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Aktualisiert: vor 2 Stunden 41 Minuten

Die Lage der Weltwirtschaft. Tagung des IWF und der Weltbank

Di, 16/04/2024 - 12:30

Derzeit beginnt die halbjährliche Tagung des IWF und der Weltbank.  Die Organisationen und ihre geladenen Gäste werden die Lage der Weltwirtschaft und die anstehenden Herausforderungen erörtern und politische Lösungen vorstellen. 
Zumindest ist das die vorgesehene Idee.

 

 

Kristalina Georgieva, die geschäftsführende Direktorin des IWF, wurde gerade ohne Gegenkandidaten für eine weitere fünfjährige Amtszeit wiedergewählt.  In einer Vorschau auf die Tagung erläuterte sie, wie der IWF die Weltwirtschaft im Jahr 2024 und für den Rest des dritten Jahrzehnts des 21. Jahrhunderts sieht. Sie legte eine düstere Analyse vor.  Es stehe ein "träges und enttäuschendes Jahrzehnt" bevor.  In der Tat, "ohne eine Kurskorrektur steuern wir ... auf die Lahmen Zwanziger zu".  Ihre Bemerkungen erfolgten vor der Veröffentlichung des jüngsten Weltwirtschaftsausblicks des IWF, der auch eine langfristige Prognose für die Weltwirtschaft
enthält.

Das ist eine nüchterne Lektüre.  Ich zitiere:

"Angesichts verschiedener Gegenwinde haben sich auch die künftigen Wachstumsaussichten eingetrübt. Den Fünfjahresprognosen zufolge wird sich das globale Wachstum bis 2029 auf knapp über 3 Prozent abschwächen. Unsere Analyse zeigt, dass das Wachstum bis zum Ende des Jahrzehnts um etwa einen Prozentpunkt unter den Durchschnitt vor der Pandemie (2000-19) fallen könnte. Dies droht, Verbesserungen des Lebensstandards rückgängig zu machen, und die Ungleichheit der Verlangsamung zwischen reicheren und ärmeren Ländern könnte die Aussichten auf eine globale Einkommenskonvergenz einschränken.“

"Ein anhaltend niedriges Wachstumsszenario in Verbindung mit hohen Zinssätzen könnte die Tragfähigkeit der Schulden gefährden und die Fähigkeit der Regierung einschränken, Konjunkturabschwächungen entgegenzuwirken und in soziale Wohlfahrt oder Umweltinitiativen zu investieren. Darüber hinaus könnte die Erwartung eines schwachen Wachstums Investitionen in Kapital und Technologien verhindern, was den Abschwung noch verstärken könnte. All dies wird durch den starken Gegenwind aufgrund der geoökonomischen Fragmentierung und der schädlichen unilateralen Handels- und Industriepolitik noch verschärft.

Die wichtigste Triebkraft für das Wachstum der Weltproduktion ist die erhöhte Arbeitsproduktivität, und diese hat sich verlangsamt.  Und diese "wird wahrscheinlich weiter abnehmen, angetrieben von Herausforderungen wie der zunehmenden Schwierigkeit, technologische Durchbrüche zu erzielen, der Stagnation des Bildungsniveaus und einem langsameren Prozess, durch den weniger entwickelte Volkswirtschaften zu ihren höher entwickelten Kollegen aufschließen können."

Der IWF macht unmissverständlich klar, dass die kapitalistische Produktionsweise nicht in der Lage ist, die Produktivität zu steigern, die für die Befriedigung der sozialen Bedürfnisse von 8 Mrd. Menschen unerlässlich ist.  Und warum?  Erstens, weil die Innovation nachlässt.  In den Mainstream-Wirtschaftswissenschaften wird dies an der so genannten totalen Faktorproduktivität (TFP) gemessen, d. h. an dem Produktivitätsanteil, der nicht durch Investitionen in Produktionsmittel oder in die Beschäftigung von Arbeitskräften erklärt werden kann - es handelt sich um einen Restwert, der das Gesamtniveau der Produktivität vervollständigt.  In diesem Jahrzehnt hat sich das weltweite TFP-Wachstum auf die niedrigste Rate seit den 1980er Jahren verlangsamt.

Der IWF sagt auch, dass das Versäumnis, ausreichend in das zu investieren, was kapitalistische Ökonomen gerne als "Humankapital" bezeichnen, zu keiner Verbesserung der Qualifikationen der weltweiten Arbeitskräfte geführt hat.  Und interessanterweise gibt der IWF zu, dass sich die Kluft zwischen den reichen, technisch fortgeschritteneren kapitalistischen Volkswirtschaften (dem imperialistischen Block) und der armen, weniger fortgeschrittenen Peripherie, in der 80 % der Menschheit leben, überhaupt nicht verringert - im Gegensatz zu den ständigen Behauptungen vieler Mainstream-Wirtschaftsstudien.

Die Expansion der Weltwirtschaft hat sich vor allem seit dem Ende der Großen Rezession von 2008-9 verlangsamt, so der IWF, was meine eigene Analyse dessen, was ich eine Lange Depression in den großen kapitalistischen Volkswirtschaften genannt habe, widerspiegelt.

Insbesondere die Unternehmensinvestitionen, die wichtigste Triebkraft des Wirtschaftswachstums in den kapitalistischen Volkswirtschaften, sind nach 2008 eingebrochen und lagen 2021 bei etwa 40 Prozent ihres Trends vor der globalen Finanzkrise".  Und was ist der Grund für diesen Rückgang?  Der IWF sagt: "Seit 2008 ist Tobins q, ein Indikator für die zukünftigen Produktivitäts- und Rentabilitätserwartungen der Unternehmen, im Durchschnitt um 10 bis 30 Prozent gesunken, was zum Großteil des erklärten Rückgangs der Investitionen sowohl in den fortgeschrittenen als auch in den aufstrebenden Volkswirtschaften beiträgt."  Dies ist ein Umweg, um zu sagen, dass sich das Investitionswachstum der kapitalistischen Unternehmen verlangsamt hat, weil sie nicht das erwartete Rentabilitätsniveau erreicht haben, wie die nachstehende Grafik zeigt.

 

Die Verlangsamung des weltweiten realen BIP-Wachstums ist dem IWF zufolge also auf Folgendes zurückzuführen 1) das verlangsamte Wachstum der weltweit verfügbaren Arbeitskräfte, das voraussichtlich auf nur 0,3 % pro Jahr sinken wird; 2) die stagnierenden Unternehmensinvestitionen; und 3) die nachlassende Innovationskraft.  Bis zum Ende dieses Jahrzehnts (und dies setzt voraus, dass es nicht zu einem größeren globalen Einbruch wie 2008 und 2020 kommt) wird das globale Wachstum zum ersten Mal seit 1945 auf 2,8 % pro Jahr sinken.

Was sind die Komponenten dieses zweiten Jahrzehnts der depressiven Verlangsamung, so der IWF?  Der Hauptfaktor war bisher, dass die "Ressourcen" "falsch verteilt" worden sind.  Damit meint der IWF, dass das System der freien Marktwirtschaft die Produktionsmittel, die technologische Innovation und das Arbeitskräfteangebot nicht auf die produktivsten Sektoren verteilt.  Durch diese Fehlallokation gehen nach Schätzungen des IWF jährlich 1,3 Prozentpunkte des weltweiten Wachstums verloren.  Der IWF sagt dies zwar nicht, aber wenn kapitalistische Investitionen zunehmend in Finanz- und Immobilienspekulationen, Militärausgaben, Werbung und Marketing usw. fließen, ist es nicht verwunderlich, dass es zu einer solchen "Fehlallokation" von Ressourcen kommt, die das Produktivitätswachstum bremst.

Als weiteren schädlichen Faktor für das künftige Wachstum nennt der IWF die "Zersplitterung" des Welthandels und der Investitionen, da die großen Wirtschaftsmächte zu Protektionismus, Zöllen, Export- und Geschäftsverboten übergehen und die imperialistischen Mächte unter Führung der USA versuchen, https://thenextrecession.wordpress.com/2024/01/26/china-versus-the-us/ die Länder zu schwächen und zu strangulieren, die nicht "mitziehen", wie Russland und China.  Die Aufspaltung des ehemals globalisierten "Freihandels" in konkurrierende Blöcke wird nach Schätzungen des IWF das jährliche globale Wachstum um bis zu 0,7 Prozentpunkte verringern.

Was ist zu tun? Nach seiner düsteren Zukunftsanalyse schlägt der IWF vor, die Probleme durch eine höhere Erwerbsbeteiligung (Frauen, die arbeiten gehen) und mehr Einwanderung (siehe meinen jüngsten Beitrag) https://thenextrecession.wordpress.com/2024/03/13/us-economy-saved-by-immigrants/

 zu lösen, vor allem aber durch das übliche Paket von Mainstream-Wirtschaftsmaßnahmen: "Wettbewerb auf dem Markt, Öffnung des Handels, Zugang zu den Finanzmärkten und Flexibilität auf dem Arbeitsmarkt", d.h. mit anderen Worten: mehr freier Kapitalverkehr (weniger Regulierung) und Abbau von Arbeitsrechten (genannt "Flexibilität").  Der IWF will damit sagen, dass die Antwort darin besteht, die Rentabilität zu steigern, indem man die Arbeitskräfte stärker ausbeutet und dem Großkapital erlaubt, sich frei über den Globus zu bewegen.  Der IWF hat solche Maßnahmen fast jedes Jahr vorgeschlagen, ohne dass sie etwas gebracht hätten.

Was die KI betrifft, so sagt der IWF: "Das Potenzial der KI, die Arbeitsproduktivität zu steigern, ist ungewiss, aber möglicherweise ebenfalls beträchtlich und könnte das globale Wachstum um bis zu 0,8 Prozentpunkte erhöhen, je nach ihrer Einführung und ihren Auswirkungen auf die Arbeitskräfte." Es hängt also von vielem ab.

Die Prognosen für das reale BIP-Wachstum geben keinen Aufschluss darüber, was mit der Ungleichheit von Einkommen und Vermögen innerhalb des durchschnittlichen Aggregats geschieht.  Aber in seiner neuen 'inklusiven Wirtschaft' kommentiert der IWF: "Die mittelfristige Wachstumsverlangsamung könnte die globale Einkommensungleichheit und die Konvergenz zwischen den Ländern beeinträchtigen. Ein langsameres Wachstum erschwert es den ärmeren Ländern, mit den reicheren Ländern gleichzuziehen. Ein langsameres BIP-Wachstum kann auch zu größerer Ungleichheit führen, was den durchschnittlichen Wohlstand verringert."  In der Tat.

Wird die Ungleichheit in den verbleibenden Jahren dieses Jahrzehnts zunehmen oder abnehmen?  Der IWF antwortet: "Je nach dem analysierten Maßstab ist mittelfristig kein oder nur ein bescheidener Ausgleich zu erwarten. Geringe Verbesserungen der Ungleichheit innerhalb eines Landes reichen nicht aus, um die erwartete Verlangsamung der Konvergenz der Ungleichheit zwischen den Ländern auszugleichen".  Der IWF kommt also zu dem Schluss: "Die Wachstumsverlangsamung hat düstere Auswirkungen auf die Einkommensverteilung zwischen den Ländern, auf das globale Einkommen oder auf ein allgemeineres Wohlfahrtsmaß."  Der IWF geht davon aus, dass die künstliche Intelligenz die Ungleichheit verschlimmern wird, und "insofern als andere Faktoren, wie die geoökonomische Fragmentierung, die Einkommensverteilung zwischen den Ländern verschlechtern, werden sie wahrscheinlich auch die globale Ungleichheit und die Verteilung der Wohlfahrt verschlechtern, es sei denn, sie verbessern die Einkommensverteilung innerhalb der Länder und andere Dimensionen der Wohlfahrt, wie die Lebenserwartung, erheblich."

Zu Beginn dieses Jahrzehnts, kurz nachdem die Pandemie die Welt heimgesucht hatte, wurde optimistisch von einer Wiederholung der "Roaring Twenties" des 20. Jahrhunderts gesprochen, die die US-Wirtschaft angeblich nach der Spanischen Grippe-Epidemie von 1918-19 erlebt hatte.  Diese Bezeichnung für die 1920er Jahre war immer eine Übertreibung, selbst in den USA; in Europa herrschte eine schwere Depression.
Und die so genannten Roaring Twenties wichen der Großen Depression der 1930er Jahre. 
Aber jetzt wird nicht mehr optimistisch von einem langen Boom gesprochen, selbst wenn man einen möglichen Produktivitätsschub durch die KI einbezieht.  Jetzt spricht man bestenfalls von den "lauen Zwanzigern".

Die Vereinigte Front gegen China

Di, 16/04/2024 - 08:22

Berlin entsendet mehr als 30 Militärflugzeuge und zwei Kriegsschiffe zu Manövern in die Asien-Pazifik-Region, verstärkt parallel zum Aufmarsch gegen Russland seine Beteiligung am Aufmarsch gegen China.

 

Die Bundeswehr weitet ihr „Indo-Pacific Deployment“ aus und entsendet dieses Jahr fast drei Dutzend Militärflugzeuge sowie zwei Kriegsschiffe zu Kriegsübungen in die Asien-Pazifik-Region. Demnach sind unter anderem Beteiligungen an einem Großmanöver der USA nahe Hawaii, an einem Luftwaffenmanöver in Australien, an weiteren Militärtrainings etwa in Japan sowie an der US-geführten Überwachung von Embargomaßnahmen gegen Nordkorea geplant. Bislang hatte Berlin nur Einheiten jeweils einer Teilstreitkraft in die Asien-Pazifik-Region geschickt – die Fregatte Bayern 2021/22, ein Geschwader der Luftwaffe 2022 und Truppen des Heeres 2023.
Wie der Inspekteur der Luftwaffe, Generalleutnant Ingo Gerhartz, bestätigt, soll die Ausweitung des „Indo-Pacific Deployment“ bestätigen, dass Berlin sich parallel zum militärischen Aufmarsch gegen Russland auch an den Militäraktivitäten gegen China beteiligen will.
Zugleich sind die USA dabei, ihre Militärbündnisse in Ostasien zu festigen und vor allem die erste Inselkette unter Kontrolle zu nehmen, der Strategen spezielle Bedeutung im Kampf gegen die Volksrepublik beimessen. US-Medien sprechen von einer „vereinigten Front gegen China“.

Pacific Skies

Die Luftwaffe wird das diesjährige „Indo-Pacific Deployment“, das als Weltumrundung geplant ist, gemeinsam mit den Luftwaffen Frankreichs und Spaniens durchführen. Soweit bislang bekannt, soll die „Pacific Skies-Flotte“ rund 50 Flugzeuge umfassen; 32 davon stellt die Bundeswehr. Nach Angaben von Luftwaffeninspekteur Generalleutnant Ingo Gerhartz sind erst Kriegsübungen in Alaska, anschließend weitere in Japan vorgesehen, bevor die Flotte geteilt werden soll.[1] Ein Teil wird laut Gerhartz in Australien an dem Großmanöver Pitch Black teilnehmen, zu dem ein deutsches Geschwader bereits im Jahr 2022 entsandt wurde. Pitch Black ist eine multinationale Kriegsübung, mit der sich Australien regelmäßig auf einen möglichen Krieg etwa gegen China vorbereitet.[2] Ein anderer Teil der Pacific Skies-Flotte soll nach Hawaii verlegen, um dort an RIMPAC 2024 teilzunehmen, einem US-Großmanöver, an dem sich die Bundeswehr seit 2016 beteiligt. Damals probten deutsche Einheiten unter anderem die „Befreiung“ einer Insel, die von einer Miliz namens Draco gehalten wurde. Draco heißt Drache; dieser gilt im Allgemeinen als Symbol für China.[3] Abschließend ist erstmals die Teilnahme der deutschen Luftwaffe an einem Manöver in Indien geplant.[4]

Pacific Waves

Die Marine plant ihre Aktivitäten im Rahmen des „Indo-Pacific-Deployments“ („Pacific Waves“) gleichfalls als Weltumrundung. Beschränkte sie sich bei ihrer ersten Asien-Pazifik-Fahrt, die die Fregatte Bayern von August 2021 bis Februar 2022 absolvierte, noch auf die Entsendung eines einzelnen Kriegsschiffs, so sollen dieses Jahr zwei in die Weltmeere stechen – die Fregatte Baden-Württemberg und der Einsatzgruppenversorger Frankfurt am Main. Die Baden-Württemberg gehört zur Klasse F125, der modernsten der Deutschen Marine.[5] Sie kann bei entsprechender Versorgung bis zu zwei Jahre in fernen Gewässern kreuzen. Allerdings ist sie auf den Kampf gegen Piraten und auf die Aufstandsbekämpfung im Küstengebiet spezialisiert; für die Flugabwehr etwa ist sie so wenig geeignet, dass die Bundeswehr anstelle einer F125 die ältere Fregatte Hessen der F124-Klasse zur Abwehr der Huthi-Drohnen und -Raketen ins Rote Meer entsandt hat.[6] Im Fall einer Eskalation der Spannungen in der Asien-Pazifik-Region hin zu einem offenen Krieg wäre die Fregatte Baden-Württemberg ein leichtes Opfer für die als äußerst effizient geltenden chinesischen Anti-Schiffs-Raketen.

Seemanöver und Einflussarbeit

Die Route, die die Pacific Waves-Flottille zurücklegen soll, ist bislang nur in Grundzügen bekannt. Vermutlich wird sie durch den Panama-Kanal in den Pazifischen Ozean einfahren, um zunächst Kurs auf Hawaii zu nehmen; dort soll sie die Luftwaffeneinheiten, die an RIMPAC 2024 teilnehmen, unterstützen. Die nächsten Stationen sind laut Marineinspekteur Vizeadmiral Jan Christian Kaack mit Japan, Singapur und wohl auch Australien Staaten, mit denen Deutschland schon seit langen Jahren militärisch kooperiert. Hinzu kommen nach aktuellem Informationsstand Zwischenstationen in Malaysia und Indonesien.[7]

Dabei nennt die Deutsche Marine für Pacific Waves fünf Schwerpunkte:

  • Der Einsatz für die „Freiheit der Seewege“;
  • die Beteiligung an – US-geführten – Maßnahmen zur Überwachung des UN-Embargos gegen Nordkorea;
  • die „Teilnahme des Deutsch-Französischen Marineverbandes (DEFRAM) an der maritimen Präsenz der Europäischen Union im westlichen Indischen Ozean“;
  • Seemanöver mit Partnern in der Region“;
  • „militärdiplomatische[...] Hafenbesuche entlang der Route, um internationale Beziehungen zu vertiefen“.
    Parallel dazu sind Flugzeugträger aus Frankreich (Charles de Gaulle) und Italien (Cavour) im Indischen sowie im Pazifischen Ozean unterwegs.[8]

Kein Entweder-oder

Mit Blick darauf, dass die Bundeswehr ihre militärischen Aktivitäten im Indischen und im Pazifischen Ozean intensiviert, während sie zugleich ihre Truppenpräsenz und ihre Manöver in Ost- und Südosteuropa verstärkt, äußert Luftwaffeninspekteur Gerhartz, es gehe bei der Frage nach den deutschen Interventionsschwerpunkten nicht um „die Frage eines Entweder-oder“, sondern um „ein Statement des Sowohl-als-auch“.[9]
Demnach schließt für Berlin die etwaige Beteiligung an einem allseits heraufbeschworenen möglichen Krieg gegen Russland eine parallele Beteiligung an einem etwaigen Krieg gegen China nicht aus.

 Die erste Inselkette

Die Gefahr, dass es zu einem solchen Krieg kommt, nimmt beständig zu. Die Vereinigten Staaten intensivieren ihre Bemühungen, die Länder und Gebiete der sogenannten ersten Inselkette – Japan und die Philippinen sowie die südostchinesische Insel Taiwan – zu einem festen Bündnis gegen China zusammenzuschweißen. Von der ersten Inselkette aus lässt sich die Volksrepublik auf breiter Front angreifen; zudem kann, wer sie kontrolliert – das sind aktuell die USA –, die chinesische Marine vor der chinesischen Küste einschließen und sie damit ihrer militärischen Handlungsfreiheit berauben. Washington ist zuletzt vor allem dazu übergegangen, die Philippinen als Marine-, Heeres- und Luftwaffenstützpunkt zuzurichten und damit den militärischen Druck auf China deutlich zu erhöhen (german-foreign-policy.com berichtete [10]). Derzeit droht der Konflikt zwischen Beijing und Manila um ein Riff im Südchinesischen Meer, das Second Thomas Shoal, zu eskalieren; aktuelle Berichte belegen, dass Manila Angebote der chinesischen Regierung, sich in Verhandlungen um eine friedliche Beilegung des Konflikts zu bemühen, brüsk abgewiesen hat – mutmaßlich in politischer Abstimmung mit Washington.[11]

Bündnisse und Manöver

Erst in der vergangenen Woche haben die Vereinigten Staaten ihre militärischen Bündnisse am Pazifik deutlich intensiviert. Zunächst empfing US-Präsident Joe Biden den japanischen Ministerpräsidenten Fumio Kishida im Weißen Haus, um den Ausbau nicht nur der wirtschaftlichen und der technologischen, sondern auch der militärischen Zusammenarbeit voranzutreiben. In die gemeinsamen Aktivitäten der jeweiligen Streitkräfte werde vor allem auch Australien einbezogen, hieß es.[12] Anschließend empfing Biden Kishida und den Präsidenten der Philippinen, Ferdinand „Bongbong“ Marcos, zu einem Dreiergipfel. Dabei ging es ebenfalls um die Verstärkung der Militärkooperation. Biden und Kishida sagten Marcos zudem ökonomische und technologische Unterstützung zu. Man habe erst unlängst gemeinsame Kriegsübungen der USA, Japans, der Philippinen und Australiens im Südchinesischen Meer durchgeführt, hieß es am Rande der Zusammenkunft; weitere solche Manöver sollten folgen. Die New York Times sprach ausdrücklich von der Schaffung einer „Vereinigten Front gegen China“.[13] In diese reiht sich jetzt die Bundeswehr mit dem diesjährigen Indo-Pacific Deployment ein.

 

[1] Helena Legarda: The Bundeswehr Returns to the Indo-Pacific. ip-quarterly.com 20.03.2024.

[2] S. dazu Die zweite Front der Bundeswehr

[3] S. dazu Kriegsspiele im Pazifik

[4] Pacific Skies/Pacific Waves: Auftakt zum Indo-Pacific Deployment 2024. bundeswehr.de 22.03.2024.

[5] Alex Luck: German Navy Chief Talks Indo-Pacific Deployment, Round The World-Sail. navalnews.com 05.02.2024.

[6] S. dazu Kriegserfahrung sammeln

[7] Pacific Skies/Pacific Waves: Auftakt zum Indo-Pacific Deployment 2024. bundeswehr.de 22.03.2024.

[8] Alex Luck: German Navy Chief Talks Indo-Pacific Deployment, Round The World-Sail. navalnews.com 05.02.2024.

[9] Pacific Skies/Pacific Waves: Auftakt zum Indo-Pacific Deployment 2024. bundeswehr.de 22.03.2024.

[10] S. dazu Spiel mit dem Feuer

[11] Franco Jose C. Baroña: PH ignored China’s proposals on sea row. manilatimes.net 11.03.2024.

[12] Peter Baker, Michael D. Shear: Biden and Kishida Agree to Tighten Military and Economic Ties to Counter China. nytimes.com 10.04.2024.

[13] Michael D. Shear: Biden Aims to Project United Front Against China at White House Summit. nytimes.com 11.04.2024.

Chinas unfaire "Überkapazitäten"

Mi, 10/04/2024 - 14:43

Der jüngste Unsinn der US-Finanzministerin Janet Yellen über Chinas "Überkapazitäten" und "unfaire Subventionen" für seine Industrie ist besonders erbärmlich. 

 

"Die so genannte Bedrohung durch Chinas industrielle Überkapazitäten" ist ein Schlagwort, das in Wirklichkeit bedeutet, dass China einfach zu wettbewerbsfähig ist, und was Yellen von China verlangt, ist in Wirklichkeit so, wie wenn ein Sprinter Usain Bolt bittet, weniger schnell zu laufen, weil er nicht mithalten kann."

Renaud Bertrand

In der Tat ist Bertrands Widerlegung von Yellens Behauptungen über "Überkapazitäten" folgendermaßen zu zitieren:

"Fangen wir mit der Kapazitätsauslastung an. Es ist ganz klar, dass sie in China in den letzten 10 Jahren ziemlich konstant war und derzeit bei etwa 76 % liegt, was in etwa der gleichen Größenordnung liegt wie die Auslastung in den USA mit etwa 78 %. Da gibt es also kein Problem."
Bertrand fährt fort: "Trotz der sehr niedrigen Preise für ihre EVs oder Solarpaneele machen die beteiligten chinesischen Unternehmen immer noch Gewinn (die Industriegewinne steigen zweistellig), und sie verlangen im Ausland höhere Preise als im Inland. Die Wettbewerbsfähigkeit chinesischer Unternehmen ist überwältigend: In zahlreichen Branchen - wie der Solarbranche oder den Elektrofahrzeugen - können amerikanische oder europäische Unternehmen heute einfach nicht mehr mit chinesischen Unternehmen konkurrieren. Das ist das eigentliche Problem: Yellen und die westlichen Staats- und Regierungschefs haben Angst, dass China, wenn es so weitergeht, einfach alle auffressen wird."

China ist das einzige Land der Welt, das alle von der Weltzollorganisation (WZO) klassifizierten Warenkategorien herstellt. Das verschafft dem Land einen entscheidenden Vorteil, wenn es um Endpreise geht: Wenn man etwas in China bauen will, kann man buchstäblich die gesamte Lieferkette dafür im eigenen Land finden.

