei müssten die Interessen der Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter gesichert sein.“
- In Mexiko sollte mithilfe des deutschen „Nationalen Aktionsplan Wirtschaft und Menschenrechte“ (NAP-Branchendialog Automobil) ein Beschwerdemechanismus für automobile Lieferketten aufgebaut werden. Volkswagen hat nun seinen Ausstieg aus dem geplanten Beschwerdemechanismus angekündigt. Das Unternehmen erklärte, dass der geplante Mechanismus „keine ausreichenden Vorteile gegenüber den bestehenden Beschwerdesystemen bei VW“ biete. Dem widersprechen die am Dialog beteiligten zivilgesellschaftlichen Organisationen sowie die unabhängigen Expert:innen der mexikanischen Zivilgesellschaft ausdrücklich (https://www.transparency.de/fileadmin/Redaktion/Bilder/Stellungnahmen_PMs_und_Meldungen/2022/22-12-08_Branchendialog_Automobil_Stellungnahme__VW-Ausstieg.pdf).
Die vom Kapital erwünschte und immer wieder neu erzeugte Konkurrenz zwischen den Standorten und den Beschäftigten wirkt als Produktivitätspeitsche. Den Beschäftigten schwant, dass die goldene Zeit der Autoproduktion vorbei ist. Das Kapital orientiert sich schon um, setzt nicht mehr auf den Massenmarkt, baut vermehrt Luxusautos, greift mit Fahrservice-Flotten den ÖPNV an, lässt das Personenbeförderungsgesetz dafür ändern, erprobt Passagierdrohnen: „Stellen Sie sich vor, Sie steigen einfach auf ihrem Bürodach in die Drohne und fliegen über alle Staus hinweg zum nächsten Termin, zum Flughafen, nach Hause … da dürfte es jedem Innovationsfan doch in den Fingern kribbeln!“1 Weil die Gewerkschaften mangels eigener Konzepte und Visionen weitgehend ratlos vor dieser Entwicklung stehen, beschränken sie sich auf die möglichst schmerzlose Regulierung der veränderten Geschäftsmodelle des Kapitals. Der „Zukunftsfond Automobil“ der Bundesregierung und die „konzertierte Aktion Mobilität“ von Regierung, Arbeitgebern und IG Metall, auf Wachstum und Subventionen angelegt, bieten keine Alternativen für einen großen Teil der Beschäftigten.
So lange wie irgend möglich soll es beim privat finanzierten und genutztem Auto bleiben – bis 2030 sollen 15 Millionen E-Autos in Deutschland zugelassen werden. Das von der EU beschlossene Verbrenner-Aus ab 2035 wurde von der deutschen Autoindustrie erfolgreich aufgeweicht. Während „wir alle“ zum Sparen von Energie genötigt werden, benötigen 15 Millionen E-Autos etwa 40 TWh elektrische Energie, viermal so viel, wie in der Stadt Hamburg jährlich durch Haushalte und Industrie verbraucht werden. Diese auf weiteres Wachstum orientierte Strategie verschärft die globalen Verteilungskonflikte um Rohstoffe und Energie; die Strategie wird scheitern, weil die erforderliche Menge erneuerbare Energie nicht zur Verfügung steht. Kein Bündnis mit den Scheichs aus Katar noch neokolonial gewonnener Wasserstoff aus Namibia werden diese Lücken füllen.
Bahn für Alle – das erfordert unglaublich viel Arbeit!
Die Autoindustrie wird – trotz glänzender Profite – mit Milliarden Euro durch die EU, den Bund und die Länder subventioniert. Autos bekommen kostenlos Zugang zu Straßen und Autobahnen. Die öffentlichen Verkehrsbetriebe führen ihren Versorgungsauftrag mit mehr als 12 Milliarden Beförderungsfällen pro Jahr durch. Dort fließen wesentlich weniger Gelder, die Bahnbetriebe zahlen stattdessen Trassengebühren von 5 bis 6 Cent pro gefahrenen Kilometer und die Löhne sind geringer als in der Autoindustrie.
Das 9-Euro-Ticket ebenso wie das 49-Euro-Ticket haben den Bedarf offenbart und die Bereitschaft, vom Auto auf den öffentlichen Verkehr umzusteigen, wenn das Angebot gut ist. Die Angebote sind aber nicht gut und der Ausbau kommt nicht voran. Am Beispiel der Ermstalbahn, der Regionalstadtbahn Neckar-Alb in Baden-Württemberg, wird das Dilemma deutlich. Vor 20 Jahren ist der reguläre Personenverkehr durch Bürgerinneninitiative wieder aufgenommen worden. Jetzt werden dort als Übergangslösung geliehene Elektrotriebzüge aus Augsburg eingesetzt, weil die in Auftrag gegebenen Fahrzeuge erst in fünf Jahren ausgeliefert werden (Schwäbisches Tageblatt, 10.12.2022 / eigene Recherche). Die Kapazitäten im Schienenfahrzeugbau sind zu gering, um die Verkehrswende voranzubringen.
Mit dem 9-Euro-Ticket, mit der Debatte um die sozial-ökologische Transformation, den Aktionen von Verdi für bessere Arbeit im ÖPNV gemeinsam mit Fridays for Future, der Letzten Generation hat sich vieles geändert. Für die Verkehrswende braucht es neben Produktionskapazitäten im Schienenfahrzeug- und Busbau vor allem Geld und Personal für Betriebe des öffentlichen Verkehrs und den Infrastrukturbau. Die öffentlichen Verkehrsbetriebe suchen händeringend Lokomotivführer*innen, Busfahrer*innen, Schaffner*innen und Planer*innen – und finden viel zu wenige. In einem planmäßigen Prozess der Schrumpfung der Autoindustrie können Beschäftigte aus dieser Branche solche Aufgaben übernehmen. Aber dieser Prozess wird nicht geplant, weil im öffentlichen Verkehr keine Profite zu erzielen sind. Diese Planlosigkeit führt zu großen Verunsicherungen – in den Kommunen und bei den Beschäftigten.
Während in der Autoindustrie Arbeitsplätze verschwinden (müssen), können im Schienenfahrzeugbau viele neue Arbeitsplätze entstehen. Aber eben nicht durch am Profite interessierten Investoren, sondern durch am Gemeinwohl orientierte Gruppen oder Institutionen: Genossenschaften, Kooperativen oder kommunale oder landeseigene öffentlich-rechtliche Betriebe. Dazu bedarf es einer bisher fehlenden Sicherheit der Investitionen durch einen planmäßigen Ausbau des schienengebundenen Nah- und Fernverkehrs, durch einen vom Kopf auf die Füße gestellten Bundesverkehrswegeplanes und einer Kostenübernahme weitgehend durch den Bund. Warum eigentlich kein Sondervermögen von 200 Milliarden Euro für die Schieneninfrastruktur, den Schienenfahrzeugbau, den Bau von smarten Bussen, den Ausbau und Betrieb des ÖPNV in Stadt und Land?
Teils noch aktive Lokomotiv- und Waggonbaubetriebe in Bautzen, Dessau, Görlitz, Halle, Niesky und Vetschau können aktiviert, die Kapazitäten in Berlin, Chemnitz, Henningsdorf, Mannheim, München, Salzgitter und Stendal können ausgebaut werden. Die Beschäftigten der Bahnindustrie würde es freuen, wenn ihre Arbeit aufgewertet und mehr Anerkennung erfahren würde. Die Erfahrungen beim Ausstieg aus der Kohle, Blicke in die Lausitz, das mitteldeutsche oder das rheinische Kohlerevier zeigen, dass 40 Milliarden Euro und ein Zeitraum von 20 Jahren nicht ausreichen, wenn das Geld ohne demokratische Beteiligung der Menschen in der Region zweckentfremdet eingesetzt wird. Kritik an Strukturwandel landauf und landab (Aachener Zeitung, 15.3.21; Mitteldeutsche Zeitung 5.12.2022). Der DGB hat „Revierwende-Büros“ eröffnet und sagt zur provinziellen Zweckentfremdung, zu Schlosssanierung oder Kirchenanstrich statt alternativer Produktion und Beschäftigung: „So etwas geschieht, wenn keine unabhängigen Kontrollgremien gewollt sind. Von neuen Arbeitsplätzen müssen die Menschen im Revier profitieren. Die Bemühungen um bessere Lebensbedingungen im Revier müssen sich an den Wünschen der Menschen vor Ort ausrichten“ (Revierkurier 1/2022). Im Kohlebergbau und bei der Kohleverstromung geht es um einen absoluten Abbau, in der Mobilitätsindustrie geht es „nur“ um einen radikalen Umbau – allerdings mit viel mehr Menschen.
Arbeiter*innen und Verkehrswende
Wir haben Autoarbeiter*innen zum sozial-ökologischen Umbau der Autoindustrie befragt („E-Mobilität, ist das die Lösung? Luxemburg Beiträge 6 /2021) – Menschen mit Hoffnungen, Wünschen, Sorgen, mit kritisch-reflektierter Produzentenintelligenz. Viele schämen sich nach dem gigantischen Abgasbetrug für ihre Arbeitgeber, spätestens von ihren Kindern wissen sie vom Zusammenhang ihrer Arbeit mit der Klimakatastrophe. Sie sind überwiegend keine beinharten Männer mit Benzin im Blut. Gesagt haben sie, dass sie auch anderes als Autos produzieren könnten. Aber die Beschäftigten entscheiden nicht darüber. „Mitbestimmung in der Wirtschaft ist vom Ansatz her radikal-demokratisch und antikapitalistisch“ (Otto Brenner). An Demokratie und Antikapitalismus fehlt es, auch in den Gewerkschaften. Zweitens müssen, so die Aussagen der Befragten, die Einkommen sicher sein. Die relativ guten Löhne in der Autoindustrie hängen an der Exportlastigkeit, der höheren Wertschöpfung, der Ausbeutung in der Lieferkette und daraus resultierenden Profiten. Lars Hirsekorn, Mitglied des Betriebsrates bei VW in Braunschweig sagt: „Die Belegschaften in der Autoindustrie haben bei diesem Thema gemischte Einstellungen. Große Teile sind der Meinung, dass das Elektroauto ökologisch nicht sinnvoll ist. Einige meinen, dass man dann gleich beim Verbrenner bleiben kann. Aber es gibt inzwischen viele Leute, die einsehen, dass wir etwas grundlegend ändern müssen“ (www.nationalgeographic.de/).
In diversen Studien wurde herausgearbeitet und dokumentiert, dass eine solche Verkehrswende die Arbeitsplatzverluste in der Autoindustrie überkompensiert (Spurwechsel, VSA-Verlag; Mfive, Gesamtwirtschaftliche Wirkungen durch die Transformation zu nachhaltiger Mobilität).
Die Ängste der Beschäftigten in der Autoindustrie sind dennoch berechtigt und begründet – das Kapital nimmt keine Rücksicht auf die Bedürfnisse der Arbeiterinnen und Arbeiter, sondern orientiert sich an den erwarteten Profiten. Die Beschäftigten bei VW in Wolfsburg und Emden hoffen, mangels Alternativen, bald wieder ausgelastet eine weitere Million große und teure Autos pro Jahr zu produzieren. Volkswagen jedoch beginnt, Autos aus chinesischer Produktion nach Europa zu exportieren. Die Batteriezellfertigung in Salzgitter soll es geben, wenn Volkswagen so viele Subventionen bekommt wie Tesla in Grünheide. Alles, was viele Jahrzehnte sicher schien, ist unsicher geworden. Da hilft kein Pfeifen im dunklen Wald. Die Autoindustrie verschwindet – so oder so – zu einem großen Teil aus unserem Land. Die Arbeitsplatzvernichtung und – Verlagerung findet zunächst bei Zulieferern wie Conti, Bosch und Mahle, bei vielen kleinen Zulieferern sowie bei Opel und Ford statt.
Gewerkschaften, Belegschaften und Klimabewegung
Die Gewerkschaften haben sich dem Pariser Klimaziel verpflichtet. Hans-Jürgen Urban vom Vorstand der IG Metall reklamiert für seine Gewerkschaft: „Wir sind Teil der Umweltbewegung“ (OXI 9/2022). Ulrich Brand beschreibt das Dilemma gewerkschaftlicher Stärke und gut bezahlter Arbeitsplätze in der Autoindustrie einerseits und der ökologischen Notwendigkeit, eben hier zu schrumpfen andererseits: „Sozial-ökologische Aufgaben müssen zu Kernanliegen der Gewerkschaften werden“ (Blätter für deutsche und internationale Politik, 7/2019). Daraus ergibt sich: Die IG Metall muss mehr Energie auf Erhalt und Ausbau der Schienenfahrzeugproduktion legen. Es reicht nicht, wenn Alstom Standorte schließt oder Waggonfabriken in Niesky und Dessau geschlossen werden, nach Subventionen oder Investoren zu rufen.
Ist die Zustimmung von IG Metall und Betriebsräten zu neuen Auto- oder Batteriefabriken nur der Überlegung geschuldet, dass die Verkehrswende eventuell nicht funktionieren wird, dass Busse und Bahnen nicht im notwendigen Umfang durch Bund, Länder und Kommunen in Auftrag gegeben werden? Das ist unverständlich angesichts des vor sich gehenden Abbaus von Arbeitsplätzen in der Autoindustrie. Die Gewerkschaft könnte den Mitgliederschwund stoppen, würde Organisations- und Verhandlungsmacht gewinnen, wenn sie die Verkehrswende vorantreiben würde. Bei Beibehaltung der bisherigen Politik wird sie verlieren.
Der gewerkschaftliche Anspruch, Teil der Umweltbewegung zu sein, ist noch nicht eingelöst. Das Bündnis von Gewerkschaften, Umwelt- und Sozialverbänden gibt es bisher nur auf dem Papier (IG Metall, BUND, SoVD, EKD und andere) – dieses Bündnis hat noch keine Füße bekommen, ist noch nicht lokal verankert. Ein Hinweis auf die Ursachen findet sich in einer Erklärung linker Gewerkschafter:innen: „Unsere Macht kommt von unten. Bei der Industriepolitik müssen wir unsere Durchsetzungsfähigkeit durch den Schulterschluss mit der Umweltbewegung ausbauen. Dafür brauchen wir mehr Wissen bei unseren Funktionär*innen, warum und wie wir Industriepolitik machen. Der historisch notwendige Schulterschluss für eine sozialökologische Transformation kann uns nur gelingen, wenn wir die hierfür notwendige Kompetenz an unserer gewerkschaftlichen Basis durch unsere Bildungsarbeit ausbauen.“ (Zeitschrift SOZIALISMUS 11/22).
Die im mitteldeutschen Revier bei Naumburg gelegene Heimvolkshochschule Haus Sonneck entwickelt sich zur Transformationsakademie. Die vom DGB getragene Einrichtung der politischen Bildung „Arbeit und Leben“ und Haus Sonneck werden die Revierwende in der gewerkschaftlichen und beruflichen Fort- und Weiterbildung aktiv mitgestalten. Die Akademie wird durch bauliche und inhaltliche Modernisierung entstehen, finanziert aus dem Fond für den Kohleausstieg. Das müsste mit allen gewerkschaftlichen Bildungseinrichtungen ähnlich passieren. Gewerkschaftspolitische Grundlagenbildung ist kein Selbstzweck. Sie ermächtigt die Beschäftigten, die Welt aus ihren Klasseninteressen heraus zu erkennen und zielgerichtet in betriebliche und gesellschaftliche Veränderungsprozesse einzugreifen, nicht weiter als „Werker-Seele“ erniedrigt zu werden.. Gewerkschaftspolitische Bildung hilft bei der Überwindung von Fatalismus und immunisiert ein Stück weit vor Technikgläubigkeit. Sie ist eine Voraussetzung, um rechten Hass und Hetze zurückzuweisen, sie ist eine Barrikade gegen autoritäre Wege aus der Krise. Politische Bildung ist nicht alles – aber ohne sie wird das alles nichts.
Transformationsräte
Schließlich sind hoffnungsvolle neue Ansätze in der Verteidigung sozialer Rechte in der Transformation zu beobachten, so bei GKN in Zwickau und beim Waggonbau in Niesky. In Niesky soll ein traditioneller Waggonbau geschlossen werden. IG Metall und Linke unterstützen die Belegschaft im Kampf um den Erhalt von Betrieb und Arbeitsplätzen. Die Linke erinnert daran, dass Mahnwachen nicht ausreichen werden: „Im Fall des Waggonbaus Niesky, wo mit der Geschäftsleitung kein Gespräch hergestellt werden kann, wäre eine Besetzung der Fabrik durch die Arbeiter ein weltweit erprobtes Mittel, um ihrem Kampf eine realistische Chance zu geben“, erklärte die Landtagsabgeordnete Antonia Mertsching weiter und versicherte: „Unsere Unterstützung ist ihnen sicher.“ Ihr Kollege Mirko Schulze fordert ein stärkeres Engagement des Landes Sachsen: „Die sächsische Lausitz erhält 7 Milliarden Euro für den Ausstieg aus der Kohleverstromung, um Industriearbeitsplätze zu schaffen oder zu erhalten. Mir ist völlig unklar, warum bisher nicht ein Cent in die Stärkung des vorhandenen Schienenfahrzeugbaus geht.“ (https://www.msn.com/de-de/finanzen/top-stories/linke-ermutigt-waggonbauer-in-niesky-zur-werksbesetzung/ar-AA191L0c).
Bei GKN in Zwickau haben die Beschäftigten mit der IG Metall zusammen einen Sozialtarifvertrag erstreikt, gehen jetzt „in die 2. Halbzeit“ und kümmern sich um einen Investor, der den Betrieb mit anderer Produktion fortführen kann. „Damit habt ihr auch eine Blaupause geliefert, wie wir Auseinandersetzungen gegen das Kapital führen können“, so die neue Vorsitzende der IG Metall, Christiane Benner, zu dieser Auseinandersetzung. In Zwickau gibt es Kontakte und Gespräche mit den Aktiven der Klimabewegung (FFF) sowie nach Florenz, wo eine GKN-Fabrik von der Belegschaft besetzt wurde. Die Lehren daraus: Dem Klassenkampf des Kapitals gegen die Beschäftigten kann nur mit Klassenkampf von unten für Demokratie, gute Arbeit und ökologische, am Gebrauchswert orientierte Produktion begegnet werden. Die ökologische Krise ist Ergebnis der kapitalistischen Produktionsweise, dem damit verbundenen Konsum(zwang).
Vielleicht sind das die Pflänzchen, die sich zu regionalen Transformationsräten entwickeln. Zu Räten, in denen Beschäftigte, Gewerkschaften, Umwelt- und Verkehrsverbände, Klima- und Verkehrswendeinitiativen sowie regionale Politik direkten Einfluss auf die sozial-ökologische Transformation der Produkte und der Produktion in der gesamten Mobilitätsindustrie nehmen. So etwas ist durchaus möglich, wie Dario Azzinelli in einer Studie zum Transformationsprozess in Schottland beschreibt: „Auch wurde darin (im Climate Change Plan) die Einrichtung einer Just Transition Kommission und einer Bürgerversammlung zum Klimawandel beschlossen, die Empfehlungen erarbeiten soll, wie eine Null-Emissionen-Transition erfolgen soll und was dabei zu beachten ist, auch bezüglich Qualifikationen, Arbeitsmarkt und Bildung“.2
1https://www.volkswagenag.com/de/news/fleet-customer/2022/12/interview_group_innovation.html
2 Scottish Government 2019, file:///C:/Users/User/Downloads/Working%20Paper%201_%20Azzellini%202021_%20Nachhaltige%20Arbeit.pdf
KI als Geschäftsmodell
Der SPIEGEL berichtet, chtet, dass Aleph Alpha, ein deutsches Start-up-Unternehmen Aleph Alpha eine Finanzspritze von 486 Mio. Euro erhält.. Das Kapital wird u.a. von der Schwarz-Gruppe (Lidl, Kaufland), dem Bosch-Konzern und SAP bereitgestellt. Mit dem Geld will der KI-Spezialist gegen OpenAI konkurrieren, dem Erfinder von Chat-GPT, Der Spiegel.
Damit „werden wir unsere Fähigkeiten weiter ausbauen und unseren Partnern ermöglichen, an der Spitze dieser technologischen Entwicklung zu stehen“, sagte Jonas Andrulis, der Gründer von Aleph Alpha.
Das Unternehmen aus Heidelberg hat sich auf Arbeitsbereiche für öffentliche Verwaltung und Industrie spezialisiert.
Eine Erweiterung des hauseigenen Sprachmodells Luminous sei in der Lage, Zusammenhänge in Informationen auf Basis gesicherter Fakten nachzuvollziehen. Bundeswirtschaftsminister Robert Habeck spricht von einer „wahnsinnigen Erfolgsgeschichte“. Dem 2019 gegründeten Unternehmen sei es gelungen, einen Meilenstein auf dem Weg zu inhaltlich korrekter und vertrauenswürdiger KI zu erreichen.
Minister Habeck sieht einen weltweiten Wettbewerb um die Künstliche Intelligenz KI. Europa müsse deshalb „richtig Hackengas geben“, um international nicht abgehängt zu werden. „Überall da, wo wir stark sind, kann KI made in Europe auch stark werden“, sagte Habeck in Capital. Er verweist dabei auf die Branchen wie Maschinenbau und Tele-Kommunikation für die man hierzulande über eigene Kompetenz verfüge.
Unerwähnt lässt Habeck die Logik der Geschäftsmodelle im Zeitalter der Digitalisierung. Ein Musterbeispiel dafür ist Delivery Hero: Mit unterschiedlichen Markennamen betreibt die Firma weltweit Online-Bestelldienste, bei denen Kunden an Restaurants vermittelt werden. Einnahmen sollen durch Provision erzielt werden. „Der hartnäckig ausbleibende Gewinn ist die Dauerbaustelle von Delivery Hero“, bemängelt die Wirtschaftswoche.
Seit Jahren macht Delivery Hero Minus – und ist damit in der Plattformökonomie nicht allein.
Der Fahrdienstvermittler Uber erwirtschaftete ein Jahrzehnt lang keinen Gewinn.
Das Zauberwort hinter diesen Geschäftsmodellen lautet: „Venture Capital“, das Wagniskapital zur Finanzierung. Die Anlagen sind riskant, aber lukrativ. Die meisten Investitionen scheitern, dafür erzielt eine kleine Anzahl von Spekulanten überdurchschnittliche Renditen, verdeutlicht Nils Peters, Fellow für Wirtschaftssoziologie an der London School of Economics London School of Economics.
Für die Risikokapitalgeber ist Rentabilität weniger wichtig als schnelles Wachstum. Gewinne können sie realisieren, wenn das Unternehmen übernommen wird oder an die Börse geht, die Investitionen erfordern einen langen Atem.
Ziel ist auch, eine Markt-Dominanz zu erreichen, die etwa Google, Amazon oder Microsoft erreicht haben. Die Kapitalgeben drängen die Unternehmen dazu, Konkurrenten auszusperren, kritisiert Peters. Es ist das Streben nach Monopolkapitalismus 4.0.
Veranstaltungshinweis mit dem Autor:
isw-Veranstaltung
Donnerstag, 30. November 2023, 19:00 - 20:30
ZOOM https://us02web.zoom.us/j/84318474296
KI, Arbeitszeit und Gewerkschaften. Wie Unternehmen die Technik in ihrem Interesse nutzen
Marcus Schwarzbach
CUBA heute, nach einem weiteren Jahr der Einschränkung
Die wirtschaftliche Entwicklung des sozialistischen Kubas bleibt unvermittelt trüb.
Es ist vor allem die fortgesetzte Energiekrise, die der cubanischen Wirtschaft enorm zusetzt. Auch der zarte Aufschwung bei den kleinen und mittleren Unternehmen (KMU) konnte dieses Jahr keinen entscheidenden Beitrag leisten, um den mittlerweile seit vier Jahren andauernden Krisenmodus zu beenden. Hinzu kommt der noch immer schwächelnde Tourismus, die Besucherzahlen liegen aktuell bei 55 Prozent des Stands von 2019: Viel zu wenig, um die klamme Haushaltslage zu entspannen – was wiederum Voraussetzung für die Bekämpfung von Inflation und das Ende des dualen Wechselkurs-regimes wäre, zwei entscheidende Voraussetzungen für das Greifen der Reformen. Ein Teufelskreis.
Außenpolitisch konnte Kuba vergangene Woche wieder den zu erwartenden symbolischen Sieg bei den Vereinten Nationen erringen: Lediglich die Vereinigten Staaten und Israel stimmten gegen eine Resolution zur Aufhebung der US-Sanktionen. Änderungen der verfahrenen US-kubanischen Beziehungen scheinen im Schatten des Kriegs in Nahost indes immer unwahrscheinlicher, während konkrete Ergebnisse der Deals mit China, Vietnam, Russland und Algerien noch auf sich warten lassen. Das Leben der Kubaner, es wird momentan nicht einfacher.
Dass es nicht so weitergehen kann, ist allen klar. Die Regierung kündigte bereits mehrfach ein "makroökonomisches Stabilisierungsprogramm" und "profunde wirtschaftliche Transformationen" für das kommende Jahr an, blieb bisher jedoch im vagen. Nur so viel ist bekannnt: Die Aufgabe allgemeiner Preisstützen zugunsten von gezielten Subventionen bedürftiger Personengruppen soll damit definitiv einhergehen. Zunächst soll jedoch die Bankarisierung vorangetrieben werden: Bis Anfang nächsten Jahres haben sämtliche Gewerbe (aller Eigentumsformen) noch Zeit, bargeldlose Bezahlkanäle anzubieten, kündigte das Binnenhandelsministerium Ende letzter Woche an. Seit der Bekanntgabe des Programms im August halten sich die Ergebnisse allerdings in engen Grenzen, vor allem aufgrund der ungelösten Wechselkursproblematik. Kurzfristig dürfte die Ankündigung damit vor allem für noch mehr Ungewissheit sorgen, zumal auch neue Importregularien für Privatbetriebe im Gespräch sind.