Bertrand: "China hat sich zu einer Innovationsschmiede entwickelt. Im Jahr 2023 meldete das Land ungefähr so viele Patente an wie der Rest der Welt zusammen, und es wird geschätzt, dass es bei 37 der 44 kritischen Zukunftstechnologien führend ist. All dies hat auch Auswirkungen auf die Endpreise seiner Produkte.

Die europäischen Staats- und Regierungschefs haben Yellens Aussagen aufgegriffen.  Nach einem Treffen mit Xi in Peking im vergangenen Dezember stellte die Präsidentin der Europäischen Kommission, Ursula von der Leyen, fest, dass sich das Handelsdefizit der EU mit China von 40 Milliarden Euro vor 20 Jahren auf 400 Milliarden Euro aufgebläht hat, und wies auf eine Reihe von Beschwerden hin, darunter Chinas industrielle "Überkapazitäten".

Damit wir uns richtig verstehen: Das Handelsdefizit der EU mit China ist innerhalb von 20 Jahren von 40 Milliarden Dollar auf 400 Milliarden Dollar gestiegen!  Nicht in zwei Jahren, nicht in fünf Jahren, nicht in zehn Jahren, sondern in diesem ganzen Jahrhundert.  Erstens ist der Anstieg des Defizits pro Jahr nicht so groß, sagen wir 10-15 Milliarden Dollar, und während dieses Zeitraums hörten wir kaum Klagen von der EU, dass China unfaire Handelspraktiken anwendet.  Plötzlich, nach dem Debakel der steigenden Energiekosten nach dem Abschneiden der russischen Energieimporte und einer fast zweijährigen Rezession in den wichtigsten EU-Ländern, gibt von der Leyen China die Schuld. In der Tat ist der größte Teil des Anstiegs des "China-Defizits" in der Zeit nach der Pandemie aufgetreten.

Was die USA betrifft, so ist das bilaterale Handelsdefizit zwischen den USA und China im Verhältnis zur Größe der US-Wirtschaft derzeit so niedrig wie seit 2002 nicht mehr.  Wie Bertrand sagt: "Es ist also ein merkwürdiger Zeitpunkt, sich so lautstark über das Handelsungleichgewicht mit China zu beschweren, denn aus amerikanischer Sicht ist das Handelsungleichgewicht so niedrig wie seit über 20 Jahren nicht mehr."

Nichtsdestotrotz unterstützen die Keynesianer/China-Experten die Botschaft Yellens und plappern sie nach.  Hier ist ein Zitat aus einer westlichen Medienquelle: "Vor dem Hintergrund zunehmender internationaler Besorgnis glauben Experten, dass die Strategie des verarbeitenden Gewerbes die Wachstumsziele Pekings nicht erreichen wird. Die Exporte machen bereits ein Fünftel des BIP aus, und Chinas Anteil an der weltweiten Produktion liegt bei 31 Prozent. Ohne eine Explosion der Nachfrage sei es unwahrscheinlich, dass der Rest der Welt Chinas Exporte absorbieren könne, ohne dass die eigene Produktion schrumpfe", so die Experten.

Wer sind diese großen Experten?  Die üblichen Verdächtigen.

Michael Pettis sagt uns, dass China, wenn es seine Exporte im verarbeitenden Gewerbe ausweitet, "vom Rest der Welt aufgefangen werden muss". Und es ist unwahrscheinlich, dass der Rest der Welt das tun wird.  Tatsächlich?  Es scheint, dass China kein Problem damit hat, seine Exporte an die Verbraucher und Hersteller in der übrigen Welt zu verkaufen, die begierig sind, sie zu kaufen.

Ein weiterer Experte ist Brad Setser.  Setser sagt uns, dass "Chinas inländischer Markt für Elektroautos durch die Industriepolitik entstanden ist, er ist nicht aus dem Nichts aufgetaucht. Das ist ein entscheidender Punkt, der heute oft vergessen wird. Das Gleiche gilt für die HGV und die Windenergie, und China versucht es auch in anderen Sektoren."  Schock, Schrecken, das wurde nicht durch Marktkräfte erreicht, sondern durch staatlich gelenkte Investitionen.  Er fährt fort: "Die Tatsache, dass viele von Chinas Exporterfolgen nicht durch die Magie des Marktes zustande gekommen sind, erschwert zweifellos den Welthandel, da sich die Anpassung an Chinas Erfolge nicht wie eine echte Marktanpassung anfühlt."  Mit anderen Worten: Die USA, Europa und Japan können nicht mithalten.  Was ist also zu tun?  Setser sagt: "Ich denke, die USA sollten sich wirklich bemühen, Chinas wirtschaftlichen Zwang hier auszugleichen. Das wird ein paar Opfer erfordern, aber ich bin zumindest bereit, mich zu engagieren."   Wettbewerb heißt jetzt also "Zwang", und die USA müssen selbst mit Zwang reagieren, wobei Setser bereit ist, Yellen dabei zu helfen.

Die Rationalität dieses Unsinns liegt in der im Westen vorherrschenden Ansicht begründet, dass China in einem alten Modell der investitionsgestützten Exportproduktion feststeckt und eine Umstellung auf eine verbraucherorientierte Binnenwirtschaft vornehmen muss, in der der Privatsektor freie Hand hat.  Chinas schwacher Verbrauchersektor zwingt das Land dazu, zu versuchen, "Überkapazitäten" in der Fertigung zu exportieren.

Die Beweise dafür sind jedoch nicht vorhanden. Einer aktuellen Studie von Richard Baldwin zufolge funktionierte das exportorientierte Modell zwar bis 2006, doch seitdem boomt der Inlandsabsatz, so dass das Verhältnis zwischen Exporten und BIP sogar gesunken ist.
"Der chinesische Konsum chinesischer Industriegüter ist seit fast zwei Jahrzehnten schneller gewachsen als die chinesische Produktion. Der chinesische Inlandsverbrauch von in China hergestellten Waren ist bei weitem nicht unfähig, die Produktion zu absorbieren, sondern ist VIEL schneller gewachsen als die Produktion des chinesischen verarbeitenden Gewerbes."

Trotz aller Bemühungen des Westens, Zölle und andere protektionistische Maßnahmen zu verhängen, bleiben die chinesischen Hersteller auf den Weltmärkten äußerst wettbewerbsfähig.  Besonders gut schneidet China bei der Produktion von Elektrofahrzeugen, Solarenergie und anderen grünen Technologien ab. Wie Baldwin betont, bedeutet dieser Exporterfolg jedoch nicht, dass das Wachstum Chinas vom Export abhängt.  China wächst vor allem durch die Produktion für die heimische Wirtschaft, wie die USA.

Aber es gibt noch einen besorgniserregenden Aspekt dieses "Überkapazitäts"-Unsinns.  Er wurde von Wirtschaftswissenschaftlern im chinesischen Bankensektor, die hauptsächlich an westlichen Universitäten ausgebildet wurden, mit Haut und Haaren geschluckt.  Nehmen wir die jüngste Rede des Chefvolkswirts der China Bank, Zu Gao.  Seine Rede wurde von Leuten wie Pettis und Setser hoch gelobt.  Xu argumentierte, dass "die im Vergleich zum weltweiten Durchschnitt deutlich niedrigere Konsumquote in China die Hauptursache für die schwache Inlandsnachfrage und den wirtschaftlichen Abschwung des Landes ist".

Xu erklärt, dass "die schwache Inlandsnachfrage, die durch eine schwache Auslandsnachfrage oder ein geringes Exportvolumen verstärkt wird, zu einer unzureichenden Gesamtnachfrage führt und damit das Wirtschaftswachstum abwürgt. In diesem Sinne liegen die langfristigen Wachstumsbeschränkungen für die chinesische Wirtschaft nicht im Angebot, sondern in der Nachfrage." 
Wirklich?  Die relative Wachstumsverlangsamung Chinas in den letzten zehn Jahren ist auf die Verlangsamung des Wachstums der Erwerbsbevölkerung zurückzuführen, so dass das Wirtschaftswachstum in erster Linie von der Steigerung der Arbeitsproduktivität abhängt.  Und das hängt von Investitionen in produktivitätssteigernde Technologien ab, nicht vom Konsum, der von den Ressourcen für Investitionen abgezogen wird.  Und welche Länder haben in den letzten Jahren ein schnelleres Wachstum erzielt: der konsumorientierte Westen oder das konsumarme China?

Xu schließt an seine klassische, krude keynesianische Theorie an, indem er sagt, dass "das Ziel des Wirtschaftswachstums darin besteht, die Erwartungen der Menschen an ein besseres Leben zu erfüllen, was sich in erster Linie durch ihre Erwartungen an einen höheren Konsum - bessere Qualität von Lebensmitteln, Kleidung und Freizeitaktivitäten - manifestiert. Wenn der Konsum eines Landes nur einen kleinen Teil seines BIP ausmacht, deutet dies auf eine Diskrepanz zwischen dem gesamtwirtschaftlichen Wachstum (wie es durch das BIP dargestellt wird) und den Lebenserfahrungen der Bevölkerung hin.

Aber das ist einfach nicht wahr.  Ein niedriger Anteil des Verbrauchs am BIP bedeutet nicht unbedingt ein niedriges Verbrauchswachstum.  Und Chinas Verbrauchswachstum ist viel schneller als das der konsumorientierten Volkswirtschaften des Westens.

Dann kommen wir zum eigentlichen Zweck von Xus Rede.  "Die starke Präsenz staatlicher Unternehmen in China, deren Gewinne und Dividenden in erster Linie an den Staat und nicht an die Haushalte fließen, schwächt den Wohlstandseffekt ab, der andernfalls den Verbrauch der Haushalte anregen könnte.  Sie sehen, die staatlich gelenkte Wirtschaft Chinas ist das Problem: Sie verhindert das Funktionieren eines "effizienten Marktmechanismus".

Was ist also zu tun? "Natürlich sind die staatlichen Unternehmen in China technisch gesehen im Besitz des Volkes, doch ihr Eigenkapital befindet sich überwiegend im Besitz des Staates. Folglich fließen die Dividenden staatlicher Unternehmen in erster Linie an den Staat und nicht an die Haushalte; die nach der Dividendenausschüttung einbehaltenen Gewinne staatlicher Unternehmen fließen nicht direkt in die Bilanzen der Haushalte ein, so dass es schwierig ist, zum Wohlstand der Haushalte beizutragen.  Deshalb, so Xu, "müssen wir alle SOE-Aktien an die Bürger verteilen", d.h. die staatlichen Unternehmen privatisieren.

Der Chefvolkswirt der China Bank, Xu, scheint zu glauben, dass die einzige Antwort auf den wahrgenommenen "Nachfragemangel" und die "Überkapazitäten" in China darin besteht, die Vorherrschaft des "effizienten Marktmechanismus wiederherzustellen".

 

 

Die Chemie stimmt nicht - BASF, BAYER & Co. verlieren im weltweiten Wettbewerb an Boden

So, 07/04/2024 - 16:36

Bei den deutschen Chemie-Unternehmen lief es im Jahr 2023 nicht gut. Der Umsatz ging gegenüber 2022 um zwölf Prozent auf 230 Milliarden Euro zurück. "Besonders kräftig fiel der Rückgang im Inlandsgeschäft aus - die Verkäufe sanken um 16 Prozent auf 86 Milliarden Euro". (Verband der Chemischen Industrie,VCI). Dementsprechend reduzierte sich auch der Ausstoß der Fabriken um acht Prozent, die Pillen-Fabrikation herausgerechnet sogar um elf Prozent.

 

Auszug aus dem isw-wirtschaftsinfo 64, März 2024

Mit je 15 Prozent am stärksten brach die Fertigung von Petro-Chemikalien inklusive Derivaten und von Polymer-Kunststoffen ein. Nur zu 77 Prozent nutzte die Branche ihre Kapazitäten aus. "Damit liegt die Produktion seit rund neun Quartalen unter der wirtschaftlich notwendigen Grundauslastung von 82 Prozent", konstatierte der Verband am 15. Dezember 2023 auf Basis der Zahlen bis einschließlich November.
Bei der BASF rutschte der Umsatz um 18,5 Milliarden Euro auf rund 69 Milliarden Euro ab und bei Wacker um 22 Prozent auf 6,4 Milliarden Euro. Von den meisten anderen Unternehmen lagen bislang noch keine Zahlen für das Gesamtjahr vor, lediglich für das 3. Quartal 2023; aber auch hier liegen die Einbrüche jeweils bei über 20 Prozent.
Bei Covestro waren es 22,7 Prozent, bei Lanxess 26,7 Prozent und bei Evonik 23 Prozent. Nur bei den Konzernen, die mit Haushaltschemikalien, Pestiziden oder Pharmazeutika handeln, sieht es etwas besser aus.
Der drittgrößte bundesdeutsche Industrie-Zweig, der rund 480.000 Beschäftigte zählt, reagiert auf die schlechten Bilanzen mit den üblichen Maßnahmen. BASF etwa vernichtet 2.600 Arbeitsplätze. Zudem legte die Aktiengesellschaft in Ludwigshafen Werke zur Herstellung von Ammoniak und Kunststoff still.
Daneben gab sie Pläne bekannt, die Bereiche "Agro-Chemikalien" und "Batterie-Chemikalien" aus der Verbundstruktur zu lösen und zu eigenständigen Einheiten umzugestalten – normalerweise der erste Schritt zu einer Abspaltung. Den Verkauf von Wintershall Dea – lange Zeit die Gasleitung der Firma nach Russland – an das britische Unternehmen Harbour Energy machte das Management kurz vor Weihnachten 2023 bekannt. Allerdings beabsichtigt die Bundesregierung, den Deal intensiv zu prüfen, weil sie die BASF-Tochter wegen ihres Pipeline-Netzes in Deutschland zur kritischen Infrastruktur zählt und ihres Zugriffs auf Öl und Gas wegen als wichtig für die Energiesicherheit des Landes erachtet. Evonik folgt dem Vorbild BASF und formt seine Sparte "Technology & Infrastructure" zu einer eigenständigen Gesellschaft um. "Vom vollständigen Verbleib im Konzern über Partnerschafts- und Joint-Venture-Modelle werden alle Optionen geprüft", heißt es in einer Pressemitteilung. Überdies legte der Chemie-Riese ein Sparprogramm im Umfang von 250 Millionen Euro auf. Damit nicht genug, steht noch eine Umstrukturierung der Verwaltung an. Einen solchen Plan hegt auch Bayer. Zudem kündigte der Vorstandsvorsitzende Bill Anderson Mitte Januar 2024 einen "erheblichen Personalabbau" an. Finanzinvestoren fordern vom Management des Unternehmens, dessen Börsen-Kurs infolge der Schadensersatz-Prozesse in Sachen "Glyphosat" immer neue Tiefstände erreicht, sich von einzelnen Sparten zu trennen. Eine Entscheidung darüber will der Leverkusener Multi Anfang März 2024 am Kapitalmarkt-Tag bekanntgeben.
Wacker verspricht seinen Aktionären derweil, einen "verstärkten Fokus auf Effizienz und Kostendisziplin" zu legen, während Lanxess erwägt, sich von der Abteilung mit den Polyurethan-Kunststoffen zu trennen. Covestro ist indes als Ganzes gefährdet. Der saudi-arabische Öl-Gigant Adnoc interessiert sich für eine Übernahme und führt entsprechende Verhandlungen mit dem Vorstand.
Gegenüber ihrer ausländischen Konkurrenz verlor die deutsche Chemie-Industrie 2023 an Boden.
In Europa hatte bei der Produktion mit einem Minus von 9,5 Prozent nur Polen einen drastischeren Einschnitt zu verkraften. Der Durchschnittswert – auf Basis der Zahlen von Januar bis November 2023 – lag bei -0,6 Prozent. Im globalen Maßstab legte der Ausstoß sogar zu: +2,2 Prozent. Neben Russland (+5,2 Prozent) verzeichneten vor allem Indien (+5,4 Prozent) und China (+5,8 Prozent) Steigerungen.

Das Klagelied

Als Hauptgrund für die Misere nennt die Branche die gestiegenen Strompreise nach dem Stopp der Lieferungen aus Russland.
Tatsächlich hat kaum ein anderer Industrie-Zweig einen derart hohen Bedarf an Energie; neun Prozent des gesamten Verbrauchs in Deutschland gehen auf sein Konto. An erster Stelle steht dabei die Kunststoff-Produktion mit all ihren Vorstufen. Nicht zuletzt deshalb ist die BASF der größte Gas-Konsument des Landes. Im europäischen Vergleich jedoch bewegt sich die finanzielle Belastung deutscher Unternehmen bei diesem Kostenfaktor nach Angaben der Statistik-Behörde Eurostat und der "Internationalen Energie-Agentur" im Mittelfeld. Die Betriebe profitieren nämlich von zahlreichen Vergünstigungen wie Befreiungen von der Strom-Steuer, einer "Strompreis-Kompensation" und kostenlosen CO2-Verschmutzungszertifikaten. Evonik & Co. verweisen jedoch vornehmlich auf die USA, wo die Kosten für Strom nur ein Viertel dessen betragen, was die Firmen in Deutschland aufbringen müssen.
Des Weiteren führen die Chemie-Riesen die weltweit schwache Nachfrage für ihre Erzeugnisse als Ursache für ihre schlechten Bilanzen an. Hierzulande litten sie als Anbieter von Vorleistungsgütern speziell unter der schwierigen Lage, dem Konjunktur-Einbruch im Baubereich, auf den mehr als 50 Prozent aller Investitionen kommen, und der Situation im Automobil-Sektor.
Darüber hinaus verweisen die Unternehmen auf zu viel Bürokratie im Allgemeinen und zu lange Genehmigungsverfahren für neue Anlagen im Besonderen. Sie klagen zudem über die Masse an Auflagen aus Brüssel hinsichtlich Umwelt- und Sozialstandards sowie über die Belastungen durch die Umstellung auf klima-freundlichere Produktionsverfahren. Schließlich beanstandet die Branche noch die angeblich zu hohe Steuerlast und Defizite bei der Infrastruktur.
Dementsprechend lang ist der Forderungskatalog. "Die Bundesregierung muss den Alarmruf der energie-intensiven Industrie ernst nehmen. Uns eint der Wille, die Deindustrialisierung zu stoppen. Ein entscheidender Schritt ist ein international wettbewerbsfähiger Strompreis. Deshalb brauchen wir einen Brückenstrompreis und die Beibehaltung des Spitzenausgleichs", mahnte der "Verband der Chemischen Industrie" (VCI) im September 2023 an. Drei Monate später hieß es dann: "Das Energiethema ist aber nur eins von vielen ungelösten Problemen. Auf der Mängelliste stehen weiterhin die marode Infrastruktur, der Fachkräftemangel oder die überbordende Bürokratie und Regulierung." Und nach Ansicht des VCI-Präsidenten Markus Steilemann haben die Konzerne schon reagiert.
 "Die Leute laufen in die USA, als gebe es kein Morgen mehr", so der Covestro-Manager.

Tatsächlich reduzierten in 2023 40 Prozent der Firmen ihre Investitionen im Inland. Demgegenüber stehen 23 Prozent, die ihre Ausgaben erhöhten. Was das Ausland betrifft, so verhält es sich nahezu umgekehrt: 21 Prozent fuhren ihre Investitionen zurück, während 37 Prozent drauflegten. Die Pläne für 2024 sehen laut VCI ähnlich aus. In Deutschland wollen 38 Prozent ihre Investitionen kappen und 31 Prozent mehr Geld anlegen, im Ausland hingegen wollen nur 18 Prozent sparen und 44 Prozent tiefer in die Tasche greifen. Allerdings lassen sich Chemie-Fabriken nicht so einfach in einer Lauftasche mitführen oder aus dem 3D-Drucker zaubern. Standort-Entscheidungen haben einen langen Vorlauf und erfordern umfangreiche Planungen und Bau-Tätigkeiten. Die Rede von der Deindustrialisierung Deutschlands gehört deshalb zu einem guten Stück auch zu einem Horrorszenario, mit dem BASF & Co. ganz bewusst Politik machen.
Zudem ist der Kostenfaktor oftmals gar nicht ausschlaggebend dafür, ein bestimmtes Land für die Errichtung einer neuen Niederlassung zu wählen. "Markterschließung bleibt das wichtigste Motiv für Investitionen an Standorten im Ausland", muss der VCI konzedieren. 59 Prozent der Unternehmen nannten das als Hauptgrund, Einsparungen nur 41 Prozent. Nur bei Engagements in Nordamerika dominierten finanzielle Erwägungen.
Europa-weit rechnen nach einer Erhebung der Unternehmensberatung Deloitte unter Chemie-Managern 81 Prozent mit einem Abzug energie-intensiver chemischer Wertschöpfungsstufen vom alten Kontinent. 71 Prozent haben dabei die Vereinigten Staaten als Ziel im Auge, wobei 58 Prozent angeblich dem Ruf des "Inflation Reduction Acts" und anderer Programme bereits gefolgt sind.

 

Gipfel-Politik

Die Bundes- und Landesregierungen machten die neuerlichen Fernweh-Anwandlungen merklich nervös. Nicht nur deshalb beschäftigten sie sich eingehend mit dem Wunschzettel der Branche. In Formaten wie "Chemie-Allianz", "Pharma-Gipfel" und "Chemie-Gipfel" nahm die Ampel-Koalition deren Kritik auf und versprach Besserung. Auch in der Industrie-Strategie mit ihrer "transformativen Angebotspolitik", die in den durch den Ukraine-Krieg ausgelösten Verwerfungen nach der Finanzkrise und der Corona-Pandemie den dritten Anwendungsfall  für ein aktives Eingreifen in den Wirtschaftsprozess jenseits des "Laissez-faire" des Neoliberalismus gekommen sieht, räumen SPD, Grüne und FDP dem Begehr der Chemie-Firmen viel Platz ein.
Die Chemie-Allianz konstituierte sich aus zwölf Bundesländern, die sich dem "Erhalt der chemischen Industrie in Deutschland" verschrieben haben.
"Ohne ein entschlossenes Gegensteuern besteht die akute Gefahr einer Verlagerung von Produktion und damit Arbeitsplätzen an kostengünstigere Standorte im Ausland",
hielten die Ministerpräsidenten fest. Darum machten sie sich zu Fürsprechern der Konzerne und forderten von der Ampel-Koalition im Vorfeld des Chemie-Gipfels unter anderem eine Absenkung der Strom-Steuer sowie einen "zeitlich befristeten Brückenstrompreis".

Eine Zusage dazu wollte Olaf Scholz bei dem Treffen, an dem Vertreter des VCI, der Chemie-Unternehmen, des Bundesarbeitgeberverbandes Chemie, der IG BCE sowie Bundesminister und Ministerpräsidenten der Länder teilnahmen, allerdings nicht geben. Es blieb bei einer Absenkung der Stromsteuer auf das EU-Minimum von 0,50 Euro pro Megawattstunde. Zusammen mit den Zuschüssen zu den Netzentgelten und anderen Wohltätigkeiten kommen da für die energieintensiven Firmen bis 2028 Subventionen in Höhe von 28 Milliarden Euro heraus – und ein Strompreis von sechs Cent pro Kilowattstunde. Trotzdem hätten BASF & Co. lieber einen Industriestrompreis gehabt.
Ansonsten aber lieferte der Chemie-Gipfel. So sicherte die Ampelkoalition den Multis eine "Planungs-, Genehmigungs- und Umsetzungsbeschleunigung" zu.
Zudem stellte sie Unterstützung bei der Verhinderung eines kompletten Banns der gesundheitsschädlichen PFAS-Chemikalien in Aussicht.
SPD, Grüne und FDP sprachen sich gegen "pauschale, undifferenzierte Verbote ganzer Stoffklassen" aus. Umweltministerin Steffi Lemke suchte stattdessen den Schulterschluss mit den Unternehmen: "Wir brauchen eine starke Chemie-Branche, die für ihre Weiterentwicklung zu nachhaltiger Chemie Planungssicherheit und klare Rahmenbedingungen bekommen muss."

Auch darüber hinaus tut die Ampel alles, um die Konzerne vor Unbill aus Brüssel zu verschonen bzw. den europäischen Regulierungsrahmen "ausgewogener" zu gestalten. Sie stellte sich – Koalitionsvertrag hin oder her – etwa der Zulassungsverlängerung für Glyphosat nicht entgegen. Und gegen die Deregulierungen der neuen Gentechniken erhebt sie so wenig Einspruch wie gegen die Aufweichung der Luftqualitätsrichtlinie.

Den Rest erledigt die Kommission selbst. Sie verschob die Verschärfung der REACH-Verordnung, welche die Registrierung, Bewertung, Zulassung und Anwendungs-beschränkungen von chemischen Substanzen regelt, auf unbestimmte Zeit. Auch nahmen von der Leyen & Co. die Prüfung eines Export-Verbots für solche Pestizide, die innerhalb der EU wegen ihrer Risiken und Nebenwirkungen keine Zulassung (mehr) haben, aus ihrem Arbeitsprogramm. Zum Ende der Legislatur-Periode ist deshalb von dem zuvor groß angekündigten Green Deal kaum noch etwas übrig.

Parallel zum Chemie-Gipfel lud die Bundesregierung auch zum Pharma-Gipfel. Dort stellte Gesundheitsminister Karl Lauterbach die "Pharma-Strategie" des Bundes vor. Diese möchte er in ein Medizinforschungsgesetz einfließen lassen mit dem Ziel, den Pillen-Standort Deutschland zu stärken. "Mit Bayer hat er deshalb eine Gesetzesinitiative abgesprochen", meldete der "Kölner Stadtanzeiger". Der Gesundheitsminister erklärte gegenüber der Zeitung freimütig, bei der Arbeit an dem Projekt im engen Austausch mit Stefan Oelrich, dem Pharma-Vorstand des Leverkusener Multis, gestanden zu haben. Der hatte nämlich im Januar 2023 lamentiert: "Die europäischen Regierungen versuchen, Anreize für Forschungsinvestitionen zu schaffen, aber auf der kommerziellen Seite machen sie uns das Leben schwer", und für Bayer hat er die Konsequenz gezogen:
"Wir verlagern unseren kommerziellen Fußabdruck und die Ressourcen deutlich weg von Europa." Im Mai gab der Pillen-Riese dann bekannt, seine Forschungsausgaben in den USA verdoppeln und eine Milliarde Dollar investieren zu wollen.

Das hat Lauterbach, der seinen Wahlkreis in Leverkusen hat, anscheinend alarmiert. Sein Paragraphen-Werk sieht nun unter anderem vor, den Pillen-Riesen klinische Studien zu erleichtern, das Extra-Profite garantierende Patentrecht auf europäischer Ebene zu verteidigen und "Anreize zum Aufbau von Produktionsstätten in Deutschland" zu prüfen. Die Genehmigungsdauer für Medikamenten-Tests plant die Ampelkoalition auf fünf Tage zu verkürzen. Darüber hinaus beabsichtigt sie, neben Uni-Kliniken auch ganz normalen Krankenhäusern zu erlauben, klinische Prüfungen für die Pharma-Industrie durchzuführen, was alles nicht gerade der Sicherheit der Probanden dient. Parallel dazu schuf Lauterbach im "Gesetz zur Beschleunigung der Digitalisierung des Gesundheitswesens" schon einmal bessere Möglichkeiten zur Nutzung von Patienten-Daten zu Forschungszwecken und erfüllte damit eine Forderung des Leverkusener Multis. "Problematisch in Deutschland ist neben der Bürokratie der fehlende Zugang zu Forschungsdaten. Es ist hierzulande schwerer als in anderen Industrie-Nationen, für die Forschung an anonymisierte Patienten-Daten zu kommen, hatte Oelrich noch im April 2023 geklagt. Das "Handelsblatt" zeigte sich dementsprechend begeistert über das Vorhaben des Gesundheitsministers. "Lauterbach-Pläne könnten Wirtschaft Milliarden-Einnahmen bescheren", frohlockte die Zeitung.

Auch Roche zeigte sich zufrieden mit den Aussichten. Nach Einschätzung des Unternehmens hat die Pharma-Strategie das Potenzial, "Fehlentwicklungen zu korrigieren und bietet die Chance, dass Deutschland zukünftig wieder ein Beispiel für Spitzenforschung, Spitzenversorgung und Spitzenindustrie in der Gesundheit wird". Der Konzern kündigte Investitionen in Höhe von rund drei Milliarden Euro binnen der nächsten drei Jahre an, die er als "Vorleistung und Vertrauensvorschuss für die Politik" verstanden wissen will.

Die Verfassungsbeschwerde gegen das "Gesetz zur finanziellen Stabilisierung der gesetzlichen Krankenversicherung", das die freie Preis-Gestaltung für neue Medikamente auf einen Zeitraum von sechs Monaten begrenzte und die Porto-Kassen der Pillenhersteller noch mit einigen weiteren Maßnahmen belastete, lässt Roche jedoch nicht fallen. Dem Vorstandsvorsitzenden Hagen Pfundner ist es nämlich ein Anliegen, höchstrichterlich klären zu lassen, ob es dem Staat "je nach Bedarf" erlaubt sein darf, "Unternehmen in die Tasche zu greifen".

Chemie- und Pharma-Gipfel haben die Wunschliste der Branche also konsequent abgearbeitet. Daneben profitieren Bayer & Co. noch von den allgemeinen Wohltaten der Ampelkoalition, wie dem Wachstumschancen-Gesetz, und dürfen dank Robert Habeck zusätzlich noch auf eine Unternehmenssteuerreform hoffen.

Das China-Syndrom

In Sachen "China" verstört der Wirtschaftsminister die Branche allerdings ebenso häufig wie seine Ampel-Partner. Sogar in seinem eigenen Haus stößt er auf Widerstand, denn die Aufgeschreckten wissen um die Bedeutung des Landes für die Chemie-Industrie und die deutsche Wirtschaft im Allgemeinen. Dabei hatte die Bundesregierung im Juli 2023 eine gemeinsame China-Strategie vorgelegt. "China hat sich verändert – dies und die politischen Entscheidungen Chinas machen eine Veränderung unseres Umgangs mit China erforderlich", heißt es darin. Nunmehr ist das Land "gleichzeitig Partner, Wettbewerber und systemischer Rivale". Deshalb wollen SPD, Grüne und FDP künftig einseitige Abhängigkeiten – z.B. bei Rohstoffen – vermeiden und die "technologische Souveränität" wahren. "Unternehmen müssen geopolitische Risiken bei ihren Entscheidungen adäquat berücksichtigen. Die Kosten von Klumpenrisiken müssen unternehmensseitig verstärkt internalisiert werden, damit im Falle einer geopolitischen Krise nicht staatliche Mittel zur Rettung einstehen müssen", mahnen sie.
Zudem sieht die China-Strategie eine Überprüfung chinesischer Direktinvestitionen in Deutschland vor, wenn diese in kritische Infrastruktur und Hoch- oder Grundlagen-Technologien fließen.
Aber während SPD und FDP vor der Feinderklärung zurückschrecken und zur Vertretung deutscher Wirtschaftsinteressen auch den Konflikt mit den USA nicht scheuen, die strikt auf Konfrontationskurs sind, denken die Grünen transatlantisch. So wollte Robert Habeck eine Beteiligung der chinesischen Staatsreederei Cosco am Hamburger Hafenterminal Tollerort verhindern. Gegenüber Olaf Scholz konnte er sich damit aber nicht durchsetzen. Der hatte den amerikanischen Freunden seine Position zu China diplomatisch verklausuliert in der einflussreichen Zeitschrift "Foreign Affairs" dargelegt: "Chinas Aufstieg ist weder eine Rechtfertigung für die Isolation Pekings noch für eine Einschränkung der Zusammenarbeit. Aber zugleich rechtfertigt Chinas wachsende Macht auch keine Hegemonialansprüche in Asien und darüber hinaus."
Habeck ließ jedoch nicht locker. Im Januar 2024 unternahm er sogar einen – von der China-Strategie nicht gedeckten – Vorstoß dazu, Kontrollen von Direktinvestitionen nicht mehr nur One-Way, sondern auch in Richtung Deutschland-China vorzunehmen. Bei solchen Operationen besteht seiner Meinung nach nämlich ebenfalls die Gefahr eines unerwünschten Technologie-Transfers. Da die Vereinigten Staaten ein solches "Outbound Investment Screening" bereits betreiben und die Bündnispartner drängen, es ihnen nachzutun, versuchte Habeck, einen solchen Mechanismus in die von der EU auf den Weg gebrachte "Strategie für wirtschaftliche Sicherheit" zu implementieren.
Trotz tatkräftiger Mithilfe von Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen scheiterte das Unterfangen allerdings am Widerstand der Wirtschaft. So verfolgte laut "Handelsblatt" die "Deutsche Industrie- und Handelskammer" (DIHK) "die Diskussion über eine neue staatliche Aufsicht von Auslandsinvestitionen mit großer Sorge". Aktivitäten zu verbieten oder zu reglementieren, lehnt die DIHK ebenso wie der VCI ab.
Überdies erteilte DIHK-Präsident Martin Wansleben der "Vorstellung, dass es relativ leicht ist, China kurzfristig als Handelspartner zu ersetzen", eine Absage. Eine Reise nach Südostasien im Begleittross von Außenministerin Annalena Baerbock verfehlte offensichtlich den erhofften Zweck, ökonomische Beziehungen jenseits des Reiches der Mitte zu vertiefen.

"Das Geschäft mit der Region Asien-Pazifik ohne den chinesischen Markt kann immer nur ein Add-on sein, eine Absicherung in Form eines China plus 1‘ – aktuell aber kein Ersatz für China",
so Wansleben.
 Das gilt in besonderer Weise für die Chemie, denn weltweit werden 43 Prozent aller Geschäfte des Sektors in China abgewickelt.
Der Wacker-Konzern macht dort 30 Prozent seines Umsatzes, Covestro 20 Prozent, die BASF 14 Prozent und Evonik acht Prozent. Die BASF baut in Zhanjiang für zehn Milliarden Euro gerade den nach Ludwigshafen und Antwerpen drittgrößten Verbund-Standort des Unternehmens auf.
"Ohne das Geschäft in China wäre die notwendige Umstrukturierung hier nicht so möglich", sagt der Vorstandsvorsitzende Martin Brudermöller mit Verweis auf die Elektrifizierung der Produktionsprozesse. Auch Merck, Covestro, Evonik, Henkel und Bayer investieren weiter in dem Land. Der Glyphosat-Produzent beteiligte sich etwa an der Biopharmazie-Firma Jixing und nutzte die alljährlich in Shanghai stattfindende Import-Messe CIIE neben der Präsentation seiner Agrar- und Pharma-Produkte auch dazu, um Kooperations-vereinbarungen mit chinesischen Firmen abzuschließen. "Dies ist eine wirklich wichtige Veranstaltung", sagte Unternehmenssprecher Matthias Beringer in einem Interview mit "China Daily": "Sie wurde eingeführt, um sicherzustellen, dass China nicht nur als großer Exporteur, sondern auch als offener Markt für Importe präsentiert wird. Für Bayer ist es unser Ziel, Brücken zu bauen und Partnerschaften über manchmal sehr schwierige Grenzen hinweg zu schließen." Allerdings treffen die Firmen Vorsichtsmaßnahmen für den Fall zunehmender Spannungen zwischen dem Westen und China. Im Zuge dieses "De-Risking" entkoppeln viele der Betriebe ihre Geschäfte dort von denjenigen im Rest der Welt und produzieren stattdessen "in China für China".
Von den europäischen Chemie-Multis, die Deloitte befragte, gaben 71 Prozent an, ihre digitalen und physischen Vermögenswerte im Reich der Mitte künftig unabhängiger verwalten zu wollen. "Angesichts geopolitischer Spannungen überprüfen die europäischen Chemie-Hersteller insgesamt ihre Investitionsstrategien.
Die Unternehmen regionalisieren ihre Lieferanten-Netzwerke und Produktionskapazitäten und nutzen Investitionsanreize, um sich resilienter aufzustellen", resümiert Deloitte-Director Dr. Alexander Keller.

Die Bundesbank befasste sich derweil bereits mit den finanziellen Risiken, die aus den Engagements in China erwachsen, wenn die Konflikte mit den USA zunehmen oder der strauchelnde Immobiliensektor in China eine Wirtschaftskrise auslöst. Nach Einschätzung der Banker wären die Folgen schwerwiegend, da die Geldhäuser die Projekte von BASF, VW & Co. mit Krediten in beträchtlicher Höhe stützen. Dem Monatsbericht der Bundesbank vom Januar 2024 zufolge beliefen sich die Forderungen der Geldhäuser auf fast 220 Milliarden Euro (Stand: Ende 2022) – nicht weniger als 42 Prozent ihres Kernkapitals. "Insbesondere systemrelevante Institute haben vergleichsweise hohe Gesamtforderungen", so die Bundesbank.

Ausblick

Das alles sind keine guten Aussichten für die Branche, und positive Entwicklungen zeichnen sich kaum ab. Deshalb schaut der VCI nicht eben hoffnungsvoll in die nähere Zukunft. Für das laufende Jahr rechnet er mit einem Umsatz-Minus von drei Prozent und einer stagnierenden, aber wenigstens nicht weiter abfallenden Produktion. "Die Talsohle scheint erreicht", so der Verband. Nach einer Umfrage bei den Mitgliedsunternehmen erwartet der Großteil (45 Prozent) eine Belebung des Geschäfts erst 2025 oder später, 33 Prozent im 2. Halbjahr 2024 und 13 Prozent noch im 1. Halbjahr 2024. Lediglich Zehn Prozent spüren bereits jetzt einen Aufwärtstrend.

 

CCS: der beschleunigte Weg in die Klimakatastrophe

Fr, 05/04/2024 - 17:57

CCS heißt: Carbon Capture and Storage,
also Kohlenstoff einfangen und speichern.
Tatsächlich soll jedoch Kohlendioxid eingefangen und in Deponien endgelagert werden. Es geht also weder um Kohlenstoff noch um Speicher. Mit falschen Begriffen soll einem „weiter so“ der fossilen Energiewirtschaft der Weg geebnet werden.

Mit „CCS“ gehen 50 Jahre Falschinformation der fossilen Energiewirtschaft in die nächste Runde. Wie die aktuelle Gesetzesplanung offenbart, geht es vorrangig bei CCS um die dauerhafte Nutzung von Erdgas. Die Bundesregierung plant, dass die geplanten neuen Gaskraftwerke in Deutschland baulich CCS-Ready gebaut werden sollen, also die Hauptlieferanten für die CO2-Deponien würden. Die Unternehmen, die uns seit 50 Jahren bewusst in die Klimakatastrophe geführt haben, sollen jetzt ein Feigenblatt für die Fortsetzung ihres Geschäftsmodells bekommen und die Erde weiter in den Abgrund der Klimakatastrophe führen.

Erdgas besteht aus Methan. Methan ist das zweitwichtigste klimaaktive Gas und für rund ein Drittel der menschengemachten Klimaerwärmung verantwortlich.
Eine, wenn nicht sogar die Hauptquelle des von Menschen emittierten Methans, ist die Öl- und Gasindustrie.[1]
Gerade das Fracking-Erdgas aus den USA, das wir derzeit in steigenden Mengen als LNG (verflüssigtes Erdgas) nach Deutschland importieren, ist deutlich schädlicher für das Klima, als die Nutzung von Steinkohle.[2]
CCS plus LNG bilden eine gefährliche Kombination, die die Klimakatastrophe zusätzlich beschleunigt.

CCS ist eine gescheiterte Technik, die nicht hält, was sie verspricht

Der Europäische Rechnungshof hat 2018 festgestellt, dass alle 12 von der EU geförderten CCS-Projekte die Ziele nicht erreicht haben.[3]

Auch weltweit ist CCS von gescheiterten Projekten gekennzeichnet[4] oder wurde vorrangig genutzt, um noch mehr Öl und Gas zu fördern[5] und die Klimakatastrophe weiter anzuheizen.[6]

Während die CO2-Minderungsziele verfehlt wurden, sind die Kosten explodiert.[7]

Die Verbrennung von Müll wird als eine der „unvermeidbaren“ CO2-Quellen angeführt, die CCS unbedingt notwendig machen würden. Fakt ist aber: die Anlage mit der höchsten Abscheiderate einer Müllverbrennungsanlage hat gerade einmal 11% des CO2 eingefangen, also 89% CO2 emittiert.[8] Da die Zusammensetzung von Müll stark schwankt, ist eine Optimierung der CO2-Abscheidung auch kaum möglich. Gerade dort, wo CCS angeblich unverzichtbar ist, ist es technisch bisher gescheitert.

Die CO2-Deponien sind weder sicher, noch wird CO2 dauerhaft gebunden

 Frühere Vermutungen, dass sich Erkenntnisse einzelner CO2-Deponien auf andere übertragen ließen, haben sich nicht bewahrheitet. Eine aktuelle Studie zu den „Vorzeige“-Deponien in Norwegen zeigt die erheblichen Probleme sowie fehlende Vorhersagbarkeit und Übertragbarkeit von Erkenntnissen der Deponieeigenschaften auf.[9]

In den für die Errichtung von CO2-Deponien vorgesehenen Feldern in der Nordsee gibt es wahrscheinlich rund 1.800 undichte Bohrlöcher[10] sowie einzelne Blowouts.

Es findet weder ein systematisches Monitoring statt, noch werden undichte Altbohrungen abgedichtet.

Für eine Abdichtung von Leckagen von CO2-Deponien in der Nordsee gibt es noch keine etablierten Verfahren.

Aus dem Blowout von 1990 vor Schottland treten jedes Jahr zusätzlich 300.000 t Methan aus.[11] Dort lässt sich auch beobachten, welche gravierenden Auswirkungen Leckagen auf die Umwelt und die Artenzusammensetzung haben.

Daher kann nicht davon ausgegangen werden, dass die CO2-Deponien dicht sein werden. Das CO2 würde sich durch die Sedimente hindurchbewegen und die dortige Artenzusammensetzung massiv beeinträchtigen,[12] das Meerwasser weiter versauern und teilweise wieder in die Atmosphäre gelangen.

Das Einbringen von Millionen Tonnen CO2 in den Untergrund Jahr für Jahr könnte zu Auftrieb und Erdbeben führen, ähnlich dem Vorfall vom 22. November 2022 in Alberta, Kanada.[13]
Bereits seit 2015 ist aus den USA bekannt, dass das Verpressen von Flüssigkeiten Erdbeben auslöst.[14]
Das gefährdet CO2-Endlager, Windparks, Erdgas- und Erdölplattformen und die Nordsee.

In den Sandsteinformationen der Nordsee und des Norddeutschen Beckens fehlen die Mineralien, die für eine Mineralisierung benötigt würden. Deshalb wandelt sich das CO2 nur zu einem sehr geringen Teil in Gestein um und wird im Untergrund nicht fest verbunden. Das CO2 wird auch nach Jahrtausenden dort weitgehend mobil bleiben.[15]
Damit bleiben CO2-Endlager dauerhaft tickende Zeitbomben für das Klima.
Die Kosten der Überwachung werden aber schon nach wenigen Jahrzehnten auf die Allgemeinheit abgewälzt werden, falls es überhaupt zu einer dauerhaften Überwachung dieser Endlager kommen sollte.

Die einzige CO2-Forschungsdeponie in Deutschland, das Projekt Ketzin, wurde nach Ende der Injektionsphase nur 5 Jahre lang überwacht.[16] Seitdem gibt es keine Erkenntnisse mehr über den Verbleib des CO2. Trotzdem wird dieses Forschungsprojekt in Ermangelung anderer Projekte als „Demonstrations“-Projekt für das Kohlendioxidspeichergesetz herangezogen und als Erfolg bezeichnet.

Wasserprobleme durch CCS

Der Bedarf an Wasser für den geplanten Umfang an CCS könnte etwa dem Wasserverbrauch entsprechen, den das Umweltbundesamt für die gesamte Landwirtschaft in Deutschland angibt.

Darüber hinaus ist damit zu rechnen, dass bei der Verpressung von CO2 durch den dabei ausgeübten Druck Salzwasser aus dem Untergrund weiträumig verdrängt wird. Damit könnten unsere Grundwasservorkommen auch noch in 50-100 km Entfernung gefährdet werden, wie eine Karte der beiden 2009 in Schleswig-Holstein geplanten CO2-Endlager verdeutlicht. In jedem Fall wird die Verdrängung saliner Formationswässer durch CO2 zwangsläufig zu ausgedehnten Versalzungen höherer Süßwasser-Stockwerke führen.[17]

CO2-Pipelines

Für Deutschland ist derzeit ein neu zu errichtendes CO2-Pipelinenetz von rund 4.600 km Länge geplant. Dafür müsste jeweils auf einer Breite von rund 45 Metern eine breite Baustelle entstehen, die anschließend eine deutlich verschlechterte landwirtschaftliche Fläche bzw. zerstörte Umwelt hinterlassen würde.[18]

Die CO2-Pipelines wären eine dauerhafte Gefahr für Mensch und Umwelt, da mit Unfällen zu rechnen wäre. So gab es gerade erst in diesem Jahr einen Unfall mit einer neu gebauten Erdgaspipeline in Stade, bei der 60.000 Kubikmeter Erdgas austraten bzw. abgefackelt werden mussten.[19] Ein vergleichbarer Unfall mit einer CO2-Pipeline in einem besiedelten Gebiet könnte zu tausenden Todesfällen führen, da CO2 die Luft verdrängt und zur Erstickung führen kann.

Erfahrungen mit CO2-Pipelineunfällen gibt es insbesondere aus den USA.[20] Je dichter besiedelt das Gebiet ist, durch das die Pipelines laufen, desto mehr Menschen werden durch Unfälle geschädigt.[21] In Deutschland sind die CO2-Pipelines auch für die am dichtesten besiedelten Gebiete geplant, so dass es nicht eine Frage ist, ob tödliche Unfälle auftreten werden, sondern lediglich, wann, wie oft und mit welchen Folgen. Unfälle mit CO2 sind auch deshalb so gefährlich, weil Fahrzeuge mit Verbrennungsmotoren plötzlich stehen bleiben und Rettungsfahrzeuge dadurch oft gar nicht erst zum Unfallgeschehen vordringen können.[22]

CCS würde die Energiekosten dauerhaft erhöhen

Fast alle Technologien werden im Laufe der Anwendung immer preiswerter.

CCS ist hier eine unrühmliche Ausnahme.
Die Kosten pro abgeschiedener und verpresster Tonne CO2 haben sich in den letzten 50 Jahren nicht relevant verringert,[23] sondern bei direkter Abscheidung aus der Luft sogar erhöht. Die Kosten für eine relevante Abscheidung und Deponierung von CO2[24] wären auch in einem reichen Land wie Deutschland nicht aufzubringen. Für die Welt wäre CCS wegen der Kosten erst recht keine Lösung.

Damit zeichnet sich eine politisch induzierte dauerhaft hohe Inflation ab, die vorrangig die Ärmsten treffen wird, sowohl in Deutschland, der EU als auch im Globalen Süden.

Fazit:

Die Energiewende kann nur ohne CCS gelingen. Mit CCS würde die Klimakatastrophe beschleunigt werden und das zu Lasten insbesondere der Ärmsten, von Minderheiten und der Umwelt.

 

 

Anmerkungen zum Autor:
Dr. Reinhard Knof

Bürgerinitiative gegen CO2-Endlager e.V.
https://keinco2endlager.de

 

 

 

 

 

 

 

 

[1]      https://bg.copernicus.org/articles/16/3033/2019/

[2]https://www.research.howarthlab.org/documents/Howarth2022_EM_Magazine_methane.pdf

[3]      https://www.eca.europa.eu/de/publications?did=47082

[4]      https://ieefa.org/resources/carbon-capture-has-long-history-failure

[5]      https://www.desmog.com/2023/09/25/fossil-fuel-companies-made-bold-promises-to-capture-carbon-heres-what-actually-happened/  

[6]      https://energyandpolicy.org/department-of-energy-analysis-says-coal-carbon-capture-project-would-emit-more-greenhouse-gases-than-it-stores/

[7]     https://ieefa.org/wp-content/uploads/2022/03/Gorgon-Carbon-Capture-and-Storage_The-Sting-in-the-Tail_April-2022.pdf

[8]     https://www.biofuelwatch.org.uk/wp-content/uploads/BECCS-report-2022-final.pdf

[9]https://ieefa.org/sites/default/files/2023-06/Norway%E2%80%99s%20Sleipner%20and%20Sn%C3%B8hvit%20CCS-%20Industry%20models%20or%20cautionary%20tales.pdf

[10]     https://www.geomar.de/news/article/neue-studie-bestaetigt-umfangreiche-gasleckagen-in-der-nordsee

[11]   https://de.wikipedia.org/wiki/Erdgasleck_in_der_Nordsee

[12]https://www.mpg.de/11936761/kohlendioxid-ccs

[13]https://phys.org/news/2023-03-oil-industry-triggered-large-alberta.html

[14]https://www.americangeosciences.org/geoscience-currents/induced-seismicity-oil-and-gas-operations

[15]https://royalsocietypublishing.org/doi/10.1098/rspa.2014.0853

[16]https://www.lbeg.niedersachsen.de/energie_rohstoffe/co2speicherung/co2-speicherung-935.html

[17]https://keinco2endlager.de/geologische-kurzstudie-zu-den-bedingungen-und-moeglichen-auswirkungen-der-dauerhaften-lagerung-von-co2-im-untergrund/

[18]https://api.yooble.com/uploads/703565_1525680274_nCwaj.jpg

[19]https://www.ndr.de/nachrichten/niedersachsen/lueneburg_heide_unterelbe/LNG-Terminal-Stade-Rund-60000-Kubikmeter-Gas-muessen-verbrannt-werden,aktuelllueneburg10050.html

[20]    https://www.sciencedirect.com/science/article/abs/pii/S0950423023001596

[21]https://www.npr.org/2023/05/21/1172679786/carbon-capture-carbon-dioxide-pipeline

[22]https://www.wz.de/nrw/moenchengladbach/gas-unfall-mehr-als-100-verletzte-in-moenchengladbacher-lackfabrik_aid-31503165

[23]https://www.focus.de/earth/news/ccs-technik-retten-co2-staubsauger-unser-klima-ein-realitaetscheck-der-wunderwaffe_id_228126796.html

[24]file:///tmp/mozilla_nutzer0/kostenschaetzung-fuer-ein-ccs-system-fuer-die-schweiz-bis-2050.pdf

CCS: der beschleunigte Weg in die Klimakatastrophe
Reinhard Knof

 

CCS heißt: Carbon Capture and Storage, also Kohlenstoff einfangen und speichern.

Tatsächlich soll jedoch Kohlendioxid eingefangen und in Deponien endgelagert werden. Es geht also weder um Kohlenstoff noch um Speicher. Mit falschen Begriffen soll einem „weiter so“ der fossilen Energiewirtschaft der Weg geebnet werden.