Zum Stand der wirtschaftlichen Entwicklung
Nachdem Kuba diesen Sommer, erstmals seit Beginn der aktuellen Krise im Jahr 2020, mit nur wenigen Stromausfällen überstanden hat, hätte man vermuten können, dass das Ende der Rezession näher rückt. Die zarte Blüte erlebte jedoch ein jähes Ende, als Energieminister Vicente de la O Levy Anfang Oktober erneut Energiesparmaßnahmen anzukündigen hatte. Seitdem arbeiten viele Betriebe und Ämter nur Halbtags, der Transport läuft auf Sparflamme, die Ausreisewelle hält an und selbst die Grundversorgung über die Libreta gerät mitunter ins Stocken. Wo steht Kubas Wirtschaft heute, am Ende ihres vierten Krisenjahres?
Die Ursachen der Krise sind multikausal und haben sich im Laufe der vergangenen Jahre teils gegenseitig verstärkt: Zum einen wäre da die angespannte Haushaltslage zu nennen, mit der Kuba seit spätestens 2018 ins Zentrum der Trump’schen Sanktionspolitik geriet, in deren Rahmen mehr als 200 Einzelmaßnahmen erlassen worden sind, die vom Tourismus bis hin zum internationalen Marktzugang reichen. Dann kam die Pandemie, die alle wichtigen Devisenbringer der Wirtschaft abwürgte und in deren schwierigster Phase die Insel von den Vereinigten Staaten wieder als „Staatssponsor des Terrorismus“ gelistet wurde. Die zahlreichen ungelösten Probleme der Wirtschaft, überbordende Bürokratie, Missmanagement und Korruption, konnten indes auch mit einem wieder an FAhrt gewinnenden Reformprozess nicht in den Griff bekommen werden. Zu tief sitzen die Probleme, zu gering der finanzielle Spielraum für Lösungen – und zu groß die Angst vor echter struktureller Veränderung bei den Entscheidungsträgern, trotz oder vielleicht gerade wegen der landesweiten Proteste im Sommer 2021. Die Verwaltung des Status quo hat auch in diesem Jahr weite Teile der politischen Agenda bestimmt, die – trotz neuem Kommunikationsgesetz - weiterhin durch Abwesenheit von Agilität und Dynamik geprägt ist.
Drei Jahre seit Beginn der aktuellen Krise, und am Ende des ersten Jahres, das wieder ein „besseres“ (Díaz-Canel) hätte werden sollen, fällt die Bilanz ernüchternd aus. Die Ausreisewelleder vergangenen Jahre, die größte seit der Bootskrise von Mariel 1994, hat ihre Spuren hinterlassen. Seit 2020 haben laut Daten des US-Grenzschutzes rund 480.000 Kubanerinnen und Kubaner das Land in Richtung Vereinigte Staaten verlassen, rund vier Prozent der Bevölkerung. Hinzu kommen jene, die in andere Länder migriert sind. Genauere Auskunft dürfte der Zensus geben, der ursprünglich 2022 geplant war und vor kurzem endgültig auf das erste Quartal 2025 verschoben wurde.
Die Folgen der Ausreisewelle sind auch in der Ökonomie überall spürbar und haben die Krise weiter verschärft. Wie die kubanische Zeitschrift „Bohemia“ berichtet, stellt der Fachkräftemangel viele Betriebe vor immer größere Herausforderungen und auch die Sozialsysteme ächzen unter der Lücke. So ging die Zahl der Ärzte seit 2020 um mehr als 12.000 zurück, über 1.300 Universitätsdozenten verließen ihren Posten. Die dreistellige Inflation ließ die Kaufkraft der Löhne in diesem Jahr auf die Hälfte des Niveaus von 2022 schrumpfen, eue Hiobsbotschaften gibt es auch aus der Landwirtschaft. Wie Agrarminister Ydael Jesús Pérez Brito vergangene Woche in der Sendung „Mesa Redonda“ (Runder Tisch) erklärte, konnten dieses Jahr lediglich 40 Prozent des benötigten Diesels für Traktoren, 20 Prozent des Tierfutters und nur vier Prozent der notwendigen Düngemittel bereitgestellt werden. Die Produktion erlebte dementsprechend empfindliche Einbrüche: So ging die Zahl der Legehennen von einst acht auf drei Millionen zurück, die Schweinefleischproduktion brach von 200.000 im Jahr 2017 bis Ende 2022 auf 16.500 Tonnen um 91 Prozent ein. Beim Anbau von Reis und Bohnen bewegt sich der Einbruch auf etwas niedrigerem Niveau, dort betrug der Rückgang dieses Jahr 10 bzw. neun Prozent. Mittlerweile muss praktisch die gesamte Grundversorgung des staatlichen Bezugshefts „Libreta“ importiert werden, was eine zusätzliche Belastung für den Haushalt bedeutet.
Auch der Tourismus kommt nicht in Tritt. Trotz neuer Flugrouten verschwand Kuba in den letzten Monaten aus vielen Reiseprospekten, da die Rezession auch Auswirkungen auf die Qualität des Fremdenverkehrsprodukts hat – der wohl schwerwiegendste Verstärkungsfaktor der aktuellen Krise, da wichtige und fest eingeplante Devisenreserven ausbleiben. Bis September zählte die Insel 1,8 Millionen Besucher. Zwar zwei Drittel mehr als im vergangenen Jahr, aber immer noch lediglich 55 Prozent des Stands von 2019. Das Ziel von 3,5 Millionen wird in jedem Fall verfehlt werden.
Ein guter Indikator, um den Status der kubanischen Wirtschaft abzulesen, ist der Transportsektor. Wenn es dem Land relativ gut geht, die Wirtschaft wächst, wird hier in Wartung und Anschaffung investiert und die Treibstoffversorgung ist gesichert, was sich in steigenden Passagierzahlen niederschlägt. In Krisenzeiten wird relativ proportional eingespart, wie die Entwicklung der 1990er Jahren zeigte. So konnte der Sektor zwischen 2010 und 2017 ordentlich zulegen und erreichte am Ende dieser Periode wieder rund zwei Drittel des Werts der späten 1980er Jahre, vor der „Sonderperiode“ in Folge der Auflösung des sozialistischen Lagers. Von da an gab es bereits einen ersten leichten Rückgang bei den Deviseneinnahmen in Folge der Krise in Venezuela und neuen Sanktionen. Seither war die Zahl der transportierten Passagiere rückläufig, was sich mit der Treibstoffkrise 2019 nochmals beschleunigte. Die Jahre 2020 und 2021 markieren den Tiefpunkt im Rahmen von Covid-Lockdowns und Rezession. Die leichte Erholung 2022 setzt sich laut Schätzung des Ministeriums in diesem Jahr minimal fort und wird voraussichtlich unter den Werten von 2020 bleiben. Von dieser Warte aus gelesen, dürfte 2023 für die kubanische Wirtschaft de facto eine weitere Nullrunde werden. Auch das Wirtschaftsministerium rechnet mit einem leichten Wachstum, das allerdings, wie Minister Gil betont, „nicht spürbar“ sein werde.
Wie weiter?
Wie geht es nun also weiter? Die jüngste Reforminitiative der Regierung, die Bankarisierung der Wirtschaft, mit der Korruption zurückgedrängt, der Mangel an Bargeld reduziert und die Wirtschaft digitalisiert werden soll, ist ins Stocken geraten. Die Ankündigung, sämtliche Zahlungsströme im gewerblichen Bereich künftig nur noch über bargeldlose Methoden abzuwickeln, hatte zu großer Verunsicherung bei den mittlerweile 8964 kleinen und mittleren Unternehmen (KMU) geführt. Hauptproblem ist nach wie vor, dass der offizielle Wechselkurs nicht bedient werden kann und der Staat keine Devisen für diesen Bereich der Wirtschaft ausgibt. So lange diese Themen nicht gelöst sind, dürfte sich die Umsetzung verschieben müssen. Im Staatssektor wurden zwar Fortschritte erreicht, aber auch hier verläuft die Umstellung träge. Statt einen Wachstumsimpuls zu liefern hat die Ankündigung, auch aufgrund ihrer Kommunikation, kurzfristig hauptsächlich zu mehr Verunsicherung geführt.
Kubas Präsident Díaz-Canel bezog am 16. Oktober in einem seltenen Fernsehinterview zur Kritik an seiner Wirtschaftspolitik sowie der allgemeinen Lage des Landes Stellung. „Jeder hat das Recht, uns zu kritisieren, und ich glaube es wäre auch sehr idealistisch zu behaupten, dass alles gut gemacht wurde, dass wir mit allem Recht haben“, erklärte das Staatsoberhaupt, als ihn die Journalistin Arleen Rodriguez mit Kritik am Timing von Währungsreform und Bankarisierung konfrontierte. Man befinde sich derzeit in Zeiten „des maximalen Drucks“, so Díaz-Canel unter Verweis auf die anhaltenden US-Sanktionen. Die Regierung studiere sämtliche Vorschläge von Ökonomen und aus der Bevölkerung, mit denen man zu großen Teilen übereinstimme. „Wir sind weder verschlossen noch Dogmatiker“, erklärte er und kündigte eine umfassende Aufarbeitung der Fehler der Währungsreform an. Ein großes Problem sei der Mangel an Devisen, der die Umsetzung vieler wirtschaftspolitischer Maßnahmen erschwere, auch jene, die mit der Wechselkursthematik zu tun hätten. Auf die Frage, wo die Ergebnisse der zahlreichen Auslandsreisenund Wirtschaftsabkommen (unter anderem mit China, Russland, Algerien und Vietnam) blieben, antwortete Díaz-Canel, dass diese erst „mittelfristig“ positive Auswirkungen haben dürften. Fast nebenbei machte er in dem Gespräch eine Ankündigung, die aufhorchen lässt: Der Übergang von allgemeinen Preissubventionen hin zur gezielten Unterstützung von bedürftigen Personengruppen, eines der fiskalpolitischen Kernelemente des Reformprozesses, dessen Umsetzung immer wieder verschoben wurde, solle „eher früher als später“ kommen. Auch dies ist Teil des „makroökonomischen Stabilisierungsprogramms“, das bereits vor Monaten angekündigt wurde und weiterhin seiner Umsetzung harrt. Wann erste Schritte erfolgen werden, bleibt abzuwarten. Díaz-Canel gab zumindest einen ungefähren Hinweis, als er im Sommer vor der Nationalversammlung erklärte, dass kommendes Jahr eine „profunde Transformation“ der kubanischen Wirtschaft anstehe.
Trotz aller Probleme bleibt festzuhalten, dass die Genehmigung und Gründung neuer KMU weiter voranschreitet.Sie beschäftigen mittlerweile 260.000 Personen und tragen, gemeinsam mit Produktions- und Dienstleistungskooperativen, rund 13 Prozent zum Bruttoinlandsprodukt sowie mit acht Prozent zu den Importen bei. Inmitten der aktuellen Krise sind sie einer der wenigen Sektoren, in denen neue, in der Regel überdurchschnittlich bezahlte Arbeitsplätze entstehen. Mit zunehmender Professionalisierung trägt der Sektor zudem bereits zur Bildung neuer Wertschöpfungsketten bei. Das Konsumgüterangebot hat sich durch private Importe in den vergangenen Monaten weiter ausgeweitet und stabilisiert. Die hohen Preise sind in diesem Bereich nicht weiter gestiegen, sondern, wie beispielsweise im Fall von Reis und Bier, mit steigendem Angebot eher gesunken.
Ein weiteres, bislang wenig beachtetes Signal, landete vergangene Woche im Gesetzesblatt: In einer Neufassung des Gesetzes über Agrarkooperativen wurde erstmals die Möglichkeit eingeführt, Kooperativen zweiten Grades (also Zusammenschlüsse mehrerer Genossenschaften in Supraorganisationen) zu bilden, deren Autonomie nochmals bekräftigt wurde. Damit könnten sich in der kubanischen Landwirtschaft künftig größere, nicht-staatliche Akteure herausbilden, die in der Lage sind, weitgehend autark mit anderen Unternehmen zu interagieren. Inkrafttreten soll die Regelung kommenden Januar.
Ein Game-Changer?
Wie immer gilt auch hier: „The proof of the pudding is in the eating“. Und ob die kommenden Strukturreformen reichen, die Wirtschaft aus der Krise zu führen? Auch das steht – Stand heute – noch in den Sternen. Sicher sagen lässt sich nur: Wenn die kubanische Wirtschaft ihr momentanes Siechtum verlässt, wird das Modell, dass sie dazu befähigen wird, notwendigerweise ein anderes sein.
Erstveröffentlichung https://cubaheute.de/newsletter/
Einen Film über Chile im Jahr 2023?
Am 4.9.1970 gewinnt Allende an der Spitze der Unidad Popular, einem 1970 gegründeten Zusammenschluß mehrerer Parteien die Wahl mit 36,4% der Stimmen. Am 24.10. 1970 wird Allende vom chilenischen Nationalkongress mit 153 zu 35 Stimmen als Präsident bestätigt und es beginnt damit eine bis dahin eine einmalige Etappe in der Geschichte Chiles.
Bereits am 15.9.1970 – also kurz nach der Wahl stellte Henry Kissinger fest: „Die Wahl Allendes ist ernst, ernst für die amerikanischen Interessen in Chile“.
Bereits 1970 war in Washington beschlossen worden, Chile zu destabilisieren, wirtschaftlich, medienmäßig und militärisch.
Seit 1958 war Allende beim CIA auf dem Radarschirm, nachdem er damals bei der Präsidentschaftswahl bereits 29% der Stimmen erzielte. Auch bei den nachfolgenden Wahlen, das wissen wir heute, unterstützte der CIA die rechten Kandidaten. 1966 wird Allende zum Präsidenten des Senats gewählt.
Am 11.9.1973 hat sich der demokratisch gewählte sozialistische Präsident Salvador Allende (mit der Unidad Popular) das Leben genommen, nachdem das Gebäude der Monade vom Militär gestürmt worden war. Dieser von der CIA (die US- Regierung war aktuell informiert) massiv unterstützte Putsch ist Anlaß, daran zu erinnern.
Mit dem Putsch sollte mit Panzern und Bomben die Hoffnung auf ein Alternative zum kapitalistischen Gesellschaftsmodell zerstört werden.
Das Wahlprogramm der Unidad Popular hatte drei Hauptrichtungen:
- Verstaatlichung von Schlüsselindustrien wie z.B. Kupferminen (35% des Kupfers gingen in die BRD), Salpeterminen (heute Lithium) – Einführung von Mindestlöhnen,
- Ausbau der vom Vorgänger begonnenen Landreform - 20% des enteigneten Landes hatte Deutschen gehört),
- Einführung diverser Sozialprogramme, wie z.B. Beseitigung von Unterernährung und Armut, (jedes Kind soll täglich Milch bekommen), Einführung einer allg. Gesundheitsversorgung, Zugang zu Bildung und Kultur für Alle, Errichtung von Sozialwohnungen, Alphabetisierungskampagnen…
Alle Maßnahmen sollten mit der Umgestaltung des Staates zu einem Estado Popular einhergehen – einer Gesellschaft, in der die Macht in den Händen des Volkes liegt.
Chile wurde auf Druck der USA von der Kreditvergabe der Weltbank ausgeschlossen, Umschuldungen waren blockiert, Investitionen verhindert. Auch die BRD half fleißig mit, indem sie Entwicklungshilfe und Millionenkredite entfallen ließ.
Allende hat den Staats- und den Militärapparat weitgehend unangetastet gelassen, was sich 1973 bitter rächen sollte.
Ab 1971 /72 kam es zu einer massiven Wirtschaftskrise. Die Kupferbarone sabotierten die Regierungsmaßnahmen, ebenso die Fuhrunternehmer, Anschläge auf Infrastruktureinrichtungen häuften sich.
Am 29.06.1973 kam es zu einer Meuterei gegen Allende in der Armee, die niedergeschlagen werden konnte. Nachdem der Oberbefehlshaber der Landstreitkräfte aufgrund rechten Rucks zurücktrat, rückte Pinochet auf dessen Posten nach. Im August 1973 streikten die Einzelhändler und Kleinunternehmer, Frauen aus den besseren Vierteln Santiagos gingen mit leeren Kochtöpfen lärmend auf die Straße.
Am 4.9. demonstrierten über 1. Mio. Menschen in Santiago für die Unidad Popular (UP).
Am 7.9.1973 versammelte Allende die chilenischen Generäle und teilte Ihnen mit, daß er eine Volksabstimmung durchführen lassen will, um den Konflikt zwischen ihm und der rechten Mehrheit im Parlament aufzulösen. Dies war das Signal für Pinochet, loszuschlagen. Obwohl die KP Chiles, Mitglied der Unidad Popular, mit einem Warn-Aufruf vor einem Putsch warnte, besetzte am 11.9.1973 das Militär Rundfunkstationen, Telefonzentralen, Treibstofflager und andere wichtige Einrichtungen.
Nach dem Putsch installierten die Faschisten unter den Augen der Weltöffentlichkeit ein Terrorregime mit eiligst errichteten Konzentrationslagern und dem Verbot aller demokratischen Parteien und Gewerkschaften. Zehntausende Gefolterte, Ermordete und Verschwundene waren das erste Resultat des chilenischen Faschismus. Zu den bekanntesten Opfern gehörten Pablo Neruda, Literaturnobelpreisträger, der nach neuesten Forschungsergebnissen aus diesem Jahr im Krankenhaus vergiftet wurde, und der Volkssänger Victor Jara.
In der Zeit von 1970 – 1973 hat die Regierung Allende andere Länder beim Aufbau des Sozialismus unterstützt. Für viele Länder sowohl in Südamerika als auch in Afrika war Chile zu einem Leuchtturm geworden. Auch in Europa fand der chilenische Versuch Interesse und Anerkennung. Hinzuweisen ist in diesem Zusammenhang beispielsweise die in 1974 endende Diktatur Salazars in Portugal.
Wie verhielten sich die beiden deutschen Staaten?
Die DDR nahm 1971 gegen die Interventionen der BRD diplomatische Beziehungen mit der Regierung Allendes auf und schloss umfangreiche Handelsverträge inkl. Fachkräfteausbildungen in der DDR ab. Außerdem entstand bereits damals eine große internationale Solidaritätskampagne in der DDR, die später, also nach dem 11.9.73 noch erweitert wurde und über 5000 ChilenInnen politisches Asyl ermöglichte. Auf abenteuerlichen Wegen z.B. über Argentinien konnten Gesuchte mit Hilfe der DDR außer Landes und in Sicherheit gebracht werden. Die Unidad Popular richtete ihren Exil Sitz in Berlin, DDR ein.
Wie verhielt sich die Bundesrepublik Deutschland?
Schon lange vor 1973 diente die chilenische Einrichtung Colonia Dignidad, die mit den Namen des Sektengründers Paul Schäfer und Dr. Gerd Seewald verbunden war, vielen ehemaligen SS- Offizieren als neue Heimat. Bereits in den dreißiger Jahren gründete sich in Chile eine MNS – Movimento National-Socialista, deren Chef Oswald Spengler war. Diese Gruppe übernahm sowohl Programm als auch nach außen hin sichtbare national-sozialistische Kennzeichen. Ihre Zeitung hieß Deutsche Zeitung.
Nach dem 2. Weltkrieg gelang ca. 1000 Offizieren von SS, SA und Gestapo die Flucht nach Chile. In der DINA, der chilenischen Geheimpolizei, wurden sie „unsere deutsche Truppe“ genannt. Ihr Anführer war Walther Rauff, den Pinochet 1956 im Auftrag des Oberkommandos als Militärberater nach Chile holte, laut einem Bericht der ARD vom 3.9.23. Rauff hatte demnach mitgeholfen, einen effektiven Geheimdienst aufzubauen. Seine Truppe sollte Gegner spurlos verschwinden lassen. Unterstützt wurden diese Vorhaben auch durch illegale Transporte z.B. von Sarin von Frankfurt nach Santiago: „Die DINA hat mit dem BND sehr eng zusammengearbeitet.“ (ebd., ARD).
Eine Gruppe um Roberto Thieme gründete 1971 die rechts- terroristische Gruppe Patria y Libertad mit ihrem Organ CONDOR als Nachfolgerin der Deutschen Zeitung, die ebenfalls Pinochet unterstützte.
Eine umfassende Aufklärung dazu gibt es bis heute nicht, es wird gemauert, wo es geht. Selbst die Errichtung einer Gedenkstätte für die Opfer der Colonia Dignidad wird immer noch hinausgezögert. Der frühere SS-Mann Gerhard Mertins, seit 1956 für den BND aktiv, lieferte Waffen auch nach Chile und hatte enge Kontakte zu Schäfer und der Colonia Dignidad. Bis zu 100 Menschen sollen nach dem Putsch in der berüchtigten Kolonie ermordet worden sein, die Identität weiterer bis zu 1000 Personen ist ungeklärt. Das Verbrechen der Colonia Dignidad war ein doppeltes, zum einem gegenüber den Kolonie-Bewohnern und zum anderen als Hilfs- und Vollzugsorgan des chilenischen Regimes. Heute ist die ehemalige Colonia Dignidad ein Freizeit- und Erholungszentrum „Villa Baviera“. Auf der Homepage von TripAdvisor befindet sich dazu ein bemerkenswerter Kommentar: "Wie kann es sein, dass hier noch Geld erwirtschaftet wird auf den Gebeinen der Getöteten und warum werden keine Zahlungen geleistet, die von Geschädigten durch Rechtsurteile erstritten wurden? Macht man hier so weiter, wie man begonnen hat? Unwürdig! Keinen Cent würde ich hier lassen!"
Nach wie vor bremst das deutsche Außenministerium die Aufarbeitung, so ein Beitrag im ARD- Weltspiegel vom 16.4.23. Gemeint ist damit vor allem die Botschaft in Chile, die seit den 60 er Jahren von den Sektenverbrechen wußte und dennoch Schäfer jahrzehntelang unterstützte. Deutsche Diplomaten schickten geflüchtete Mißbrauchsopfer damals sogar zurück in die Fänge des Pädophilen und seines treuen Führungskreises. Im Hintergrund agiert bis heute auch die deutsch-chilenische Wirtschaftskammer, die mit Namen wie Schiess oder von Appen, Paulmann im Zusammenhang steht; viele deren Vorfahren kamen als Nazis vor 1945 oder flohen nach 1945 als Nazis nach Chile. Bundeskanzler Scholz hat Anfang 2023 diese Leute besucht, Treffen mit Opferorganisationen der Colonia Dignidad gab es hingegen nicht.
Nach dem Sturz Allendes wurde Chile ein großes Versuchslabor neoliberaler Wirtschaftskonzepte (Stichwort Chicago Boys - Milton Friedmann, (chicago boys) – es wurden Renten, Gesundheit, Strom, Wasser (Art. 19 der Verfassung von 1980 steht immer noch, daß die Inhaber von Wasserrechten zu deren Eigentümern werden) und Bildung privatisiert ebenso wie alle vorher enteigneten Unternehmen. Der Staat wurde heruntergefahren, zwischen 1973 und 1979 strich die Regierung ihre Ausgaben von 40% des Bruttoinlandsprodukts auf 26% zusammen. Chile sollte wieder zu einem reinen Rohstofflieferanten werden.
Der Widerstand in Chile, auch der Militärische entwickelte sich langsam und war trotz einiger spektakulärer Aktionen, wie z.B. einem Anschlagsversuch auf Pinochet am 7.9.1986 - nicht sehr erfolgreich, auch wenn Luis Corvalan, der damalige Vorsitzende der PC rückblickend feststellte, daß auch dieser Kampf einen Beitrag zur Beendigung der Diktatur geleistet habe.
1988 ließ Pinochet ein Referendum durchführen, das ihm erlauben sollte, bis 1997 an der Macht zu bleiben. So sah es die 1980 verabschiedete Verfassung vor. In dieser Verfassung wurde die Familie, der Markt und das Privateigentum über soziale Grundrechte, Gleichberechtigung und Umweltschutz gesetzt. Bei dem Referendum stimmten 56% mit NEIN, Pinochets Zeit endete. Die Zeit danach – von 1990 bis 2019 war durch verschiedene sozial-demokratische und rechte Regierungen und Präsidenten gekennzeichnet. Bis heute sind die Grundfesten dieses neoliberalen Gesellschaftsmodells nicht verändert worden.
Auszug aus Allendes letzten Rede:
„Ich bin sicher, daß die Saat, die wir im Bewußtsein Tausender und Abertausender Chilenen gesät haben, nicht vollständig ausgelöscht werden kann.“ Und: „Man kann weder durch Verbrechen noch durch Gewalt die gesellschaftlichen Prozesse aufhalten. Die Geschichte gehört uns, es sind die Völker, die sie machen.“
Der Film Mi Pais Imagninario – mein imaginäres Land ist auf diesem gezeichneten historischen Hintergrund „Pinochet Diktatur zwischen 1973 und 1989" entstanden:
40.000 Opfer, 3000 Verschwundene, 200.000 ins Exil Fliehende, Bücherverbrennungen in Chile. Die wenigsten Mörder wurden – auch in der Zeit ab 1990 – zur Rechenschaft gezogen.
Der Filmemacher Patricio Guzmán – er war 1973 selbst 15 Tage lang politischer Gefangener im berüchtigten National-Stadion von Santiago - blickt auf die seit 2019 anhaltenden Proteste in Santiago de Chile. Ursprünglicher Auslöser des Widerstands war die Erhöhung der Preise für U-Bahn-Tickets, die für viele Chilenen offenbar das Fass zum Überlaufen brachte. Im Oktober startete die Bewegung, die bis zu 1,5 Millionen Menschen auf die Straße führte, die für mehr Demokratie, bessere Bildung, ein würdigeres Leben und eine neue Verfassung demonstrierten. Die Revolte hatte vor allem ein weibliches Gesicht!