Mit „CCS“ gehen 50 Jahre Falschinformation der fossilen Energiewirtschaft in die nächste Runde. Wie die aktuelle Gesetzesplanung offenbart, geht es vorrangig um CCS für die dauerhafte Nutzung von Erdgas. Die Bundesregierung plant, dass die geplanten neuen Gaskraftwerke in Deutschland baulich CCS-Ready gebaut werden sollen, also die Hauptlieferanten für die CO2-Deponien würden. Die Unternehmen, die uns seit 50 Jahren bewusst in die Klimakatastrophe geführt haben, sollen jetzt ein Feigenblatt für die Fortsetzung ihres Geschäftsmodells bekommen und die Erde weiter in den Abgrund der Klimakatastrophe führen.

 

Erdgas besteht aus Methan. Methan ist das zweitwichtigste klimaaktive Gas und für rund ein Drittel der menschengemachten Klimaerwärmung verantwortlich.
Eine, wenn nicht sogar die Hauptquelle des von Menschen emittierten Methans, ist die Öl- und Gasindustrie.[1]
Gerade das Fracking-Erdgas aus den USA, das wir derzeit in steigenden Mengen als LNG (verflüssigtes Erdgas) nach Deutschland importieren, ist deutlich schädlicher für das Klima, als die Nutzung von Steinkohle.[2]
CCS plus LNG bilden eine gefährliche Kombination, die die Klimakatastrophe zusätzlich beschleunigt.

 

CCS ist eine gescheiterte Technik, die nicht hält, was sie verspricht

     

 

 

Der Europäische Rechnungshof hat 2018

festgestellt, dass alle 12 von der EU

geförderten CCS-Projekte die Ziele nicht

erreicht haben.[3]

 

 

 

 

 

 

 

Auch weltweit ist CCS von gescheiterten Projekten gekennzeichnet[4] oder wurde vorrangig genutzt, um noch mehr Öl und Gas zu fördern[5] und die Klimakatastrophe weiter anzuheizen.[6]

                   

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Während die CO2-Minderungsziele verfehlt wurden, sind die Kosten explodiert.[7]

 

Die Verbrennung von Müll wird als

eine der „unvermeidbaren“ CO2-Quellen

angeführt, die CCS unbedingt notwendig

machen würden. Fakt ist aber: die Anlage

mit der höchsten Abscheiderate einer

Müllverbrennungsanlage hat gerade

einmal 11% des CO2 eingefangen,

also 89% CO2 emittiert.[8] Da die

Zusammensetzung von Müll stark

schwankt, ist eine Optimierung der

CO2-Abscheidung auch kaum möglich.

Gerade dort, wo CCS angeblich

unverzichtbar ist, ist es technisch

bisher gescheitert.

 

Die CO2-Deponien sind weder sicher, noch wird CO2 dauerhaft gebunden

 

Frühere Vermutungen, dass sich Erkenntnisse einzelner CO2-Deponien auf andere übertragen ließen, haben sich nicht bewahrheitet. Eine aktuelle Studie zu den „Vorzeige“-Deponien in Norwegen zeigt die erheblichen Probleme sowie fehlende Vorhersagbarkeit und Übertragbarkeit von Erkenntnissen der Deponieeigenschaften auf.[9]

 

In den für die Errichtung von CO2-Deponien vorgesehenen Feldern in der Nordsee gibt es wahrscheinlich rund 1.800 undichte Bohrlöcher[10] sowie einzelne Blowouts.

Es findet weder ein systematisches Monitoring statt, noch werden undichte Altbohrungen abgedichtet.

Für eine Abdichtung von Leckagen von CO2-Deponien in der Nordsee gibt es noch keine etablierten Verfahren.

Aus dem Blowout von 1990 vor Schottland treten jedes Jahr zusätzlich 300.000 t Methan aus.[11] Dort lässt sich auch beobachten, welche gravierenden Auswirkungen Leckagen auf die Umwelt und die Artenzusammensetzung haben.

Daher kann nicht davon ausgegangen werden, dass die CO2-Deponien dicht sein werden. Das CO2 würde sich durch die Sedimente hindurchbewegen und die dortige Artenzusammensetzung massiv beeinträchtigen,[12] das Meerwasser weiter versauern und teilweise wieder in die Atmosphäre gelangen.

 

Das Einbringen von Millionen Tonnen CO2 in den Untergrund Jahr für Jahr könnte zu Auftrieb und Erdbeben führen, ähnlich dem Vorfall vom 22. November 2022 in Alberta, Kanada.[13]
Bereits seit 2015 ist aus den USA bekannt, dass das Verpressen von Flüssigkeiten Erdbeben auslöst.[14]
Das gefährdet CO2-Endlager, Windparks, Erdgas- und Erdölplattformen und die Nordsee.

 

In den Sandsteinformationen der Nordsee und des Norddeutschen Beckens fehlen die Mineralien, die für eine Mineralisierung benötigt würden. Deshalb wandelt sich das CO2 nur zu einem sehr geringen Teil in Gestein um und wird im Untergrund nicht fest verbunden. Das CO2 wird auch nach Jahrtausenden dort weitgehend mobil bleiben.[15]
Damit bleiben CO2-Endlager dauerhaft tickende Zeitbomben für das Klima.
Die Kosten der Überwachung werden aber schon nach wenigen Jahrzehnten auf die Allgemeinheit abgewälzt werden, falls es überhaupt zu einer dauerhaften Überwachung dieser Endlager kommen sollte.

Die einzige CO2-Forschungsdeponie in Deutschland, das Projekt Ketzin, wurde nach Ende der Injektionsphase nur 5 Jahre lang überwacht.[16] Seitdem gibt es keine Erkenntnisse mehr über den Verbleib des CO2. Trotzdem wird dieses Forschungsprojekt in Ermangelung anderer Projekte als „Demonstrations“-Projekt für das Kohlendioxidspeichergesetz herangezogen und als Erfolg bezeichnet.

 

Wasserprobleme durch CCS

 

Der Bedarf an Wasser für den geplanten Umfang an CCS könnte etwa dem Wasserverbrauch entsprechen, den das Umweltbundesamt für die gesamte Landwirtschaft in Deutschland angibt.

Darüber hinaus ist damit zu rechnen, dass bei der Verpressung von CO2 durch den dabei ausgeübten Druck Salzwasser aus dem Untergrund weiträumig verdrängt wird. Damit könnten unsere Grundwasservorkommen auch noch in 50-100 km Entfernung gefährdet werden, wie eine Karte der beiden 2009 in Schleswig-Holstein geplanten CO2-Endlager verdeutlicht. In jedem Fall wird die Verdrängung saliner Formationswässer durch CO2 zwangsläufig zu ausgedehnten Versalzungen höherer Süßwasser-Stockwerke führen.[17]

 

 

CO2-Pipelines

 

Für Deutschland ist derzeit ein neu zu errichtendes CO2-Pipelinenetz von rund 4.600 km Länge geplant. Dafür müsste jeweils auf einer Breite von rund 45 Metern eine breite Baustelle entstehen, die anschließend eine deutlich verschlechterte landwirtschaftliche Fläche bzw. zerstörte Umwelt hinterlassen würde.[18]

 

Die CO2-Pipelines wären eine dauerhafte Gefahr für Mensch und Umwelt, da mit Unfällen zu rechnen wäre. So gab es gerade erst in diesem Jahr einen Unfall mit einer neu gebauten Erdgaspipeline in Stade, bei der 60.000 Kubikmeter Erdgas austraten bzw. abgefackelt werden mussten.[19] Ein vergleichbarer Unfall mit einer CO2-Pipeline in einem besiedelten Gebiet könnte zu tausenden Todesfällen führen, da CO2 die Luft verdrängt und zur Erstickung führen kann.

Erfahrungen mit CO2-Pipelineunfällen gibt es insbesondere aus den USA.[20] Je dichter besiedelt das Gebiet ist, durch das die Pipelines laufen, desto mehr Menschen werden durch Unfälle geschädigt.[21] In Deutschland sind die CO2-Pipelines auch für die am dichtesten besiedelten Gebiete geplant, so dass es nicht eine Frage ist, ob tödliche Unfälle auftreten werden, sondern lediglich, wann, wie oft und mit welchen Folgen. Unfälle mit CO2 sind auch deshalb so gefährlich, weil Fahrzeuge mit Verbrennungsmotoren plötzlich stehen bleiben und Rettungsfahrzeuge dadurch oft gar nicht erst zum Unfallgeschehen vordringen können.[22]

 

CCS würde die Energiekosten dauerhaft erhöhen

 

Fast alle Technologien werden im Laufe der Anwendung immer preiswerter.

CCS ist hier eine unrühmliche Ausnahme.
Die Kosten pro abgeschiedener und verpresster Tonne CO2 haben sich in den letzten 50 Jahren nicht relevant verringert,[23] sondern bei direkter Abscheidung aus der Luft sogar erhöht. Die Kosten für eine relevante Abscheidung und Deponierung von CO2[24] wären auch in einem reichen Land wie Deutschland nicht aufzubringen. Für die Welt wäre CCS wegen der Kosten erst recht keine Lösung.

Damit zeichnet sich eine politisch induzierte dauerhaft hohe Inflation ab, die vorrangig die Ärmsten treffen wird, sowohl in Deutschland, der EU als auch im Globalen Süden.

 

Fazit:

 

Die Energiewende kann nur ohne CCS gelingen. Mit CCS würde die Klimakatastrophe beschleunigt werden und das zu Lasten insbesondere der Ärmsten, von Minderheiten und der Umwelt.

 

 

Anmerkungen zum Autor:

Dr. Reinhard Knof

Bürgerinitiative gegen CO2-Endlager e.V.
https://keinco2endlager.de

 

 

 

 

 

 

 

 

[1]      https://bg.copernicus.org/articles/16/3033/2019/

[2]https://www.research.howarthlab.org/documents/Howarth2022_EM_Magazine_methane.pdf

[3]      https://www.eca.europa.eu/de/publications?did=47082

[4]      https://ieefa.org/resources/carbon-capture-has-long-history-failure

[5]      https://www.desmog.com/2023/09/25/fossil-fuel-companies-made-bold-promises-to-capture-carbon-heres-what-actually-happened/  

[6]      https://energyandpolicy.org/department-of-energy-analysis-says-coal-carbon-capture-project-would-emit-more-greenhouse-gases-than-it-stores/

[7]     https://ieefa.org/wp-content/uploads/2022/03/Gorgon-Carbon-Capture-and-Storage_The-Sting-in-the-Tail_April-2022.pdf

[8]     https://www.biofuelwatch.org.uk/wp-content/uploads/BECCS-report-2022-final.pdf

[9]https://ieefa.org/sites/default/files/2023-06/Norway%E2%80%99s%20Sleipner%20and%20Sn%C3%B8hvit%20CCS-%20Industry%20models%20or%20cautionary%20tales.pdf

[10]     https://www.geomar.de/news/article/neue-studie-bestaetigt-umfangreiche-gasleckagen-in-der-nordsee

[11]   https://de.wikipedia.org/wiki/Erdgasleck_in_der_Nordsee

[12]https://www.mpg.de/11936761/kohlendioxid-ccs

[13]https://phys.org/news/2023-03-oil-industry-triggered-large-alberta.html

[14]https://www.americangeosciences.org/geoscience-currents/induced-seismicity-oil-and-gas-operations

[15]https://royalsocietypublishing.org/doi/10.1098/rspa.2014.0853

[16]https://www.lbeg.niedersachsen.de/energie_rohstoffe/co2speicherung/co2-speicherung-935.html

[17]https://keinco2endlager.de/geologische-kurzstudie-zu-den-bedingungen-und-moeglichen-auswirkungen-der-dauerhaften-lagerung-von-co2-im-untergrund/

[18]https://api.yooble.com/uploads/703565_1525680274_nCwaj.jpg

[19]https://www.ndr.de/nachrichten/niedersachsen/lueneburg_heide_unterelbe/LNG-Terminal-Stade-Rund-60000-Kubikmeter-Gas-muessen-verbrannt-werden,aktuelllueneburg10050.html

[20]    https://www.sciencedirect.com/science/article/abs/pii/S0950423023001596

[21]https://www.npr.org/2023/05/21/1172679786/carbon-capture-carbon-dioxide-pipeline

[22]https://www.wz.de/nrw/moenchengladbach/gas-unfall-mehr-als-100-verletzte-in-moenchengladbacher-lackfabrik_aid-31503165

[23]https://www.focus.de/earth/news/ccs-technik-retten-co2-staubsauger-unser-klima-ein-realitaetscheck-der-wunderwaffe_id_228126796.html

[24]file:///tmp/mozilla_nutzer0/kostenschaetzung-fuer-ein-ccs-system-fuer-die-schweiz-bis-2050.pdf

 

Weiteres Jahr, weiterer Ostermarsch: Schade, dass niemand Zeit für Revolutionen hat

Di, 02/04/2024 - 16:12

Mit dem Christentum hat die in Ost-Berlin aufgewachsene Autorin wenig am Hut. Doch eine Eigenschaft erkennt sie in Jesus doch:
Mut zur Revolution.  

 

Als Kind fand ich Ostern toll. Eiersuche, Schokolade und Frühling. Welches Kind mag das nicht? Heute gehe ich auf Ostermärsche, der Papst spricht seinen Ostersegen, und ich fühle mich wie im falschen Film.

Nicht „Die Passion Christi“, sondern „Täglich grüßt das Murmeltier“: Ein Mann erwacht Tag für Tag im selben Tag. Er versucht seinem Schicksal zu entkommen, schafft es aber nicht.

Im Film ist das lustig, in der Welt weniger. Denn seit Jahren hören wir Osteransprachen über Frieden und Mitgefühl. Wir demonstrieren gegen Krieg, Armut und Hass. Das ist gut und wichtig, manche nennen es Tradition. Aber ich verzweifle jedes Jahr aufs Neue an der Politik und ihren selbstherrlichen Phrasen.

Als Ost-Berliner Kind wusste ich lange nicht, was es mit Ostern auf sich hat. Christentum, Jesus, Auferstehung? Bis heute habe ich damit wenig am Hut. Trotzdem hilft Ostern den Menschen zur Besinnung. Es geht um Güte, Demut und Achtsamkeit, denn darum ging es Jesus.

Der, und auch das wusste ich lange nicht, war ein radikaler Revoluzzer. Er lebte entgegen allen Konventionen. Für ihn hatten Menschen Wert, egal welchen Alters, Geschlechts oder welcher Herkunft. Prostituierte, Arme, Kranke. Alle waren gleich. Heute haben wir  Künstliche Intelligenz, Supercomputer, und wir fliegen Reiche ins All. Aber die Tatsache, dass allen Menschen Wert zukommt, verstehen wir trotzdem nicht. Und stünde Jesus vor meiner Tür, riefe ich wahrscheinlich die Polizei.

Klar, die Ampel-Regierung ist eine Katastrophe

Denn ehrlich, wer will schon wirklich Veränderung? Das Klima spielt verrückt, im Mittelmeer sterben Menschen, aber wir tun so, als habe das wenig mit uns zu tun. Denn ändern können wir eh nichts, und am Ende geht es uns doch ganz gut, oder?
Klar, die Ampel-Regierung ist eine Katastrophe und mit der Alternative für Deutschland (AfD) wollen völkische Nationalist:innen an die Macht. Schon wieder! Als hätte uns die Geschichte nicht gezeigt, wo das hinführt. Aber sich deswegen politisch engagieren und raus aus der Komfortzone? So weit gehen weder Empörung, Angst noch Nächstenliebe.

Natürlich ist der Vergleich unfair. Jesus gehörte in eine andere Liga – ähnlich wie Gandhi oder MArtin Luther. Sie alle kritisierten die Mächtigen und ihre Institutionen; wollten Reformen oder Revolution. Das setzt die Messlatte ziemlich hoch.
Denn heute leben wir Alltag – wir haben Berufe, Kinder und Kredite. Da bleibt kaum Zeit für Revolution.

Trotzdem, täten wir alle ein Fünkchen von dem, was wir zu Ostern propagieren, sähe die Welt anders aus: kein Ignorieren obdachloser Menschen, kein Anfeinden statt Zuhören, kein „Ich zuerst und nach mir die Sintflut“.
Das wäre doch etwas.

Jesus meinte einmal, ein Kamel komme eher durch ein Nadelöhr als ein Reicher in den Himmel. Das stimmt bis heute. Aber wir fliegen um die halbe Welt in Urlaubsparadiese und kommen dem Himmel so ziemlich nah. Das ist die Ironie der Geschichte. Und Jesus, Gandhi und Luther? Ihr Erbe wird benutzt und ist oft Teil jener Institutionen, die sie einst kritisierten. Das ist das Schicksal deren, die Geschichte schreiben.

In „Täglich grüßt das Murmeltier“ entkommt der Held schließlich seinem immer gleichen Tag. Er überwindet sein Ego und tut Gutes für andere.
Und wir?

Vielleicht ist es Zeit, unsere Komfortzonen zu verlassen.
Denn sonst wiederholt sich, statt den Ostermärschen, auch unsere Geschichte.

 

 

Erstveröffentlichung berliner-zeitung 1.4.2024

 

 

 

Memorandum-Gruppe: Aufrüstung verschärft die finanzielle Situation

Sa, 30/03/2024 - 08:47

In derArbeitsgruppe Alternative Wirtschaftspolitik e.V. ("Memorandumgruppe") arbeiten Wirtschaftswissenschaftlerinnen und Wirtschaftswissenschaftler sowie Gewerkschafterinnen und Gewerkschafter an der Entwicklung wirtschaftspolitischer Vorschläge und Perspektiven für die Sicherung sinnvoller Arbeitsplätze, der Verbesserung des Lebensstandards, dem Ausbau der sozialen Sicherungssysteme für die abhängig Beschäftigten sowie wirksamen Umweltschutz

Den Wirtschaftswissenschaftlern geht es nach eigenem Bekunden „…um die Kritik und Zurückweisung der Vorstellungen und Theorien, die Beschäftigung, Einkommen, Sozialleistungen und Umweltschutz den Gewinnen der Privatwirtschaft nach- und unterordnen. Es wird der Eindruck verbreitet, zur aktuell betriebenen - in erster Linie auf private Gewinnförderung gerichteten - Wirtschaftspolitik gäbe es aus wissenschaftlichen Gründen keine Alternative.
Vernünftige und realistische Alternativen, die im Interesse der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer liegen, lassen sich allerdings nicht durch Appelle an die Einsicht der Bundesregierung, sondern nur im Kampf gegen die Interessen der Privatwirtschaft durchsetzen.“Vernünftige und realistische Alternativen, die im Interesse der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer liegen, lassen sich allerdings nicht durch Appelle an die Einsicht der Bundesregierung, sondern nur im Kampf gegen die Interessen der Privatwirtschaft durchsetzen.“

Der aktuelle Bericht der Arbeitsgruppe „Memorandum 2024“zeichnet ein düsteres Bild von der politischen und wirtschaftlichen Situation.
Dramatische Krisen und Kriege und gestörte Lieferketten haben (Brems-)Spuren hinterlassen.
Preissteigerungen mindern die Realeinkommen großer Teile der Bevölkerung.

Die Unzufriedenheit mit der Politik der Regierenden ist groß - ebenso wie die Angst davor, bei der Lösung der Probleme überfordert zu werden.
Im Kapitel 8 des Memorandums 2024 wird unter der Überschrift „Aufrüstung verschärft die finanzielle Situation“ auf die negativen Folgen der weiteren Hochrüstung hingewiesen.

Das Memorandum weist darauf hin, dass Deutschland im Jahr 2024 85,5 Milliarden für Rüstung ausgibt. Die Festlegung, jährlich 2% des BIP für Rüstung auszugeben, führe zu einem fatalen Aufrüstungsautomatismus. Angesichts der hohen Rüstungsausgaben in den gleichfalls hochgerüsteten NATO-Staaten sei eine weitere Aufrüstungsspirale nicht zu rechtfertigen.
Daran ändert auch der russische Angriffskrieg gegen die Ukraine nichts“ heißt es in dem Bericht.

Und bezugnehmend auf die gegenwärtige Finanzdebatte wird festgestellt:

„Wer die Schuldenbremse unbedingt einhalten will und Steuererhöhungen konsequent ablehnt, hat bei einer kräftigen Erhöhung der Militärausgaben keine andere Wahl, als dringende Aufgaben zu vernachlässigen.“

Diese „zu vernachlässigten Aufgaben werden den Sozial- und Bildungsbereich treffen, es wird Menschen treffen, die bezahlbare Wohnungen oder einen Kitaplatz suchen, oder die, die von einer Armutsrente leben müssen.

Investitionen in eine sozial-ökologische Umbau der Wirtschaft oder eine entsprechende Verkehrswende werden einer aggressiven Aufrüstung geopfert.

Hundert Milliarden „Sonderschulden“ werden an der Schuldenbremse vorbei für neue Rüstungsprogramme reserviert und gleichzeitig wächst die Armut drastisch.

Armut wächst

Denn ärmere Haushalte sind besonders stark von Inflation betroffen, weil sie einen großen Teil ihres Budgets für Lebensmittel und Energie ausgeben müssen. Diese Güter sind die stärksten Preistreiber.

Dem neuen Armutsbericht des paritätischen Gesamtverbandes ist zu entnehmen: 16,8 Prozent der Bevölkerung leben in Armut, 

Nach diesem Bericht müssen 14,2 Millionen Menschen in diesem reichen Land zu den Armen gezählt werden.

2022 waren damit fast eine Million Menschen mehr von Armut betroffen als vor der Pandemie.
Fast zwei Drittel der erwachsenen Armen gehen entweder einer Arbeit nach oder sind in Rente oder Pension.

Auf einen neuen traurigen Rekordwert ist nach der Studie zudem die Kinderarmut gestiegen: Mehr als jedes fünfte Kind ist mittlerweile von Armut betroffen (21,8 Prozent). Bei Alleinerziehenden lag die Armutsquote bei 43,2 Prozent.

Aber es gibt auch Gewinner der Aufrüstung.

Das sind große Rüstungskonzerne wie Rheinmetall, dessen Aktienkurs seit dem Einmarsch Russlands in die Ukraine um 266% gestiegen ist.

 

Hoffnungsschimmer

Reiche stärker besteuern, abrüsten, Reichtum umverteilen und eine sozialökologische Wende erkämpfen ist die Aufgabe.
Die großen Demonstrationen gegenRechts sind ein Hoffnungsschimmer heißt es im Memorandum 2024. Daran müsse angeknüpft werden, so die Autoren.

„Die Bewegungen müssen gebündelt und gestärkt werden, damit sich auch in wirtschaftlichen und sozialen Fragen das gesellschaftliche Klima wendet.“

 

 

 

Europa auf dem Weg nach rechts

Di, 26/03/2024 - 06:52

Parteien der äußersten Rechten drohen bei der Europawahl in neun EU-Staaten stärkste Kraft zu werden.
Enge Kooperation mit einigen Rechtsaußenparteien unter Kommissionschefin von der Leyen ist für die Zeit nach der Wahl im Gespräch.

 

Hinweis auf isw-Veranstaltung
Europa auf dem Weg nach rechts

EineWeltHaus München & ZOOM
12. Juni 2024
https://www.isw-muenchen.de/aktuelles/termine/eventdetail/30/-/europa-auf-dem-weg-nach-rechts

Flyer zur isw-Veranstaltung

Bei der Europawahl im Juni drohen Parteien der äußersten Rechten laut Umfragen in einem Drittel der Mitgliedstaaten zur stärksten, in einem weiteren Drittel zur zweit- oder drittstärksten Kraft zu werden. Dies zeigt eine Analyse des European Council on Foreign Relations (ECFR), einer EU-weit vernetzten Denkfabrik.
Im EU-Parlament wären die Rechtsaußen-Fraktionen ECR und ID nach aktuellem Umfragestand gemeinsam stärker als die Fraktion der Sozialdemokraten und als die der konservativen EVP. EVP und Sozialdemokraten stehen laut Umfragen vor Verlusten und könnten gemeinsam mit der liberalen Fraktion Renew Europe zwar noch rechnerisch eine knappe Mehrheit bilden; diese wäre aber in der parlamentarischen Praxis nicht stabil.

Entsprechend dauert die Debatte an, ob unter EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen nach der Wahl nicht auch Kräfte der äußersten Rechten zu einer intensiven Kooperation herangezogen werden sollen – vor allem aus der Fraktion ECR, der unter anderem die Schwedendemokraten und Vox aus Spanien angehören. Angeführt wird diese Fraktion von den ultrarechten Fratelli d’Italia unter Italiens Ministerpräsidentin Giorgia Meloni.

Die große Koalition rutscht ab

Die Fraktionen, die traditionell die Politik der EU-Kommission tragen, werden bei der Europawahl, die vom 6. bis zum 9. Juni abgehalten wird,voraussichtlich spürbare Verluste hinnehmen müssen. Aus einer Analyse des European Council on Foreign Relations (ECFR), die auf der Grundlage zahlreicher nationaler Umfragen erstellt wurde, geht hervor, dass die

-  konservative Europäische Volkspartei (EVP)  von 178 auf 173 Sitze fallen soll,
die Sozialdemokraten von 141 auf 131,
die liberale Renew Europe von 101 auf 86;
auch die Grünen werden reduziert und statt 71 nur noch 61 Mandate haben.

Dies hat Folgen für die Optionen, die für die Bildung einer Koalition zur Verfügung stehen. Laut der Prognose wird die „große Koalition“ aus EVP und Sozialdemokraten, die 2019 erstmals die Mehrheit verlor, von aktuell 45 auf 42 Prozent der Mandate abrutschen. Eine „supergroße Koalition“ unter Einschluss von Renew Europe käme zwar auf 54 Prozent und damit auf eine rechnerische Mehrheit; das werde aber in der parlamentarischen Praxis nicht ausreichen, um eine stabile Koalition zu bilden, weil im Europaparlament regelmäßig Teile der Fraktionen aufgrund abweichender nationaler Interessen nicht mit der Mehrheit stimmten, urteilt der ECFR.[1]

Die äußerste Rechte legt zu

Deutliche Zugewinne erzielen werden dem ECFR zufolge Parteien diverser Schattierungen der äußersten Rechten, die in neun Staaten zur stärksten [2], in neun weiteren zur zweit- oder drittstärksten Kraft [3] werden dürften. Sie stellen schon heute Italiens Ministerpräsidentin (Giorgia Meloni, Fratelli d’Italia), hätten beinahe den Ministerpräsidenten der Niederlande gestellt (Geert Wilders, Partij voor de Vrijheid), halten den Posten der stellvertretenden Ministerpräsidentin Finnlands (Riikka Purra, Perussuomalaiset/Die Finnen), waren bereits in der Vergangenheit an Regierungen beteiligt (FPÖ) oder tolerierten sie (Dansk Folkeparti). Der ECFR rechnet ihnen auch Ungarns Regierungspartei Fidesz mit Ministerpräsident Viktor Orbán und Polens langjährige Regierungspartei PiS (Prawo i Sprawiedliwość) unter Jarosław Kaczyński zu.
In Deutschland ist die äußerste Rechte vor allem in der AfD organisiert. Im Europaparlament sind die Parteien der äußersten Rechten bislang in der Fraktion der European Conservatives and Reformists (ECR) und in der Fraktion Identität und Demokratie (ID) vereinigt. Die ECR um die Fratelli d’Italia und die PiS können dem ECFR zufolge hoffen, die Zahl ihrer Mandate von 67 auf 85 zu steigern; die ID um die FPÖ, die italienische Lega und den französischen Rassemblement National (RN) wird die Zahl ihrer Sitze wohl von 58 auf 98 steigern. Hinzu kommen fraktionslose extrem rechte Abgeordnete.

Koalitionsoptionen

Treffen die Prognosen auch nur annähernd zu,  dann werden ECR und ID, wie der ECFR konstatiert, rund 25 Prozent der Mandate im Europaparlament halten und gemeinsam mehr Abgeordnete stellen als jeweils die EVP oder die Sozialdemokraten. Damit geraten auch neue Koalitionen so langsam in den Bereich des Möglichen. Entschlössen sich EVP und Renew Europe, nicht mehr mit den Sozialdemokraten, sondern lieber mit den ECR zu kooperieren, dann kämen sie auf annähernd 48 Prozent der Sitze. Ginge die EVP eine Zusammenarbeit mit den ECR und der ID ein, könnte dieses Bündnis 49 Prozent aller Mandate vereinigen, mehr als seine bisherigen 43 Prozent. Rechne man zu ihm noch zumindest einige fraktionslose Abgeordnete der extremen Rechten hinzu, dann sei – zum ersten Mal in der Geschichte des Europaparlaments – eine konservativ-ultrarechte Koalition zumindest rechnerisch möglich.

Doch schon unabhängig davon werde sich das politische Klima im Europaparlament klar verschieben, sagt der ECFR voraus. So sei zum Beispiel eine weitere Verschärfung bei der Abwehr von Flüchtlingen wahrscheinlich; das gleiche gelte für die innere Repression. Zudem sei mit einer deutlichen Aufweichung der Maßnahmen zum Klimaschutz zu rechnen, deren Umsetzung von den Parteien der äußersten Rechten klar abgelehnt werde.


Der EVP-ECR-Dialog

In Brüssel hat die Debatte über mögliche Koalitionen längst begonnen. Klar scheint, dass EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen beste Chancen auf eine Wiederwahl hat: Die EVP wird höchstwahrscheinlich erneut die stärkste Fraktion im Europaparlament bilden können. Die EVP wiederum führt schon seit Jahren einen „Dialog“ mit den ECR, denen neben den Fratelli d’Italia und der polnischen PiS unter anderen die spanische Partei Vox und die Schwedendemokraten angehören. Diesem Dialog ist es geschuldet, dass im Januar 2022 der Lette Roberts Zīle zu einem der Vizepräsidenten des Europaparlaments gewählt werden konnte; Zīle gehört der ultrarechten lettischen Nacionālā apvienība „Visu Latvijai!“ – „Tēvzemei un Brīvībai/LNNK“ (Nationale Vereinigung „Alles für Lettland“ – „Für Vaterland und Freiheit/Lettische Nationale Unabhängigkeitsbewegung“) an, die ihrerseits bei den ECR organisiert ist. Im Mai 2023 rief Italiens Außenminister Antonio Tajani, dessen Partei Forza Italia der EVP angehört, dazu auf, den EVP-ECR-Dialog auch nach der Europawahl 2024 fortzusetzen. In der italienischen Regierung unter Ministerpräsidentin Meloni ist der „Dialog“ längst institutionalisiert, da Melonis Fratelli d’Italia eine führende Rolle innerhalb der ECR innehaben.[4]
Beobachter sprechen von einer systematischen Bewegung der EVP nach rechts.


Das Ende des cordon sanitaire

Meloni wiederum hat im vergangenen Jahr insbesondere im Rahmen der Flüchtlingsabwehr sehr eng mit von der Leyen kooperiert; sie reiste gemeinsam mit der Kommissionspräsidentin im Sommer 2023 nach Tunis [5] und kürzlich nach Kairo [6], um dort jeweils Deals zur Abschottung des Mittelmeers gegen Bootsflüchtlinge, die sie zuvor in die Wege geleitet hatte, zu unterzeichnen.
Von der Leyen hat sich im Februar erstmals klar zu möglichen Koalitionen nach ihrer wahrscheinlichen Wiederwahl geäußert. Dabei zog sie drei „rote Linien“: Sie werde lediglich mit Kräften kooperieren, die erstens „proeuropäisch“ seien, zweitens „den Rechtsstaat“ achteten und drittens die Ukraine unterstützten bzw. „gegen Putins Versuch“ kämpften, „Europa zu schwächen und zu spalten“.[7] Wie das Beispiel Meloni zeigt, schließt dies zumindest Teile der ECR ein. Während die polnische PiS sowie der ungarische Fidesz durch die Verweise auf den „Rechtsstaat“ bzw., im Fall des – zur Zeit fraktionslosen – Fidesz, auf die Unterstützung der Ukraine ausgeschlossen werden, ist das bei anderen ECR-Parteien nicht unbedingt der Fall. Unklar ist zudem, ob die Formel womöglich den RN einschließt, dessen Führung sich von Russland losgesagt hat und nicht mehr auf einen Austritt aus der EU orientiert. Tatsache ist jedenfalls, dass der cordon sanitaire, mit dem in Europa die extreme Rechte lange Zeit ausgeschlossen wurde, auch im Europaparlament zu bröckeln beginnt.


Hinweise

[1] Zitate hier und im Folgenden: Kevin Cunningham, Simon Hix, Susi Dennison, Imogen Learmonth: A sharp right turn: A forecast for the 2024 European Parliament elections. ecfr.eu 23.01.2024.

[2] Bei den neun Staaten, in denen Parteien der äußersten Rechten zur stärksten Kraft werden dürften, handelt es sich um Belgien, Frankreich, Italien, die Niederlande, Österreich, Polen, die Slowakei, Tschechien und Ungarn.

[3] Bei den neun Staaten, in denen Parteien der äußersten Rechten zur zweit- oder drittstärksten Kraft werden dürften, handelt es sich um Bulgarien, Deutschland, Estland, Finnland, Lettland, Portugal, Rumänien, Schweden und Spanien.

[4] Federica Pascale, Roberto Castaldi, Sonia Otfinowska: Italian FM says EPP-ECR dialogue should continue after EU elections. euractiv.com 12.05.2023.

[5] S. dazu Ab in die Wüste.

[6] S. dazu Geld gegen Flüchtlinge.

[7] Eleonora Vasques: Von der Leyen ponders conservatives parties joining centre-right in next EU Parliament. euractiv.com 22.02.2024.

 

Blutmineralien für Europas Energiewende

Fr, 22/03/2024 - 15:28

Eine der wichtigsten Fragen bei der Energiewende ist der Zugang zu Ressourcen.
Vor diesem Hintergrund hat die Europäische Union ein Abkommen mit der Regierung Ruandas unterzeichnet, das darauf abzielt, "nachhaltige und widerstandsfähige" Wertschöpfungsketten für wichtige Rohstoffe zu fördern.

"Im Rahmen von Global Gateway, dem europäischen Investitionsprogramm für die Welt investieren die Europäische Union und ihre Mitgliedstaaten als 'Team Europa' mehr als 900 Mio. EUR in Ruanda. …. Investitionen in Bereichen wie Gesundheit, kritische Rohstoffe, Agrar- und Lebensmittelindustrie, Klimaresilienz und Bildung", heißt es in einer Erklärung der EU.
Was so neutral klingt, verschleiert, dass es im Kern um kritische Mineralien geht.

So heißt es denn auch in einer Presseerklärung der EU-Kommission:

"Das Land spielt eine maßgebliche Rolle bei der weltweiten Tantalgewinnung. aber auch für den Abbau von Zinn, Wolfram, Gold und Niob und hat Potenzial für weitere Rohstoffe wie Lithium und Seltene Erden. Darüber hinaus kann Ruanda aufgrund seines günstigem Investitionsklimas und der Achtung der Rechtsstaatlichkeit zu einem Drehkreuz für die Wertschöpfung im Mineralsektor werden. Es gibt bereits eine Goldraffinerie und in Kürze wird auch eine Tantalraffinerie den Betrieb aufnehmen. Ruanda verfügt zudem über Afrikas einzige in Betrieb befindliche Zinnschmelzanlage.
Für die EU wird diese Partnerschaft dazu beitragen, eine nachhaltige Versorgung mit Rohstoffen, insbesondere kritischen Rohstoffen, als wesentliche Voraussetzung für die Verwirklichung der Ziele in den Bereichen grüne und saubere Energie sicherzustellen." [1]

Aus Sicht der Demokratischen Republik Kongo, die Ruanda beschuldigt, ihre Ressourcen zu stehlen und den Krieg in der Region Kivu anzuheizen, ist das Abkommen schlichtweg "unanständig".

Das Memorandum sieht eine enge Zusammenarbeit zwischen der EU und Ruanda in fünf Bereichen vor: Integration der Wertschöpfungsketten für kritische Mineralien, Zusammenarbeit bei der nachhaltigen und verantwortungsvollen Produktion dieser Rohstoffe, Forschung und Innovation im Bergbausektor, Stärkung der Kapazitäten lokaler Akteure zur Einhaltung von Vorschriften und Mobilisierung von Finanzmitteln für all dies. Innerhalb von sechs Monaten wird ein gemeinsamer Fahrplan zur Umsetzung dieser Partnerschaft entwickelt, der sich in die Global-Gateway-Strategie, die europäische Antwort auf Chinas neue Seidenstraße, einfügen wird.

Die Europäische Union hat ähnliche Abkommen mit anderen wichtigen mineralienproduzierenden afrikanischen Ländern geschlossen: Auf dem Global Gateway Forum im Oktober wurden ähnliche Abkommen mit Sambia und der Demokratischen Republik Kongo (DRK) und davor mit Namibia unterzeichnet.

Doch gerade die Demokratische Republik Kongo kann den neuen EU-Ruanda-Pakt nicht verdauen: Die kongolesische Regierung hat Ruanda stets beschuldigt, die Rebellen der M23-Gruppe zu unterstützen, zu finanzieren, zu bewaffnen und auszubilden. Diese operieren im Osten des Landes in einem der blutigsten, gewalttätigsten, komplexesten und scheinbar unlösbaren Konflikte der Welt. Im November 2021 übernahm die M23 die Kontrolle über weite Teile der Provinz Nord-Kivu im Osten der Demokratischen Republik Kongo an der Grenze zu Ruanda. Dabei verübte sie schwere Menschenrechtsverletzungen und zwang mehr als 800.000 Menschen zur Flucht. UN-Berichte kommen zu dem Ergebnis, dass ruandische Streitkräfte sogar direkt und mit hochentwickelten Waffen in die Kämpfe verwickelt sind.

 Mit sehr deutlichen Worten hat der Erzbischof von Kinshasa, Kardinal Fridolin Ambongo Besungu, das Abkommen der EU mit dem Nachbarland Ruanda kritisiert. Sein Heimatland Kongo werde ausgeplündert und von Krieg überzogen. Der EU warf Ambongo Doppelmoral vor.
"An der Energiewende klebt Blut"
Kardinal Fridolin Ambongo, Erzbischof von Kinshasa

"Die Europäische Union unterzeichnet ein Abkommen mit Ruanda über eine nachhaltige Zusammenarbeit beim Bergbau. Im Hinblick auf geplünderte Ressourcen in der Demokratischen Republik Kongo: Ist das nicht eine starke Unterstützung für den Aggressor? Ist das nicht eine parteiische Beurteilung zweier ähnlicher Dinge, die nach unterschiedlichen Regeln beurteilt werden?“
Mit diesen Worten wandte sich Kardinal Ambongo in seiner Sonntagspredigt vom 24. Februar in Kinshasa an die Verantwortlichen der Europäischen Union.

Kein Frieden ohne Ende des Raubbaus

"Aggressoren und multinationale Konzerne verbünden sich, um die Kontrolle über den Reichtum des Kongo zu erlangen, zum Nachteil und unter Missachtung der Würde der friedlichen kongolesischen Bürger, die nach dem Bild und Gleichnis Gottes geschaffen wurden", schloss Ambongo seine Predigt. Um Frieden für sein kriegsgebeuteltes Land zu erreichen, müsse der "schamlose Raubbau" aufhören. [2]

Abkommen ist Gipfel des Zynismus und der Doppelmoral

Während in Brüssel der ruandische Außenminister Biruta und die EU-Kommissarin für internationale Partnerschaften, Jutta Urpilainen, das Abkommen über ruandische Mineralien unterzeichneten, marschierten in Goma, der Hauptstadt der kongolesischen Provinz Nord-Kivu, die an der Grenze zu Ruanda liegt, kongolesischen Demonstranten, die in die Flagge ihres Landes gehüllt waren, und zertrampelten die Flaggen der USA, der EU, Frankreichs und Polens, die sie als "Komplizen Ruandas" bezeichneten.

Am Vortag hatte das französische Außenministerium an Ruanda appelliert, die Unterstützung der M23 einzustellen, und auch die Europäische Union hat Kigali wiederholt aufgefordert, alle Beziehungen zu den Rebellen abzubrechen und sich aus dem kongolesischen Gebiet zurückzuziehen.

In diesem Sinne entzieht sich das Bergbauabkommen jeglicher Logik der Kohärenz seitens der Europäischen Kommission.

"Ruanda ist heute auf Ressourcen aufgebaut, die aus der Demokratischen Republik Kongo gestohlen werden"

Felix Tshisekedi; Präsidenten der demokratischen Republik Kongo

Erschwerend kommen die Äußerungen des kongolesischen Präsidenten Felix Tshisekedi hinzu, der das Abkommen zwischen der EU und Ruanda als "unanständig" bezeichnete und schwere Anschuldigungen gegen Ruandas Nachbarn erhob: "Ruanda ist heute auf Ressourcen aufgebaut, die aus der Demokratischen Republik Kongo gestohlen werden", und die Mineralien in dem Abkommen mit Europa "sind gestohlene Produkte" aus der Demokratischen Republik Kongo.

"Die EU erreicht nicht nur den Gipfel des Zynismus in Bezug auf die Geostrategie, sondern zeigt einmal mehr eine Politik der Doppelmoral, die die Glaubwürdigkeit der internationalen Institutionen untergräbt", sagte der kongolesische Friedensnobelpreisträger Denis Mukwege, ein Gynäkologe, der in Bukavu auf der anderen Seite des Kivu-Sees in der Nähe von Goma arbeitet. Ein Gebiet, das seit Jahrzehnten von Konflikten geprägt ist. Das Abkommen, so Mukwege, stehe "in völligem Widerspruch zum Grundsatz der Kohärenz und zu den Grundwerten der EU, insbesondere zur Förderung des Friedens und der Menschenrechte", und er forderte Europa erneut auf, "für eine größere Kohärenz zwischen der Wirtschaftspolitik und der Achtung der Menschenrechte zu sorgen und die Menschenwürde in den Mittelpunkt der wirtschaftlichen und finanziellen Belange zu stellen".

Hilfswerke fordern Sanktionen gegen Ruanda anstatt Abkommen

"Wie kann die Europäische Union ein Abkommen über die Nachhaltigkeit und Rückverfolgbarkeit strategischer Mineralien mit einem Land unterzeichnen, das diese gar nicht selbst produziert, sondern sie illegal aus einem Nachbarstaat bezieht?"

Dies fragen sich in einem gemeinsamen Statement acht Hilfswerke, darunter das Netzwerk "Rete Pace per il Congo", dem Missionare angehören, die in der Demokratischen Republik Kongo leben und arbeiten. Sie fordern die Annullierung des am 19. Februar unterzeichneten Protokollabkommen zwischen der EU und Ruanda. Das Abkommen war bereits von Kardinal Fridolin Ambongo Besungu, dem Erzbischof von Kongos Hauptstadt Kinshasa, kritisiert worden.

"Ruanda ist nur dank der Kriege im Kongo zum Exporteur dieser Mineralien geworden“
gemeinsame Erklärung von acht Hilfswerken

"Es ist bedauerlich", so führen die Hilfswerke in ihrem Statement aus, "dass die EU in diesem Sinne in ein Land investiert, das nicht über nennenswerte Mengen dieser Mineralien verfügt. Ein Land, das nur dank der Kriege, die es seit 1996 in der Demokratischen Republik Kongo immer wieder angezettelt hat, zu einem wichtigen Exporteur dieser Mineralien geworden ist, und zwar durch verdeckt agierende Bewegungen, die in den letzten Jahren den Namen M23 angenommen haben."

"Aus dem Osten des Kongo fließen mit Unterstützung korrupter Beamter auf verschiedenen Ebenen seit Jahren die wertvollen Mineralien Gold, Coltan und Seltene Erden in großen Mengen nach Ruanda und in andere östliche Nachbarländer“, so die Hilfswerke weiter. Das sei jetzt noch einfacher geworden, weil die M23-Rebellen Gebiete gleich jenseits der Grenze zu Ruanda kontrollieren.
 

"Der Preis dafür sind Tote, Gewalt jeglicher Art, Raub des Eigentums einer Bevölkerung, deren einziger Fehler es ist, in einem begehrten Gebiet zu leben, und mehr als eine Million Vertriebene allein im Osten, die mitten in der Regenzeit in behelfsmäßigen Hütten elendiglich überleben oder sterben“, heißt es in dem Statement der Hilfswerke weiter. Die EU solle Sanktionen gegen Ruanda verhängen, "anstatt mit ihm Abkommen über die Früchte eines stattfindenden Raubes zu schließen". [3]

 


Anmerkungen

[1] EU-Kommission, 19. Februar 2024, Pressemitteilung: "EU und Ruanda unterzeichnen eine Vereinbarung über Wertschöpfungsketten für nachhaltige Rohstoffe"
https://ec.europa.eu/commission/presscorner/detail/de/ip_24_822

[2] Vatikan, 28.2.2024: "Kardinal Ambongo: Der Kongo wird ausgeplündert"
https://www.vaticannews.va/de/welt/news/2024-02/kardinal-ambongo-der-kongo-wird-ausgepluendert.html 

[3] Rete Pace per il Congo, 7.3.2024: "Comunicato di IPC sull’accordo UE-Rwanda su minerali strategici"
https://www.paceperilcongo.it/2024/03/comunicato-a-proposito-del-protocollo-ue-rwanda-firmato-il-19-febbraio-2024/ 

 

Zinserträge russischer Staataguthaben - „Erträge, die niemandem zustehen“

Fr, 22/03/2024 - 08:23

Der deutsche Bundeskanzler Olaf Scholz befürwortet die Konfiskation von Zinserträgen russischer Staatsguthaben in der EU. Experten stufen dies als klar völkerrechtswidrig ein und warnen, andere Staaten, etwa China, könnten ihr Vermögen aus der EU abziehen.


Die Bundesregierung treibt die EU-Pläne zur Beschlagnahmung von Geldern der russischen Zentralbank voran. Bundeskanzler Olaf Scholz sprach sich auf dem EU-Gipfel am gestrigen Donnerstag in Brüssel dafür aus, die Zinsen, die das Finanzinstitut auf seine in der EU eingefrorenen Guthaben erhält, zu konfiszieren und das Geld vor allem in Munition und Waffen für die Ukraine zu investieren.
Den Vorschlag hatten am Mittwoch EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen und der Außenbeauftragte Josep Borrell offiziell vorgelegt. Bei den Zinsen handele es sich um „Erträge, die niemandem zustehen“ und die man deshalb abgreifen dürfe, behauptete Scholz. Bis 2027 könnten in Abhängigkeit von der Zinsentwicklung 15 bis 20 Milliarden Euro auflaufen. Wirtschafts- und Finanzkreise warnen eindringlich, die Maßnahme breche die Staatenimmunität und sei deshalb klar völkerrechtswidrig. Konfisziere man russische Zinserträge, dann könnten zudem Finanzinstitute und Konzerne etwa aus China, aber auch aus anderen Ländern beginnen, ihr Vermögen aus der EU abzuziehen, weil es dort nicht mehr als sicher gelte, heißt es. Nicht zuletzt sei mit russischen Vergeltungsmaßnahmen zu rechnen.

Russlands eingefrorene Guthaben

Der Vorschlag, die in der EU eingefrorenen Guthaben der russischen Zentralbank zu nutzen, um der Ukraine zusätzliche Gelder zukommen zu lassen, wird bereits seit langem diskutiert. Die Guthaben belaufen sich insgesamt auf rund 210 Milliarden Euro; rund 190 Milliarden davon liegen bei Euroclear, einem Finanzinstitut mit Sitz in Brüssel, das auch als Verwahrstelle für Wertpapiere fungiert.
Von dem Gedanken, die Guthaben umstandslos zu konfiszieren, um aus ihnen zum Beispiel den Wiederaufbau der Ukraine zu bezahlen, nimmt die EU bislang Abstand.
Zum einen bräche eine Beschlagnahmung russischer Staatsgelder mit dem Prinzip der Staatenimmunität und wäre daher völkerrechtswidrig.
Zum anderen müsste mit Vergeltungsmaßnahmen seitens Moskaus gerechnet werden; Guthaben deutscher Staatsstellen oder auch deutscher Unternehmen in Russland gerieten in Gefahr.
Es kommt hinzu, dass die EU für staatliche Stellen oder auch für Privatunternehmen aus Drittstaaten in Zukunft nicht mehr als sicherer Investitionsstandort gälte, wenn Brüssel sich in einem Präzedenzfall Zugriff auf auswärtiges Eigentum verschafft.

Gelder beispielsweise aus China, aber etwa auch aus den arabischen Golfstaaten könnten, um politisch bedingte Risiken zu vermeiden, aus der EU abgezogen werden – zum Nachteil der Union.

„Zufallsgewinne“

Am Mittwoch hat die EU nun einen Plan vorgelegt, der eine Alternative zu einer kompletten Beschlagnahmung der russischen Staatsguthaben vorsieht. Demnach sollen lediglich die Zinserträge der Guthaben konfisziert und der Ukraine zugeleitet werden. Euroclear zufolge beliefen sich die Zinsen im vergangenen Jahr auf 4,4 Milliarden Euro.[1] Bis 2027 könnten je nach Zinsentwicklung insgesamt 15 bis 20 Milliarden Euro anfallen, heißt es. Brüssel erklärt die Zinserträge nun freihändig zu „Zufallsgewinnen“, die angeblich abgeschöpft werden dürfen.[2]

Kanzler Scholz behauptete auf dem EU-Gipfel am 20. März d.J., es gehe um „Erträge, die niemandem zustehen und die deshalb von der Europäischen Union verwendet werden können“.[3]

Die Kommission will 10 Prozent der Zinsen bei Euroclear belassen, um dem Finanzkonzern ein Finanzpolster für die zu erwartenden Gerichtsverfahren zu gewähren. Weitere 3 Prozent darf Euroclear als sogenannte Bearbeitungsgebühr kassieren. 87 Prozent der Zinserträge sollen dann an die Ukraine fließen.
Die Kommission will neun Zehntel davon in die „Europäische Friedensfazilität“ stecken, aus der Munition wie auch Waffen für Kiew bezahlt werden. Ein Zehntel soll über den EU-Haushalt in den Aufbau der ukrainischen Rüstungsindustrie investiert werden.[4]


Risiken und Nebenwirkungen

Wirtschafts- und Finanzkreise warnen vor dem Schritt, den gestern die EU-Staats- und Regierungschefs weithin positiv beurteilt haben und den sie nach einer Prüfung durch ihre Juristen in aller Form beschließen könnten.
Die Europäische Zentralbank (EZB) etwa hält es für denkbar, dass Finanzinstitute insbesondere aus China, womöglich aber auch aus anderen Staaten nun ihre Vermögen von Euroclear abziehen.
Dies würde nicht nur die Marktmacht des belgischen Finanzkonzerns schwächen, heißt es; im Extremfall könne er sogar ins Wanken geraten. Selbst eine Kettenreaktion, etwa ein fluchtartiger Abzug in Euro gehaltener Währungsreserven, sei nicht auszuschließen; das könne schlimmstenfalls „das europäische Finanzsystem destabilisieren“.[5] Aber auch wenn der Extremfall nicht eintrete, könne die Maßnahme „das Vertrauen der Märkte in den Euro untergraben“. Um dies zu verhindern, sei es dringend nötig, eine „solide rechtliche Basis“ für die Beschlagnahmung der Zinsen vorzutragen und jeden „Eindruck einer willkürlichen Enteignung“ unbedingt zu vermeiden. Allerdings erschließt sich kaum, wieso Finanzinstitute, die Milliardensummen in der EU angelegt haben oder die darüber nachdenken, dies zu tun, so naiv sein sollen zu glauben, die EU gehe auch in Zukunft bloß gegen Russland und ganz gewiss gegen keinen einzigen anderen Staat vor.