Der zitierte Film geht über die gerade gehörten Erinnerungen hinaus – es geht um einen neuen Aufbruch, um eine neue Hoffnung.
Die Wahlen in Chile 2021
Bei den Wahlen im Dezember 2021 gewann der Kandidat des Mitte-Links Bündnisses Gabriel Boric (Sozialdemokrat) deutlich gegen den ultrarechten Jose Antonio Kast mit fast 9% Vorsprung – die Erwartungen waren groß.
Die vier Hauptschwerpunkte seines Wahlprogramms lauteten:
- Umweltschutz
- Feminismus
- Soziale Gerechtigkeit, z.B. Herabsetzung der wöchentlichen Arbeitszeit von 45 auf 40 Stunden
- Wohnungsbau, es fehlen mindestens 640.000 Wohnungen
Boric konnte sich von Anfang an nicht auf parlamentarische Mehrheiten stützen, was ihn zu Kompromiß um Kompromiß zwang. Von den Zielen der Allende Regierung ist heute fast nichts mehr zu hören, im Gegenteil – die Regierung läßt wieder Wasserwerfer gegen Demonstranten auffahren, verlängert die Ausnahmezustände in den Mapuche-Regionen. Außenpolitisch folgt eine Annäherung an die USA. Boric setzt sich, so ein Kommentator, zunehmend zwischen alle Stühle, er betreibt Neoliberalismus light.
Einige Beispiele dazu:
- Eine eine geplante Steuerreform, mit der Einnahmen für die Reformprojekte erzielen werden sollten ist gescheitert, frühestens 2024 kann es einen neuen Versuch geben;
- Die Aufhebung des Ausnahmezustands in den Mapuche-Gebieten war zugesagt und wurde nicht eingehalten. Auch einen Autonomiestatus gibt es bisher nicht (wobei die Mapuche ein anderes Verständnis von Land, Leben, Staat haben) und
- die Befugnisse der umstrittenen Militär Polizei „Carabineros“ wurden unter Boric ausgebaut, der Schußwaffen Einsatz erheblich erleichtert. – law and order in Chile 2023.
Die Popularität des Präsidenten lag Anfang 2023 bei 35% Zustimmung. Aufgrund der politischen Niederlagen hat er sein Kabinett inzwischen umgebaut. Auch in Chile gibt es massive migrationsfeindliche und rassistische Stimmungen – der Druck insbesondere von Menschen auf der Flucht aus Venezuela ist groß.
Von der Euphorie, die ab Okt. 2019 die chilenische Gesellschaft ergriff, ist nicht mehr viel übrig, die Revolte ist im Sand verlaufen. Zunächst sah das anders aus, eine junge Massenbewegung eroberte öffentliche Räume, organisierte sich vor allem in den Städten, kämpfte gegen staatliche Repression und setzte eine Volksabstimmung durch, in der die Mehrheit für die Ausarbeitung einer neuen Verfassung stimmte.
Ein Konvent erarbeitete einen Entwurf, der die alte Verfassung noch aus Pinochets Zeiten stammende endgültig beseitigen sollte. Darin wären enthalten gewesen Recht auf Wohnraum, Bildung, Gesundheit, eine Frauenquote von 50% in allen Staatsorganen und ein Selbstbestimmungsrecht für indigene Gemeinschaften (ca. 15% der Bevölkerung). enthalten gewesen Mit der Wahl von Gabriel Boric zum Präsidenten verband sich auch die Hoffnung, diese neue Verfassung zum Erfolg führen zu können. Beim Referendum am 4.9.22 stimmte die Mehrheit (62%) mit NEIN.
Amanada Jara, eine Tochter Victor Jaras äußerte sich in einem Interview wie folgt:
„Das war äußerst schwierig und verwirrend. Nur etwa 20% haben es unterstützt. Es war sehr schwer zu verstehen, was am Wahltag passiert war. Einige sagen, daß Putsche heutzutage über die Medien, mit Fake News und einer Umgebung voller Lügen und Informationskampagnen ablaufen. Es wäre interessant, dies genauer zu analysieren, denn wir haben bisher nicht die notwendige Selbstkritik geübt. Es gab viel Identitätspolitik, die uns spaltete und uns vom großen Projekt ablenkte.“ JW vom 5.10.23
Nach jetzigem Stand ist eine progressive Verfassung in weite Ferne gerügt. Ein Kommentar des Sozialwissenschaftlers Goiovic dazu:
„Es wäre nicht verwunderlich, wenn die neue Verfassung größere polizeiliche Befugnisse gegen Protestierende und Migranten formulieren würde, während ein breiter operativer Rahmen für lokale und ausländische Kapitalinvestitionen ins Auge gefaßt wird und im Gegenzug dem Progressismus einige Brosamen in Fragen der Interkulturalität und der Gleichstellung der Geschlechter gewährt werden.“
Das Bemühen um eine neue Verfassung
Am 17.12. 23 - soll es einen zweiten Versuch geben. Dabei erstarkt die Rechte angesichts eines Regierungsbündnisses, das sich mit dem Erbe der sozialistischen Regierung Allende nach wie vor schwertut. Es gibt jetzt einen Verfassungsrat. Am 7.5.23 hat die rechte Republikanische Partei mit Jose Antonio Kast, einem Sohn eines ehemaligen Wehrmachtoffiziers 22 der 51 Sitze gewonnen und kann damit zusammen mit anderen rechten Vertretern mit insgesamt 33 Mandaten jeden Fortschritt verhindern. Die Vereinigte Linke – Unidad para Chile kam auf 17 Sitze und hat damit nicht einmal eine Sperrminorität. Der jetzige Rat hat weniger Kompetenzen als die vorige Versammlung, er ist weniger repräsentativ, weil er dem Senatswahlverfahren nachgebildet ist und das Volk selbst ist nicht einbezogen. Durch den vom jetzigen Präsidenten Boric mit der konservativen Mehrheit in Parlament und Senat eingegangenen Kompromiß sollte man sich keine Illusionen machen, progressive, linke Elemente in dem neuen Verfassungsentwurf zu finden, Ja, es besteht sogar die Befürchtung, daß die jetzige Vorlage noch hinter der der Verfassung von 1980 zurückbleiben könnte, laut Aussagen von VertreterInnen der Bewegung des Zugangs zu Wasser, Land und Umweltschutz (Modatima), JW vom 23./24.9.23.
Der Verfassungsprozess ist schlecht organisiert, die Zeit zu kurz, jetzt eine Pflicht abtstimmung ohne Wissen … so seine Kritikerinnen.
2023 hat der oberste Gerichtshof sechs pensionierte Armeeoffiziere wg. der Entführung und Ermordung des Liedermachers Victor Jara endgültig verurteilt zu jeweils 15 Jahren und einem Tag Gefängnis wg. Mordes und jeweils zu 10 Jahren und einem Tag wg. schwerer Entführung. Also endlich, nach fast 50 Jahren – ähnlich wie die Dauer der Verfolgung von Nazis und Kriegsverbrechern hierzulande. Kurz vorher hatte der Gerichtshof bereits Angehörigen der ermordeten Leibwächter Allendes Entschädigungen zugesprochen.
In Chile selbst versuchen rechte Parteien auch in diesem Jahr wieder Rechtfertigungsresolutionen für den Putsch im Parlament durchzusetzen. Auch heute noch spaltet das Thema die ChilenenInnen.
Die in Chile selbst 2023 durchgeführten staatlichen Gedenkveranstaltungen waren sehr gemischt. So schrieb die span. Journalistin Carmen Rendon z.B. für RT: „Bei den chilenischen Linken handele es sich um eine entkoffeinierte bürgerliche und verängstigte Linke, die die Basis des sozialen Aufbruchs nicht kennt oder verstehen will.“ JW vom 11.9.23 S. 7.
Öffentliche Ordnung, Sicherheit, Migration und Wirtschaft gelten als die größten Probleme des Landes. Vertiefende Beschreibungen und Analysen sind ergänzenden und weiterführenden Veröffentlichungen vorbehalten.
Zum Thema
https://www.rosalux.de/news/id/49595/warum-haben-die-chileninnen-den-verfassungsentwurf-abgelehnt
https://www.zeitschrift-marxistische-erneuerung.de/article/4040.rechazo-in-chile.html?sstr=Chile
https://www.blaetter.de/ausgabe/2022/september/chile-als-avantgarde
https://kommunisten.de/rubriken/kultur/8912-chile-cybersyn-und-die-santiago-boys
Zum Titelbild:
Angefertigt von der Künstlergruppe Brigade "Salvador Allende", 1976
Standort: Audimax der Universität Bielefeld
„Nicht die Zeit, über Frieden zu reden“
Zahl ziviler Opfer im Gazastreifen steigt.
US-Außenminister warnt, bei weiterer Eskalation fehlten künftig „Partner für den Frieden“.
Die Bundesregierung ist mit Israel über medizinische Hilfen für die in Gaza kämpfenden israelischen Truppen im Gespräch. Dies geht aus Äußerungen von Sprechern der Bundesregierung hervor. Demnach steht das Bundesverteidigungsministerium „in einem engen Austausch“ mit Tel Aviv und verhandelt „insgesamt über sanitätsdienstliche Unterstützung“. Dies geschieht, während die Kritik am Vorgehen der israelischen Streitkräfte im Gazastreifen weltweit zunimmt und Israel in zunehmendem Ausmaß isoliert. Die Zahl der Todesopfer in Gaza hat die Zahl der zivilen Todesopfer im Ukraine-Krieg nahezu eingeholt. UN-Generalsekretär António Guterres warnt, das humanitäre Völkerrecht sei „kein à la carte-Menü“; es dürfe „nicht selektiv angewandt“ werden. US-Außenminister Antony Blinken dringt zumindest auf eine Feuerpause und warnt, wenn die Bevölkerung „von der humanitären Katastrophe verzehrt“ und „entfremdet durch die wahrgenommene Gleichgültigkeit gegenüber ihrer Not“ sei, werde es nach dem Ende der Kampfhandlungen „keine Partner für den Frieden“ mehr geben. Bundeswirtschaftsminister Robert Habeck teilt den Gedanken nicht und postuliert: „Es ist jetzt nicht die Zeit, über Frieden zu reden.“
Die humanitäre Katastrophe
Die Zahl der Todesopfer im Gazastreifen erreichte am Sonntagabend laut Angaben der dortigen Gesundheitsbehörden 9.730. Damit nähert sie sich der Zahl der zivilen Todesopfer im Ukraine-Krieg, die seit dem 24. Februar 2022 den Vereinten Nationen zufolge inzwischen auf mehr als 9.900 gestiegen ist.[1] Zwar ist nicht klar, wieviele Milizionäre sich unter den Opfern in Gaza befinden. Doch wurden dort mehrheitlich Kinder und Jugendliche (rund 4.800) oder Frauen (etwa 2.550) getötet. Während israelische Regierungsstellen die Angaben der Gesundheitsbehörden als übertrieben abtun, weisen kritische Stimmen auch in Israel darauf hin, dass sie sich in der Vergangenheit gewöhnlich als zuverlässig erwiesen haben.[2] Bis zu diesem Wochenende kamen im Gazastreifen außerdem 79 UN-Mitarbeiter zu Tode – fast zwei Drittel der 116 UN-Mitarbeiter, die im Jahr 2022 weltweit ihr Leben verloren.[3] Mehr als 1,4 Millionen der insgesamt 2,3 Millionen Einwohner sind auf der Flucht, ohne freilich eine Chance zu haben, sich vor den überall einschlagenden Bomben in Sicherheit zu bringen. Mittlerweile sind 16 der 35 Krankenhäuser geschlossen; die übrigen werden nur noch eingeschränkt betrieben, weil Treibstoff und Medikamente kaum mehr vorhanden sind. Die gesamte Gesundheitsversorgung hänge „am seidenen Faden“, hieß es bereits Anfang vergangener Woche.[4]
„Kein à la carte-Menü“
Heftigen Protest äußern die Vereinten Nationen. Mitte vergangener Woche konstatierte das UN-Menschenrechtskommissariat, unter anderem bei dem israelischen Angriff auf das Flüchtlingslager Jabalia könne es sich wegen der hohen Zahl ziviler Todesopfer und wegen des Ausmaßes der Zerstörung um ein „Kriegsverbrechen“ handeln.[5] Berichten zufolge wurden bei mehreren Angriffen auf das Lager mindestens 195 Menschen getötet; mehr als hundert wurden noch unter den Trümmern vermutet. Nach einem Angriff auf einen Konvoi von Krankenwagen, dem Bombardements von Krankenhäusern vorausgegangen waren, gab sich der Generaldirektor der Weltgesundheitsorganisation (WHO), Tedros Adhanom Ghebreyesus, „zutiefst geschockt“: „Patienten, Gesundheitspersonal, Einrichtungen und Krankenwagen müssen zu allen Zeiten geschützt werden. Immer.“[6] UN-Generalsekretär António Guterres zeigte sich gleichfalls „entsetzt“. „Ich vergesse die Terrorangriffe, die in Israel von der Hamas begangen wurden, nicht“, betonte Guterres. Nun würden aber seit fast einem Monat Zivilisten im Gazastreifen belagert, von Hilfe abgeschnitten, getötet und aus ihren Wohnungen gebombt: „Das muss aufhören.“[7] Guterres hatte bereits zuvor gewarnt, das humanitäre Völkerrecht sei „kein à la carte-Menü“ und dürfe „nicht selektiv angewandt“ werden.[8]
Zunehmend isoliert
Die rücksichtslose Kriegführung stößt im Ausland in steigendem Maß auf scharfe Kritik. Mehrere Staaten haben mittlerweile aus Protest gegen die hohe Zahl an zivilen Todesopfern ihre Botschafter aus Israel zurückgerufen, darunter etwa Chile, Kolumbien und Honduras, Jordanien und Bahrain. Bahrain ist eines der Länder, die mit Israel ein sogenanntes Abraham-Abkommen geschlossen haben. Bolivien hat sogar seine diplomatischen Beziehungen zu Israel abgebrochen – bereits zum zweiten Mal: Der damalige Präsident Evo Morales hatte dies bereits im Jahr 2009 aus Protest gegen Israels Vorgehen im Gazastreifen getan; die 2019 per kaltem Putsch an die Macht gelangte Übergangspräsidentin Jeanine Áñez [9] hatte die diplomatischen Beziehungen zu Israel 2020 wiederaufgenommen. Dass sich Israel mit seiner Kriegführung immer stärker isoliert, zeigte bereits das Votum der UN-Generalversammlung vom 27. Oktober. Lediglich 14 Staaten lehnten die Resolution mit ihrer Forderung nach einem Waffenstillstand im Gazastreifen ab: neben den USA, Israel und vier EU-Mitgliedern lediglich zwei Staaten Lateinamerikas und sechs Pazifikstaaten, die in ihrer aktuellen Politik von den Vereinigten Staaten abhängig sind.[10] Unter den 45 Staaten, die sich enthielten, befanden sich nur 15 aus dem Globalen Süden. Dieser geht ganz überwiegend zu Israel auf Distanz.
„Keine Partner für den Frieden“
Zur zunehmenden äußeren Isolation kommt mittlerweile auch Druck aus den Vereinigten Staaten hinzu. Hintergrund ist vor allem, dass die USA weiterhin ihren globalen Schwerpunkt auf den Machtkampf gegen China legen und deshalb einen ausufernden Flächenbrand im Nahen Osten verhindern wollen, der sie – wie zuletzt der Krieg gegen den IS – erneut von der Konzentration all ihrer Kräfte auf die Asien-Pazifik-Region abhalten würde. Washington hat deshalb die israelische Bodenoffensive zumindest zu verzögern versucht. Nun dringen die Vereinigten Staaten auf eine Feuerpause. Außenminister Antony Blinken erklärte am Freitag bei einem Besuch in Israel, er sei unverändert schockiert über das Hamas-Massaker vom 7. Oktober. Doch sei er auch erschüttert über die Bilder toter und verwundeter palästinensischer Kinder in Gaza: „Wenn ich das sehe, sehe ich meine eigenen Kinder.“[11] Israel habe zwar das Recht, sich selbst zu verteidigen. Allerdings müsse das unter Einhaltung des humanitären Völkerrechts geschehen. Wenn die Bevölkerung „von der humanitären Katastrophe verzehrt“ sei und „entfremdet durch die wahrgenommene Gleichgültigkeit gegenüber ihrer Not“, dann werde es „keine Partner für den Frieden“ geben, warnte Blinken im Hinblick auf die Zeit nach dem Krieg.[12]
Kein Ende der Gewaltspirale
Die Bundesregierung weist derlei Überlegungen zurück. Bundeswirtschaftsminister Robert Habeck erklärte in der vergangenen Woche explizit: „Es ist jetzt nicht die Zeit, über Frieden zu reden.“[13] Habeck positionierte sich damit gegen die jüdische Schriftstellerin Deborah Feldman, die in einer TV-Talkshow mit Blick auf die hohe, schnell steigende Zahl ziviler Todesopfer im Gazastreifen erklärt hatte: „Es gibt eine erhebliche Stimme in der [jüdischen, d. Red.] Diaspora, die nach einem Ende der Gewaltspirale schreit. Ich gehöre dazu.“ „Wenn diese Eskalation der Gewalt nicht beendet wird“, warnte Feldman, dann „erleben wir möglicherweise eine dramatische, gefährliche Entwicklung“ – und das nicht nur „in unserer Gesellschaft“, sondern auch „in der Welt“, „die wir nicht mehr in den Griff bekommen“. Habeck lehnte Feldmans Warnung „politisch“ eindeutig ab: „Als politische Haltung schließt sich das für mich aus.“[14] Deutschland werde Israel weiter im Krieg unterstützen, nicht zuletzt mit Waffenlieferungen (german-foreign-policy.com berichtete [15]).
Sanitätsdienstliche Unterstützung
Aktuell ist die Bundesregierung mit Israel über medizinische Hilfen für Israel im Gespräch. Auf die Frage, ob es zutreffe, dass „Deutschland um ein Lazarettschiff gebeten worden sei ..., um die Verletzten aus dem Gazastreifen zu behandeln“, bestätigte ein Regierungssprecher am vergangenen Freitag, Berlin „prüfe“ derzeit“ „nach Kräften, was wir anbieten können“.[16] Ein „Lazarettschiff“ besitze die Deutsche Marine allerdings nicht. Eine Sprecherin des Verteidigungsministeriums erläuterte, es sei „kein Geheimnis“, dass „wir mit Israel in einem engen Austausch stehen und insgesamt über sanitätsdienstliche Unterstützung sprechen“. Die drei Einsatzgruppenversorger der Marine verfügten „über unterschiedliche sanitätsdienstliche Möglichkeiten“. Einer von ihnen, die Frankfurt am Main, befindet sich derzeit im östlichen Mittelmeer. Auf die Frage, ob die Marine eventuell „medizinische Hilfsleistungen für im Gazastreifen verwundete Palästinenser“ durchführen werde, erklärte ein Regierungssprecher: „Das ist mir nicht bekannt.“[17]
Quellen
[1] ‘Unceasing Death, Destruction, Suffering’ of Russian Federation’s War on Ukraine Must End, Senior Humanitarian Affairs Official Tells Security Council. press.un.org 31.10.2023.
[2] Jack Khoury: Gaza Aid Groups Struggle to Estimate Extent of Destruction. They Say It’s Never Been Worse. haaretz.com 03.11.2023.
[3] Charles R. Davis: More UN aid workers have been killed in Gaza in the last few weeks than in all previous wars between Israel and Hamas combined. businessinsider.com 02.11.2023.
[4] Nadeen Ebrahim, Abeer Salman: Surgery without drugs, patients piling up: Gaza’s hospitals overwhelmed amid Israeli strikes and fuel shortages. edition.cnn.com 02.11.2023.
[5] Israel’s attacks on Gaza refugee camp may amount to war crimes, UN human rights office says. cbc.ca 01.11.2023.
[6] Ben Samuels: Israel’s UN envoy slams WHO for ‘bias and double standards’. haaretz.com 04.11.2023.
[7] Andrew Carey, Tara John, Kevin Flower: Israel admits airstrike on ambulance near hospital that witnesses say killed and wounded dozens. edition.cnn.com 04.11.2023.
[8] UN chief warns humanitarian law not ‘an a la carte menu’ in Israel-Hamas war. ynetnews.com 31.10.2023.
[9] S. dazu Berlin und der Putsch (II).
[10] Bei den Ländern handelt es sich um Guatemala und Paraguay sowie um Fidschi, die Marschallinseln, die Föderierten Staaten von Mikronesien, Nauru, Papua-Neuguinea und Tonga. Die vier EU-Staaten sind Österreich, Tschechien, Ungarn und Kroatien.
[11], [12] Matthew Lee, Eric Tucker: Blinken warns Israel that humanitarian conditions in Gaza must improve to have ‘partners for peace’. apnews.com 03.11.2023.
[13], [14] Marko Schlichting: „Es ist jetzt nicht die Zeit, über Frieden zu reden“. n-tv.de 02.11.2023.
[15] S. dazu Waffen für Israel und Einsatz im östlichen Mittelmeer.
[16], [17] Regierungspressekonferenz vom 3. November 2023. bundesregierung.de 03.11.2023.
Ist objektive Berichterstattung in Kriegszeiten überhaupt möglich?
Ein Bild sagt mehr als tausend Worte. Nach diesem Motto fluten aktuell Kriegs- und Protestbilder unsere Nachrichten. Täglich sehen wir Bomben, Blut und Aggressionen. Souverän wirkende Journalisten sind um Faktentreue bemüht, bieten objektive Nachrichten und ordnen Geschehnisse ein. Sie präsentieren uns Täter und Opfer, Aggressoren und Verteidiger, Feinde und Alliierte, Terroristen und Freiheitskämpfer.
Diese Zuschreibungen geben uns Orientierungshilfe und sie verleihen Nachrichtensendungen wie der „Tagesschau“ oder Kommentatorinnen wie Julia Ruhs Einfluss. Denn egal bei welchem Thema – Krieg, Migration oder Protest, ihre Informationen formen unsere Meinung, und ihre Bilder haben Deutungsmacht. Das ist gut, das ist ihr Job.
Denn Nachrichten brechen komplexe Zusammenhänge herunter, vermitteln, was wichtig ist, und ordnen ein. Hier scheint aber die Frage berechtigt: Geht das überhaupt objektiv? Ist nicht jede Einordnung auch ein Werturteil, jeder Fakt ein Statement und jede Auslassung eine Stellungnahme?
Das sind wichtige Fragen. Vor allem in Kriegs- und Krisenzeiten gehen die oft unter.
Kürzlich fragte die Süddeutsche Zeitung (SZ) immerhin nach der Macht der Bilder. Im Beitrag „Krieg im Fernsehen: Die trübe Evidenz der Bilder“ ist ihr Fazit kritisch. Zwar gebe es einen Unterschied zwischen dem „propagandistischen Stakkato“ sozialer Medien und der „erzählerischen Instanz“ der Kriegsberichterstattung großer Sender. Trotzdem entstehe nach einer Woche Nachrichtenkonsums über den Krieg in Israel und Gaza „ein merkwürdiges Verhältnis von Sichtbarkeit und Unsichtbarkeit, von Evidenz und Interpretation“.
Denn wie jeder Krieg ist auch dieser Teil der Choreografie der Fernsehnachrichten. Das heißt, alle Bilder werden produziert, ausgewählt und in Szene gesetzt.
Zufälle gibt es kaum. So wird jeder Krieg – auch der in der Ukraine – eine mediale Inszenierung, die es zu hinterfragen gilt. Dasselbe gilt wohl für die tausend Worte, die diese Inszenierung tragen.
NDR-Dokumentarfilm „Deutsche Schuld – Namibia und der Völkermord“
Wie kompliziert die Beziehung zwischen Geschichte, Gegenwart und medialer Darstellung ist, zeigt ein anderer Fall an einem anderen Ort. Ende September strahlte der Norddeutsche Rundfunk (NDR) den Dokumentarfilm „Deutsche Schuld – Namibia und der Völkermord“ aus. Er soll die Folgen deutscher Kolonialgeschichte zeigen. Es gehe um „Ungeheuerliches“, um „Schuld“ und „Vergebung“, so die Kurzbeschreibung. Das sind schwierige Themen und hohe Ziele. Leider verfehle der Film beides, meinen die 170 Erstunterzeichner:innen eines offenen Briefes an den NDR.
Der Film sei „eine oberflächliche, in allen wichtigen Fragen völlig unreflektierte und bei vielen Sachdarstellungen faktisch falsche Präsentation“ geschichtlicher Gegenwart, so die harte Kritik. Hinter ihr stehen Wissenschaftler, Historiker und der einstige deutsche Botschafter in Namibia. Seit Jahren arbeiten sie für die Aufarbeitung deutsch-namibischer Geschichte. Diese kennen sie im Detail und gehen im Brief Punkt für Punkt durch, was die Doku nicht oder falsch darstellt.
Eine Blamage für den NDR, vor allem weil der Film intern wohl als Marketing-„Flaggschiff“ gehandelt wird.
Am Ende zeigt aber auch dieses Beispiel, wie schwer die mediale Darstellung sozialer Komplexität ist.
Das heißt, im Kampf um Zuschauer erzählt selbst ein Film nicht unbedingt mehr als tausend Worte.
Erstveröffentlichung berliner-zeitung
Die Quellen des Antisemitismus und die Zukunft Israels und Palästinas
In den Gräueltaten der Hamas habe sich die tödliche Fratze des Antisemitismus gezeigt. Nun müsse Israel die volle Rückendeckung für jede Art von Gegenschlag zukommen, auch wenn das fatalerweise das Leben zehntausender palästinensischer Zivilisten koste. Dass die Linken sich hinausreden wollten auf die politisch-historischen Faktoren von Völkerhass und Mordbrennerei im Nahen Osten und die fundamentale Mitverantwortung des Westens, zeige nur die moralische Verworfenheit dieser Linken. So trommelt es in den Medien in Begleitung der Hamas-Überfälle und der israelischen Großoffensive gegen Gaza.