Gegenmaßnahmen

Es kommt hinzu, dass Russland Gegenmaßnahmen bereits angekündigt hat. Schon am Mittwoch bezeichnete die Sprecherin des russischen Außenministeriums, Maria Sacharowa, eine mögliche Konfiskation der Zinserträge als „Banditentum und Diebstahl“. Der Sprecher des russischen Präsidialamtes, Dmitri Peskow, äußerte, „die Europäer“ sollten sich „des Schadens bewusst sein, den solche Entscheidungen ihrer Wirtschaft, ihrem Image und ihrem Ruf als zuverlässige Garanten der Unverletzlichkeit des Eigentums zufügen können“.[6] Peskow deutete an, Moskau werde sich auf gerichtlichem Weg gegen die Maßnahmen zur Wehr setzen; die Verantwortlichen müssten „viele Jahrzehnte“ lang mit strafrechtlicher Verfolgung rechnen.[6] Darüber hinaus könnte Moskau konkrete Vergeltungsmaßnahmen in die Wege leiten. Denkbar sei etwa, dass russische Stellen im Gegenzug Vermögen von Euroclear beschlagnahmten, heißt es; Berichten zufolge hat Euroclear nahezu 33 Milliarden Euro in Russland liegen.[7] Zudem sei nicht auszuschließen, dass Moskau dazu übergehe, Unternehmen aus EU-Staaten, die weiterhin in Russland tätig seien – das ist für diverse Firmen trotz der Sanktionen unverändert ganz legal möglich –, mit Zwangsenteignungen zu überziehen. Im Fall einer Eskalation drohten enorme Schäden.

Nur ein erster Schritt

Trotz aller Risiken dringen zum Beispiel die USA, aber auch deutsche Politiker darauf, die Maßnahmen auszuweiten und perspektivisch sämtliche Guthaben der russischen Zentralbank zu enteignen. So ließ sich am Montag US-Außenminister Antony Blinken zum Treffen der EU-Außenminister per Video hinzuschalten – Berichten zufolge, um „den Druck auf die Europäer zu erhöhen“, die gesamten eingefrorenen russischen Staatsgelder an die Ukraine zu transferieren.[8] Anfang Februar forderte auch die Grünen-Politikerin Katrin Göring-Eckardt: „Wenn in einem ersten Schritt die [Zins-, d.Red.] Erträge freigegeben sind, sollten wir uns auch das Vermögen selbst ansehen.“ Es gebe zwar „rechtliche Fragen“, äußerte sie mit Blick auf Grundelemente des internationalen Rechts wie die Staatenimmunität. „Aber die müssen mit dem Ziel geprüft werden, das Vermögen am Ende für die Ukraine freizugeben.“[9] Göring-Eckardt ist Vizepräsidentin des Deutschen Bundestags.

 

[1] Zinsgewinne für Militärhilfe? tagesschau.de 21.03.2024.

[2] Wie die EU-Kommission mit Zinserträgen der Ukraine helfen will. deutschlandfunk.de 20.03.2024.

[3] Staats- und Regierungschefs beraten über Nutzung von Zinsgewinnen von eingefrorenen russischen Vermögen. deutschlandfunk.de 21.03.2024.

[4] Jakob Mayr: EU will russisches Vermögen indirekt für Kiew nutzen. tagesschau.de 20.03.2024.

[5] Moritz Koch, Carsten Volkery: EU will russische Sondergewinne für Waffenhilfen an Kiew nutzen. handelsblatt.com 19.03.2024.

[6] Russisches Vermögen für Waffenkäufe: Russland droht EU mit strafrechtlicher Verfolgung. diepresse.com 20.03.2024.

[7] Bernd Riegert: EU: Russische Zinsen für ukrainische Waffen. dw.com 20.03.2024.

[8] Moritz Koch, Carsten Volkery: EU will russische Sondergewinne für Waffenhilfen an Kiew nutzen. handelsblatt.com 19.03.2024.

[9] „Der Moment ist jetzt“. Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung 04.02.2024.

 

Profite: Margen und Preise

Mo, 18/03/2024 - 13:28

Die Profit-Spannen der US-Unternehmen befinden sich auf einem Rekordhoch, obwohl sich die Preisinflation verlangsamt und die Löhne steigen.


Betrachtet man die gesamte US-Wirtschaft, so sind die Profit-Spannen des Nicht-Finanzsektors auf dem höchsten Stand des 21. Jahrhunderts (über 16 %) und nicht weit entfernt von den Rekordwerten des "goldenen Zeitalters" des kapitalistischen Wachstums Mitte der 1960er Jahre.


Und ein Blick auf die Netto-Profit-Spannen (d. h. nach Abzug aller Produktionsstückkosten) der 500 größten Unternehmen in den USA zeigt dasselbe Bild.

Es gibt erdrückende Beweise dafür, dass die Inflationsspirale nach der Einführung des COVID es vielen Unternehmen ermöglichte, die Preise für ihre Produkte erheblich anzuheben, so dass die Profit-Spannen stark anstiegen, weil die Lohnerhöhungen nicht mit den Preissteigerungen Schritt hielten.  Die Inflation hat sich in den Lebensstandard der meisten amerikanischen Haushalte eingefressen, nicht aber in die Profit-Spannen der US-amerikanischen Multis und Megafirmen.

Seit Ende 2019 sind die Preise in den USA um 17 % gestiegen, und zwar stärker als die Arbeits- und Nichtarbeitskosten. Das Ergebnis: Die Profite stiegen um 41 %. Wären die Profite  in gleichem Maße wie die Kosten gestiegen, hätte dies zu einem kumulativen Preisanstieg von nur 12,5 % und einer durchschnittlichen jährlichen Inflationsrate geführt, die um etwa 1 Prozentpunkt niedriger gewesen wäre.

Jüngste Untersuchungen haben jedoch bestätigt, dass der Anstieg der Gewinnspannen der Unternehmen "hauptsächlich von einer Untergruppe von Unternehmen mit hohen Gewinnspannen getragen wird".  Die inzwischen wohlbekannte Weber-Wasner-These zur gewinngetriebenen Inflation besagt, dass Engpässe in der Lieferkette den Wettbewerb einschränkten, da einige Unternehmen nicht in der Lage waren, die Nachfrage zu bedienen.  Dies ermöglichte es einigen Unternehmen, ihre Gewinnspannen und Preise zu erhöhen.  Eine Studie der Bank of England ergab, dass die Gewinne zwar nominal stark gestiegen sind. Aber die Kosten stiegen auch. Die Studie kam zu dem Schluss, dass sich die Gewinnspannen außer in den Bereichen Öl, Gas und Bergbau bis zum Jahr 2022 ziemlich normal verhalten. Eine andere Studie des IWF, die sich mit der Eurozone befasst, kommt zu dem Schluss, dass die begrenzten verfügbaren Daten nicht auf einen weit verbreiteten Anstieg der Gewinnspannen hindeuten".  Die profitorientierte Inflation scheint sich stark auf einige wenige Unternehmen und einige wenige "systemrelevante" Sektoren konzentriert zu haben, darunter die Rohstoffindustrie, das verarbeitende Gewerbe sowie der IT- und Finanzsektor.

Dennoch sind die Ökonomen von Goldman Sachs begeistert von der Aussicht, dass die Gewinnspannen weiter steigen werden.  Sie gehen davon aus, dass, obwohl die Durchschnittslöhne derzeit schneller steigen als die Preise, dies die Gewinnspannen nicht beeinträchtigen wird, da mit der Verlangsamung der Inflation auch die Zinssätze (letztendlich) sinken werden und somit die Kosten für den Schuldendienst sinken werden, um einen etwaigen Druck auf die Gewinne durch die Löhne auszugleichen.

Tatsächlich rechnet FactSet, ein Unternehmen, das die Gewinne der 500 größten US-Unternehmen überwacht, für das erste Quartal 2024 mit einer Nettogewinnspanne von 11,5 %, was über der Nettogewinnspanne des vorangegangenen Quartals von 11,2 % liegt und dem Fünfjahresdurchschnitt von 11,5 % entspricht, wobei sieben Sektoren im ersten Quartal 2024 Nettogewinnspannen melden dürften, die über ihrem Fünfjahresdurchschnitt liegen, angeführt vom Sektor Informationstechnologie (25,1 % gegenüber 23,3 %).

Goldman Sachs kommt zu dem Schluss, dass die US-Wirtschaft für 2024 gut aufgestellt ist, da die Gewinnspannen weiterhin stabil bleiben, mehr Investitionen generieren und die Beschäftigung erhalten werden.  Doch während der Technologiesektor mit seinen hohen Gewinnspannen und Gewinnen den Aktienmarkt stützt und den Eindruck eines weit verbreiteten Gewinnsprungs vermittelt, befindet sich der übrige Unternehmenssektor in den USA in einer Flaute.  In den meisten Sektoren sind die Gewinnspannen knapp.

Und, was am wichtigsten ist, es gibt hier eine Definitionsfrage.  Profit-Spannen sind nicht dasselbe wie Profite. Profit-Spannen sind die Differenz zwischen dem Preis pro verkaufter Einheit und den Kosten pro Einheit.  Die Rentabilität des Kapitals sollte jedoch an den Gesamtgewinnen im Verhältnis zu den Gesamtkosten für Anlagevermögen (Anlagen, Maschinen, Technologie), Rohstoffe und Löhne gemessen werden.  Nach diesem Maßstab weisen die übrigen US-Unternehmen - abgesehen von den "glorreichen Sieben" der US-Mega-Tech- und Social-Media-Unternehmen sowie der Energieunternehmen - eine geringe Rentabilität ihres Kapitals auf.  Es wird geschätzt, dass 50 % der börsennotierten US-Unternehmen unrentabel sind.

Und wenn wir die durchschnittliche Profitrate des US-Kapitals im Nicht-Finanzsektor berechnen, stellen wir fest, dass seit 2012 ein allgemeiner Rückgang zu verzeichnen ist (meine Schätzung für 2023).

Quelle: FRED, Berechnungen des Autors (auf Anfrage)

Die Profit-Margen mögen hoch sein, aber die gesamten Unternehmens-Profite des US-Nichtfinanzsektors sind im letzten Quartal 2023 gesunken, und im letzten Jahr ist das gesamte Profitwachstum fast zum Stillstand gekommen.

Und auch das Wachstum der Gesamt-Profite (nicht der Profit-Spannen) der 500 größten US-Unternehmen verlangsamt sich.  FactSet prognostiziert für das erste Quartal 2024 einen Profit-Anstieg von nur 3,3 %, gegenüber fast 6 % im Jahr 2023.

Das erklärt, warum 2024 mehr Unternehmen ihre Schulden nicht begleichen konnten als zu jedem anderen Jahresbeginn seit der globalen Finanzkrise, da der Inflationsdruck und die hohen Zinssätze laut S&P Global Ratings weiterhin auf den riskantesten Schuldnern der Welt lasten. Laut der Rating-Agentur liegt die Zahl der Unternehmensausfälle in diesem Jahr weltweit bei 29 und damit so hoch wie seit 2009 nicht mehr, als im gleichen Zeitraum 36 Ausfälle verzeichnet wurden.

 

Goldmans ist nach wie vor zuversichtlich, dass sich die Ausfallraten aufgrund der verbesserten makroökonomischen Aussichten und der Hoffnung auf sinkende Zinssätze in der zweiten Jahreshälfte stabilisieren werden.  Die Ratingagentur Moody's ist nicht so zuversichtlich.  Sie geht davon aus, dass die weltweite Ausfallquote für spekulative Anleihen bis 2024 weiter ansteigen wird und damit deutlich über dem historischen Durchschnitt liegt. 

Nicht zu vergessen sind die "Zombies", Unternehmen, die ihren Schuldendienst schon jetzt nicht mehr aus den Profiten bestreiten können und deshalb nicht investieren oder expandieren können, sondern wie die lebenden Toten weitermachen.  Sie haben sich vervielfacht und überleben bisher, indem sie mehr Kredite aufnehmen - und sind daher anfällig für hohe Kreditzinsen.

Für die Zukunft wird erwartet, dass sich der Anstieg des realen BIP in den USA nach fast allen Prognosen von 2,5 % im letzten Jahr verlangsamen wird (und dieses Maß ist immer noch zweifelhaft, wenn wir das reale BIP mit dem realen Bruttoinlandseinkommen (BDI) vergleichen).

Die Nowcast-Prognose der New Yorker Fed geht von einem annualisierten Wachstum von 1,78 % für das gerade zu Ende gehende erste Quartal 2024 aus.  Und die Nowcast-Prognose der Atlanta Fed für das BIP liegt bei 2,2 %.  Die Konsensprognosen liegen bei 2 %. Dies deutet darauf hin, dass sich das Wachstum der Unternehmenseinnahmen weiter verlangsamen könnte, was zu einem Rückgang der Profite im ersten Quartal führen würde.

Es ist inzwischen allgemein bekannt, dass in einer kapitalistischen Wirtschaft die Profite die Investitionen und dann die Beschäftigung anführen.  Wo Profite vorangehen, folgen Investitionen und Beschäftigung mit Verzögerung.

Die Rentabilität ist gegenüber dem Niveau vor der Pandemie gesunken, und auch das Wachstum der Profite insgesamt ist nicht mehr gestiegen.  Dies wirkt sich bereits auf das Investitionswachstum und die Beschäftigung aus. Steigende Margen lassen dies nicht erkennen.

               

 

 

 

 

Aktienrente: Unwirksam, unsicher und ein Risiko für die Staatsfinanzen

So, 17/03/2024 - 11:56

"Bei der Aktienrente handelt es sich um ein kreditfinanziertes Spekulationsgeschäft, für das der Bund das Ausfallrisiko trägt."  

 

Arbeitsminister Hubertus Heil (SPD) und Finanzminister Christian Lindner (FDP) präsentierten am 5. März ein Reformpaket, mit dem das Rentenniveau von 48 Prozent des aktuellen Durchschnittsgehalts für Rentner:innen, die 45 Jahre mit Durchschnittsgehalt gearbeitet und in die Rentenversicherung eingezahlt haben, auch für die Zukunft garantiert werden soll.

Kürzungen bei der Rente schloss Bundeskanzler Olaf Scholz aus. "Für mich kommen Kürzungen bei der Rente nicht in Betracht", sagte der SPD-Politiker. Scholz kritisierte Vorschläge zur Anhebung des Renteneintrittsalters auf 70 Jahre und Forderungen nach Renten-Null-Runden. Heil versprach: "Es wird keine Rentenkürzung geben und auch keine weitere Erhöhung des Renteneintrittsalters."

Noch ist das Absicherungsniveau der Rente – aktuell rund 48,2 Prozent – nur bis 2025 festgeschrieben. Bis 2037 dürfte das Rentenniveau nach offizieller Schätzung aber auf 45 Prozent sinken. Der Grund: Millionen Babyboomer:innen mit Geburtsjahren in den 1950er und 1960er Jahren werden in den Ruhestand gehen. Nun soll ein 48-Prozent-Niveau zunächst bis 2040 gesichert werden. Das Reformpaket solle noch vor der parlamentarischen Sommerpause im Juli vom Bundestag beschlossen werden. (1)

Weil das hohe zusätzliche Milliardensummen kostet, die Rentenbeiträge aber nicht zu stark steigen sollen, soll die Finanzierung auf ein zusätzliches Standbein gestellt werden. Um Beitragssprünge in Zukunft zu vermeiden, will die Bundesregierung Milliarden am Kapitalmarkt anlegen und aus den Erträgen ab Mitte der 2030er-Jahre Zuschüsse an die Rentenversicherung zahlen. Damit erhält die Rentenversicherung zusätzlich zu Beiträgen und Zuschüssen aus dem Bundeshaushalt eine dritte Finanzierungsquelle.

Finanzminister Christian Lindner sprach bei der Vorstellung des Rentenpakets davon, dass es "überfällig" sei, "die Chancen der Kapitalmärkte auch für die gesetzliche Rentenversicherung zu nutzen". Da will sich Christian Lindner sogar ausnahmsweise verschulden - nicht für große Investitionen in Deutschlands Infrastruktur oder Bildung, sondern um das Geld an den Finanzmärkten anzulegen.

Aktienrente ist ein Lieblingsprojekt der Liberalen

Das schon immer verfolgte Ziel der Liberalen ist, das kollektive Sicherungssystem zu schwächen und dafür möglichst viel private Elemente zu schaffen, wie eben eine Aktienrente und mehr private Altersvorsorge.

Ein besonderer Dorn im Auge der FDP ist das Umlageverfahren, mit dem die gesetzliche Rente (genauso wie die anderen Zweige der Sozialversicherung) finanziert wird. Denn was die Beschäftigte und Unternehmen an Beiträgen einzahlen, wird nahezu ohne Zeitverzug in Form von Renten an die mehr als 21 Millionen Rentner:innen ausgezahlt. Inklusive des Bundesanteils wurden so im Jahr 2023 rund 375 Milliarden Euro ein- und ausgezahlt oder eben "umgelegt". Grundsätzlich wird nichts im klassischen Sinne angespart und angelegt. Die Befürworter des Umlageverfahrens sehen darin große Vorteile: Es funktioniert unabhängig von der Höhe der Kapitalmarktzinsen. Niedrig- oder gar Nullzinsen, wie sie in den vergangenen Jahren den Lebensversicherungen stark zu schaffen machten, sind kein Problem. Auch Inflation, Wirtschaftskrisen, ja sogar staatliche Umbrüche verkraftet die gesetzliche Rente in der Regel gut. Und sie funktioniert naturgemäß ohne langjährige Ansparphase und mit geringen Kosten in von ungefähr vier Prozent.

Zum Vergleich: Zum Betrieb der Riester-Rente werden bis zu 25 Prozent der eingezahlten Prämien abgezweigt. Wenn diese Betriebskosten ausgeglichen werden sollten, müsste die Rendite schon ausgesprochen hoch sein. Das gilt auch für die jetzt wieder vorgeschlagenen Methode, die "Aktienrente".

Die Aktienrente ist ein Lieblingsprojekt der Liberalen, das gegen den Widerstand insbesondere der linken Sozialdemokraten Eingang in den Koalitionsvertrag fand. In ihrem Wahlprogramm forderte die FDP, dass zwei Prozentpunkte aus dem Rentenbeitragssatz in Höhe von 18,6 Prozent des Bruttolohns der Beschäftigten nicht mehr länger an die Deutsche Rentenversicherung fließen sollen, sondern an einen unabhängigen Fonds gehen, der die Gelder "chancenorientiert" in Aktien investiert. "Durch unser Modell erwerben zukünftig alle Beitragszahlerinnen und Beitragszahler (…) echtes Eigentum für ihre Altersvorsorge und erhalten höhere Altersrenten", verspricht die FDP.

Dieses Ziel hat die FDP verfehlt. Zwar wird der Bundestag wohl noch in diesem Sommer eine Reform der Alterssicherung beschließen, die den Namen "Aktienrente" oder auch "Generationenkapital" trägt, doch der Gesetzentwurf, den Finanzminister Lindner und Sozialminister Heil jetzt gemeinsam vorlegen werden, bleibt deutlich hinter den Wünschen der FDP zurück.

Aber für eine Stabilisierung der Rentenfinanzen taugt der Vorschlag der Ampel wenig. Er wird die Renten nicht erhöhen, die Beiträge wenn überhaupt nur marginal senken und dafür mit Sicherheit die Schulden erhöhen.

Die Akteinrente wird auf Pump finanziert

Anders als es die FDP ursprünglich vorhatte, werden keine Beitragsgelder verwendet und es wird auch kein persönliches Vermögen für einzelne Versicherte in Form von Aktien oder Aktienfonds gebildet. Stattdessen wird der Bund Schulden machen, die nicht auf die Schuldenbremse angerechnet werden. In diesem Jahr sind das erst einmal 12 Milliarden Euro, in den kommenden Jahren soll es jeweils etwas mehr werden. Lindner stellt sich auch vor, Beteiligungen des deutschen Staates an Unternehmen (wie etwa der Deutschen Bahn) in den Fonds zu überführen. Insgesamt sollen so 2035 mindestens 200 Milliarden Euro in Aktien und Fonds angelegt werden. Aus den Erträgen am Aktienmarkt sollen dann ab 2036 jährlich zehn Milliarden Euro an die gesetzliche Rentenversicherung fließen, um Beitragssatzanstiege zu verhindern oder zu dämpfen.

"Deutlich wird: Es dauert zunächst viele Jahre, bis eine kapitalgedeckte Anlage eine Wirkung entfalten kann, und sei sie noch so klein. In den nächsten zehn Jahren, wenn Millionen sogenannter Babyboomer in Rente gehen werden, kann und wird die Aktienrente also nichts bewirken", kritisiert der Rentenexperte Holger Balodis. (1)

Nach Lindners Konzept soll die Aktienrente vom KENFO verwaltet werden – dem öffentlichen Fonds, der bisher vor allem damit betraut war, die Entsorgung von Atommüll zu finanzieren. Nun soll sich dieser Fonds auch um die Rentenbeiträge kümmern, indem er für die Renten am Finanzmarkt spekuliert. Aktuell hat er das Ziel, zu 30 Prozent in "Private Equity, Private Debt und Infrastruktur" zu investieren.

Neben dem Fonds soll auch der gesetzlichen Rentenversicherung ermöglicht werden, ihre Reserven auf dem Kapitalmarkt anzulegen. Staatliche Geldtöpfe sollen also in größerem Umfang auf den Finanzmarkt umgeleitet werden.

Bei der Aktienrente handelt es sich um ein kreditfinanziertes Spekulationsgeschäft, für das der Bund das Ausfallrisiko trägt.

Holger Balodis.(2)

Finanzmärkte sind immer volatil und spekulativ - deshalb sahen vor allem die Grünen die Pläne zunächst skeptisch. Der Grünen-Rentenexperte Markus Kurth brachte im vergangenen Sommer das Beispiel des bereits existierenden Staatsfonds zur Finanzierung der Atommüll-Entsorgung (KENFO), der sich künftig auch um die Rente kümmern soll. Dieser Fonds habe 2022 einen Verlust von 12,2 Prozent eingefahren.

Finanzminister Lindner hat deshalb mehrfach klargestellt, dass die Rentenversicherung kein Risiko tragen solle. Falls Verluste anfallen, wolle der Staat Geld nachschießen. Es handelt sich also um ein kreditfinanziertes Spekulationsgeschäft, für das der Bund das Ausfallrisiko trägt.

Nach 2036, wenn ein Kapitalstock von 200 Milliarden erreicht ist, sollen die Erträge aus Kursgewinnen, Dividenden etc. planmäßig zugunsten einer Beitragsstabilisierung abgeschöpft werden. Das heißt der Wert des Kapitalstocks wird nicht mehr wachsen, ist aber stattdessen beständig von der Inflation bedroht. "Sollte ein Sparvolumen von 200 Milliarden Euro auf eine Geldentwertung von 10 Prozent treffen, wie wir sie in weiten Teilen der Welt in der jüngsten Vergangenheit gesehen haben, so würde sich sein Wert bereits nach wenigen Jahren halbieren", warnt Holger Balodis.

Da der Staat für den Aufbau des Kapitalstocks Kredite an den Kapitalmärkten, d.h. bei Finanzinvestoren und Großbanken, aufnimmt, muss er für diese Fremdfinanzierung Zinsen zahlen. Somit handelt es sich bei der neuen Aktienrente um eine Wette, die darauf baut, dass die Rendite aus der Anlage stets höher ist als der Zins, den der Staat für das aufgenommene Darlehen leisten muss.

Dazu kommt das Risiko, dass Aktien- und Finanzmärkte abstürzen, es also keinen Ertrag aus dem "Generationenkapital" gibt, sondern Verluste. Es gäbe nicht nur keine Zuschüsse für die Rentenkasse, auch der Wert des Kapitalstocks selbst würde sinken. Dann müsste der Staat für die Verluste geradestehen, um für das Folgejahr wieder die Voraussetzungen für die planmäßige Entnahme sicher zu stellen. "Statt wie behauptet mehr Sicherheit für die Rentenkasse, drohen mit der Aktienrente also in schlechten Börsenjahren gewaltige finanzielle Risiken für den Bundeshaushalt", stellt Holger Balodis fest.

Fachleute gehen auch davon aus, dass die Effekte des "Generationenkapitals" gering ausfallen werden. Denn auch bei den guten Renditen, von denen die Bundesregierung voller Optimismus ausgeht, würde der Beitrag um gerade einmal 0,23 bis 0,3 Beitragssatzpunkte sinken. Die Plattform "Finanztip" hat eine Beispielrechnung gemacht. Danach würde diese Senkung bei einem Bruttoarbeitslohn von 3.000 € zu einer Entlastung um gerade einmal 4,50 Euro im Monat jeweils für Beschäftigte und Unternehmen führen.

Eine echte Stabilisierung der umlagefinanzierten gesetzlichen Rente ist also durch die Einführung der Aktienrente nicht zu erwarten. Vor allem gilt: Immer müssen die Leistungen für die Rentnergeneration von der arbeitenden Generation aufgebracht werden.

Aber anstatt gute Arbeit mit guten Löhnen und damit hohen Beiträgen zur gesetzlichen Rentenversicherung zu gewährleisten, wird ein Grundpfeiler des Sozialstaats – die gesetzliche Rentenversorgung – für die Profitlogik der Finanzmärkte geöffnet.

Zudem ist zu befürchten, dass das Generationenkapital in Zukunft noch zu einer "richtigen" Aktienrente ausgeweitet wird. Denn das jetzt verabschiedete Modell ist nur eine abgeschwächte Form des FDP-Vorschlags. Der FDP schwebt nach wie vor vor, dass zukünftig unsere Rentenbeiträge direkt an den Finanzmarkt fließen sollen.

Julia Bernard schreibt in der Zeitschrift Jacobin:

"Warum stecken wir die 12 Milliarden Euro nicht einfach in Bildung und gute, klimagerechte Arbeitsplätze? Bessere Arbeit würde schließlich auch dafür sorgen, dass Arbeitgeber- und Arbeitnehmerseite mehr in die Rentenkasse einzahlen."

"Die Logik der Aktienrente ist völlig verkehrt. Denn sie impliziert, man könne mit Aktienbesitz gesellschaftlichen Wohlstand fördern. Dabei hängen die Renten in Wirklichkeit davon ab, wie produktiv wir sind, wie viel gut bezahlte Arbeit es gibt und wie viel wir auf Grundlage dessen real umverteilen können.
Die eigentliche Frage ist nämlich: Warum sind unsere Rentenkassen eigentlich so leer? Warum sorgen wir nicht auf viel direkterem Wege für eine gute Rente – nämlich durch gut bezahlte Arbeit? Warum stecken wir die 12 Milliarden Euro nicht einfach in Bildung und gute, klimagerechte Arbeitsplätze? Bessere Arbeit würde schließlich auch dafür sorgen, dass Arbeitgeber- und Arbeitnehmerseite mehr in die Rentenkasse einzahlen.
Was eine gute Rente ermöglicht, sind gute und vor allem gut bezahlte Jobs. Umwege über die Finanzmärkte zu gehen, ist reiner Klassenkampf für Finanzinvestorinnen und -investoren. Auch die Aktienrente zeigt es wieder: Der gesellschaftliche und vor allem gewerkschaftliche Einsatz für gute und nachhaltige Arbeit muss unser aller Priorität sein – auch um die Rentenfrage zu lösen." (3)

 

Quellenhinweise

Siehe hierzu die Vorschläge des Sachverständigenrates zur Rentenkürzung , in: isw-wirtschaftsinfo 64, Bilanz 2023, „ Die Planungen zum Rentenabbau gehen weiter“,, https://www.isw-muenchen.de/broschueren/wirtschaftsinfos/217-wirtschaftsinfo-64

Rosa Luxemburg Stiftung, 6.3.2024: Die neue «Aktienrente»: weitgehend nutzlos. Der Kapitalmarkt rettet die gesetzliche Rente nicht
https://www.rosalux.de/news/id/50118

Jacobin, 5.2.2024: Die Aktienrente macht Spekulation zur Staatsräson
https://jacobin.de/artikel/aktienrente-generationenkapital-spekulation

 

 

 

 

 

 

Rüstungstreiber Europa

Mi, 13/03/2024 - 07:55

Europa verdoppelt Rüstungsimporte und ist globaler Treiber bei der Militarisierung. Im Rüstungsexport dominieren die USA – auch den europäischen Markt, zum Nutzen deutscher Konzerne und zu Lasten Frankreichs.



Die Staaten Europas haben ihre Rüstungsimporte im vergangenen Fünfjahreszeitraum nahezu verdoppelt und treiben damit die Militarisierung weltweit an vorderster Stelle voran.
Dies geht aus aktuellen Statistiken des Stockholmer Forschungsinstituts SIPRI hervor.

Demnach sind in allen Großregionen weltweit von Afrika über den Mittleren Osten bis Südostasien die Waffeneinfuhren zuletzt teils deutlich zurückgegangen – nur in Europa schnellten sie um 94 Prozent in die Höhe. SIPRI misst in Fünfjahreszeiträumen, um Schwankungen auszugleichen, die in der Rüstungsbranche beim Kauf besonders teurer Waffen – Kampfjets, Kriegsschiffe – regelmäßig entstehen. Größter Rüstungsexporteur sind die Vereinigten Staaten, die ihren Anteil am Weltmarkt auf 42 Prozent ausbauen konnten; die Bundesrepublik liegt auf der Weltrangliste derzeit auf Platz fünf. Während die USA mehr als die Hälfte der europäischen Rüstungseinfuhren abdecken und nun auch europäische Konzerne – etwa Rheinmetall – in ihre Fertigungsketten einbinden, hält Frankreich in Europa einen Marktanteil von nicht einmal fünf Prozent und ist auf Ausfuhren in den Mittleren Osten und nach Asien angewiesen.

Globaler Rückgang im Waffenhandel

Der globale Waffenhandel lag im Fünfjahreszeitraum von 2019 bis 2023 schon um fast die Hälfte über dem Wert zur Jahrtausendwende; er hatte seinen Wert aus den letzten Jahren des Kalten Kriegs zu knapp drei Vierteln wieder erreicht. Gegenüber dem Fünfjahreszeitraum zuvor (2014 bis 2018) ging er allerdings leicht um rund 3,3 Prozent zurück – dies, weil die Rüstungseinfuhren in allen Großregionen mit Ausnahme von Europa schrumpften.[1] So gingen die Waffenimporte in Nord- und Südamerika um 7,2 Prozent, in Asien und der Pazifikregion um 12 Prozent, im Nahen und Mittleren Osten ebenfalls um 12 Prozent sowie in Afrika um 52 Prozent zurück. Gegenläufig dazu wuchsen die Käufe von Kriegsgerät vor allem in einzelnen Ländern, die sich eng an der Seite der USA für einen möglichen Krieg gegen China rüsten – in Südkorea (plus 6,5 Prozent) und in Japan (plus 155 Prozent). Auch die Philippinen, die sich seit Mitte 2022 den USA als Stützpunkt für den militärischen Aufmarsch gegen China zur Verfügung stellen (german-foreign-policy.com berichtete [2]), steigerten ihre Rüstungskäufe erheblich: um rund 105 Prozent. In Südostasien insgesamt hingegen ging die Einfuhr von Kriegsgerät im selben Zeitraum um 43 Prozent zurück.

Der Westen rüstet auf

Maßgeblich getrieben wird der globale Waffenhandel aktuell von den Vereinigten Staaten sowie vor allem von Europa. Europa steigerte seine Rüstungsimporte im Fünfjahreszeitraum von 2019 bis 2023 um stolze 94 Prozent gegenüber dem Fünfjahreszeitraum zuvor.
Zwar gingen von der nahezu verdoppelten Waffeneinfuhr 23 Prozent kriegsbedingt in die Ukraine.
Doch weiteten die anderen europäischen Staaten ihre Rüstungsimporte gleichfalls um rund ein Viertel aus.
Fünf der acht größten Rüstungsexporteure liegen in Westeuropa;
- Frankreich ist zum zweitgrößten Waffenverkäufer der Welt aufgestiegen,
- Deutschland steht – vor Italien, Großbritannien, Spanien – auf Rang fünf.
Während Russland zurückfiel und sich mit 11 Prozent aller Rüstungsexporte weltweit mit Platz drei begnügen musste – vor China, dessen Anteil auf 5,8 Prozent sank –, konnte Frankreich seinen Anteil um 47 Prozent auf 11 Prozent steigern.

Unangefochtene Nummer eins sind allerdings völlig unverändert die Vereinigten Staaten. Stellten sie im Fünfjahreszeitraum von 2014 bis 2018 noch 34 Prozent sämtlicher Waffenausfuhren weltweit, so konnten sie ihre Spitzenposition im jüngsten Fünfjahreszeitraum ausbauen und lagen nun schon bei 42 Prozent.

Prognosen für den Waffenexport

Die naheliegende Vermutung, die westlichen Staaten dürften auch künftig die Spitzenplätze auf der Rangliste der größten Waffenexporteure weltweit dominieren, lässt sich laut Einschätzung von SIPRI mit einem Blick auf die aktuellen Auftragsbestände der jeweiligen Rüstungskonzerne erhärten. Insbesondere ins Gewicht fallen dabei – wegen ihrer hohen Kaufpreise – Militärflugzeuge und Kriegsschiffe.
Laut SIPRI haben US-Konzerne aktuell Aufträge zur Lieferung von 1.071 Kampfflugzeugen und 390 Kampfhubschrauber in ihren Büchern – weit mehr als alle anderen Staaten zusammengenommen.
Hinzu kommen unter anderem Aufträge für die Lieferung von 561 Kampfpanzern. Französische Konzerne haben die Ausfuhr etwa von 223 Kampfjets und 20 großen Kriegsschiffen zugesagt, deutsche Unternehmen den Export von 25 großen Kriegsschiffen und 241 Kampfpanzern. China und Russland liegen mit 94 beziehungsweise 78 Kampfjets und wenigen Kriegsschiffen klar zurück. Allerdings berücksichtigt die SIPRI-Statistik eine Tendenz noch nicht, die sich zur Zeit abzeichnet, deren Umfang allerdings unklar und die womöglich auch reversibel ist: Mehrere wohlhabende Staaten auf der Arabischen Halbinsel beginnen, sich für chinesische Rüstungsgüter zu interessieren.[3] Das könnte die Gewichte langfristig verschieben.

DIe US-Rüstungsindustrie dominiert

Die dramatische Zunahme der Waffenimporte nach Europa jenseits der Ukraine geht vor allem auf die bereits 2014 beschlossene Steigerung der nationalen Rüstungshaushalte in den NATO-Staaten auf zwei Prozent des Bruttoinlandsprodukts zurück. Mehrere Staaten geben sogar deutlich mehr aus; Polen etwa investiert derzeit 3,9 Prozent seiner Wirtschaftsleistung in seine Streitkräfte. Die gesteigerten Waffenkäufe werden bloß zum Teil durch die jeweils nationale Rüstungsindustrie gedeckt. Dabei stieg in Europa der Anteil der Waffeneinfuhren aus den USA laut SIPRI von 35 Prozent (2014 bis 2018) auf 55 Prozent (2019 bis 2023). In der EU erreichte er laut Angaben der EU-Kommission zwischen dem 24. Februar 2022 und Juni 2023 sogar 63 Prozent.[4] Noch weiter gestärkt werden Einfluss wie auch Absatz der US-Rüstungsindustrie dadurch, dass Washington die partielle Verlagerung der US-Rüstungsproduktion ins Ausland vorantreibt, um zusätzliche Kapazitäten zu erlangen. So produzieren Fabriken in Australien und in Japan in Lizenz US-Munition und US-Patriot-Flugabwehrsysteme.[5] Der polnische Rüstungskonzern PGZ fertigt mit einer Lizenz von Northrop Grumman US-Panzermunition.[6] Die Kooperation gestattet es der US-Rüstungsindustrie, ihren Weltmarktanteil noch weiter auszudehnen.

Teil der Fertigungskette

Daran beteiligt sich auch die Düsseldorfer Waffenschmiede Rheinmetall. Das Unternehmen hat im Sommer 2023 begonnen, im niederrheinischen Weeze eine Fabrik zu errichten, in der Rumpfmittelteile für diejenigen US-Kampfjets vom Typ F-35 produziert werden sollen, die für den Export bestimmt sind.[7] Dazu zählen auch die 35 F-35-Jets, die Deutschland für die sogenannte nukleare Teilhabe kaufen wird.[8] Die Fertigung der Rumpfmittelteile in Weeze setzt in den Vereinigten Staaten Kapazitäten für die Herstellung anderen Kriegsgeräts frei; Rheinmetall wiederum sichert sie Zusatzprofite und den Ausbau der Konzernbeziehungen in die USA. Insgesamt stärkt sie freilich die Marktdominanz der US-Rüstungsindustrie – nicht zuletzt in Europa.

Frankreichs europäische Schwäche

Dies stößt auf Unmut in Paris. Hielten deutsche Konzerne im Fünfjahreszeitraum von 2019 bis 2023 einen Anteil von rund 6,4 Prozent am Waffenimport der europäischen Staaten, so lag derjenige Frankreichs laut den SIPRI-Statistiken bei nur 4,6 Prozent. Dass die US-Branche jetzt auch Konzerne aus EU-Mitgliedstaaten fest in ihre Fertigungsketten einbindet – darunter deutsche –, mindert die Chancen französischer Firmen zusätzlich. SIPRI zufolge gingen in den vergangenen fünf Jahren 42 Prozent aller französischen Rüstungsexporte nach Asien oder in die Pazifikregion, 34 Prozent in den Nahen und Mittleren Osten; nur 9,1 Prozent konnten in Europa abgesetzt werden. Rund die Hälfte der französischen Rüstungsexporte nach Europa bestand allein aus dem Verkauf von 17 Kampfjets des Typs Rafale an Griechenland. Die eklatante Schwäche der französischen Rüstungsindustrie auf dem europäischen Markt wirft ein Licht auf die hohe Bedeutung, die Frankreich der neuen EU-Strategie für die Förderung der europäischen Rüstungsindustrie beimisst – german-foreign-policy.com berichtete [9].

 

[1] Zahlen hier und im Folgenden: Trends in International Arms Transfers, 2023. SIPRI Fact Sheet. Solna, March 2024.

[2] S. dazu Drohnen gegen China.

[3] S. dazu Wonwoo Choi: UAE Receives First Batch Of Chinese L-15. theaviationist.com 08.11.2023.

[4] S. dazu Auf dem Weg in die Kriegswirtschaft.

[5] Damien Cave: Why More American Weapons Will Soon Be Made Outside America. nytimes.com 01.03.2024.

[6] Poland and Weapons Maker Northrop Grumman Sign Deal Worth About $75 Million. usnews.com 20.02.2024.

[7] Rheinmetall baut mit am modernsten Kampfjet. manager-magazin.de 01.08.2023.

[8] S. dazu Festtage für die Rüstungsindustrie (II).

[9] S. dazu Auf dem Weg in die Kriegswirtschaft.

 

Gewerkschaften unter Druck: Streikrecht ja – aber bitte nicht nutzen! Sonst…

So, 10/03/2024 - 07:58

Massive Vorwürfe werden derzeit gegen streikende Gewerkschafter erhoben. „Wer vom Streikrecht Gebrauch macht, der muss auch Verantwortung übernehmen und das heißt: konstruktiv verhandeln.“, fordert Bundesverkehrsminister Volker Wissing .






Und er geht einen Schritt weiter mit den Vorwürfen: Die Befürchtung sei, dass Menschen, die bereit waren umzusteigen, sich wieder dem Auto zuwenden könnten. „Das können wir nicht gebrauchen in einer Zeit, in der wir alle uns anstrengen müssen, klimaneutrale Mobilität und bezahlbare Mobilität für jede und jeden zu gewährleisten.“  https://www.br.de/nachrichten/deutschland-welt/neue-gdl-streiks-wissing-ist-empoert-aber-greift-nicht-ein,U6GKDCw

„Aber nehmt uns nicht als Geisel“, ergänzt BILD-Chefkolumnist Franz Josef Wagner Streikende https://www.verdi.de/++file++65df396440110e37da87f9b5/download/verdi_news_03_2024_web.pdf

Den Lokführer-Streik kritisiert auch der Bundeswirtschaftsminister. „Das muss möglich sein, eine Lösung zu finden und die Interessen, die man hat, jetzt nicht auf Kosten anderer Menschen so radikal auszutragen, das finde ich nicht mehr richtig“, sagte Habeck dem Sender RTL. „Und was passiert, wenn immer mehr gesellschaftliche Gruppen ihre Meinungen per Streik durchsetzen wollen und dafür weite Teile des Landes lahmlegen?“, deutet Gitta Connemann, Bundesvorsitzende der Mittelstands- und Wirtschaftsunion, die Richtung der CDU an  https://www.cdu.de/artikel/braucht-es-andere-streikregeln

„Deutschland hat im Gegensatz zu vielen anderen Ländern kein Streikgesetz, das der Regierung Einflussnahme auf Streiks sichern könnte. Muss das geändert werden?“, fragt bereits der Bayerische Rundfunk. Er sehe im Moment keine politischen Mehrheiten für eine „Eingrenzung des Streikrechts“, bedauert Michael Brenner, Verfassungsrechtler bei der Uni Jena https://www.mdr.de/mdr-thueringen/bahn-streik-122.html

Verzichtsforderungen an die Gewerkschaften aus Ministerien

Der Bundesverkehrsminister setzt noch einen drauf – er erwarte von der GDL, dass „verantwortungsbewusst verhandelt wird“. Tarifverhandlungen finden zwischen zwei Seiten statt. Hat ein Bundesminister diese Forderung auch an die Verhandlungsseite der Unternehmen gerichtet? Etwa wenn diese Tarifverträge verweigern?
Immer weniger Unternehmen schließen Tarifverträge ab. Die Tarifbindung ist seit Mitte der 1990er-Jahre kontinuierlich zurückgegangen. Fielen 1998 noch 73 Prozent unter einen Tarifvertrag, betrug der Anteil 2022 nur noch 51 Prozent.
Je größer ein Betrieb ist, desto wahrscheinlicher ist es, dass er einen Tarifvertrag anwendet. Von den Kleinstbetrieben mit weniger als zehn Beschäftigten tut dies nur knapp ein Fünftel. Die Tarifbindung ist sogar bei den Schwergewichten der deutschen Wirtschaft lückenhaft, meldet die gewerkschaftliche Hans-Böckler-Stiftung: Sieben der Dax-40-Unternehmen sind an einen Tarifvertrag gebunden. https://www.boeckler.de/de/boeckler-impuls-schlechte-vorbilder-55198.htm

Überhaupt keine Tarifverträge haben SAP, die Deutsche Börse, das Biotechnologieunternehmen Qiagen, der Wohnungskonzern Vonovia und der Onlinehändler Zalando: "Tendenzen zur Aufweichung der Tarifbindung seien aber selbst in lange etablierten, milliardenschweren Konzernen unübersehbar", betonen die Wissenschaftler Thorsten Schulten, Marlena Sophie Luth und Malte Lübker.

Das Beispiel Amazon

Dort wird seit über einem Jahrzehnt für einen Tarifvertrag protestiert und gestreikt. Generell lehnt das Unternehmen einen Tarifvertrag ab. Den Gewerkschaftern ist auch klar, warum: Beschäftigte arbeiten im Niedriglohnbereich. „Amazon zahlt in Deutschland je nach Standort einen Einstiegslohn von 11,30 Euro bis 12,70 Euro brutto. Nach 12 und 24 Monaten steige dieser automatisch. Nach zwei Jahren verdienen Amazon-Beschäftigte durchschnittlich 2.600 Euro brutto im Monat.“, meldet Gewerkschaft Verdi. Der Konzern ist in einer starken Position: Ein Teil Belegschaft ist befristet beschäftigt, den Arbeitsvertrag kann das Management auslaufen lassen, ohne Begründung. Konflikte vermeiden betroffene Arbeiter dann eher. Amazon versucht bei Streiks hierzulande, den Versand über andere Länder in Europa zu organisieren.

Davon lässt sich die Gewerkschaft nicht einschüchtern. Inzwischen sind Beschäftigte etwa aus Bad Hersfeld vernetzt mit Arbeitern in Polen oder Tschechien. Als „Amazon Workers International“ organisierten sie eine Tour an mehrere Standorte des Versandmoguls in Polen und der Bundesrepublik
https://mmm.verdi.de/geschaeftsmodelle/kollektiv-produzieren-ganz-nah-dran-93493

 Auch gibt es weltweite Aktionstage „Die Amazon-Beschäftigten haben den Black Friday zum Make Amazon Pay Day umbenannt“. An diesem Tag geht es darum, sich weltweit für bessere Löhne und Arbeitsbedingungen einzusetzen, meldet Verdi.
Amazon will die Tarifverhandlungen weiter aussitzen. Die Beschäftigten treten für ihre Rechte ein, auch ihr Streikrecht. Die Politik vermeidet Konflikte mit großen Unternehmen wie Amazon.
Forderungen von Bundesministern etwa nach einem Schlichtungsverfahren, an dem der Internet-Konzern teilnehmen soll, bleiben aus.

„Volkswirtschaftlicher Schaden“ nur bei Streiks ein Thema – nicht beim Desaster im Bahn-Normalbetrieb

Die Zuverlässigkeit der Bahn ist dafür aber ein Thema für den FDP-Politiker. Die Fahrgäste müssen Planbarkeit haben. „Aber klar ist, dass eine zuverlässige Bahn eine Voraussetzung dafür ist, dass wir auf Wachstum kommen und sich die Wirtschaft in unserem Land gut entwickelt“, formuliert Minister Wissing. Diese Aussage verwundert häufige Bahnfahrer. Denn die Unzuverlässigkeit der Bahn wird seit Jahren dokumentiert, etwa durch die Verspätungszahlen: „Deutsche Bahn verpasst ihr Pünktlichkeitsziel“, meldet tagesschau.de https://www.tagesschau.de/wirtschaft/unternehmen/deutsche-bahn-puenktlichkeit-ziele-verfehlung-100.html

Streikausfälle fallen aus den Statistiken, die Verantwortung für dieses seit Jahren dokumentierte Desaster trägt der Vorstand.

Der Journalist Arno Luik beobachtet seit Jahren die Entwicklung bei der Bahn. Er ist Autor von „Schaden in der Oberleitung: Das geplante Desaster der Deutschen Bahn“. Die Bahn solle Klima-Vorbild sein, fahre aber zu einem großen Teil noch mit Diesel „Hier sind gerade mal 61 Prozent der Strecken elektrifiziert – eine Schande für dieses Industrieland“  https://www.nachdenkseiten.de/?p=110219

Zum Vorwurf, die Streiks sorgen für volkswirtschaftlichen Schaden sagt er: „Wenn es heute mal, was im Winter passieren kann, ein wenig schneit, dann stellt die Bahn häufig den Verkehr ein, hängt ganze Bundesländer vom Verkehr ab. Neulich gab es Schnee in Bayern, in München, fast ganz Bayern fuhren zwei Tage lang keine Züge mehr – ein teurer Witz für die Volkswirtschaft.“. Wie groß die Probleme seien, zeige sich auch im Vergleich zu anderen Ländern: „Der Zustand der Deutschen Bahn ist so desolat, dass die Schweizer häufig keine ICEs, das Vorzeigeprodukt der Deutschen Bahn, mehr nach Zürich fahren lassen“. Dass die Bahn in einem Zustand sei, der „für ein Industrieland überaus peinlich ist, hat Gründe. Und Verantwortliche dafür – und die sitzen im Vorstand der Bahn, aber auch in der Bundesregierung“.

Der Bahnkenner kritisiert auch die Personalpolitik von Bahn-Personalvorstand Martin Seiler:

 „Die Bahn hat 325 000 Mitarbeiter und ist nicht in der Lage, genügend Lokführer anzustellen? Das ist ein eklatantes Versagen dieses Personalvorstands.

Wenn die Bahn ihr Personal ordentlich bezahlen würde, hätte sie genügend Mitarbeiter“.

Mehr als 100 von der Deutschen Bahn ausgebildete Lokführer arbeiten in der Schweiz, so der Journalist https://www.fr.de/wirtschaft/deutsche-bahn-wer-die-bahn-so-ruiniert-kann-sie-nicht-retten-experte-ueber-92870496.html

Luik ist von den heftigen Streikwellen nicht überrascht: „Bahnvorstandschef Richard Lutz bekommt das dreifache Gehalt des Bundeskanzlers und einen Bonus von zwei Millionen. Aber Lutz ist verantwortlich für eine Bahn, die 35 Milliarden Euro in den Miesen ist“, so der Buchautor „Und bei den Eisenbahnern schafft es dieses Gefühl von Ungerechtigkeit: »Die da oben sahen ab!« Diese Stimmung stärkt die Streikbereitschaft“.

„Müssen kritische Infrastrukturen eine Pflicht zur Schlichtung vor dem ersten Streik bekommen?“, legt die CDU-Bundestagsabgeordnete Gitta Connemann ihre Position noch in Frageform offen https://www.cdu.de/artikel/braucht-es-andere-streikregeln

Anregungen könnten sich die Streikgegner möglicherweise bei der faschistischen Regierung in Italien holen. Minister Matteo Salvini, als „Gewerkschaftsfresser“ bekannt, beschränkte dort jüngst das Streikrecht https://www.nd-aktuell.de/artikel/1180572.bahnstreik-und-gdl-angriff-auf-das-streikrecht-salvini-als-vorbild.html.

 

Aus die Maus – Verkauf von E-Autos stürzt ab.

Fr, 08/03/2024 - 18:26

Kommt jetzt das Aus vom Aus für den Verbrenner?
Der Marktanteil von Elektroautos ist in den ersten beiden Monaten des Jahres 2024 in Deutschland regelrecht eingebrochen.
Riskanter Handelskrieg mit China?

 

Der Anteil der verkauften Elektro-Autos fällt auf den niedrigsten Stand seit drei Jahren: Nur noch 11,6 Prozent der Neuwagen waren Stromer, wie aus der Statistik des Kraftfahrtbundesamtes hervorgeht. Im Jahr 2023 hatte der Anteil noch bei fast 20 Prozent gelegen. Der Grund für den Absturz ist mehrdeutig: das abrupte Ende der Subventionen Mitte Dezember trägt einen großen Teil, die verfehlte Modellpolitik sowie die Inflation tragen weitere Teile des Absturzes.
Die Autohersteller kommen unter den gültigen Regeln (Gesetzen) nicht umhin, Elektroautos zu produzieren, weil sie strengere Flottengrenzwerte bei den CO2 - Emissonen einhalten müssen, zur Zeit 95 Gramm pro Kilometer.