Doch ohne eine Analyse der historischen Prozesse hin zur Staatsgründung Israels und der bis heute dauernden Verhinderung der Rechte der Palästinenser auf eine eigenständige demokratische Entwicklung sind weder die Schuldfrage zu klären noch die Möglichkeiten zu einer friedlichen, humanitären Lösung.
Sem, Ham und Jafet – Noahs Söhne die Urväter der Völker der Erde?
Dass es bei Semitismus um Völkerkonflikt geht, entspringt der jüdischen Schöpfungsgeschichte. Danach entstanden die Völker im Anschluss an die Sintflut-Katastrophe als biologische Abstammungen der Söhne Noahs: Sem in der asiatischen Region, Ham in der afrikanischen und Jafet nördlich des Desasters, in Kleinasien, Europa. Juden und Araber sind mithin gleichermaßen Semiten. Die Thora hat die Juden ins Zentrum der damaligen Welt gesetzt, anderthalb tausend Jahre vor Christi Geburt keine Überraschung, ebenso wenig wie dies die Identifizierung der biologischen Einheit mit ihrem religiös-kulturellen Gehalt sein kann. Jude ist man erstens wegen seiner biologischen Abstammung, und zweitens wegen seines Glaubens. Dies ist eine ethnische, eine rassistische Festschreibung, da der eigene Gott über aller Kreatur steht und ein religiöses Monopol besitzt: „Du darfst keine fremden Götter neben mir haben.“ Ob Philo-, Anti- oder bloß Semitisch – jedes dieser Etikette ist rassistisch. Die Ethnologie hat die primitiven Urformen der Völkerlehre der Thora längst hinter sich gelassen, doch wirken die Folgen rassistischer Dünkel und Prärogativen so schlimm wie eh. In der Shoah haben sie sich in der unmenschlichsten Weise materialisiert und deutsche Medienpropaganda versucht beharrlich, aber vergebens, die Hamas-Überfälle in den Rang dieses deutschen Jahrtausendverbrechens der industriellen Vernichtung der ethnischen Minderheit der Juden zu heben.
Die Mutter des Antisemitismus: Das christliche Abendland – Juden vertreiben, ghetoisieren, vernichten
Dass die abrahamitischen Religionen Judentum, Christentum, Islam alle auf denselben religiösen Ahnherrn Abraham zurückgehen, hat sie nicht etwa einander nähergebracht, sondern im Gegenteil in oft tödliche Konkurrenz zueinander. Das Lebensrecht der einen implizierte die Leugnung des Existenzrechts der anderen. Die Juden warten bis heute auf den „Messias“, den Erlöser von aller menschlichen, religiösen und gesellschaftlichen Pein, während die „Christen“ (`Christus` ist das griechische Wort für das hebräische `Messias`) in Jesus von Nazareth den Erlöser bereits gekommen sehen, den die jüdische Elite im Zusammenspiel mit der Kolonialmacht Rom ermordete. Für die Christen sind die Juden die Mörder des Gottessohns, für den Islam ist Jesus ein Prophet unter anderen, kein Teil Gottes.
Während für die Juden die Religion vererbt wird, machten sich die Christen von Anfang an ans Missionieren und Konvertieren, besonders intensiv nach der Zerstörung des Tempels in Jerusalem 70 n.Chr., der zur Zerstreuung der Juden in alle Welt führte. Im 4. Jahrhundert n.Chr. hatten es die Christen im Römischen Reich zur religiösen Mehrheit und kulturellen Hegemonie gebracht. In Rom und bei den Päpsten galt der Grundsatz des heiligen Augustinus, wonach die Juden als historische Zeugen der Geschichte Jesu nicht vernichtet werden dürfen, aber als Ungläubige und schuldiges Volk bestraft werden müssen. In Ost-Rom, Byzanz, wurden sie offen verfolgt – entweder sie konvertierten oder wurden massakriert. Mit den im 11. Jahrhundert beginnenden Kreuzzügen stellte sich der christliche Westen nicht nur gegen den aufstrebenden Islam, es ging von Anfang an auch um die Beseitigung der „Ungläubigen“ im „Heiligen Land“ und auf dem Weg dorthin. In seinem Aufruf zum Kreuzzug hatte sich Papst Urban II. mit diesen Worten an „das Volk der Franken“ gewandt: „Ihr Volk nördlich der Alpen, ihr seid, wie eure vielen Taten erhellen, Gottes geliebtes und auserwähltes Volk, herausgehoben aus allen Völkern durch die Lage des Landes, die Katholizität des Glaubens und die Hochschätzung für die heilige Kirche…Aus dem Land Jerusalem und der Stadt Konstantinopel kam schlimme Nachricht..: Das Volk im Perserreich, ein fremdes Volk, ein ganz gottfernes Volk, eine Brut von ziellosem Gemüt und ohne Vertrauen auf Gott, hat die Länder der dortigen Christen besetzt, durch Mord, Raub und Brand entvölkert und die Gefangenen teils in sein Land abgeführt, teils elend umgebracht.“ (Papst Urban II. – Aufruf zum Kreuzzug. www.geschichte-abitur.de/quellenmaterial/islam-und-christentum)
Dem christlichen Papst ging es keineswegs nur um Glaubensfragen. Die Kreuzzüge waren vom ersten Tag an ein Instrument der Kolonisierung des Orients zugunsten der großen Länder „unserer Werteordnung“. „Denn dieses Land“, spricht Urban II. zu den Franken, „in dem ihr wohnt, ist allenthalben von Meeren und Gebirgszügen umschlossen und von euch beängstigend dicht bevölkert…Tretet den Weg zum Heiligen Grab an, nehmet das Land dort dem gottlosen Volk, macht es euch untertan…Die Bibel sagt, dass dort Milch und Honig fließen. Jerusalem ist der Mittelpunkt der Erde, das fruchtbarste aller Länder, als wäre es ein zweites Paradies der Wonne.“ Die Christen setzten sich anstelle der Juden auf den Platz von Gott auserwähltem Volk.
Neben dieser Verbreitung des Christentums ferro ignique, mit Feuer und Schwert, nahm die Hetze und Diskriminierung in den christlichen Ländern gegen die Juden ständig zu. Auf der venezianischen Insel Ghetto wurden die Juden ins „Ghetto“ gesperrt, Vorbild für hunderte ähnliche Unternehmen in fast allen christlichen Ländern. 1449 erließ Spanien das Gesetz der „Reinheit des Blutes“, das die Juden als „im Blut“ anders- und bösartig ansah, die Konversion zum Christentum verbot und die Juden aus Spanien vertrieb. Ähnliche, aber weniger umfassende Vertreibungen waren zuvor in England und Frankreich geschehen. In Deutschland rief Martin Luther zur Zerstörung alles Jüdischen auf. Für Luther sind die Juden das „Volk der Lügner“. „Ein solch verzweifeltes, durchböstes, durchgiftetes, durchteufeltes Ding ist´s um diese Juden, so diese 1400 Jahre unsere Plage, Pestilenz und alles Unglück … sind.“ (Martin Luther, Von den Juden und ihren Lügen, Weimarer Ausgabe 53,1543, S. 412-552) Sein Stoßseufzer „wenn ich könnte, würde ich sie … in meinem Zorn mit dem Schwert durchbohren“, sprach vielen seiner christlichen Brüder und Schwestern aus dem Herzen, denn sie waren bei Juden verschuldet, deren Gewerbe auf den Handel, vor allem auf den Geldhandel beschränkt war. Juden durften weder als Bauern noch als Handwerker ihr Dasein fristen. Jeder Judenmord konnte daher auch einen Schuldenerlass für die Mörder bedeuten.
Das Fixieren der Juden auf Handels- und Finanzberufe führten in der beginnenden kapitalistischen Industrialisierung zu einer enormen Aufwertung einzelner großer jüdischer Geldhäuser. Der Nazi-Propagandist Hitler schreibt 1924 in „Mein Kampf“, dass in dieser Phase „die jüdische Einflussnahme auf wirtschaftliche Belange über die Börse nun unheimlich schnell“ anwachse (Adolf Hitler, Mein Kampf, S. 345. https://archive.org/details/Mein.Kampf2/mode/2up). Es ist nicht das Kapital verantwortlich für die Misere der Arbeiterklasse, sondern die Juden seien verantwortlich, die „immer nur Parasit im Körper anderer Völker“ gewesen seien. So wie sie früher „das Bürgertum als Sturmbock gegen die feudale Welt“ benutzt hätten, benutzten sie „nun den Arbeiter gegen die bürgerliche“. Der Marxismus „schreit dabei immer gegen das internationale Kapital und meint in Wahrheit die nationale Wirtschaft. Diese soll demoliert werden, damit auf ihrem Leichenfeld die internationale Börse triumphieren kann.“ (A.a.O., 350) Für die deutschen Nazis missbrauchten und missbrauchen die Juden mit dem von ihnen erfundenen Marxismus „das in jedem arischen Menschen irgendwie schlummernde Bedürfnis nach sozialer Gerechtigkeit“, wobei sie „in unendlich kluger Weise zum Hass gegen die vom Glück besser Bedachten“ aufwiegeln und „dabei dem Kampfe um die Beseitigung sozialer Schäden ein ganzbestimmtes weltanschauungsgemäßes Gepräge“ geben. Dem Faschismus geht es nicht um die Überwindung des Kapitalismus, sondern um die Emanzipation des nationalen vom internationalen, angeblich jüdisch dominierten Kapital. Der Antisemitismus erweist sich als überaus nützlich als Legitimation der Höherschätzung der eigenen Volksgruppe und der Interessenvertretung der nationalen Kapitale.
Ethnos als Nation in Europa und USA – die völkische Stigmatisierung ethnischer Minderheiten bis hin zum Genozid der Nazis
Zeitgleich mit der Industrialisierung entwickelten sich in Europa und den USA die Nationalstaaten. Ihre Gründungen formierten sich nach den Prinzipien von Ethnos und Demos. Beim ethnischen Prinzip stand die anthropologische Gemeinsamkeit der Volksgruppe im Vordergrund, beim Demos der politisch-kulturelle Inhalt, auf den sich die Gruppe verständigt. In der deutschen Nationalhymne wird die anthropologische Gemeinsamkeit aller Deutschen „von der Maas bis an die Memel – von der Etsch bis an den Belt“ beschworen, dass dieses Deutschland „über alles in der Welt“ gehe, und als deutsche Werte werden „deutsche Frauen, deutsche Treue, deutscher Wein und deutscher Sang“ besungen. Nach dem Verständnis der Nazis ist der Staat „der lebendige Organismus zur Erhaltung und Vermehrung einer Rasse“, zu dessen Bildung die Juden als „Parasiten“ an fremden Völkern gar nicht fähig sind. Für Hitler geht es bei der zionistischen Forderung eines palästinensischen Staates nicht um die „völkische Selbstbesinnung des Juden“, sondern nur um eine neue Täuschung der „dummen Gojim“. „Sie denken gar nicht daran, in Palästina einen jüdischen Staat aufzubauen, um ihn etwa zu bewohnen, sondern sie wünschen nur eine mit eigenen Hoheitsrechten ausgestattete, dem Zugriff anderer Staaten entzogene Organisationszentrale ihrer internationalen Weltbegaunerei; einen Zufluchtsort überführter Lumpen und eine Hochschule werdender Gauner.“ (Hitler, a.a.O., S. 356)
Für die deutschen Nazis gab es weder Assimilation noch Vertreibung, weder eine Heimstatt Israel noch eine jüdische Nationalität im Rahmen eines anderen Staates, es lief für sie einzig und allein auf Vernichtung der Juden hinaus, was sie schließlich unter dem bezeichnenden Programm „Endlösung der Judenfrage“ in die Tat umzusetzen suchten. Der Antisemitismus in anderen Nationalstaaten wies nicht diese Eigenschaft eines staatlich organisierten Massenmords auf, verfolgte aber ebenfalls klare Diffamierungsregeln gegenüber Juden. In den USA setzten sich im dominanten Nordwesten die Regeln des Calvinismus durch, dessen Geist nach Max Weber auch den Kapitalismus prägte. (Max Weber, Die protestantische Ethik und der Geist des Kapitalismus. 1904/1905, Archiv für Sozialwissenschaften und Sozialpolitik, Bd. XX und XXI. Überarbeitete Fassung 1920.) Calvin vertrat die Ansicht, Gott habe in seiner Schöpfung von Anfang an zwei Gruppen von Gläubigen festgelegt, einmal die Erwählten, die es zur ewigen Seligkeit bringen würden, zum anderen die Verworfenen, die auf ewig verdammt blieben. (Quelle) Zu den Juden folgte Calvin der Auffassung Luthers, bei ihnen handele es sich um ein „durchböstes“, „durchteufeltes“ Volk. Sie waren nicht einmal Gläubige, und da Gott es fügte, dass sich Erwählt- oder Verworfensein schon auf Erden erweisen, gehörten nach der Logik Calvins die erfolgreichen Kapitalisten zu den Erwählten, während sich im Leiden der Juden deren Prädestination als mehrfach Verworfene zeigte. (Wilhelm H. Neuser, Prädestination. In: Herman J. Seidenhuis (Hrsg.), Calvin-Handbuch. Tübingen 2008, S. 307-317)
Ethnische Nationenbildung und puritanisch angetriebener Kapitalismus schufen Bedingungen, unter denen aggressiver Antisemitismus in faschistischen Genozid umzuschlagen drohte. Die Frage, ob und wie die Juden weiterleben könnten, wurde neu gestellt.
Der Zionismus: Antwort der Juden auf christlichen Kolonialismus, religiösen Hass und völkischen Nationalismus
Die Geschichte des jüdischen Volkes ist eine der gewaltsamen Vertreibung aus dem angestammten Land und der Verfolgung in der Diaspora. Die Exilierung in großem Maßstab fand jeweils nach den Zerstörungen des Tempels auf dem Tempelberg in Jerusalem statt, dem Zion. Darauf bezieht sich der Begriff Zionismus, ein Ausdruck für die Tempelstadt und die mit ihrem Wiederaufbau verbundene Erlösung des Judentums.
Im 6. Jahrhundert v. Chr. kam es zur „Babylonischen Gefangenschaft“, ein Großteil der Judäer wurden ins Exil nach Babylon verschleppt. Nachdem die Perser Babylon eroberten, konnten die meisten Juden nach Israel zurückkehren. Die zweite große Exilierung führten die Römer durch, die 70 n. Chr. den zweiten Jerusalemer Tempel zerstörten und viele Judäer nach Rom verbrachten. Im nächsten Jahrhundert verboten die Römer den Juden grundsätzlich das Bleiberecht in Jerusalem, Judäa wurde in „Syria Palästina“ umbenannt. Die in Palästina verbliebenen jüdischen Gemeinden wurden von den christlichen Kreuzfahrern dann im 11. Jahrhundert fast vollständig vernichtet.
Für die in alle Welt zerstreuten Juden gab es drei theoretische Möglichkeiten, deren Realisierung allerdings nicht allein und nicht überwiegend in ihren Händen lag: erstens die Assimilierung in die „Wirtsgesellschaft“; zweitens die Bildung einer möglichst autonomen Volksgruppe im Rahmen der größeren Nation; drittens die Rückkehr nach Israel, die Bildung eines eigenen Staates. Bis ins 20. Jahrhundert lehnten die meisten europäischen Juden den Zionismus, die Auswanderung nach Palästina und den Aufbau einer zionistischen Nation ab. Den orthodoxen Juden galt die Vorstellung einer zionistischen Nation vor der Ankunft des Messias als Gotteslästerung. Die liberalen Juden sahen sich durch den Zionismus in ihrem Kampf für Assimilation und mehr religiöse Toleranz und demokratische Rechte beeinträchtigt. Ihnen trat Moses Hess entgegen, der in der jüdischen Wiederbesiedlung Palästinas die Vorbedingung für den demokratischen Fortschritt des jüdischen Volkes sah: „Bei den Juden weit mehr noch als bei den Nationen, die auf ihrem eigenen Boden unterdrückt sind, muss die nationale Selbständigkeit jedem politisch-sozialen Fortschritt vorausgehen.“ Hess` „Rom und Jerusalem. Die letzte Nationalitätenfrage“ erschien 1862 und fand nach und nach große Zustimmung bei Anhängern eines sozialistischen Zionismus, geistiges Fundament der späteren KIbbuz-Bewegung und der israelitischen Arbeiterpartei. (Moses Hess, Rom und Jerusalem, die letzte Nationalitätenfrage. https://sammlungen.ub.uni-frsnkfurt.de/freimann/urn/urn:nbn:de:hebis:30.1-10-107637)
Gründung des Staates Israel – die Palästinenser warten noch heute auf ihren Staat
Nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs, als die Gräuel des deutschen industriellen Massenmordes an sechs Millionen Juden bekannt wurden, wuchs die internationale Unterstützung für den Zionismus. Im November 1947 beschlossen die Vereinten Nationen die Teilung Palästinas in einen jüdischen und einen arabischen Teil. Jerusalem, für beide Seiten ihre „heilige Stadt“, sollte unter UN-Verwaltung kommen. Die Briten kassierten ihr Versprechen an die Araber, für die Unterstützung gegen die deutschen Truppen nach dem Krieg ein autonomes Groß-Arabien zu gestalten. Stattdessen sollte ein Israel aufgebaut werden als Vorposten gegen vereinzelt gehaltene arabische Staaten. 1947 legte ein Beschluss der Vereinten Nationen die Zwei-Staaten-Lösung im Palästina-Gebiet fest, Israel für die Juden, Rest-Palästina für die Palästinenser. Die jüdischen Organisationen akzeptierten den Plan, die arabischen lehnten ihn ab. Im Mai 1948 verlas Ben Gurion die israelische Unabhängigkeitserklärung, nachdem die letzten britischen Kolonialtruppen das Land verlassen hatten. In derselben Nacht noch erklärten Ägypten, Saudi-Arabien, Jordanien, Libanon, Irak und Syrien dem neuen Staat den Krieg. Der „Palästinakrieg“ führte zu einer 50prozentigen Erweiterung des israelischen Gebietes. Israel konnte die folgenden zahlreichen militärischen Auseinandersetzungen mit arabischen Gegnern siegreich oder mindestens ausgeglichen gestalten. Dieses Grundgefühl der Sicherheit im eigenen Staat wurde zerfetzt am 7. Oktober 2023, als Hamas-Kämpfer ohne großen Widerstand im Süden Israels einfallen und Terror und massenhaftes Morden an Juden entfalten konnten.
Der Hauptschuldige am Versagen der israelischen Sicherheitsorgane ist die rechtsextreme Netanjahu-Regierung. Am Ende des Sechstagekrieges 1967 hatte Israel den Gazastreifen, die Sinai-Halbinsel, die Golanhöhen, das Westjordanland und Ost-Jerusalem besetzt. 1994 kam es zur teilweisen Unabhängigkeit Palästinas in den von Israel freigegebenen Gebieten: Westjordanland und Gaza mit Ostjerusalem als Hauptstadt. 2007 zerfiel dieses Konstrukt – die bei den letzten gemeinsamen Wahlen etwa gleich starken Kräfte Fatah und Hamas setzten sich in den verschiedenen Regionen durch, die Fatah im Westjordanland, die Hamas im Gazastreifen. Netanjahu-Israel ließ die Mittelsmänner aus Katar ungehindert in den Gazastreifen, die der Hamas die Geldmittel in die Hand gaben, die sie offenkundig weniger zur Versorgung der Bevölkerung nutzten als vielmehr zur eigenen militärischen Aufrüstung, Die eigenen Sicherheitskräfte konzentrierte Israel gegen die Palästinensische Autonomiebehörde im Westjordanland und gegen die Hisbollah an der Grenze zum Libanon. Die blutige Quittung kam am 7.10.2023.
Die Hamas töte 1400 Israelis und verschleppte 240 Geiseln. Die von der Hamas beabsichtigte Antwort der Israelis war barbarisch. UNICEF meldet über 3400 tote palästinensische Kinder durch die israelischen Angriffe mit Bombern, Raketen und Panzern. Der Gazastreifen war im Süden, Norden und im Westen abgeriegelt, im Westen liegt das Mittelmeer und dort die israelische und die US-Marine. Den zwei Millionen Palästinensern in Gaza wurde Wasser, Energie und Nahrung abgeschnitten, die schmale Küstenregion wurde gerade in den zivilen Zentren intensiv bombardiert; als Begründung wurde angegeben, die Hamas lokalisiere ihre Hauptquartiere unter zivilen Einrichtungen, vor allem unter Krankenhäusern. Es muss sehr viele Hauptquartiere der Hamas geben. 7000 tote Zivilisten werden unter der Gaza-Bevölkerung bis Ende Anfang November 2023 gezählt, Zehntausende verwundet, Hunderttausende auf der Flucht.
Sechs Lehren aus dem aktuellen Nahost-Konflikt
- Der mörderische Überfall der Hamas auf Israel ist durch nichts zu rechtfertigen. Er ist, das strategische Kräfteverhältnis betreffend, sinnlos. Er sollte die falsche Sicherheitspolitik Israels demonstrieren und unmäßige Gegenschläge provozieren, um so die Weltmeinung gegen Israel zu stimmen. Die Vorstellung, mit Terrormaßnahmen ein unabhängiges Palästina zu erreichen, ist absurd. Es braucht den Druck der Vereinten Nationen, aller fortschrittlichen politischen Kräfte, um endlich die fast 80 Jahre UN-Resolution zu realisieren, dass auch die Palästinenser ihren eigenen Staat erhalten. Die von der Fatah dominierte Palästinensische Autonomiebehörde akzeptiert die Koexistenz mit Israel und strebt einen säkularen Staat an, während die Hamas das Existenzrecht Israels leugnet und einen islamischen Gottesstaat gründen will. Umso irrwitziger ist das Verhalten der israelischen Regierung, im Westjordanland, das der Palästinensischen Autonomiebehörde zugesprochen ist, bisher über 000 israelische Siedler unterzubringen, die sich dort auf dem Eigentum von Palästinensern niederließen. Aktuelle Umfragen ergeben, dass die Mehrheit der Palästinenser heute die Hamas der Fatah vorziehen, obwohl das Durchschnittseinkommen im Fatah-regierten Westjordanland fast viermal so hoch ist wie im Hamas-regierten Gazastreifen. Die offensive Siedlungsstrategie der Israelis und die Korruption und das Stillhalten der Palästinensischen Autonomiebehörde treiben immer mehr Palästinenser ins Lager der dschihadistischen Hamas.
- Dass die Netanjahu-Regierung mit ihrer Strategie der lange währenden Toleranz gegenüber der Hamas und der gleichzeitigen Demolierung der Palästinensischen Autonomiebehörde jede Friedensregelung hintertrieben hat, macht ihre unmäßige militärische Reaktion gegen die Zivilbevölkerung in Gaza umso barbarischer. Israel muss zu einem Waffenstillstand gezwungen werden. Die jetzt noch knapp zwei Millionen Palästinenser in Gaza haben keine Möglichkeit, aus ihrem Landstreifen zu entkommen. Ägypten hält die Südgrenze dicht, Israel die drei anderen Seiten. Das israelische Argument, man müsse leider Zivilbevölkerung vernichten, weil sich Hamas-Kämpfer hinter diesen versteckten, ist eine zynische Mörderformel. Dieses Vorgehen ist völkerrechtlich ausdrücklich verboten. Betreibt Israel weiter diese Strategie des Völkermords, werden die arabischen Länder gedrängt, in den Krieg einzugreifen. Die USA liegen bereits mit zwei Flugzeugträgern vor der Küste. Ein großer Krieg kann bevorstehen.
- Dass von der Linken Israel als kolonialistischer und imperialistischer Vorposten angesehen wird, hat nichts mit den Intentionen der jüdischen Staatsgründer oder der heutigen Juden zu tun. Es ist die objektive Funktion Israels als größter landgestützter Flugzeugträger der Welt, ständig bereit zum militärischen Eingriff oder zur ständigen Drohung durch die USA und dem von ihnen geführten Westen.
- Die USA behandeln das Problem als mehr oder weniger zugunsten eines einzigen Staates Israel zu lösen. 2017 erkannte der damalige Präsident Trump Jerusalem als Hauptstadt Israels an und errichtete dort die US-Botschaft. 2020 legte er mit dem israelischen Premier Netanjahu einen „Friedensplan“ vor, den die Palästinensische Autonomiebehörde sofort ablehnte. Der Plan sah die Anerkennung eines ungeteilten Jerusalems als Hauptstadt Israels vor, die Legitimierung der israelischen Siedlungen im Westjordanland und die Annexion des Jordantals durch Israel. Der Plan missachtete völlig die durch mehrere UN-Beschlüsse bestätigten Ansprüche der Palästinenser.
- Die Vereinigten Arabischen Emirate, Bahrain, Marokko und Sudan haben im Anschluss an den „Friedensplan“ diplomatische Verträge mit Israel abgeschlossen. Die meisten arabischen Staaten sehen sich in der Pflicht den Palästinensern gegenüber. Mohammed bin Salman, Kronprinz und Herrscher von Saudi-Arabien, verurteilte die Angriffe auf Zivilisten in Gaza als „abscheulich“ und sah „gefährliche Auswirkungen“ voraus, wenn die Lage weiter eskaliere. Mit dem früheren Erzfeind Iran, nach der Vermittlung durch China wieder Gesprächspartner, tauschte er sich über Gaza aus. Der türkische Präsident Erdogan erklärte: “Die Hamas ist keine Terrororganisation, sondern eine Widerstandsgruppe, die kämpft, um ihr Land und ihr Volk zu schützen:“
- Wie wird es weitergehen? Wie der Ukrainekrieg kann auch der Nahostkonflikt nur im Rahmen der geopolitischen Auseinandersetzung begriffen werden. Es stehen Länder des Globalen Südens, vor allem die muslimischen Länder, die die Seite der Palästinenser vertreten, dem Westen gegenüber, der sich mit der US-Regierung und der EU-Kommission fast vorbehaltlos an die Seite Israels gestellt hat. Die USA haben im UNO-Sicherheitsrat als einziger Staat ihr Veto eingelegt gegen den von Brasilien eingebrachten Antrag, eine „humanitäre Pause“ für Hilfslieferungen nach Gaza einzulegen. Die Begründung der USA: Die Resolution berücksichtige nicht Israels Recht auf Selbstverteidigung.
Sollte der russische Überfall auf die Ukraine manche im Globalen Süden in ihrer Haltung haben schwanken lassen, der Zynismus der Westeliten – „die Ukrainer besitzen eine Menschlichkeit, die den Palästinensern fehlt“, Spiegel-Zitat eines lateinamerikanischen Politologen – hat den Süden in der Ablehnung der Propaganda des Westens vereint.
Schon die Sanktionen des Westens gegen Russland wegen dessen Angriffskrieges haben viele der Länder des Globalen Südens nicht gebilligt. Jetzt werden sie weitere Massaker an der Zivilbevölkerung in Gaza nicht tatenlos hinnehmen. Es ist auch längst nicht mehr nur eine Frage der Regierungen, es treibt gerade in den muslimischen Ländern die Menschen auf die Straße, es wird zu einer Kernfrage im globalen ideologischen Kampf.
Israel, politische Heimstatt einer fast weltweit verfolgten ethnisch-religiösen Minderheit, ist dabei, seinen großen moralischen Kredit zu verspielen. Israel und der Westen müssen dazu gebracht werden, den palästinensischen Gegenüber völkerrechtsgemäß und menschlich zu behandeln.
Als erstes braucht der Nahe Osten eine Feuerpause, als nächstes Verhandlungen, in die, wie es schon mit Camp David 1 und Camp David 2 möglich war - Israelis und Palästinenser und möglichst viele arabische Staaten einbezogen werden. Initiativen in diese Richtung werden weder von der Hamas noch von der Netanjahu-Regierung ausgehen.
Der Sicherheitsrat der UN und ihr Generalsekretär sind die berufenen Mediatoren. Gründen müssen diese Aktionen auf einer prinzipiellen Verständigung der weltpolitischen Antipoden USA und China.
Die Chinesen sind mit Sicherheit dazu bereit, die USA werden umso offener für eine solche Lösung sein, je akuter der Präsidentschafts-wahlkampf wird.
Gewerkschaftstag IG Metall: »Grünes Herz aus Stahl«
Die IG Metall ringt um Position in der Transformation der Industrie
Mit einer fulminanten Rede hat die neue Vorsitzende der IG Metall, Christiane Benner, den Gewerkschaftstag gerockt: Sie wandte sich gegen gewerkschaftsfreie Zonen, »selbst auf dem Mars, Herr Musk«, machte sie vom Podium gegen die gewerkschaftsfeindliche Politik des US-Unternehmens Tesla mobil. Und sie sprach sich für den Erhalt der Industrie in Deutschland aus – »mit unserem grünen Herz aus Stahl«, wie sie den Delegierten zurief. Damit verwies sie auf die derzeitige Kampagne der IG Metall für staatliche Subventionen für die ökologische Transformation und einen günstigen Industriepreis.
Für Demokratie und demokratischen Zusammenhalt stehe sie als neue Vorsitzende, für Frieden und gegen rechts. Das scheint auch unter den Delegierten unstrittig zu sein. Davon zeugte eine Aktion, bei der Schilder mit der Aufschrift »Refugees welcome!« hochgehalten wurden, womit die Delegierten auf die Rede von Bundeskanzler Scholz am Dienstag reagierten, der seinen Vorstoß, mehr Abschiebungen durchsetzen zu wollen, als Realismus verkaufte.
Doch jenseits solcher Aktionen wurden die Herausforderungen für die Gewerkschaft offenbar:
Benner setzte den Kampf gegen rechts auf die Agenda, auch weil viele Gewerkschaftsmitglieder die AfD gewählt hatten. Zudem ist die IG Metall einerseits Teil der Friedensbewegung, andererseits vertritt sie die Beschäftigten der Rüstungsindustrie. Und auch das Bündnis mit den Umweltverbänden ist angesichts der Orientierung auf Elektroautos als Ersatz für Verbrennerfahrzeuge brüchig und regional kaum belastbar.
Einstweilen lobte Wirtschaftsminister Robert Habeck als Gastredner ebenso wie Scholz und Arbeitsminister Hubertus Heil die Gewerkschaft und umgarnte sie: Deutschland müsse den Kampf um die industrielle Wertschöpfung gewinnen, um den Wohlstand und den Wettbewerbsstandort zu erhalten. Die Gewerkschaften hätten SPD und Grüne fest an ihrer Seite, unterstrichen die Spitzenpolitiker.
Gewerkschaftschefin Benner griff das auf und wandte sich gegen angedrohte Betriebsverlagerungen. »Subventionen darf es nur geben, wenn Verpflichtungen zu Standort, Beschäftigung, Ausbildungsplätzen und Tarifbindung gegeben sind«, forderte sie. Mit Blick auf die globale Blockbildung betonte sie zudem: »Keine öffentliche Förderung ohne Verpflichtung zur Wertschöpfung in unserem Land!« Formen des Protektionismus, die Benner aber nicht als solche verstanden wissen wollte.
Ähnlich klingt es mit Blick auf die Gewerkschaftskampagne für einen Brückenstrompreis. Während Scholz sprach, unterstrichen Delegierte ihre Forderung nach einer zeitlich befristeten Subvention für Industriestrom mit einem Transparent auf der Bühne. Der Kanzler hielt sich dazu jedoch bedeckt: Man prüfe derzeit die Möglichkeiten, auch um nicht gegen EU-Wettbewerbsrecht zu verstoßen.
Dekarbonisierung und Transformation der Autoindustrie sind Herausforderungen – auch für die Gewerkschaft. Der Anteil des Autos an den Treibhausgasemissionen ist zu hoch und in den vergangenen Jahrzehnten nicht gesunken. Die Strategie der Autokonzerne, mit großen und schweren Autos hohe Renditen zu erzielen, hat in die schwere Krise geführt. So ist die Autoproduktion in Deutschland stark gesunken (von 5,7 Millionen Stück in 2017 auf 3,5 Millionen in 2022), ohne dass adäquate Alternativen aufgebaut worden wären. Die Folgen waren jahrelange Kurzarbeit, Personalabbau und Betriebsschließungen bei Volkswagen, Mercedes, Audi, Opel, Ford, Continental, Bosch und vielen kleinen Betrieben, die die Belegschaften verunsichern. Seit 2018 wurden in der Automobil- und Zulieferindustrie 60 000 Arbeitsplätze abgebaut.
Die IG Metall will deshalb umfassende Investitionen in neue Technologien und Infrastrukturen durchsetzen. Aber nicht ohne »einen langfristigen, verlässlichen und konsistenten Planungsrahmen zur Sicherung von Beschäftigung in der Transformation«, wie die Delegierten auf dem Gewerkschaftstag beschlossen. »Wer die Beschäftigten nicht mitdenkt und an Investitionen spart, gefährdet nicht nur den Klimaschutz, sondern auch den gesellschaftlichen Zusammenhalt«, mahnt die Gewerkschaft.
Wie die Industrie setzt auch die Metallgewerkschaft auf den Antriebswechsel zu Elektroautos, auf die »Konzertierte Aktion Mobilität«, auf Transformationsnetzwerke, wie sie beim Autogipfel im Kanzleramt vereinbart wurden: finanziert aus dem »Zukunftsfonds Automobil«. Allerdings ohne feste Zusammenarbeit mit der Umwelt- und Verkehrswendebewegung. Der IG Metall geht es vielmehr um den Erhalt der Autoindustrie, nicht um den öffentlichen Nahverkehr oder die Fahrradbranche, die beim Kongress nur beiläufig erwähnt wurden.
Die Planung der Transformation wird so in die Regionen verlagert. Aus Sicht der Beschäftigten entscheidet sich dort, ob der Wandel gelingt oder zu Arbeitsplatz- und Wohlstandsverlusten führen wird, heißt es aus der IG Metall. Das wirft auch in der Gewerkschaft grundsätzliche Fragen auf. »Ohne neuen Wohlstandsbegriff, ohne gesamtgesellschaftlichen Plan für die Verkehrswende wird das nicht funktionieren, sondern Stückwerk bleiben«, kritisierte der Delegierte Marc Treude aus Aachen, selbst Betriebsratsvorsitzender bei einem E-Auto-Hersteller. »Die notwendige Transformation muss gegen das Kapital durchgesetzt werden.«
Die weitreichendere Forderung nach einer Vergesellschaftung der Produktionsmittel wurde zwar auch dieses Jahr formuliert, der Antrag aber lediglich »als Material an den Vorstand« weitergeleitet – anders als in einer vergleichbaren Krise vor 40 Jahren. Da wurde auf dem Gewerkschaftstag ein solcher Beschluss zur Vergesellschaftung der Stahlindustrie gefasst, was jedoch schließlich nicht durchgesetzt werden konnte. Damals arbeiteten noch 230 000 Menschen in der Branche. Seither hat sich die Industrie stark verändert: 150 000 Beschäftigte weniger, Diversifikation, Fusionen und Konzentration.
Wenn die Gewerkschaft in der Zeit der Neuordnung der kapitalistischen Weltwirtschaft erfolgreich sein will – und das ist zu wünschen – muss sie ihre Politik autonom an den umfassenden Interessen der Beschäftigten entlang entwickeln. Dazu gehört die Autonomie, Kritik an der Regierung zu üben, sich aus ihrer Umarmung zu befreien, wenn diese die Reichen schont, die Klimaziele nicht ernst nimmt und in den Chor rechter Fremdenfeindlichkeit einstimmt. „Ein gutes Leben in Demokratie, in Solidarität und im Einklang mit der Natur“ will Vorstandsmitglied Hans-Jürgen Urban. Christiane Benner und ihr Vorstandsteam müssen jetzt beweisen, dass sie dem eigenen Anspruch gerecht werden können.
US-Wirtschaft im Aufschwung?
Die erste Schätzung des realen BIP-Wachstums in den USA für das dritte Quartal wurde gestern veröffentlicht. Demnach wuchs die US-Wirtschaft mit einer auf das Jahr hochgerechneten Rate von 4,9 %. Die Financial Times nannte dies ein "rasantes Tempo, das nicht zum ersten Mal düstere Vorhersagen von Ökonomen widerlegt". US-Finanzministerin Janet Yellen kommentierte: "Es ist eine gute, starke Zahl und zeigt eine Wirtschaft, der es sehr gut geht", und sie "erwartet nicht, dass das Wachstum in diesem Tempo anhält, aber wir haben ein gutes, solides Wachstum."
Die Unkenrufer (wie ich?) haben sich als falsch erwiesen. Man ist sich jetzt einig, dass die US-Wirtschaft mit großer Wahrscheinlichkeit einen Rückgang der Inflation auf das Niveau von vor der Pandemie erleben wird, ohne dass es zu einem Einbruch und damit zu einem erheblichen Anstieg der Arbeitslosigkeit kommt - mit anderen Worten: eine "sanfte Landung". Und unter der Annahme, dass diese erste Schätzung des Wachstums für das dritte Quartal in der zweiten Schätzung in einigen Wochen nicht deutlich nach unten korrigiert wird, scheint es, dass die US-Wirtschaft in diesem Jahr einen Einbruch vermeiden wird.
Es gibt jedoch einige Vorbehalte. Die Hauptwachstumsrate von 4,9 % ist eine auf das Jahr hochgerechnete Zahl, d. h. das vierteljährliche reale BIP-Wachstum im dritten Quartal lag eigentlich um 1,2 % über dem des zweiten Quartals, aber die US-Statistiker multiplizieren diesen Wert mit vier, um eine "annualisierte Rate" zu erhalten. Die Statistiken anderer großer Volkswirtschaften werden nicht auf diese Weise dargestellt. Dennoch handelt es sich um eine relativ starke Zahl, die mit Sicherheit schneller als die anderer G7-Wirtschaften sein wird. Der Anstieg im dritten Quartal 2022 (d. h. vor einem Jahr) betrug 2,9 % - immer noch höher als in anderen Ländern, aber nicht so verblüffend wie die annualisierte Zahl.
Woher kommt dieses Wachstum? Der größte Teil des schnelleren Wachstums im dritten Quartal kam 1) durch höhere Verbraucherausgaben für Gesundheit, Versorgungsleistungen und langlebige Güter, 1) durch einen Anstieg der Lagerbestände und 3) durch einen starken Anstieg der Staatsausgaben zustande.
Die amerikanischen Haushalte haben weiterhin mehr ausgegeben. Das liegt zum Teil daran, dass die Arbeitslosigkeit niedrig ist und die Amerikaner Arbeitseinkommen erhalten. Da die Inflationsrate zum ersten Mal seit zwei Jahren zurückgegangen ist, steigen die Reallöhne jetzt wieder an. Die Amerikaner nutzen auch ihre Ersparnisse, die sie während der Pandemie angesammelt haben, um ihre Ausgaben zu stützen. Doch diese "überschüssigen Ersparnisse" sind jetzt aufgebraucht.
Ausgaben treiben den Abbau der überschüssigen Ersparnisse voran
Infolgedessen häufen die Haushalte Schulden an (Kreditkarten usw.), um ihre Ausgaben aufrechtzuerhalten.
Kreditkartenverschuldung in den USA
Quelle: Federal Reserve, Game of Table
Daher ist es unwahrscheinlich, dass der US-Verbraucher in Zukunft viel zum realen BIP-Wachstum der USA beitragen wird.
Hinzu kommen die Lagerbestände oder der Bestand an unverkauften Waren. Im 3. Quartal trugen die Lagerbestände mit 1,3 Prozentpunkten zu der Gesamtwachstumsrate von 4,9 % bei. Daran erkennt man, dass der US-Verbraucher zwar immer noch mehr kauft, dass sich aber die unverkauften Verkäufe aufstauen und die Unternehmen die Produktion in Zukunft drosseln müssen, um die vorhandenen Bestände abzubauen.
Ein weiterer wichtiger Faktor für das Wachstum im 3. Quartal waren die staatlichen Ausgaben und Investitionen, die etwa 0,8 %-Punkte der 4,9 % ausmachten. In den vorangegangenen Quartalen war dieser Ausgabenanstieg für die Infrastruktur bestimmt. Im 3. Quartal kam es jedoch zu einem sehr starken Anstieg der Ausgaben für Waffen und andere militärische Aktivitäten.
Wachstum der US-Staatsausgaben in %, Jahresbasis
Betrachtet man nur die Haupttriebkräfte des Wirtschaftswachstums in einer kapitalistischen Wirtschaft, d. h. Konsum und Investitionen, so liegt die Wachstumsrate, auf Jahresbasis, weit unter 4,9 %.
Diese Kerntriebkräfte haben sich im dritten Quartal etwas erholt, aber wird sich dies im vierten Quartal und bis ins Jahr 2024 fortsetzen? Nun, das Wachstum des privaten Verbrauchs wird sich wahrscheinlich verlangsamen, da die "übersmäßigen Ersparnisse" verschwinden und steigende Zinssätze für Kredite und Kreditkarten die Haushalte zwingen, ihre Kreditaufnahme zu reduzieren. Und das gilt umso mehr für die Unternehmensinvestitionen, den produktiven Teil der Investitionen.
Veränderungen bei den Unternehmensinvestitionen sind seit jeher ein Indikator für das künftige Wachstum von Produktion und Beschäftigung - und nicht umgekehrt, wie Keynesianer argumentieren. Und im 3. Quartal kamen die Unternehmensinvestitionen zum Stillstand. In den vorangegangenen Quartalen waren es die Investitionen in neue Strukturen (Büros, Produktionsanlagen usw.), die dafür sorgten, dass die Unternehmensinvestitionen rund 1 % p.a. zum vierteljährlichen Wachstum beitrugen. Doch im 3. Quartal hat sich dies verflüchtigt.
Unternehmensinvestitionen
Beitrag zum BIB-Wachstum, Jahresbasis
Und warum? Aus zwei Gründen:
Erstens ist die Rentabilität von Investitionen in den produktiven Sektoren der Wirtschaft sehr gering, es sei denn, sie werden durch staatliche Steuerzuschüsse usw. subventioniert. Es gibt also keinen Anreiz zu investieren.
US-Profitate des Nicht-Finanzsektors, %
Messung der Federal Reserve
Und zweitens haben die steigenden Zinssätze, die durch die Anhebung des Leitzinses durch die Fed verursacht wurden, um angeblich die Inflation zu kontrollieren, die Kreditkosten auf ein Niveau erhöht, das seit den 1970er Jahren nicht mehr erreicht wurde.
Tatsächlich weist Goldman Sachs darauf hin, dass die Zahl der unrentablen Unternehmen im Jahr 2022 fast 50 % aller börsennotierten Unternehmen erreichen wird. Der Anteil dieser Unternehmen an der Wirtschaftstätigkeit ist zwar wesentlich geringer, macht aber immer noch 10 % der gesamten Unternehmenseinnahmen und 13 % der Investitionsausgaben und der Beschäftigung aus. GS kommentiert, dass "höhere Finanzierungskosten einige dieser Unternehmen dazu zwingen könnten, die Arbeitskosten zu senken oder sogar zu schließen. Unrentable Unternehmen neigen dazu, ihre Investitionsausgaben stärker zu kürzen, wenn sie mit Margendruck konfrontiert sind, und wir haben festgestellt, dass sie auch die Arbeitskosten stärker kürzen, wenn sie von Zinsschocks betroffen sind."
Wenn sich also das Wachstum des privaten Verbrauchs bis 2024 verlangsamen und die Unternehmensinvestitionen absolut zurückgehen werden, dann werden diese Daten für das dritte Quartal die letzten guten Nachrichten für die US-Wirtschaft sein. Und es gibt weitere Anzeichen für eine Verlangsamung. Die Zahl der offenen Stellen geht zurück, und die Zahl der von den Erwerbstätigen geleisteten Arbeitsstunden hat sich auf ein Rinnsal verlangsamt. Die meisten Prognostiker gehen nun davon aus, dass das BIP-Wachstum in den USA im nächsten Quartal auf annualisierte 0,8 % und dann im ersten Quartal 2024 auf 0,2 % zurückgehen wird.
Darüber hinaus mag der Konsens für eine weiche Landung in den USA gelten, aber global gesehen ist das nicht der Fall. Ein zuverlässiger Hochfrequenz-Indikator für die aktuelle Wirtschaftstätigkeit ist der so genannte Einkaufsmanagerindex (PMI) - Erhebungen über die Umsätze, Aufträge und Beschäftigung von Unternehmen. Der zusammengesetzte PMI zeigt das Aktivitätsniveau sowohl im verarbeitenden Gewerbe als auch im Dienstleistungssektor an. Alles, was über 50 liegt, bedeutet Expansion, alles darunter bedeutet Schrumpfung. Die jüngsten PMIs vom Oktober zeigen, dass die Weltwirtschaft am Rande einer Rezession steht, wobei nur die USA, Indien und China (und die Kriegswirtschaft Russlands) noch expandieren. Nahezu alle anderen großen Volkswirtschaften schrumpfen im Oktober auf dieser Basis.
Die USA mögen im dritten Quartal expandiert haben, der Rest der Welt aber schrumpfte, und im Jahr 2024 könnten die USA zu ihnen stoßen.
Die Seidenstraßeninitiative - 3. Internationales Kooperationsforum „Belt and Road“
10 Jahre Seidenstraßeninitiative BRI – globaler Wohlstand ist das Ziel
Eine für die Weltwirtschaft bedeutende Interpretation des „goldenen Oktobers“, eine in Deutschland jahrhundertelange Tradition einer Beschreibung eines bisher typischen Landschaftsbildes im herbstlichen Oktober lieferte in diesem Jahr die Belt and Road- Initiative (BRI). Am 10. und 11. Oktober fand hierzu das 3. Internationale Kooperationsforum „Belt and Road“ in der chinesischen Hauptstadt Beijing statt. Das Gipfeltreffen markiert den 10. Jahrestag eines Infrastruktur- und Investitionsprogramms, das China als alternatives Entwicklungsmodell für Entwicklungsländer aufgelegt hat. Vor einer Dekade schlug der chinesische Staatspräsident Xi Jinping den gemeinsamen Bau eines Wirtschaftsgürtels der Seidenstraße und einer maritimen Seidenstraße des 21. Jahrhunderts vor, die zusammen als Gürtel- und Straßeninitiative (Belt and Road Initiative, BRI) bekannt wurden.
Nach Angaben des chinesischen Außenministeriums hat diese Initiative bisher die Beteiligung von mehr als drei Viertel der Länder der Welt und 3 internationalen Organisationen hervorgebracht..
Vertreter aus 150 Ländern und 30 internationalen Organisationen – unter ihnen der UN-Generalsekretär António Guterres - nahmen im goldenen Oktober d. J. an dem Forum teil, mit dem Ziel des bilateralen und multilateralen Austausches zur Vertiefung der BRI-Zusammenarbeit.
Der diesjährige Gipfel fand zu einem Zeitpunkt statt, an dem der anhaltende Krieg in der Ukraine und die jüngsten Gewalttaten in Israel und im Gazastreifen die internationale Spaltung offenlegen. Im Gegensatz zum zurückliegenden Gipfel im Jahr 2019, an dem auch Vertreter aus Europa, darunter der damalige italienische Ministerpräsident Paolo Gentiloni, teilnahmen, war die diesjährige besondere Veranstaltung von den westlichen Ländern gemieden worden. Die derzeitige italienische Regierung unter Giorgia Meloni erwägt sogar, nicht ganz ohne Rücksicht auf das Drängen von EU-Repräsentanten, sich ganz aus der Belt and Road- Initiative zurückzuziehen.
Ein Zwischenfazit - Infrastrukturaufbau und globaler Win-Win Handel
Die in 2013 ins Leben gerufene Belt and Road-Initiative ist nach den Grundsätzen eines wechselseitigen, ganzheitlich ausgerichteten Vernetzungs-, Wachstums- und Lernprozesses ausgelegt, von dem alle Beteiligten nachhaltig profitieren können.
Dahinter steht eine uralte zivilisatorische Grundidee: Es ist für alle langfristig vorteilhafter, die jeweiligen Interessen gemeinsam und fair zu realisieren, anstatt sie verlustreich aufeinanderprallen zu lassen.
Die Belt and Road-Initiative betont die Logik des Win-Win-Prinzips. Es geht dabei nicht nur um zufällige und punktuelle Win-Win-Situationen zwischen einzelnen wirtschaftlich motivierten Akteuren. Der Ansatz zielt vielmehr auf die Etablierung eines langfristigen, sich selbst antreibenden und erhaltenden Win-Win-Prozesses auf globaler Ebene zwischen Menschen, die in unterschiedlichen zivilisatorischen, wirtschaftlichen, sprachlichen und politisch-ideologischen Systemen beheimatet sind.
Darauf bezieht sich auch das inzwischen konsequent betonte ökologische Win-Win-Gleichgewicht zwischen Mensch und Natur.
Die agrarische Zivilisation Chinas, die Jahrtausende überdauert hat und heute etwa ein Fünftel der Menschheit umfasst, beruht auf der uralten Einsicht, dass ein Reisfeld immer nur dann gemeinsam und jedes Jahr aufs Neue ertragreich bewirtschaftet werden kann, wenn Arbeit und Ernte jeweils gerecht geteilt werden. Vor dem zivilisatorischen Hintergrund dieses Grundverständnisses wird heute in China von offizieller Seite die Vision einer Schicksalsgemeinschaft der Menschheit beworben.[1]
Als eine fundamentale Grundvoraussetzung für wirtschaftliche Entwicklung, Friedenssicherung, Armutsbekämpfung bzw. Sicherung des vorhandenen Wohlstandes in allen beteiligten Ländern war die Seidenstraßeninitiative von Anfang an auf den
Ausbau der verkehrstechnischen und digitalen Infrastruktur in den beteiligten Regionen ausgerichtet.
Mittlerweile hat sich der Horizont der Arbeitsfelder erweitert. Es geht auch um multilaterale Kooperationen in Bereichen wie Ernährungssicherheit und ökologisch nachhaltiger Landwirtschaft, Klimaschutz, Wassermanagement oder der Bewältigung von Umweltkatastrophen.
Im weiteren Projekt-Verlauf liegt der Fokus auf der Realisierung wirtschaftlicher Öffnungsprozesse, auf Innovationsförderung, der Entwicklung einer datenbasierten, digitalen und nachhaltigen Wirtschaft, auf Kooperationen im Bereich industrieller Lieferketten und in der Wissenschaft, auf Themen wie dem Schutz geistigen Eigentums oder des internationalen Rechts in den neu entstehenden Strukturen durch die BRI, usw.
In den letzten zehn Jahren hat die BRI dazu beigetragen, die globalen Entwicklungsherausforderungen anzugehen, Lösungsansätze zu realisieren und das System der Weltordnungspolitik in Richtung einer multipolaren Mitagierens voranzutreiben. Mit dem Titel „Hände schließen, um die BRI aufzubauen: Wichtige Praktiken beim Aufbau einer Schicksalsgemeinschaft für die Menschheit“ liegt ein öffentlich zugängliches White Paper vor, das die Rolle des symbolischen „Jahrhundertprojekts“ für die globalen Entwicklungen des letzten Jahrzehnts dokumentiert. [2]
Dem White Paper zufolge wurden in den letzten zehn Jahren durch den Aufbau der BRI bemerkenswerte Ergebnisse erzielt, indem
- „neue Räume für das Weltwirtschaftswachstum eröffnet, eine neue Grundlage für internationalen Handel und internationale Investitionen geschaffen“ wurden,
- die Bedingungen zur Entwicklung von Leistungsfähigkeit und Leben der Menschen in den beteiligten Ländern sich verbesserten,
- neue Realitäten für die Perfektionierung des globalen Governance-Systems entstanden sind
- und einer Welt mit gemischten Schwankungen mehr Sicherheit und Stabilität zu verleihen, substantielle Beiträge ermöglichte.[3]
Die verantwortlichen Stellen der Seidenstraßeninitiative betonen seit Bestehen des Projektes, dass BRI ein „öffentlicher Weg, der allen offensteht, und kein privater Weg, der einer einzelnen Partei gehört", und vor allem, dass die Projekt-Vision "frei von geopolitischem Kalkül" sei.
"Länder aus Eurasien, Afrika, Amerika und Ozeanien sind alle willkommen, an der Initiative teilzunehmen, unabhängig von ihrem politischen System, ihrem historischen Hintergrund, ihrer Kultur, ihrem Entwicklungsstand, ihrer Ideologie oder ihren religiösen Überzeugungen, solange sie eine gemeinsame Entwicklung anstreben".[4]
Quelle: White Paper, A Global Community of Shared Future: China's Proposals and Actions, The State Council Information Office of the People’s Republic of China, September 2023
Viele von China vorgeschlagenen Initiativen haben sich zu wichtigen internationalen Kooperationsplattformen auf der Welt entwickelt, die in den letzten zehn Jahren bemerkenswerte Fortschritte erzielt haben, im Vergleich zu anderen internationalen Initiativen, die sich eher gegen das Voranschreiten von BRI statt auf ergänzende Entwicklungshilfe für Länder des globalen Südens richten.
„Die Zusammenarbeit beim Aufbau der BRI konzentriert sich auf die Lösung von Problemen und Engpässen, die die Entwicklung einschränken, die Schaffung neuer wirtschaftlicher Entwicklungsmotivationen für Länder, die Schaffung eines neuen Umfelds und Entwicklungsraums sowie die Verbesserung der Entwicklungskapazität. Vertrauen in die Entwicklung entwickeln und wiederbeleben, die Lebensgrundlagen und den Wohlstand verbessern. Als Teil der Bevölkerung der teilnehmenden Länder tragen wir zur Lösung des Problems der unausgewogenen globalen Entwicklung bei und fördern die Modernisierung der Länder“, ist dem White Paper zu entnehmen.
In seinem Beitrag auf dem BRI-Forum würdigte der UN-Generalsekretär António Guterres die kooperativen Leistungen der BRI. Seiner Ansicht nach könne es ohne Infrastruktur keine Entwicklung geben. Bis heute aber seien Milliarden Menschen von ganz grundlegender Infrastruktur abgeschnitten: vom Zugang zu Wasser und Strom etwa, von Straßen, von der Eisenbahn. Dies sei der Grund, weshalb die „Neue Seidenstraße“ so wichtig sei, weil sie dazu beitrage, Voraussetzungen für jeglichen wirtschaftlichen Aufschwung zu schaffen.
Die BRI-Initiative fördere das Erreichen der UN-Ziele für nachhaltige Entwicklung – und indem sie in zunehmendem Maß auf die Klimaverträglichkeit ihrer Projekte achte, helfe sie nun auch, den globalen Temperaturanstieg, wie die Vereinten Nationen es wünschten, auf 1,5 Prozent zu begrenzen. [5]
Mit dem White Paper sind die Zahlen und Fakten der BR-Initiative der chinesischen Regierung der Öffentlichkeit präsentiert worden.
Nach Einschätzung internationaler Wirtschaftswissenschaftler illustriert das White Paper die umfangreichen und greifbaren Ergebnisse, die China und seine Partner erzielt haben, und zeigen das Potenzial für ein weiteres Wachstum der bahnbrechenden Vision.
Der Gesamthandel Chinas mit den an der BRI beteiligten Ländern ist im Zeitraum von 2013 bis 2022 auf ein Wirtschaftsvolumen von 19,1 Billionen US-Dollar gewachsen. Die durchschnittliche jährliche Wachstumsrate der chinesischen Wirtschaft von 6,4 Prozent in diesem Zeitraum stützt sich zu einem bemerkenswerten Anteil auf die gewachsenen multilateralen Handelsbeziehungen der beteiligten BRI-Staaten.
Nach Angaben des chinesischen Handelsministerium beliefen sich die wechselseitigen Investitionen zwischen China und den anderen an der BRI beteiligten Ländern zwischen 2013 und 2022 auf insgesamt mehr als 380 Milliarden US-Dollar, darunter mehr als 240 Milliarden US-Dollar an chinesischen Direktinvestitionen im Ausland.[6]
Über 3.000 BRI-Kooperationsprojekte sind in den letzten 10 Jahren auf den Weg gebracht worden. Viele dieser Projekte, wie z. B. Eisenbahnen, Brücken und Pipelines, haben zum Aufbau eines Infrastrukturnetzes beigetragen, das sowohl Teilregionen in Asien als auch die Kontinente Asien, Europa und Afrika miteinander verbindet. Dabei sind 420.000 Arbeitsplätze geschaffen worden und fast 40 Millionen Menschen sind der Armut entkommen, so das Handelsministerium.
Chinesische Unternehmen haben im Zuge des Roll Outs von BRI rund eine Billion US-Dollar in BRI-Projekte investiert. Die Gelder kamen direkt oder indirekt einer Gruppe von Ländern zugute, deren Bevölkerung 65 Prozent der Weltbevölkerung ausmacht.
Der Schwerpunkt der Projekte lag dabei auf dem Aufbau von Basisinfrastrukturen wie Wasser-, Strom- und Gasversorgung sowie die Bildungs- und Gesundheitsangebote in den BRI-Ländern. Infolgedessen gewann der Industrialisierungsprozess merklich an Fahrt, die Transportkosten sanken und es sind wie erwähnt neue Arbeitsplätze entstanden. [7]
Entscheidende Projekt-Schritte
Als die Erfolgsfaktoren für den bisherigen Verlauf von BRI können die folgenden Schritte angegeben werden :
1. Die Initiative hat sich primär auf die Entwicklungsförderung konzentriert. Auf verschiedene Weise setzt das Projekt auf die Entwicklung der Felder Infrastruktur, Energiewirtschaft, Handel, Industrialisierung, Urbanisierung, Landwirtschaft und ländliche Entwicklung. Die Initiative greift dabei auf der nationalen ebenso wie auf der regionalen und globalen Ebene.
- Durch die Fokussierung auf den Aufbau von Infrastruktur hat das Projekt einen Umsetzungspfad gewählt, der ein régionales und globales Netz an Vernetzung entstehen läßt und einen wechselseitigen Austausch der regional verteilten Produktionsfaktoren positiv beeinflußt. Ökonomisch betrachtet trägt dies dazu bei, die Geschäftskosten zu senken und ein effizienteres, regionales und globales Wachstum zu erreichen.
- Das Projekt wird nach einem Ordnungs- und Regelsystem strukturiert und geleitet, dessen Ziel klar formuliert wurde: Offenheit und Inklusivität sowie die Orientierung an Mitreden, Mitgestalten und Mitprofitieren. Umgesetzt wird dabei ein Kooperationsansatz, der sich durch staatliche Führung, Marktorientierung, die führende Rolle der Unternehmen, pragmatische Zusammenarbeit und die Einhaltung internationaler Standards auszeichnet.[8]
Freie Transportwege
Die Belt and Road-Initiative zeigt einen Weg auf für alternative Transportrouten und für den Aufbau von Handelsbeziehungen. Die wichtigsten Transportrouten für China führen durch das Südchinesische Meer, durch die Straße von Malakka, sie passieren das Horn von Afrika und den Suezkanal oder, im Handel mit Amerika, den Panamakanal. Es handelt sich dabei um neuralgische Seepassagen, die möglicherweise durch politische oder militärische Interventionen blockiert oder durch Naturereignisse außer Kraft gesetzt werden könnten.
Die gegenwärtig laufend auftretenden Spannungen im Südchinesischen Meer, verursacht durch die Präsenz der US-Navy, bergen die Gefahr einer Einschränkung der Handelsströme.
China reagiert auf diese Gefahr nicht mit militärischer Aufrüstung. [9]
Als alternative Transportrouten und auch für die Erschließung erweiterter Handelsbeziehungen mit den Ländern Südostasiens wurden außerdem Korridore von der südwestchinesischen Provinz Yunnan nach Vietnam und über Malaysia bis nach Singapur, Laos und Kambodscha in die Initiative eingeschlossen. Den Kern dieser Infrastrukturprojekte bilden die Eisenbahnrouten Pan Asian Railway Network.
BRI fördert das regionale Wirtschaftswachstum
Chinas Seidenstraßeninitiative war von Anfang an auch damit verbunden, die bestehenden Konflikte im indopazifischen Raum zu überwinden mit geeigneten wirtschaftlichen Kooperationsmaßnahmen. Dabei beteiligte sich China u. a. an Verhandlungen zur Schaffung von Freihandelszonen. So erfolgte im Jahr 2020, zum Abschluss des 37. ASEAN-Gipfeltreffens in der vietnamesischen Hauptstadt Hanoi, die Vertragsunterzeichnung des weltgrößten Freihandelsabkommens, der Regionalen umfassenden Wirtschaftspartnerschaft, kurz RCEP.
Bei den Verhandlungen spielten die Erfolge der Belt and Road-Initiative eine große Rolle, indem die beteiligten Länder die erfolgreiche Politik würdigten und ihre Teilnahme bestätigten. Alle zehn ASEAN-Staaten, China, Japan und Südkorea sowie Australien und Neuseeland wurden Mitglieder der RCEP. [10]
Schuldenfalle für afrikanische Teilnehmerstaaten?
In den letzten Jahren sah sich China immer wieder mit dem Verdacht konfrontiert, dass die BRI dazu geführt habe, dass afrikanische Länder in eine „Schuldenfalle“ geraten seien.
Die Thematik hat das isw in der Vergangenheit mehrfach beleuchtet, u. a. durch das Einbeziehen bzw. Referenzieren von US-amerikanischen empirischen Studien. Siehe hierzu https://www.isw-muenchen.de/online-publikationen/texte-artikel/2671-70respekt-vor-staatlicher-souveraenitaet-oder-die-maer-der-chinesischen-schuldenfalle
Der im September d. J. veröffentlichte Bericht „China and Development Initiative“ der Boston University zeigt, dass Chinas Kreditvergabe an Afrika in den letzten zwei Jahren auf den niedrigsten Stand seit fast 9 Jahren gesunken ist.[11]
Dem zweitbevölkerungsreichsten Land Afrikas Äthiopien hat China einen Schuldenerlass gewährt, nachdem der wirtschaftliche Wiederaufbau nach Unterzeichnung eines Friedensabkommens im November einen zweijährigen Bürgerkrieg in Tigray beendet hat.
China beteiligt sich zudem an den Wiederaufbaubemühungen in Äthiopien, ganz im Sinne der chinesischen Politik, eine menschliche Schicksalsgemeinschaft aufzubauen.[12]
Grundsätzlich ist zur Finanzierung und Kreditvergabe für die Projekte im Rahmen der Seidenstraßeninitiative anzumerken, dass allen beteiligten Ländern finanzielle Möglichkeiten in Form von Krediten und Baukapazitäten bereitgestellt wurden und werden.
Die für diesen Zweck 2015 von 57 Staaten gegründete Entwicklungsbank, die Asian Infrastruktur und Investment Bank (AIIB), finanziert die Infrastruktur- und Industrieprojekte, ohne die Kredite an politische Bedingungen bzw. Reformforderungen zu knüpfen. Damit wird die AIIB als eine Alternative zur Weltbank und dem Internationalen Währungsfonds gesehen, da letztere ihre Entwicklungsfinanzierungen stets mit politischen und wirtschaftlichen Konditionen verbinden, etwa Forderungen nach freiem Marktzugang oder Strukturreformen. Mit diesen Konditionen begeben sich die Kreditnehmerländer in eine Abhängigkeit gegenüber den Geberländern bzw. der durch den US-Dollar dominierten Finanzwirtschaft. Die AIIB stellt demgegenüber eine Alternative dar, die von den mittlerweile über 150 Teilnehmerländern der BRI gern angenommen wird.
Der Ausbau der Finanzkooperation im Rahmen des mit der BRI-Initiative verbundenen Silk Road Fund (SRF) umfasste bis Ende Juni 2023 75 Projekte mit einem Finanzierungs-Gesamtwert von 22 Milliarden US-Dollar. Die Asian Infrastructure Investment Bank (AIIB) wiederum, die von China geführt wird und die BRI-Aktivitäten begleitet, hat mittlerweile 106 Mitgliedstaaten und billigte 227 Projekte mit einer Gesamtinvestitionssumme von 43,6 Milliarden US-Dollar.
Mit 20 BRI-Staaten konnte China inzwischen Übereinkünfte zum direkten Währungstausch treffen, mit 17 Staaten Clearing-Übereinkünfte. Die Absetzbewegung weg vom US-Dollar gewinnt an Fahrt.[13]
Die Seidenstraßeninitiative wird derzeit von der Europäischen Bank für Wiederaufbau und Entwicklung unterstützt, in der China seit 2016 ein aktives Mitglied ist. [14]
Ausblick
Es ist davon auszugehen, dass die beteiligten Länder des 3. BRI-Forums die vereinbarten Zielsetzungen der Seidenstraßeninitiative bestätigen, indem die aufgesetzten Projekte vorangetrieben und die neu hinzukommenden Erweiterungsziele angegangen werden. China wird die Seidenstraßeninitiative auch in Zukunft als Masterplan und als Vorlage für eine weitere Öffnung des chinesischen Marktes für die multilaterale Zusammenarbeit nutzen.
Infrastrukturprojekte erfordern in der Regel hohe Investitionen und einen langen Bauzyklus. Häufig sind solche Projekte anfällig für geopolitische und makroökonomische Entwicklungen, die nicht vorhersehbar sind und auch zu einem Stillstand führen können.
Dass nach wie vor einige Probleme bestehen, steht außer Frage. Hierzu bedarf es auch keinerlei besserwisserischer Kommentare von medialen und politischen Berufskritikern.
Zu erwähnen ist, dass bei einigen frühen BRI-Projekte die Fertigstellung infolge von Finanzierungsschwierigkeiten nicht abgeschlossen wurde. Zudem traten auch Umweltproblem bei einigen frühen Projekte auf, die zu einem Stillstand der Vorhaben und zu wirtschaftlichen Verlusten führten. Ungeachtet dessen sind sich Initiatoren und die höchsten Vertreter der beteiligten Länder einig über eine konsequente Fortsetzung der Seideninitiative mit einer gewissen Neujustierung von BRI.
So stehen in nächster Zukunft im Rahmen der Fortsetzung der Seidenstraßeninitiative die Umsetzung eines vorgestellten Aktionsplanes an, der Maßnahmen zur Sicherung der Zukunftstauglichkeit des BRI- Projektes beinhaltet. Hierbei ist vor allem die Förderung von nachhaltiger, grüner Infrastruktur und grüner Infrastruktur zu erwähnen. Um das erforderliche Know-how zu verbreiten, sollen bis 2030 etwa 100.000 Fortbildungsplätze für Menschen aus BRI-Staaten geschaffen werden, um den wissenschaftlichen und technologischen Fortschritt voranzutreiben. [15]
BRI trägt auch zum Klimaschutz bei
Ein zentrales Bestreben der Seidenstraßeninitiative ist auch die Verlangsamung des Klimawandels, die Beschränkung der CO2-Emissionen. Da die industrielle Entwicklung der Länder des Globalen Südens mit dem Ausbau der Energiewirtschaft verbunden ist und traditionell auf Kohle, Öl und Gas baut, dies aber die CO2-Emissionen erhöht, setzt China gemeinsam mit den Seidenstraßenländern auf erneuerbare Energien wie Wasserkraft, Wind- Solar- und Kernenergie. In nahezu allen Verhandlungsrunden des Forums standen Strategien zur Debatte, die sich auf den Aufbau neuer Unternehmen in Afrika, Asien oder Lateinamerika bezogen, trotz der derzeit noch unverzichtbaren Kohlekraftwerke.
Die BR-Initiative wird offenbar klimaverträglicher werden. Entsprechend der Fortschritte von Teilprojekten wird ebenso eine engere Vernetzung der einzelnen Projekte erfolgen.
Damit scheinen die Weichen gestellt, dass sich die Vereinbarungen von nahezu drei Viertel der Länder zu einer weiteren engen Zusammenarbeit vertiefen werden.
[1] Dr. David Bartosch arbeitet als Distinguished Research Fellow an der Beijing Normal University at Zhuhai.;
http://german.chinatoday.com.cn/ch/politik/202310/t20231017_800345228.html
[2] https://www.globaltimes.cn/page/202309/1298931.html
[3] https://www.vietnam.vn/de/sach-trang-trung-quoc-ca-ngoi-gia-tri-toan-cau-cua-bri/
[4] A Global Community of Shared Future: China's Proposals and Actions, A Global Community of Shared Future:
China’s Proposals and Actions, Sep. 2023 -
https://www.fmprc.gov.cn/eng/zxxx_662805/202309/t20230926_11150122.html
[5] https://www.jungewelt.de/artikel/461421.seidenstra%C3%9Fen-forum-ein-handelsnetz-f%C3%BCr-den-s%C3%BCden.html
[6] https://www.fmprc.gov.cn/eng/zxxx_662805/202309/t20230926_11150122.html
[7] Hu Biliang, Zehn Jahre neue Seiodenstraße: Was hat die Initiative richtig gemacht, was muss noch besser
werden? in: german.chinatoday.com.cn
[8] Ebd.
[9] Uwe Behrens, Gemeinsam auf dem Weg: Zehn Jahre Seidenstraßeninitiative, in german.chinatoday.com.cn
[10] https://www.isw-muenchen.de/online-publikationen/texte-artikel/5099-rcep-das-abkommen-fuer-eine-
multipolare-wirtschaftspartnerschaft-tritt-in-kraft
[11] https://www.vietnam.vn/de/sach-trang-trung-quoc-ca-ngoi-gia-tri-toan-cau-cua-bri/
[12] https://whatchinasays.org/de/concept/1-schicksalsgemeinschaft-oder-gemeinschaft-mit-einer-geteilten-
zukunft/
[13] https://www.jungewelt.de/artikel/461421.seidenstrassen-forum-ein-handelsnetz-für-den-süden.html
[14] https://www.eib.org/de/press/all/2017-119-eib-confirms-support-for-belt-and-road-initiative
[15] https://www.scmp.com/news/china/science/article/3238412/xi-jinping-urges-more-sci-
tech-collaboration-further-belt-and-road-
ambitions?module=lead_hero_story&pgtype=homepage
Chinas BIP im 3. Quartal 2023 liegt über den Marktschätzungen - der Konsum zieht an
Das chinesische BIP wuchs im dritten Quartal um 4,9 % gegenüber dem Vorjahr und übertraf damit die Markterwartungen, da der Konsum anzog und sich die Industrieproduktion im Zuge der staatlichen Maßnahmen zur Wachstumsförderung stabilisierte.[1]
Chinas BIP-Wachstum 4,9 %, 3. Quartal 2023
Es ist niedriger als das Wachstum von 6,3 % im zweiten Quartal, aber letzteres kann teilweise auf eine niedrige Basis im gleichen Zeitraum im Jahr 2022 zurückgeführt werden. In den ersten drei Quartalen wuchs das BIP gegenüber dem Vorjahr durchschnittlich um 5,2 %. China dürfte somit sein jährliches Wachstumsziel von "etwa 5 %" gegenüber dem Vorjahr erreichen, vorausgesetzt im vierten Quartal ist das eingeplante Wachstum von 4,4% im Jahresvergleich zu erreichen.
Für das Jahr 2023 wird das BIP China auf rund 19,4 Billionen US-Dollar prognostiziert. Die Statistik zeigt das Bruttoinlandsprodukt (BIP) von China im Zeitraum 1980 bis 2022 und Prognosen bis zum Jahr 2028. Insgesamt hat sich die Wirtschaftsleistung der Volksrepublik China innerhalb von zehn Jahren nahezu verdreifacht.
Bereits jetzt ist China die zweitgrößte Volkswirtschaft der Welt und ein Ende des Aufwärtstrends ist nicht absehbar.
Chinas Bruttoinlandsprodukt (BIP) in jeweiligen Preisen
1980 - 2022 und Prognosen bis 2028
Die chinesischen Haushalte und Unternehmen haben infolge einer Reihe von staatlichen Konjunkturmaßnahmen ihr Ausgabeverhalten erkennbar erhöht. Noch zu Beginn des Jahres erlebte die chinesische Volkswirtschaft nach dem Wegfall der Covid-Kontrollen zunächst einen Aufschwung, der sich allerdings bis Mitte des Jahres abschwächte. Die Umsetzung der Vorgaben der Zentralregierung zu einer Reihe von fiskalischen und geldpolitischen Maßnahmen insbesondere der Senkung der Leitzinsen Erleichterung bei der Kreditaufnahme zur Förderung des Konsums, die umgesetzten Projekte zur Stärkung des privatwirtschaftlichen Sektors sowie eine Lockerung der Beschränkung für den Erwerb von Wohneigentum zur Wiederbelebung des schwächelnden Immobilienmarktes.
China hat stets darauf geachtet, die Geldpolitik des Landes in einem normalen Rahmen zu gestalten, wobei die realen Zinssätze weitgehend den potenziellen Wachstumsrate der Wirtschaft entsprachen.
Nicht zu übersehen ist dabei aber, dass der Wirtschaftsbereich Immobilien nach wie vor Sorgen bereitet, nachdem die Kaufzurückhaltung noch keine signifikante Veränderung erkennen läßt.[2] In den ersten drei Quartalen sanken die Investitionen in die Immobilienentwicklung um 9,1 % gegenüber dem Vorjahr, nachdem sie in den ersten acht Monaten noch um 8,8 % zurückgegangen waren.
Das National Buerau of Statistics (NBS) von China, vergleichbar mit dem Statistischen Bundesamt Deutschlands, hat in seinen jüngsten periodischen Veröffentlichungen ergänzend zu den aktuellen BIP-Entwicklungszahlen einen Anstieg der Einzelhandelsumsätze um 5,5 % im September im Vergleich zum Vorjahr und ein unverändertes Wachstum der industriellen Wertschöpfung von 4,5 % im Vergleich zum Vormonat angegeben.
Konsumwachstum
Das Wachstum der Industrieproduktion sind den NBS-Daten zufolge hauptsächlich vom verarbeitenden Gewerbe und von staatlichen Unternehmen getragen worden. Die Ausgaben für Essen, Zigaretten und Alkohol trugen maßgeblich zum Anstieg der Einzelhandelsumsätze bei. Somit scheint nach Angaben von Markt-Analysten die Talsohle in den zurückliegenden Monaten Mitte des Jahres durchschritten zu sein.
Auf dem Arbeitsmarkt scheinen sich die aufgelegten Konjunkturbelebungs-Maßnahmen ebenfalls auszuwirken, nachdem die Arbeitslosenquote in den Städten im September
auf 5 % sank. Ein ähnlicher Tiefstand der Arbeitslosigkeit war zuletzt im November 2021 zu verzeichnen.[3] Nicht zu übersehen ist aber die nach wie vor hohe Arbeitslosenquote bei der Altersgruppe der 16- bis 24-Jährigen, die im Juni d. J. bei 21,3% lag und seitdem noch keine markante Veränderung veröffentlicht vorlag. Die Zahl bezieht sich auf 33 Mio. Mio. Jugendliche der städtischen Bevölkerung mit abgeschlossener Ausbildung und auf Jobsuche sind.[4]
Zu erwarten ist speziell für den Arbeitsmarkt für Hochschulabsolventen, dass die Staatsregierung mit einem umfassenden Programm das Missverhältnis zwischen dem gesellschaftlichen Bedarf an qualifizierten Arbeitskräften und der geförderten Zahl an Abgängern der Hochschulen auflöst. Die Entwicklung des Arbeitsmarktes in China stellt ein grundsätzliches Entwicklungsproblem der Gesellschaft dar, nachdem das langjährig gewohnte Wachstum der Wirtschaft zumindest keine Entwicklung über 5% Wachstum erwarten lässt. Der Arbeitsmarkt bedarf offensichtlich zusätzliche staatliche Programme zur Förderung insbesondere der zu entwickelnden Bereiche Dienstleistung, Erziehungswesen und Gesundheitssektoren.
[1] https://www.tagesschau.de/wirtschaft/konjunktur/china-wirtschaft-wachstum-drittes-quartal-100.html
[2] https://www.tagesschau.de/wirtschaft/weltwirtschaft/china-konjunktur-immobilienkrise-100.html
[3] https://www.caixinglobal.com/2023-10-18/chinas-third-quarter-gdp-grows-102117643.html
[4] Wolfgang Müller: Chinas Entwicklungsmodell in der Krise? In Sozialismus.de, Heft10-2023, S 29 f.
Der Staat und die Restaurierung
Es gibt einen bekannten Ausspruch von Friedrich Engels, der besagt, dass die Revolution aufgrund der politischen und sozialen Trägheit über ihre historischen Aufgaben hinausgeht. In gewissem Sinne lässt sich dies auch auf die Reaktion anwenden. Mit zunehmender Dynamik verwandelt sich ein gegebener politischer Prozess in eine Trägheitskraft, der zufolge jeder weitere Schritt nicht einmal durch spezifische soziale, wirtschaftliche oder politische Aufgaben vorbestimmt ist, sondern durch die Logik früherer Ereignisse, früherer Entscheidungen und daraus resultierender neuer Interessen.
Die Entwicklung des russischen Staates zu Beginn des einundzwanzigsten Jahrhunderts ist ein anschauliches Beispiel für diese These.
Das Versprechen der Demokratie
Die grundlegenden Institutionen der politischen Demokratie wurden in der UdSSR dank der von Michail Gorbatschow eingeleiteten Politik der Perestroika eingeführt. Die Veränderungen verliefen nicht ohne Probleme, aber 1990 verfügte Russland bereits über ein Mehrparteiensystem, konkurrenzfähige Wahlen, eine von staatlicher Zensur freie Presse und Gerichte, die erste Anzeichen von Unabhängigkeit zeigten. Natürlich steckten viele demokratische Prozesse und Strukturen noch in den Kinderschuhen, und die Gesellschaft selbst war weit davon entfernt, die neuen Regeln des politischen Verhaltens zu beherrschen. Dennoch hatte ein erheblicher Teil der sowjetischen Bevölkerung allen Grund, eine erfolgreiche Fortsetzung der Demokratisierung zu erwarten, die zwar von oben initiiert wurde, aber unter starkem Druck von unten stattfand.
Doch drei Jahrzehnte später ist es schwierig, eine einzige Republik der ehemaligen Sowjetunion zu nennen, die als Beispiel für eine erfolgreich funktionierende Demokratie dienen könnte. Selbst die drei baltischen Staaten, die der Europäischen Union beigetreten sind, liegen in dieser Hinsicht weit hinter ihren westlichen Nachbarn zurück. Die Diskriminierung der russischsprachigen Bevölkerung beim Wahlrecht und im Bildungswesen ist dort nach wie vor ein grundlegendes politisches Prinzip.
Die Verfolgung linker Politiker und das Verbot kommunistischer Parteien werden dort nicht als Angriff auf die bürgerlichen Freiheiten angesehen, da der Kampf gegen die totalitäre Vergangenheit und die russische Bedrohung als Rechtfertigung für all dies dient.
Die Verfolgung von Linken und physische Repressalien gegen Dissidenten sind in der Ukraine seit 2014 an der Tagesordnung, und Korruptionsskandale erschüttern Moldawien. In Georgien, Kirgisistan und Armenien wird die demokratische Ordnung durch periodische Volksaufstände und Massenproteste aufrechterhalten. In anderen Ländern herrschen offene Diktaturen oder "hybride Regime", die gewisse Freiheiten, aber auch die Möglichkeit friedlicher Übergänge durch freie Wahlen zulassen.
Vor diesem Hintergrund schien Russland zu Beginn des einundzwanzigsten Jahrhunderts nicht das schlechteste Beispiel zu sein. In der gesamten postsowjetischen Zeit entwickelte sich das politische System jedoch nicht in Richtung einer Ausweitung und Weiterentwicklung der Demokratie, sondern genau in die entgegengesetzte Richtung. Die autoritäre Entwicklung des Staates erreichte ihren Höhepunkt in Russland in den Jahren 2020-23, als das "hybride" Regime der "gelenkten Demokratie" durch eine offene Diktatur ersetzt wurde. Um zu verstehen, warum es so gekommen ist, ist es müßig, eine Antwort in der Analyse der politischen Institutionen zu suchen. Die tieferen Gründe für diesen Prozess liegen im Bereich der Wirtschaft.
Einerseits hat der Abbau des Wohlfahrtsstaates, der mehr oder weniger überall dort stattgefunden hat, wo sich der Neoliberalismus durchgesetzt hat, die Ungleichheiten vergrößert und die bereits bestehenden Widersprüche in der Gesellschaft verschärft.
In der Theorie ging die Marktideologie natürlich davon aus, dass die Ausweitung der wirtschaftlichen Freiheit die Menschen in die Lage versetzen würde, ihr eigenes Geld zu verdienen, um ihre Probleme zu lösen, ohne von den Bürokraten abhängig zu werden, die "öffentliche Dienstleistungen" bereitstellen. In der Praxis stieg jedoch die Zahl der Menschen, deren Leben durch die Abschaffung oder den Abbau sozialer Schutzmaßnahmen verschlechtert oder zumindest erheblich erschwert wurde, sprunghaft an. Die wachsende spontane Unzufriedenheit wurde durch eine Stärkung der staatlichen Repressionsorgane kompensiert.
Andererseits gab es auf dem Gebiet der ehemaligen Sowjetunion auch spezifische Probleme, die zur Stärkung der autoritären Tendenzen beitrugen. Das Problem ergibt sich aus dem Wesen der sowjetischen Industriebetriebe, die nicht nur Produktionsstrukturen waren, sondern auch Teil des Staates mit seinem gesamten Komplex von Institutionen - sozial, politisch, ideologisch usw. Sie waren eng in das System der staatlichen Verwaltung eingebunden, standen in direkter Wechselwirkung mit den Verwaltungsorganen und lösten viele Probleme gemeinsam mit ihnen. (1) Durch die Privatisierung und die anschließende Zerschlagung der Unternehmen entstand auf lokaler Ebene ein administratives und politisches Vakuum. Dieses konnte nicht durch aus dem Westen importierte Institutionen der formalen demokratischen Vertretung gefüllt werden, und es wurde auch nicht versucht, sie zu ersetzen. Das Vakuum wurde vor allem durch neue Praktiken der administrativen Bevormundung und informelle Absprachen zwischen der Bürokratie und der lokalen Wirtschaft gefüllt. Die Bürger wurden von der Beteiligung an der Entscheidungsfindung ausgeschlossen und verloren sogar die Kanäle der Einflussnahme und des Feedbacks, die es zu Sowjetzeiten gab, als es möglich war, persönliche und kollektive Probleme durch Partei-, Komsomol- und Gewerkschaftsausschüsse zu lösen.
Autoritarismus und Oligarchie
Wachsende soziale Spannungen schufen einen natürlichen Bedarf an Autoritarismus an der Spitze der Gesellschaft. Die Entwicklung der staatlichen Strukturen wurde jedoch allmählich von mehreren unterschiedlich ausgerichteten Tendenzen beeinflusst. Obwohl Boris Jelzin 1993 nicht zögerte, unter dem Beifall westlicher Politiker das erste frei gewählte Parlament mit Panzern beschießen zu lassen, war von der Errichtung eines diktatorischen Regimes nicht die Rede. Im Gegenteil, die herrschenden Kreise Russlands und ihre Partner im Westen bevorzugten ein Staatssystem, das Elemente autoritärer und demokratischer Herrschaft miteinander verband, nicht nur, weil es besser für Russlands Ansehen war, sondern auch, weil die russische Elite selbst nicht konsolidiert war.
In der Geschichte des neuen Kapitalismus in Russland lassen sich drei Phasen unterscheiden. Die erste war die Phase der oligarchischen Privatisierung, in der es eine Reihe von mehr oder weniger organisierten, mit dem Staat verbundenen Gruppen gab, die sich gleichzeitig des nationalen Eigentums bemächtigten und es aufteilten und dabei miteinander konkurrierten. Jede Gruppe bildete ihre eigenen Medien, finanzierte ihre eigenen Politiker und konkurrierte oft direkt um die Macht. Die demokratischen Institutionen, die zwar formell, aber nicht inhaltlich erhalten blieben, schufen ein günstiges Umfeld für diesen Wettbewerb. Außerdem musste das beschlagnahmte Eigentum im Westen legalisiert werden, und die auf dieser Grundlage entstehenden Unternehmen mussten in die Weltwirtschaft integriert werden. Das Vorhandensein von politischen Institutionen nach westlichem Vorbild in Russland erleichterte die Lösung dieser Probleme.
Und doch ist es müßig, im Russland der 1990er Jahre von Demokratie zu sprechen. Oligarchische Gruppen kontrollierten die Presse und das Fernsehen und nahmen direkten Einfluss auf die Wahlen; Korruption wurde zum wichtigsten Bestandteil der staatlichen Institutionen und spielte bei allen Arten von Entscheidungen eine Rolle. Die oligarchischen Gruppen selbst waren noch nicht nach Branchen oder auf der Grundlage gemeinsamer Geschäftsinteressen gebildet worden: Sie bildeten sich um Einzelpersonen, die politischen Einfluss erlangt hatten und diesen Einfluss in Kapital umwandeln konnten, wie Boris Beresowski, Wladimir Gusinski, Michail Chodorkowski und so weiter. Präsident Jelzin musste ein Gleichgewicht zwischen den kämpfenden Fraktionen herstellen und sie alle gemeinsam gegen die Masse der Bevölkerung verteidigen, die von diesem Fest des zerstückelten Eigentums nichts hatte.
Die daraus entstandene Ordnung könnte man als autoritären Pluralismus bezeichnen. (4)
Das System war autoritär, aber es gab eine Vielfalt von Interessen und einen offenen Wettbewerb an der Spitze der Gesellschaft, was dazu führte, dass sich das autoritäre Machtmodell nicht konsolidieren konnte (in der Ukraine funktionierte der Staat auf ähnliche Weise, mit dem einzigen Unterschied, dass sich die russischen Bedingungen Russlands des späten 20. Jahrhundert sich dort bis in die frühen 2020er Jahre fortsetzten. Robert Dahl verwendet den Begriff Polyarchie zur Beschreibung eines solchen politischen Modells: es gibt mehrere oligarchische Gruppen, die sich die Macht teilen, während das Volk nicht an der Politik teilnehmen darf (2).
Putin Nr. 1
Die Situation begann sich mit dem ersten Machtantritt von Wladimir Putin zu ändern, was natürlich nicht nur auf die Persönlichkeit des neuen Präsidenten zurückzuführen ist, den Boris Jelzin zu seinem Nachfolger wählte. Der Zusammenbruch des Rubels im Jahr 1998 führte dazu, dass mehrere oligarchische Gruppen von der Bildfläche verschwanden. Gleichzeitig erhöhte die starke Abwertung der Landeswährung die Wettbewerbsfähigkeit russischer Produkte und schuf Anreize für wirtschaftliches Wachstum, und der ebenso starke Anstieg der Weltölpreise ermöglichte es dem Staat, seine Auslandsschulden zu tilgen und Ressourcen anzuhäufen. Außerdem bot er dem staatlichen Paternalismus die Möglichkeit, seine Großzügigkeit zum Abbau sozialer Spannungen einzusetzen.
In den 2000er Jahren trat der russische Kapitalismus in eine neue Phase ein, in der die zuvor willkürlich gebildeten Oligarchengruppen zu mehr oder weniger rational organisierten Konzernen mit eigenen stabilen bürokratischen Strukturen, Strategien und bewussten langfristigen Interessen umgebaut wurden. Die Oligarchen der "ersten Welle", die sich nicht in die neuen Verhältnisse einfügten, wurden von der Macht entfernt und aus dem Geschäft gedrängt. An ihre Stelle traten Vertreter der neuen Unternehmenseliten, die ihre Reihen aus Regierungsbeamten und hochrangigen Funktionären der Geheimdienste auffüllten, die den Herausforderungen des Regierens im neuen Umfeld wesentlich besser gewachsen waren.
Das war das goldene Zeitalter von Wladimir Putin. Und der russische Präsident selbst war überhaupt nicht das, was er nach mehr als zwei Jahrzehnten im Kreml werden sollte. Dieser "Putin Nr. 1" war nicht nur jünger und gesünder, sondern auch viel rationaler. Als Anführer der russischen Bourgeoisie war er perfekt auf die neuen Herausforderungen der Zeit vorbereitet: Es war die Zeit gekommen, in der die wertvollsten Besitztümer bereits veräußert und aufgeteilt worden waren, und die neuen Eigentümer waren an Stabilität interessiert. Sie mussten den Ruf ihrer Unternehmen festigen, die Unternehmensmarken fördern und die Kapitalisierung der Unternehmen erhöhen.
Diese Forderung führte automatisch zu einer ideologischen Neubewertung der Vergangenheit. In den 1990er Jahren, als die Unternehmen übernommen wurden, wurde alles, was von der UdSSR übriggeblieben war, abgewertet. Nun galt es, den Wert der erworbenen Vermögenswerte zu steigern. Die Kapitalisierung der russischen Unternehmen nahm rasch zu, und so kam es auf ideologischer Ebene zu einer teilweisen Rehabilitierung des sowjetischen Erbes. Hatte sich die Diskussion über das zu privatisierende Unternehmen zuvor auf seine grobe Ineffizienz konzentriert, so wurden nun, da die Aktien verkauft werden sollten, seine glänzende Geschichte und seine Traditionen zum Gegenstand der Diskussion.
Die sowjetische Vergangenheit wurde zur Rechtfertigung und Legitimierung der kapitalistischen Gegenwart herangezogen. Doch nicht der Glaube an sozialen Fortschritt, Aufklärung, Völkerfreundschaft und Gleichheit wurde dem sowjetischen Erbe entlehnt, sondern die autoritären, konservativen und imperialen Elemente der UdSSR. Diese wurden recht erfolgreich in die Ideologie des neuen Kapitalismus integriert.
Dieser Umbau des Staats- und Wirtschaftssystems war zunächst erfolgreich. Unter Putin Nr. 1 vollzog sich ein wichtiger Wandel: Das Interesse an Stabilität innerhalb der Elite beendete den Krieg aller gegen alle. Eine starke Erhöhung der Staatseinnahmen ermöglichte es, die Reste der Sozialprogramme nicht nur zu retten, sondern sogar auszubauen.
Die Gesellschaft konnte nicht nur mit repressiven Maßnahmen konsolidiert werden. Bereits in den 1990er Jahren hatte ein großer Teil der unteren Gesellschaftsschichten die Hoffnung, von den neoliberalen Reformen zu profitieren. Und diese Hoffnungen waren nicht ganz unbegründet. Zwar wurden Fabriken geschlossen, Kleinunternehmen eröffneten, und es entstanden ganz neue Wirtschaftszweige: internationaler Massentourismus, private Banken und Versicherungen und ein aufstrebender Dienstleistungssektor. Wer im Ausland studieren wollte, konnte gehen, und nach 2000 hatten viele Familien das Geld, um eine Ausbildung im Ausland zu bezahlen. Die Möglichkeiten der sozialen Mobilität für junge Menschen waren trotz der Probleme und Risiken weitaus größer als in der späten Sowjet-Ära, und die Unterstützung für die Regierung nahm drastisch zu. Gleichzeitig wurde das System, das ein soziales und politisches Gleichgewicht erreicht hatte, jedoch immer geschlossener. Die soziale Mobilität begann zu sinken und die Kader der herrschenden Kreise stabilisierten sich. Die herrschenden Kreise waren kategorisch nicht bereit, die Macht mit der Mehrheit der Gesellschaft zu teilen, geschweige denn Zugang zum Entscheidungsprozess zu erhalten.
Die Krise von 2008
In den 1990er Jahren führten die Befürworter neoliberaler Reformen das Scheitern einzelner Personen und ganzer gesellschaftlicher Gruppen oder Branchen darauf zurück, dass sie "nicht in den Markt passten". Diese Situation änderte sich jedoch im Jahr 2000, als die Lage für den Export russischer Rohstoffe günstiger wurde. Die Kapitalisierung der Unternehmen wuchs sprunghaft an, völlig unabhängig von der Qualität des Managements oder dem technologischen Niveau der Produktion. Alles änderte sich dramatisch im Jahr 2009, als die Wellen der globalen Krise, die als Große Rezession bezeichnet wird, Russland erreichten.
Es war klar, dass das neoliberale Modell des Kapitalismus auf globaler Ebene an seine Grenzen gestoßen war, aber die herrschenden Kreise der führenden Länder waren nicht nur nicht bereit, ernsthafte Änderungen vorzunehmen, sondern nutzten die Krise im Gegenteil als Vorwand, um die sozialen Rechte der Arbeitnehmer weiter zu beschneiden. Konkret bedeutete dies für Russland, dass seine Wirtschaft zunächst aufgrund eines starken Rückgangs der Nachfrage nach Rohstoffen stark einbrach und sich dann recht erfolgreich zu erholen begann, weil die US-Notenbank und dann die Europäische Zentralbank, die die Finanzinstitute des Westens retteten, den Markt buchstäblich mit Liquidität überschwemmten.
Überschüssige Mittel flossen in spekulative Märkte, einschließlich Investitionen in Öltermingeschäfte, was die Einnahmen der russischen Ölgesellschaften und den Haushalt in die Höhe trieb. Als Russland die Krise hinter sich ließ, änderten sich jedoch sowohl die Wirtschaft als auch die Sozialpolitik des Landes dramatisch. Die Oligarchie sah nicht mehr die Möglichkeit, der Bevölkerung weiterhin Sozialleistungen zukommen zu lassen. Im Jahr 2010 wurden enorme Mittel benötigt, um die Unternehmen zu retten. Die Mittel wurden aus dem Haushalt bereitgestellt und später zurückgegeben, aber von diesem Zeitpunkt an begannen sowohl die Regierung als auch die privaten Unternehmen aus Angst vor einer neuen Welle der Krise, aktiv neue Devisenreserven anzuhäufen. Nach der Wiederherstellung des Niveaus vor der Großen Rezession konnte die russische Wirtschaft ihre frühere Wachstumsrate nicht mehr erreichen und begann zu stagnieren. Die Realeinkommen der Bevölkerung stiegen nicht mehr weiter an, während die Verschuldung der Haushalte zunahm und viele Regionen des Landes ihre Haushalte nicht mehr wie gewohnt ausgleichen konnten.
Die periphere Rohstoffwirtschaft, die dann in Russland als Ergebnis der neoliberalen Reformen entstand, hatte einfach keine internen Wachstumsquellen, die sie gegen ein schwaches - und vor allem instabiles - externes Umfeld hätten stützen können. Auf dem Weltmarkt gab es zwar immer noch eine Nachfrage nach russischen Rohstoffen, aber die Preise schwankten stark. Dadurch wurde es für die Unternehmen und das Finanzministerium immer notwendiger, Reserven anzuhäufen, was als einzige Möglichkeit zur Lösung des Problems angesehen wurde. Parallel dazu fand eine teilweise Neuausrichtung auf China als stabilere Wachstumsmaschine statt. Aber auch hier war nicht alles in Ordnung. Das Wachstumstempo der chinesischen Wirtschaft verlangsamte sich. Die Führung in Peking war nicht so sehr an der Beschaffung großer Mengen von Rohstoffen interessiert, sondern vielmehr an der maximalen Senkung der Rohstoffpreise, denn es ging darum, die Wettbewerbsfähigkeit der Produktion unter veränderten und sich verschlechternden Bedingungen aufrechtzuerhalten. So erwies sich der chinesische "Motor" als geeignet, die russische Wirtschaft am Laufen zu halten, aber er erlaubte ihr nicht, ihr Entwicklungstempo zu erhöhen - die Verschiebung, die es ihr ermöglichen würde, die angesammelten Probleme zu lösen.
Putin Nr. 2
Vor dem Hintergrund der veränderten wirtschaftlichen Situation veränderte sich auch der Charakter der Innenpolitik. Die Qualität des Managements nahm stark ab, und im Vordergrund stand der Wunsch, die Beziehungen zur Macht zu stärken, die die Unternehmen 2010 gerettet hatten und sie im Falle einer neuen Krise retten könnten. Die persönlichen Beziehungen innerhalb der Elite wurden zum wichtigsten Stabilitätsfaktor für alle Beteiligten. Die bürokratische Rationalisierung, die die frühen 2000er Jahre kennzeichnete, wich der Personalisierung von Politik und Wirtschaft, was zu einer raschen Rückkehr zum Oligarchenmodell der 1990er Jahre führte. Der grundlegende Unterschied zu dieser Zeit besteht jedoch darin, dass die Oligarchen unter Boris Jelzin direkt gegeneinander kämpften, während sie jetzt ihre Interessen durch engere Beziehungen zur politischen Führung vertraten.
Es ist bemerkenswert, dass der Übergang vom Regierungsmodell der 2000er Jahre zu der neuen Ordnung, die sich in den 2010er Jahren herausgebildet hat, im Rahmen eines politischen Zwischenspiels stattfand, als Wladimir Putin vorübergehend die Präsidentschaft an Dmitri Medwedew abtrat und auf dem Stuhl des Ministerpräsidenten Platz nahm. Natürlich blieb die reale Macht weiterhin in seinen Händen, aber die Umstrukturierungen, die stattfanden, insbesondere als Putin als Präsident in den Kreml zurückkehrte, führten zu einer sehr ernsthaften Neujustierung des Systems.
Dieser Prozess war nicht unproblematisch, da die Regierung in den Jahren 2011-12 mit starken Protesten konfrontiert war, die durch die manipulierten Parlamentswahlen ausgelöst wurden. Dennoch gelang es ihr, die Straßenunruhen auf die großen Städte zu beschränken und sie dann zu unterdrücken. Im Sommer 2012 hatten die Konturen des neuen Regierungssystems mehr oder weniger Gestalt angenommen. Putin Nr. 1" wurde durch "Putin Nr. 2" ersetzt. Die Macht ähnelte immer mehr der Ordnung Jelzins, in dem Sinne, dass sie um bestimmte Personen und Gruppen herum organisiert war, und der Grad des Zugangs zum Körper des Präsidenten das Ausmaß des wirtschaftlichen Einflusses bestimmte.
Der Unterschied bestand darin, dass die Clans nun nicht mehr als Konkurrenten, sondern als Koalition auftraten und in der Lage waren, die ständige Neuverteilung der Ressourcen auszuhandeln. Daher wurde die Rolle Putins als Hauptvermittler von entscheidender Bedeutung, da er für ein Gleichgewicht zwischen den oligarchischen Gruppen sorgte, die daran interessiert waren, alles an sich zu reißen. So wurde die Persönlichkeit des Präsidenten immer wichtiger für das Funktionieren des Systems, da die Eliten befürchteten, dass es im Falle seines Ausscheidens niemanden geben würde, der ihre Beziehungen regeln könnte. Das System wurde dadurch immer ungeordneter und instabiler. Es konnte sich die Unterstützung der Bevölkerung nicht mehr durch eine großzügige Sozialpolitik erkaufen, da die Anhäufung von Mitteln im Stabilisierungsfonds zu einer Art idée fixe geworden war.
Das Hauptaugenmerk sollte nun auf Propaganda und Repression liegen. Es ist bezeichnend für diese Zeit, dass die Präsidialverwaltung ständig und geradezu manisch auf die Popularitätswerte Putins fixiert war, die nach und nach sanken und künstlich aufrechterhalten werden mussten. Es gab keinen natürlichen Mechanismus zur Aufrechterhaltung des Vertrauens in die Behörden. Während die staatliche Propagandamaschinerie in der Vergangenheit erfolgreich mit den unabhängigen Medien konkurrieren konnte (wenn auch nicht zu gleichen Bedingungen), begann sie nun, trotz enormer Investitionen (auch in die Technologie), den Anschluss zu verlieren. Früher genügte es, die Kontrolle über das Fernsehen aufrechtzuerhalten, doch mit dem Aufkommen des Internets wurde es für den Kreml immer schwieriger, ein treues Publikum zu halten. Die Korruptionsenthüllungen der Anti-Korruptionsstiftung von Alexej Navalny haben gezeigt, dass das Internet als Kanal zur Beeinflussung der öffentlichen Meinung und zur politischen Mobilisierung genutzt werden kann und dabei erfolgreich mit dem zensierten Fernsehen konkurriert. Die herrschenden Kreise sahen eine Lösung darin, nicht nur die oppositionellen Medien selbst zu bekämpfen, sondern auch direkt die Menschen, die diese Medien geschaffen haben. Es wurden mehr und mehr repressive Gesetze erlassen, und in vielen Fällen beschränkten sich die Behörden nicht auf die Regeln der gesetzlichen Sanktionen.
Dennoch wuchs die Unzufriedenheit, ebenso wie die Konflikte an der Spitze. Der Teil der Bourgeoisie, der nicht zum inneren Kreis Putins gehörte, war ebenfalls unzufrieden mit seiner Position. Der Rückgriff auf informelle Netzwerke als Mechanismus zur Regelung und Lösung aller Konflikte und Probleme führte wiederum zu einer zunehmend in sich geschlossenen Führungsgruppe. Es wurde bereits sehr schwierig, ja fast unmöglich, führende Minister und Regierungsbeamte zu ersetzen, selbst wenn sie in ihrer Arbeit völlig versagt hatten. Die Ablösung einer solchen Person konnte das gesamte informelle Beziehungsgeflecht, alle Absprachen und Vereinbarungen zwischen den verschiedenen Gruppen zum Einsturz bringen, und der Knoten der informellen Verbindungen und gegenseitigen Verpflichtungen erwies sich als unlösbar. Sie wurden immer komplizierter und undurchsichtiger.
Die Opposition
Die Oppositionsarbeit von Alexej Nawalny war ein Versuch, das System von außen herauszufordern, von dem Teil der Bourgeoisie, der sich nicht der Elite angeschlossen hatte. Doch wie schon 2011/12 wurde sein Protest mit repressiven Methoden niedergeschlagen. Auch die Proteste gegen die Rentenreform im Jahr 2018 wurden von den Behörden ignoriert. Die Unzufriedenheit der Bevölkerung äußerte sich zunächst in der Stimmabgabe für die Kandidaten der offiziellen Oppositionsparteien, von denen einige Vertreter sogar eine Art Geschmack an der Politik entwickelten. In den Jahren 2018-19 scheiterten die Kandidaten der regierungsfreundlichen Partei "Einiges Russland" immer wieder bei den Wahlen, während in wichtigen Regionen wie Irkutsk und Chabarowsk führende Positionen an Oppositionsgouverneure gingen. Daraufhin war der Kreml zum Handeln gezwungen. Widerspenstige Gouverneure wurden abgesetzt (Sergej Lewtschenko trat im Gebiet Irkutsk zurück, und Sergej Furgal wurde in der Region Chabarowsk verhaftet). Die Wahlgesetze wurden radikal überarbeitet, um Wahlmanipulationen so einfach wie möglich zu machen. Man kann sagen, dass die russischen Wahlgesetze, die 2020-21 verabschiedet wurden, einen einzigartigen Fall darstellen, in dem Regeln speziell zur Rationalisierung und Vorbereitung von Wahlbetrug angenommen wurden, wodurch sie zu einem institutionellen Rahmen für den Prozess selbst wurden. Dazu gehören Vorschriften, die die Rechte von Beobachtern einschränken, die dreitägige Stimmabgabe, bei der die ausgezählten Stimmzettel nachts in einem Bereich aufbewahrt werden, zu dem außer den von der Regierung ernannten Wahlkommissaren niemand Zutritt hat, und die undurchsichtige "elektronische Fernabstimmung", die es einfach ermöglicht, Stimmen in beliebiger Menge den "richtigen" Kandidaten zuzuordnen.
Zusammen mit der Reform der Wahlgesetzgebung wurden auch Maßnahmen ergriffen, um die Kontrolle über die Duma-Parteien zu verschärfen. Schon vorher hatten sie nur eine relative Autonomie, aber nun würden sie endgültig in die Position eines untergeordneten Partners der Regierung versetzt, ohne die Möglichkeit, unabhängige Entscheidungen zu treffen. Politiker, die mit den neuen Regeln nicht einverstanden waren, wurden entweder an den Rand gedrängt oder aus ihren Parteien ausgeschlossen. Gegen besonders widerspenstige Mitglieder der Kommunistischen Partei der Russischen Föderation griffen die Behörden zu direkten Repressionen, und die Parteiführung schützte nicht nur ihre eigenen Aktivisten nicht, sondern solidarisierte sich im Gegenteil mit den Behörden.
Die Covid-Epidemie, die 2020 ausbrach, war ein äußerst bequemer Vorwand für die Verschärfung von Kontrolle und Repression. Unter dem Vorwand, die Ausbreitung der Krankheit zu bekämpfen, wurden Proteste und Aufmärsche verboten - und zwar für alle außer für die Behörden selbst, die weiterhin Paraden und Ähnliches veranstalteten, als wäre nichts geschehen. Nachdem die medizinischen Beschränkungen für Covid aufgehoben worden waren, blieb das Verbot von Straßenprotesten für die Opposition bestehen, und auch die Änderungen des Wahlrechts wurden auf die Epidemie zurückgeführt, aber nach deren Ende nicht wieder aufgehoben.
Verfassungsänderungen, die 2020 angenommen und durch eine gefälschte "Volksabstimmung " (3) bestätigt wurden, gaben Wladimir Putin die Möglichkeit, ausnahmsweise bis 2036 im Amt zu bleiben, wodurch seine Position als Präsident auf Lebenszeit gesichert wurde. Unabhängig von der Rhetorik, mit der solche Entscheidungen verschleiert werden sollten, waren sie jedoch eine Folge und ein anschauliches Beispiel für die institutionelle Schwäche eines Regimes, das weder die Nachfolge des Präsidenten sicherstellen noch einen einzigen Politiker aus seinen Reihen benennen konnte, der das Vertrauen der Eliten und den Respekt des Volkes auf sich ziehen konnte. Weder Verbote noch Propaganda konnten die wachsenden Spannungen in der Gesellschaft kaschieren. Vor allem aber wird die Personalisierung der politischen Macht zu einem Faktor der Verwundbarkeit. Gerüchte über Putins Gesundheit, die seit langem in politischen Kreisen kursierten, wurden zu einer echten Bedrohung für die Stabilität. Verschiedene Fraktionen der Oligarchie begannen, ihre eigenen Pläne für den Fall eines möglichen Wechsels an der Spitze der Exekutive auszuarbeiten. Dabei war es nicht so wichtig, wie krank der Präsident wirklich war. Allein die Tatsache, dass über einen möglichen Wechsel an der Spitze des Staates diskutiert wurde, veränderte und zerstörte die bestehenden Machtverhältnisse: Ist die Frage des Machtwechsels erst einmal aufgeworfen, wird sie nicht mehr verschwinden.
Und es ist nicht verwunderlich, dass in den Köpfen der Spitzenfunktionäre die Idee aufkam, die Macht zu stärken und die Eliten und die Gesellschaft durch außenpolitische Erfolge zu konsolidieren. Die Ukraine schien das geeignetste Feld dafür zu sein. Schließlich konnte Russland 2014, als im Nachbarland eine politische Krise ausbrach, die Krim problemlos annektieren, was sicherlich - wenn auch nicht lange - zu einem Aufschwung des Patriotismus und einer Stärkung der Autorität der Regierung in den Augen der Gesellschaft beitrug.
Der "Krim-Konsens", der sich damals abzeichnete, war nur von kurzer Dauer und löste sich schließlich nach Putins äußerst unpopulärer Rentenreform im Jahr 2018 auf.
Aber die Idee, dass Außenpolitik und Patriotismus für die Stabilisierung der innenpolitischen Lage wichtig sind, war in den Köpfen der Beamten fest verankert. Eine Offensivoperation gegen die Ukraine, die in größerem Maßstab wiederholen sollte, was bereits acht Jahre zuvor geschehen war, schien eine sehr einfache und praktische Lösung zu sein. Doch die Dinge entwickelten sich ganz anders.
Reaktionärer Cäsarismus
Die theoretische Frage, die sich dem Forscher unweigerlich stellt, wenn er versucht, das Wesen des politischen Regimes zu verstehen, das sich in Russland zu Beginn des 21. Jahrhunderts ist das System der persönlichen Macht, das sich während der Präsidentschaft Putins herausgebildet hat. Es ist keine historische Anomalie und schon gar nicht das Ergebnis der persönlichen Eigenschaften des Präsidenten und seines Umfelds. Es ist müßig, die Ursachen für das Geschehene in den "kulturellen Codes" des russischen Staates zu suchen, die angeblich dazu verdammt sind, autoritäre Modelle aus der Vorgeschichte zu reproduzieren.
In den späten 2010er Jahren beschrieb der Soziologe Grigorij Judin die russische Staatsordnung als "plebiszitäre Demokratie" und verglich sie mit dem Regime von Napoleon III. im Frankreich des 19. Jahrhunderts (4) Natürlich konnte man selbst in den goldenen Jahren von Putins Herrschaft in Russland nur mit großen Vorbehalten von "Demokratie" sprechen (selbst die Anhänger der Regierung benutzten die Begriffe "gelenkte Demokratie" oder "souveräne Demokratie"), aber der Vergleich zwischen dem Russland des frühen einundzwanzigsten Jahrhunderts und dem Frankreich des Zweiten Kaiserreichs ist durchaus berechtigt.
Es geht nicht nur um die Herausbildung eines Systems persönlicher Macht, das durch Volksabstimmungen legitimiert wurde. Vielmehr entstehen diese Formen der Macht als Produkt einer Krise der sozialen Transformation, sei sie nun progressiv oder reaktionär. Der klassische Bonapartismus (als dessen Variante man auch das Protektoratsregime von Oliver Cromwell im England des 17. Jahrhunderts und das Regime Stalins in der UdSSR betrachten könnte) war das Produkt einer Revolution, die ihr Potenzial verloren hatte und ihre eigene neue Elite hervorbrachte, die an der Bewahrung der revolutionären Errungenschaften, nicht aber an deren Weiterentwicklung interessiert war.
Die Restauration des Kapitalismus in Russland zu Beginn des 21. Jahrhunderts führte zu einer ähnlichen Situation, da die neue Elite, die im Zuge der Reformen entstand, eine politische und soziale Konsolidierung benötigte, und zwar auf Kosten der Elemente der sozialen Mobilität, die aus den Veränderungen der 90er Jahre hervorgingen.
In diesem Zusammenhang ist es unmöglich, nicht an Antonio Gramscis Aussagen über den reaktionären Cäsarismus zu erinnern, der eine Form des progressiven Cäsarismus reproduziert, ihm aber inhaltlich genau entgegengesetzt ist. Nach Gramsci entstehen solche Regime in dem Moment, in dem die kämpfenden Kräfte ein "katastrophales Gleichgewicht" (si equilibrano in modo catastrofico) erreichen, in dem keine einzelne Klasse eine effektive Hegemonie errichten kann.
Dann erlangen der Staatsapparat und sein Führer nicht nur Autonomie, sondern auch die Fähigkeit, zur entscheidenden Kraft in der Gesellschaft zu werden, was allerdings "nicht immer dieselbe historische Bedeutung hat". Der Autor der "Gefängnishefte" nennt Beispiele für den progressiven Cäsarismus, zu dem die Regime von Julius Cäsar und Napoleon I. gehören, und den reaktionären Cäsarismus, für den das Regime von Napoleon III. steht. Gramsci interpretiert den Unterschied zwischen diesen Regimen durch die Dialektik von "Revolution und Restauration". Wie radikal eine Politik der Restauration auch sein mag, sie kann niemals eine "vollständige Rückkehr" zur Vergangenheit (in tutto) bewirken. (5) Daher sind reaktionäre Regime gezwungen, in erheblichem Maße auf das Erbe der ihnen vorausgegangenen fortschrittlichen Periode zurückzugreifen (was die ambivalente Haltung des Putinismus gegenüber der sowjetischen Vergangenheit perfekt erklärt).
Gramsci stellt auch fest, dass der Anker für cäsaristische Regime im Kult der "heroischen" Persönlichkeit liegt, dass dieser aber unter den heutigen Bedingungen nicht mehr notwendig ist. In diesem Sinne ist der Kult um Wladimir Putin, der von der Propaganda vor dem Hintergrund des völligen Fehlens bedeutender persönlicher Leistungen künstlich geschaffen wurde und bereits völlig groteske und absurde Formen annimmt, ein anschauliches Beispiel für den Gedanken des italienischen Philosophen. Was aber nach Gramsci ein obligatorisches Merkmal des modernen Cäsarismus ist, ist, dass er sich nicht nur auf die Ressourcen von Militär und Polizei stützt, sondern auch auf die Schwäche der Gesellschaft. (6)
Die Entwicklung von Putins Regime bestätigt anschaulich, dass sich die Gesellschaft aus der Perspektive der revolutionären Umwälzungen des frühen zwanzigsten Jahrhunderts auf die Wiederherstellung der bürgerlichen Ordnung ausgerichtet war, aufgrund ihrer eigenen inneren Logik die Bedingungen für die Entwicklung von Demokratie und Freiheit untergraben hat, in deren Namen, so scheint es, die kommunistischen Regime abgelehnt wurden.
Wenn sich diese antidemokratische Logik in den osteuropäischen Ländern außerhalb der ehemaligen Sowjetunion nicht vollständig durchgesetzt hat, so ist dies zum einen auf das Vorhandensein einer stärkeren und besser organisierten Zivilgesellschaft in diesen Ländern und zum anderen auf die Integration in die Strukturen der Europäischen Union zurückzuführen. Die Frage ist nur, inwieweit die Entwicklung der westlichen Gesellschaften vor dem Hintergrund der Krise des Neoliberalismus der Logik der demokratischen Entwicklung entspricht. Immerhin beweist das Aufkommen rechtspopulistischer Bewegungen im Westen, die von dubiosen Personen angeführt werden, dass auch die alten europäischen Demokratien vor solchen Tendenzen nicht gefeit sind.
Die stetige Stärkung des Autoritarismus in Russland zu Beginn des einundzwanzigsten Jahrhunderts war das natürliche und logische Ergebnis der neoliberalen Wirtschaftspolitik des Landes, und das daraus resultierende cäsaristische Regime ist ebenso anfällig für militärische und politische Abenteuer wie die personalistische Diktatur Napoleons III. im Frankreich des 19.
Je mehr Macht in den Händen eines nationalen Führers konzentriert ist, der nicht nur ein unfehlbares Urteilsvermögen, sondern auch ein "heroisches" Image für sich beansprucht, desto größer ist das Bedürfnis, dieses Image in regelmäßigen Abständen durch zumindest einige Siege zu bestätigen. Dies ist Teil der Legitimation des Regimes. Leider droht der aus dieser ideologischen Logik erwachsende Abenteurertum wiederum solche Regime zu Fall zu bringen, wie Napoleon III. 1870 feststellen musste.
Die Überakkumulation des Kapitals
Rosa Luxemburg hat in ihrem vor dem Ersten Weltkrieg geschriebenen Buch "Die Akkumulation des Kapitals" deutlich aufgezeigt, wie die Widersprüche der kapitalistischen Entwicklung Ungleichgewichte schaffen, die im Rahmen eines gewöhnlichen Marktzyklus nicht gelöst werden können. (7) Der Einsatz der Außenpolitik nicht nur als Instrument der Kapitalkonkurrenz, sondern auch als Faktor zur Stabilisierung des Systems, ist eine natürliche Folge dieser Sachlage.
Jener der bürgerlichen Ordnung innewohnende Widerspruch zwischen dem gesellschaftlichen Charakter der Produktion und dem privaten Charakter der Akkumulation führt dazu, dass Ressourcen dort akkumuliert werden, wo es nur für einen Teil der Gesellschaft profitabel ist. Dies führt zum Effekt der Überakkumulation des Kapitals, wenn es profitabler ist, die Mittel in Spekulationen zu investieren oder sie auf die irrationalste Weise zu verwenden, als sie in die Produktion zu investieren. Für die russische Wirtschaft ist die Überakkumulation von Kapital seit Mitte der 2000er Jahre ein ständiges Problem. Der Staat schob Geld in den Stabilisierungsfonds, Oligarchen kauften Villen in Nizza und Miami oder bauten unglaublich große Yachten. Die Bürokraten klauten einfach Geld und stapelten die Scheine in eigens gekauften oder umgebauten Wohnungen (In diesem Sinne war Korruption weniger das Problem, als vielmehr die Möglichkeit, auf der Ebene der politischen Ökonomie dieses Problem zu lösen).
Es ist bezeichnend, dass die Behörden zwar bei den Rentnern und sozial notwendigen Maßnahmen sparten, den Bau von Straßen zwischen den regionalen Zentren verweigerten und die Zahl der Krankenhausbetten reduzierten, aber bei großen und teuren Projekten äußerst großzügig waren. Für prestigeträchtige Projekte wie die Olympischen Winterspiele in Sotschi wurden beträchtliche Summen ausgegeben. Ein ähnliches Superprojekt war nach der Annexion der Krim im Jahr 2014 der Bau der Brücke von Kertsch, die neben ihrer wirtschaftlichen auch militärische Bedeutung erlangte.
Das Wachstum der außenpolitischen Ambitionen Putins und die Versuche, auf regionaler Ebene eine animperialistische Politik zu betreiben, sind ebenfalls eng mit dem Prozess der Kapitalakkumulation verbunden. Überschüssige Mittel, die im Inland keine Verwendung fanden, stimulierten die Expansion ins Ausland. Eine der bequemsten und profitabelsten Verwendungen der überschüssigen Ressourcen war der Aufkauf von Vermögenswerten in den ehemaligen Sowjetrepubliken. Die Ukraine mit ihrer noch funktionierenden, aber veralteten und kapitalintensiven Industrie war das ideale Gebiet für die Expansion der russischen Oligarchen. Neben Unternehmen und Immobilien wurden auch lokale Politiker gekauft, die diese Investitionen schützen sollten, da das Ausmaß der Korruption in der Ukraine selbst im Vergleich zu Russland unvorstellbar hoch war. Doch mit ihrer Einmischung in die ukrainischen Angelegenheiten begab sich die russische Elite in einen politischen Sumpf, aus dem es immer schwieriger werden sollte, herauszukommen.
Die ukrainische Katastrophe
Die wirtschaftlichen, kulturellen und familiären Bindungen zwischen den Gesellschaften Russlands und der Ukraine waren schon immer so eng, dass sie selbst durch eine Trennung der Staaten nicht auseinandergerissen werden konnten.
In der neuen Situation war die gegenseitige Einbindung der russischen und ukrainischen Gesellschaften in die Angelegenheiten des jeweils anderen jedoch nicht nur positiv, sondern auch negativ, da sich alle politischen Konflikte und Prozesse in einem Land automatisch auf das andere auswirkten. Die politische Krise, die 2013/14 in der Ukraine ausbrach, führte zu einer vorübergehenden Lähmung der Macht, und es ist ganz natürlich, dass die russischen Eliten, die bereits aktiv in die Angelegenheiten des Nachbarstaates involviert waren, die sich bietenden Möglichkeiten nutzten. Es ist jedoch wichtig festzustellen, dass ein erheblicher Teil der ukrainischen Bevölkerung, zumindest in den südöstlichen Regionen des Landes, seine Hoffnungen auf bessere wirtschaftliche Perspektiven mit dem wachsenden russischen Einfluss verband und im Kreml auch einen Verbündeten sah, der die Position dieser Regionen in den zahlreichen kulturellen, politischen und wirtschaftlichen Konflikten, die das Land zerrissen, stärken würde.
Die Annexion der Krim im Jahr 2014 wurde von einem Großteil der Bevölkerung der Halbinsel begrüßt. Wie einhellig diese Unterstützung wirklich war, ist eine andere Frage. Die Gegner der Annexion hatten keine Möglichkeit, an dem Referendum teilzunehmen, das nach der Besetzung des Gebiets durch das russische Militär abgehalten wurde. Für einen großen Teil der Bewohner des Donbass und anderer Regionen, die mit Kiew unzufrieden sind, war die russische Intervention auf der Krim jedoch ein wichtiges Signal, das sie zu entschlossenem Handeln veranlasste.
Die in Luhansk und Donezk ausgerufenen nicht anerkannten Republiken stützten sich zunächst auf den spontanen Protest der Bevölkerung, den die Kreml-Politiker mit allen Mitteln auszunutzen und unter ihre Kontrolle zu bringen versuchten. Im Jahr 2015 hatten sie Erfolg: Die Volksrepubliken Donezk und Luhansk waren zu Marionettenregimen geworden, die vollständig von Moskau abhängig sind. Die Volksführer, die die Proteste von Anfang an angeführt hatten, wurden entweder abgesetzt oder starben unter mysteriösen Umständen.
Mit der Entscheidung, im Februar 2022 in die Ukraine einzumarschieren, hofften Putin und sein Gefolge offensichtlich, den Erfolg von vor acht Jahren zu wiederholen. Seitdem hatte sich die Lage in beiden Staaten jedoch verändert. Nach dem Wahlsieg von Wolodymyr Selenskij bei den Wahlen 2019 war die Machtkrise in der Ukraine zwar nicht vollständig überwunden, aber zumindest weniger akut geworden. Es war offensichtlich, dass der neue Präsident, der seinen Sieg in einer umkämpften Wahl errungen hatte, legitimiert war. Die ukrainischen Streitkräfte, die sich Anfang der 2010er Jahre in einem Zustand des völligen Niedergangs befunden hatten, waren auf Kampfstärke gebracht und teilweise modernisiert worden.
Die russischen Machthaber standen auch unter dem Einfluss schlechter Nachrichtendienste, die von korrupten Generälen geleitet wurden, und der Inkompetenz von Leuten, die den Bezug zur Realität verloren hatten, nachdem sie zwanzig Jahre lang ohne Rechenschaftspflicht an der Macht waren.
Es ist bezeichnend, dass Selenskijs Herrschaft in Kiew weitgehend den Weg des frühen Putin wiederholte. Er versuchte, die Eliten zu konsolidieren und die Funktionsweise des Staates unter seiner persönlichen Kontrolle zu rationalisieren. Im Wesentlichen fand dieselbe Personalisierung der Macht statt, aber der Prozess befand sich in einem viel früheren Stadium, so dass es unmöglich war, über seine Ergebnisse zu sprechen.
Der Ausbruch eines Krieges auf ganzer Linie erhöhte die Autorität des Präsidenten und seines Teams dramatisch und ermöglichte es Selenski, eine Machtkonzentration und reale Befugnisse zu erlangen, die er in den ersten Jahren seiner Herrschaft nicht hatte. So sah sich Putins Russland nicht mehr wie 2014 mit einem gescheiterten Staat konfrontiert, sondern mit einem voll handlungsfähigen, wenn auch nicht besonders effektiven Staat. Natürlich kann man die Ukraine nicht als Musterbeispiel für Demokratie bezeichnen, aber das Mindestmaß an Regierbarkeit und politischer Konsolidierung, das notwendig war, um der Invasion zu widerstehen, war erreicht worden.
In Erwägung eines möglichen Kriegsgewinns, stand Russland vor einer unüberwindbaren politischen und moralischen Krise, aus der der Ausweg entweder in einer radikalen Reform des Staates oder in seiner revolutionären Umgestaltung liegen konnte. In beiden Fällen ist klar, dass das System, das sich im Laufe der Jahre der Herrschaft Putins entwickelt hat, abgebaut werden muss, um die aufgelaufenen Probleme zu lösen.
Die Restauration ist, was die soziale Dynamik betrifft, eine Art Schatten der Revolution.
Sie durchläuft ähnliche Phasen, erlangt die gleiche Trägheit und geht über ihre historischen Aufgaben und materiellen Möglichkeiten hinaus. Auf diese Weise tritt das Restaurations-regime in eine neue Runde der Zerstörung ein, indem es nicht nur die durch die Revolution entstandenen gesellschaftlichen Institutionen überwindet, sondern auch die objektiven Bedingungen seiner eigenen Existenz untergräbt.
Das ist genau das, was wir in den 2020er Jahren in Russland erlebt haben.
Die Logik der politischen und sozialen Reaktion führt sie natürlich zur Selbstverneinung, wodurch ein objektiver Bedarf für einen neuen Zyklus revolutionärer Veränderungen entsteht. Die einzige offene Frage ist, ob die Gesellschaft, die eine lange Periode der Degradierung - wirtschaftlich, kulturell und politisch - überlebt hat, in der Lage ist, die Herausforderungen, die sich auf dieser Grundlage ergeben, erfolgreich zu meistern. Aber das ist, wie Karl Marx zu sagen pflegte, keine theoretische, sondern eine praktische Frage.
ANMERKUNGEN
1) Siehe I. V. Glushchenko, B. I. Kagarlitsky und V. A. Kurenny (Hrsg.), SSSR: Zhizn' posle
smerti, Moskau: Izd. Dom Vyssheishkoly ekonomiki, 2012.
2) Siehe Robert A. Dahl, Polyarchy: Partizipation und Opposition, New Haven: Yale
University Press, 1971.
3) Die Behörden haben es nicht gewagt, es als Referendum zu bezeichnen, dessen Organisation die Einhaltung
die Einhaltung bestimmter Regeln. Es gab ein Verbot, das Projekt zu kritisieren und keine
Beobachter oder Regeln, die bei einem echten Referendum gesetzlich vorgeschrieben wären.
4) Siehe G. Iudin, "Rossiia kak plebistsitarnaia demokratiia", Sotsiologicheskoe obozrenie 20,2
(2021): 9-47.
5) Antonio Gramsci, Quaderni del carcere, Bd. 3, Turin: Einaudi, 2007, S. 1623.
6) Gramsci, Quaderni, S. 1624.
7) Siehe Rosa Luxemburg, Die Akkumulation des Kapitals. Ein Beitrag zur ökonomischen Erklärung des Imperialismus, Berlin: Vorwärts, 1913.
Inflationsausgleichszahlung auch für Rentner
Nach Besoldungsanpassungsgesetz erhalten neben den Beamten des Bundes auch die Pensionäre des Bundes eine Inflationsausgleichsprämie.
Für vollbeschäftigte Beamte beträgt sie 3.000 Euro. Für Pensionäre (Versorgungsempfänger) wird der individuelle Prozentsatz des Ruhegehalts zugrunde gelegt. Der beträgt nach 40jähriger Beschäftigung bei Vollzeit 71,75 Prozent des letzten Gehalts. Die Inflationsausgleichsprämie beträgt in diesem Fall 2.15,50 Euro.
Damit soll nach offiziellem Wortlaut die Inflation abgemildert werden. Das ist löblich und sei den Beamten im Ruhestand gegönnt.
Aber andere haben es auch nötig
Immerhin wird auch das Bürgergeld ab Januar 2024 um 12,1 Prozent erhöht. Das ist absolut notwendig, geht es hierbei ja um das Existenzminimum. Auch diese Erhöhung gilt als Inflationsausgleich. Bei der Bemessung wurde berücksichtigt, dass sich die Preise für die Güter des alltäglichen Gebrauchs überproportional erhöht haben und dass deswegen die Inflationsrate unterer Einkommensbezieher über der durchschnittlichen Inflationsrate liegt.
Die Haushalte der Erwerbspersonen der unteren Einkommenshälfte, die nicht unter die Wirkung der Tarifverträge mit vollen Sonderzahlungen fallen, und die Haushalte der meisten Rentnerinnen sind bis jetzt die Verlierer der Inflation.
Der VdK und der SoVD finden zurecht, dass man das, was man den PensionärInnen des Bundes gewährt, den RentnerInnen nicht vorenthalten darf. Sie fordern deswegen eine Inflationsausgleichsprämie für alle RentnerInnen, die dem Umfang nach den Zahlungen an PensionärInnen entspricht.
Es ist nicht einzusehen, warum die Folgen der Inflation bei RentnerInnen nicht gemildert werden.
Berechnet man die Inflationswerte seit 2021 bis Ende 2023 im Verhältnis zu den Rentenanpassungen der gleichen Jahre, inklusive der Sonderzahlung von 300 Euro, so ergibt sich für die RentnerInnen der alten Bundesländer ein Kaufkraftverlust von 10 Prozent. Da der durchschnittliche Rentenzahlbetrag für Bestandsrenten Anfang 2024 ungefähr 1.100 Euro beträgt, ist das eine erhebliche Rentenkürzung. Der durchschnittliche Rentner ist weit mehr als der durchschnittliche Pensionär auf eine Inflationsausgleichszahlung angewiesen.
In einigen Landesverbänden von ver,di und der IG Metall wurde von Seniorenausschüssen die Forderung VdK und des SoVD nach einem Inflationsausgleich aufgegriffen. In Hamburg fand eine gemeinsame Kundgebung von ver.di mit den Sozialverbänden statt mit immerhin 700 Teilnehmern. Dennoch ist eine breite Bewegung, die die Forderung aufgreift, nicht zu erkennen. Das liegt auch daran, dass die Gewerkschaften sich die Forderung bislang nicht zu eigen machen.
Die Seniorenausschüsse der Gewerkschaften müssten sich aber der Sache annehmen und sich mit den Sozialverbänden zusammenschließen
Es wäre gut, wenn viele GewerkschafterInnen ihre Seniorenausschüsse aufforderten, sich der Sache anzunehmen.