Wären die Verbrennermotoren dahingehend weiterentwickelt worden und wären die Autos nicht immer größer und schwerer geworden, wäre ein Verbrauch von drei bis vier 4 Litern Benzin oder Diesel pro 100 Kilometer durchaus möglich und die Debatte heute wäre eine völlig andere.

Die EU (Kommission, Rat und Parlament) hat gerade vor einem Jahr das Aus für Verbrenner bei Neuwagen ab 2035 beschlossen. Manager der Autoindustrie und konservative Politiker wollen die Entscheidung rückgängig machen, die Kommissions-Präsidentin von der Leyen findet eine Prüfung des Vorhabens wichtig: „Technologie-Offenheit und Wahlmöglichkeiten für Verbraucher sollen weiterhin sichergestellt werden. Schließlich muss auch die Industrie wählen können, in welche Mobilität der Zukunft sie investiert.“
Der ursprüngliche Beschluss war schon löchrig: Anders als bei dem Wochen zuvor im EU-Parlament verabschiedeten Plan der Kommission wird es eine Ausnahme für angeblich klimaneutrale, synthetisch hergestellte Kraftstoffe, sogenannte E-Fuels, geben – in Kenntnis dessen, dass die Energiebilanz dieser Kraftstoffe maximal ungünstig ist und diese dementsprechend teuer sind.
 Darauf hatte die deutsche Bundesregierung mit dem dummen Spruch von der „Technologieoffenheit“ und in Absprache mit den Bossen der Autoindustrie gedrängt. Auf die E-Fuel-Regelung hatte die Bundesregierung um Verkehrsminister Wissing gedrängt. Synthetische Kraftstoffe zu verbieten, widerspräche der Technologie-Offenheit. Autofahren würde mit teuren E-Fuels auch von der Treibstoffseite her wieder zum puren Luxus werden.

Die Zeitschrift auto-motor-sport berichtet über das noch nicht veröffentlichte Wahlprogramm der CDU zur Europawahl: „Wir lehnen eine Verbotspolitik – wie das Verbot von Verbrennungsmotoren – ab und werden sie auch so schnell wie möglich revidieren.“ Allen voran Jens Gieseke, CDU-Politiker aus dem niedersächsischen Papenburg, kämpft als Abgeordneter im EU-Parlament in AfD-Manier gegen eine „Verbotsideologie“. Vielmehr solle die EU der EVP zufolge bei ihrer Verkehrsgesetzgebung einen technologieoffenen Ansatz verfolgen. Polen hatte in der EU gegen das Gesetz gestimmt und eine Klage vor dem europäischen Gerichtshof angekündigt.
Der Anteil des Autoverkehrs an Treibhausgasemission und Klimawandel wird ignoriert oder gar geleugnet.
Auch der Focus berichtet über das mögliche Verbrenner aus bzw. zitiert die österreichische Kronenzeitung und fügt folgende interessante Aspekt hinzu:„Nach einer sehr bemerkenswerten Abstimmung in Brüssel am Montagabend steht das Aus für Verbrenner-Motoren vor dem tatsächlichen Aus“.
Der Grund: Statt wie bisher dem Elektroauto automatisch eine CO2-Bilanz von null Gramm zuzuweisen, was von Wissenschaftlern stets kritisiert wurde und die tatsächliche Emissionsbilanz der E-Mobilität komplett ausblendet, soll es nun eine echte Bilanzbetrachtung geben. Damit wäre die E-Mobilität nicht mehr automatisch die beste Antriebsart. In einem Referenzdatenblatt, das der „Krone“ vorliegt, wird festgelegt, wie der CO2-Gehalt der zum Aufladen nötigen Elektrizität angerechnet wird, „inklusive der Verluste bei der Übertragung und Umwandlung“. Die Treibhausgas-Emissionen wären dann also für das E-Auto auch offiziell nicht mehr null, sondern vom Strommix abhängig.

Laut „Krone“ will sich die EU damit auch davor schützen, dass die selbst gewählte „Electric Only“-Strategie eine Welle von chinesischen Elektrofahrzeugen lostritt, die die europäische Autoindustrie quasi plattmachen könnten. Dazu passt die Ankündigung der EU, Zölle auf Autos aus China zu erheben – quasi den Freihandel aufzukündigen und eine Art Wirtschaftskrieg gegen China zu beginnen. In electrive, dem selbsternannten Leitmedium von Elektromobilität, heißt es dazu: „Wie im Amtsblatt der EU zu lesen ist, trifft die Europäische Union zurzeit Vorbereitungen für den Fall, dass festgestellt wird, dass chinesische E-Autos vom eigenen Staat „unfaire Subventionen“ erhalten.
Konkret beginnt die Kommission am 7. März mit der sogenannten zollamtlichen Erfassung chinesischer E-Auto-Importe.“
Offenbar blendet die EU-Kommission dabei aus, dass es z.B. in Deutschland seit Jahren massive direkte Subventionen für Autos gab und gibt. „Die Kommission konstatiert, dass EU-Hersteller einen schwer wieder gut zu machenden Schaden erleiden könnten, wenn die Importe aus China bis zum Abschluss der Untersuchung weiter so stark ansteigen. Aus diesem Grund werden also rückwirkend wirksame Zölle vorbereitet.“

Der Siegeszug des E-Autos fällt vorerst aus, der Hype isch over!

Was geht`s uns an? Die beabsichtigte Beerdigung des Verbrenner-Verbotes und der angekündigte Wirtschaftskrieg mit China führt unmittelbar zu Reaktionen bei den drei großen Autoherstellern in Deutschland, bei VW, Mercedes und BMW. „Der schon proklamierte Sieg des E-Motors über den Verbrenner war nur deswegen ausgemachte Sache, weil man es in Besprechungsrunden in Brüssel und Berlin so beschlossen hatte“, schreibt eine Mercedes Fan-Seite. Mercedes-Benz fürchtet mit E-Autos langsamer zu wachsen und will länger Autos mit Verbrennungsmotoren bauen. Mercedes-Boss Källenius: „Den Zeitpunkt für den letzten Verbrenner kennen wir nicht.“ „Wir reden über eine gigantische Transformation industrieller Strukturen. Man kann nicht von heute auf morgen mit dem Verbrennungsmotor aufhören. Werfen Sie doch mal einen Blick auf die Zulassungszahlen in Deutschland oder Europa“, erklärt ein Manager von BMW. Bei Volkswagen wurde gleich die ganze Zukunftsplanung über den Haufen geworfen, maximale Unsicherheit breitet sich aus in den Werken Zwickau, Emden und Wolfsburg, in denen teils ausschließlich E-Autos produziert werden. Klare Aussagen dazu, wie es beispielsweise für das Stammwerk mittelfristig weitergeht, gibt es nicht. Die Versprechungen aus dem Zukunftspakt für die Standorte sind wieder einkassiert worden.
Der NDR berichtet, dass in Emden länger als geplant Verbrenner-Autos gebaut werden: „Das Unternehmen hat massiv mit dem schwächelnden Absatz der Elektromodelle zu kämpfen. Daher soll die Produktion der Verbrenner länger laufen.“ Und die Wolfsburger Allgemeine berichtet von der Betriebsversammlung am 6. März: Seit einem Jahr verhandeln der Betriebsrat und das Management über die Details des Performanceprogramms, mit dem bis 2026 zehn Milliarden Euro eingespart werden sollen. Entscheidungen, die die Belegschaft direkt betreffen, werden nur nach und nach bekannt. Das ehrgeizige Projekt Trinity wurde vollständig gestrichen, die vorgesehene neue Fabrik dafür oder der Campus Sandkamp der FE werden nicht gebaut. Auch die Produktion des ID.3 auf einer extra umgebauten Montagelinie im Wolfsburger Werk wird gestoppt. Der Absatz des ID.3 erfüllte die Hoffnungen nie. Mit dem Wegfall der staatlichen Subvention muss VW nun selbst den Absatz seiner E-Autos subventionieren. Bezahlt haben das die Arbeiterinnen und Arbeiter bereits mit viel Kurzarbeit, mit dem Wegfall von Nachtschichten und reduzierten Stückzahlen. Zudem ist beschlossen, dass im Personalbereich 20 Prozent Kosten eingespart werden müssen. Zur Rede der Betriebsratsvorsitzenden Daniela Cavallo schreibt das Blatt wenig schmeichelhaft: „Cavallo hat stärker als ihr Vorgänger Bernd Osterloh die Grenzen des Co-Managements im partnerschaftlichen Sinne ausgelotet,“ und zitiert sie:
„Warum ist die Stimmung denn so schlecht in unserer Belegschaft? Na, weil wir uns jetzt seit über einem Jahr über Kosten unterhalten – ohne klare zukünftige Zielbilder zu haben. Wo wollen wir hin? Wo setzen wir technologisch ein Ausrufezeichen? Menschen folgen keinen Budgets. Menschen wollen sich hinter einer gemeinsamen Idee versammeln“, rief sie den Beschäftigten zu und fordert vom Unternehmen solche Zielbilder ein.
 Einziger Fixpunkt bleibt der Ausschluss betriebsbedingter Kündigungen bis 2029 – allerdings gekoppelt an den wirtschaftlichen Erfolg. Noch setzten die VW-Arbeiter*innen ihre Hoffnung auf einen elektrischen SUV, der ab 2027 gebaut werden soll.

Wenn das Management der Autokonzerne, die Bundesregierung und die EU-Kommission ihren Schlingerkurs weiterfahren, wenn sie weiterhin die Verkehrswende blockieren und einen Wirtschaftskrieg gegen China vom Zaun brechen, werden BMW und Mercedes ihre Luxusautos vielleicht noch verkaufen können. Für einen Massenhersteller wie Volkswagen wird es dann aber sehr eng. Denn es ist keineswegs ein Naturgesetz, dass in Wolfsburg immerwährend Autos gebaut werden.
Klug wäre es, jetzt über eine Konversion der Produktion nachzudenken. Und wenn das Autok-Kapital das nicht will, dann muss es eben öffentlich und gesellschaftlich organisiert werden.

 

Die Wirtschaft Chinas im Jahr 2023 – ein schwieriges Umfeld mit einem positiven Ausblick

Do, 07/03/2024 - 09:42

Die chinesische Wirtschaft, die zweitgrößte Volkswirtschaft der Welt, hat das Jahr 2023 mit einem BIP-Wachstum von 5,2 Prozent im Vergleich zum Vorjahr positiv abgeschlossen und das geplante Ziel übertroffen.



Viele Analysten, einschließlich dem IWF, haben ein nationales Wachstumsziel von "rund 5 %" vorausgesagt. Sie waren davon ausgegangen, Chinas Wirtschaft würde sich gemäß ihrer Prognosen für das Jahr 2023 stark erholen, nachdem die Staats-Regierung ihre Nullzinspolitik Ende 2022 zur Wirtschaftsbelebung beendet hatte.
Die Aussagen der Ökonomen bezogen sich weitgehend auf die adaptierten lokalen Ziele, die von den 31 Provinzregionen des chinesischen Festlandes auf ihren Planungs-Meetings im Januar bekannt gegeben wurden.[1]

 

Chinas Wachstum erholt sich

Quelle: National Bureau of Statistics, https://german.cri.cn/2024/01/17/ARTIL1OGcStXNkJUiuJBZCoJ240117.shtml

Die Wirtschaft wuchs im ersten Quartal 2023 um 4,5 % und übertraf dabei die Erwartungen.  im zweiten Quartal setzte sich die wirtschaftliche Erholung mit 6,3 % im Vergleich zum Vorjahr fort. [2]  In diesem Zeitraum war ein Wiederanstieg des Wachstums im Jahresvergleich zu verzeichnen, auch wenn sich die wirtschaftliche Erholung auf Quartalsbasis eher wieder verlangsamte. Nachdem die anfängliche Dynamik des Aufschwungs nur schwer beizubehalten war, verstärkten die politischen Entscheidungsträger ihre Bemühungen zur Unterstützung des Wachstums in der zweiten Jahreshälfte.  Sie erließen eine Reihe von Maßnahmen, darunter Hilfen und Erleichterungen für die Privatwirtschaft sowie eine Lockerung der Beschränkungen für den Erwerb von privatem Wohneigentum und die Finanzierung von Bauträgern, um den sich verschärfenden Einbruch des Immobiliensektors aufzuhalten.[3]

Im Dezember konnte die chinesische Wirtschaft dank der wirksamen Umsetzung der wirtschaftspolitischen Maßnahmen ihre stabilisierende Erholungsdynamik beibehalten. Die relevanten Indikatoren für Wirtschaftsentwicklung zeigten - mit Ausnahme des bis zuletzt stagnierenden Immobiliensektors - in Richtung der zu Jahresbeginn eingeschlagenen wirtschaftlichen Dynamik.
Auf das gesamte Jahr bezogen war der  Aufschwung in der post-Covid-Phase, zwei Jahre nach den sich weltweit ergebenden strukturellen Einschnitten von unterschiedlichen „Revitalisierungen“ und Auf- und-Ab-Bewegungen in einzelnen Wirtschaftsbereichen gekennzeichnet.
Es ist an dieser Stelle angebracht, darauf hinzuweisen, dass bei der Betrachtung der Wirtschaftsentwicklung  eines Landes der weltweite  wirtschaftliche Abschwung eine wesentliche Rolle spielt. Dies ist der Tatsache geschuldet, dass trotz vieler aufgelegten Wirtschaftssanktionen durch westliche Länder die wechselseitigen Beziehungen verschiedener Weltregionen, einschließlich China, in unterschiedlichen Formen miteinander verknüpft sind und  sich gegenseitig bedingen und beeinflussen.
So hat nach Angaben des Internationalen Währungsfonds (IWF) China in den letzten 15 Jahren die Weltwirtschaft gestützt und 35 % des weltweiten nominalen BIP-Wachstums erwirtschaftet, während die USA auf 27 % kamen.
Eine verfügbare Grafik aus dem Jahr 2022 zeigt, dass der Anteil Chinas am kaufkraftbereinigten  globalen Bruttoinlandsprodukt im Vergleich der größten 20 Länder anführt.

 

Die 20 Länder mit dem größten Anteil am kaufkraftbereinigten globalen Bruttoinlandsprodukt (BIP), 2022

Quelle: https://de.statista.com/statistik/daten/studie/166229/umfrage/ranking-der-20-laender-mit-dem-groessten-anteil-am-weltweiten-bruttoinlandsprodukt/

 

Abschwung Europa, Abschwung USA, Abschwung Deutschland

Laut den vorliegenden (noch nicht gänzlich) bestätigten Ergebnissen zum realen BIP für das vierte Quartal 2023 wuchs die US-Wirtschaft 2023 um 2,5 % gegenüber 2022.  Dies wurde von den westlichen Mainstream-Ökonomen mit Begeisterung aufgenommen - die USA seien auf dem Vormarsch und die "Rezessionsprognostiker" hätten sich gründlich getäuscht.  Zum gleichen Zeitpunkt berichteten die westlichen Medien, dass die chinesische Wirtschaft im Jahr 2023 um 5,2 % wachsen wird.  Im Gegensatz zu den USA bewerteten die Mainstream-Ökonomen dies als totalen Fehlschlag einer planwirtschaftlich ausgelegten Wirtschaft und China stecke in großen Schwierigkeiten.
Nun denn, China wächst doppelt so schnell wie die USA, als die mit Abstand leistungsstärkste „boomende“ G7-Wirtschaft, aber China ist der "Versager".  Diese Kritik zielt nach dem engischen Okonomen Michael Roberts darauf ab, von der Realität abzulenken, dass die westlichen kapitalistischen Volkswirtschaften (mit gewisser Einschränkung der USA) in Stagnation und Beinahe-Pleite dümpeln. Dies sei ein Beispiel für die westliche Sichtweise auf China: "Das chinesische Wirtschaftsmodell hat endgültig den Geist aufgegeben und eine schmerzhafte Umstrukturierung ist erforderlich."
Ein Vergleich der Wachstumsrate der USA im Zeitraum 2020-23 und der durchschnittlichen Wachstumsrate zwischen 2010-19, zeigt, dass die US-Wirtschaft unterdurchschnittlich abschneidet.  In den 2010er Jahren lag die durchschnittliche jährliche Wachstumsrate des realen BIP in den USA bei 2,25 %; in den 2020er Jahren liegt sie bisher bei durchschnittlich 1,9 % pro Jahr.

„Vergleicht man Chinas Wachstumsrate von 5,2 % mit dem Rest der großen Volkswirtschaften, so ist der Abstand noch größer als zu den USA.  Japan wuchs im Jahr 2023 um 1,5 %, Frankreich um 0,6 %, Kanada um 0,4 %, das Vereinigte Königreich um 0,3 %, Italien um 0,1 % und Deutschland um -0,3 %.[4]  Selbst im Vergleich zu den meisten der großen so genannten Schwellenländer war die Wachstumsrate Chinas viel höher.  Brasiliens Wachstumsrate liegt derzeit bei 2% im Jahresvergleich, Mexiko bei 3,3%, Indonesien bei 4,9%, Taiwan bei 2,3% und Korea bei 1,4%.  Nur Indien mit 7,6 % und die Kriegswirtschaft Russlands mit 5,5 % sind höher (von den großen Volkswirtschaften).
Der IWF geht sogar davon aus, dass China in diesem Jahr um 4,6 % wachsen wird, während die kapitalistischen G7-Länder etwa 1,5 % erreichen und dabei einige in eine regelrechte Rezession geraten.  Und wenn die IWF-Prognosen bis 2027 zutreffen, wird sich die Wachstumslücke noch vergrößern.“[5]

 

Chinas Wirtschaftsentwicklung

Das Einkommen der privaten Haushalte

Im Jahr 2023 betrug das verfügbare Pro-Kopf-Einkommen landesweit 39.218 Yuan/5.447 $, was einem nominalen Anstieg von 6,3 Prozent gegenüber dem Vorjahr und einem realen Anstieg von 6,1 Prozent entspricht. In Bezug auf städtische und ländliche Gebiete belief sich das verfügbare Pro-Kopf-Einkommen der Stadtbewohner auf 51.821 Yuan/7198 $, was einem Anstieg von 5,1 Prozent entspricht; das verfügbare Pro-Kopf-Einkommen der Landbewohner belief sich auf 21.691 Yuan/ 3013 $, ein Anstieg von 7,7 Prozent.

Mit einem Anstieg von 7,1 Prozent betrug das Pro-Kopf-Einkommen aus Löhnen und Gehältern der Einwohner im Jahr 2023 landesweit 22.053 Yuan/3063 $, was einem Anstieg von 7,1 Prozent entspricht und 56,2 Prozent des verfügbaren Pro-Kopf-Einkommens ausmacht;
das Pro-Kopf-Nettounternehmenseinkommen betrug 6.542 Yuan/908 $, was einem Anstieg von 6,0 Prozent entspricht und 16,7 Prozent des verfügbaren Pro-Kopf-Einkommens ausmacht. Das Pro-Kopf-Nettoeinkommen aus Immobilien betrug 3.362 Yuan/ 467 $, was einem Anstieg von 4,2 Prozent entspricht und 8,6 Prozent des verfügbaren Einkommens ausmacht; das Pro-Kopf-Nettoeinkommen aus Transferleistungen betrug 7.261 Yuan/ 1008 $, was einem Anstieg von 5,4 Prozent entspricht und 18,5 Prozent des verfügbaren Pro-Kopf-Einkommens ausmacht.

Quelle: National Bureau of Statistics in China, 2023

 

Verbrauchsausgaben der Haushalte

Die Binnennachfrage in China ist seit dem vierten Quartal in 2023 nach der Einführung umfassender antizyklischer Maßnahmen und fiskalisccher Unterstützung leicht angestiegen.  
Die Einzelhandelsumsätze mit Konsumgütern stiegen im Jahresvergleich um 7,2 Prozent, der Konsum der privaten Haushalte hat sich leicht erhöht, wobei im weiteren wirtschaftlichen Verlauf in diesem Jahr eine Festigung erforderlich ist.  

Die landesweiten Pro-Kopf-Konsumausgaben betrugen in 2023 mit einem nominalen Anstieg von 9,2 Prozent 26.796 Yuan/ 3722 $ In Bezug auf städtische und ländliche Gebiete beliefen sich die Pro-Kopf-Verbrauchsausgaben der Stadtbewohner auf 32 994 Yuan/ 4583 $, ein Anstieg von 8,6 Prozent; die Pro-Kopf-Verbrauchsausgaben der Landbewohner beliefen sich auf 18 175 Yuan/ 2524 $, ein Anstieg von 9,3 Prozent.

In der folgenden Tabelle sind die Verbrauchsausgaben pro Kopf im Jahr 2023 nach Warengruppen, ihre prozentuale Veränderung zum Vorjahr und der jeweilige Anteil an den gesamten Verbrauchsausgaben dargestellt. Die Angaben sind dem Bureau of Statistics in China, NBS, 2023 entnommen.

Investitionen

Von Januar bis Dezember 2023 stiegen die Anlageinvestitionen im Jahresvergleich um 3,0 %, Die Anlageinvestitionen gliedern sich in drei Hauptkategorien: Produktion, Immobilien und Infrastruktur. Im Jahr 2022 lag der Wert bei 5,1%. Im Produktionssektor ergibt sich für 2023 ein Anstieg der Investitionen von 6,3%; im Vorjahr lag der Wert bei 9,1 %.[6] Die Immobilieninvestitionen waren in  2023 um 9,1 %  rückläufig. Trotz der Anzeichen einer Verbesserung wird für dieses Jahr die Anspannung in diesem Sektor bestehen bleiben.

Industrieproduktion

Das Wachstum der Industrieproduktion hat sich gegen Ende des Jahres  im Vergleich zum Vorjahr erholt. Im Covid-Jahr 2022 war die Industrieproduktion regelrecht eingebrochen. Im Jahr 2023 ist sie um 4,2 Prozent gegenüber dem Vorjahr wieder schneller angewachsen als im Vorjahr.
 Mit rund 39,9 Billionen Yen ist die Industrieproduktion um etwa 400 Milliarden Yen

gewachsen. Der angestoßene Modernisierungsprozess, angegeben als ein Prozess der intelligenten und grünen Transformation, scheint zu wirken.[7]

 

Entwicklung der Industrieproduktion in China
von 2013 bis 2023

Quelle: https://de.statista.com/statistik/daten/studie/205215/umfrage/entwicklung-der-industrieproduktion-in-china/

Die Produktion des Dienstleistungssektors war durch die Covid-19- Beschränkungen besonders getroffen. Der Lockdown und auch die Reiseeinschränkungen gelten als die Hauptursachen für die Einschnitte bei den Dienstleistungen.  Die Erholung des Sektors im Jahr 2023 ist ein Hinweis auf die allgemeine Erholung der chinesischen Wirtschaft. In den ersten drei Quartalen des Jahres 2023 wuchs die Wertschöpfung der Dienstleistungsbranche im Jahresvergleich um 6 Prozent und beschleunigte sich damit von einem Wachstum von 2,3 Prozent im Vorjahresvergleich. Branchen, die unter den COVID-Beschränkungen litten, entwickelten sich in den ersten drei Quartalen besonders gut: Gastronomie und Gastgewerbe legten im Jahresvergleich um 14,4 Prozent zu, während Transport, Lagerhaltung und Postdienste im Jahresvergleich um 7,5 Prozent zulegten.[8]

 

Chinas Beschäftigung auf dem Prüfstand

 Die städtische Arbeitslosenquote in China lag im Jahr 2023 bei durchschnittlich 5,2 Prozent und damit um 0,4 Prozentpunkte niedriger als im Vorjahr, wie offizielle Daten des Nationalen Statistikamtes NBS zeigen. Das NBS hat auch Daten zur Jugendarbeitslosigkeit bekannt gegeben.
Die erfasste Arbeitslosenquote der Bevölkerung im Alter von 16 bis 24 Jahren (ohne Studenten) lag im Dezember bei 14,9 Prozent. Angesichts der  unzureichenden Jobangebote in Relation zu den riesigen Massen an Hochschulabgängern, die  ein Arbeitsverhältnis anstreben, wird in bestimmten Branchen  der Druck  auch in 2024 noch anhalten, laut  Kang Yi, dem Vorsitzenden des  National Buerau of Statistics China auf einer Pressekonferenz am 17. Januar d. J.   Kang fügte hinzu, dass die Beschäftigungslage im Jahr 2024 dank des wirtschaftlichen Aufschwungs, der beschleunigten industriellen Modernisierung und anderer positiver Faktoren wie einer unterstützenden Politik sich stabilisieren wird. Die Beschäftigung werde in  nächsten Zeit weiter  zunehmen, wobei die aufstrebende digitale Wirtschaft und der Technologiesektor ein primäres Bedürfnis für junge Jobsuchende ist und mehr Möglichkeiten bietet. Ein breites Spektrum an Beschäftigungsmöglichkeiten mit unterschiedlichen Einstiegsstufen ist im Entstehen, angefangen von einfachen Anwendungsbereichen der digitalen Technologie bis hin zu einfacheren Tätigkeiten in expandierenden Sektoren wie der künstlichen Intelligenz (KI).   Die digitale Transformation hat nicht nur die Produktions- und Entwicklungsmuster der Unternehmen des verarbeitenden Gewerbes vorangebracht, sondern auch ein wachsendes Potenzial und Raum für junge Bewerber geschaffen, insbesondere in aufstrebenden Sektoren wie der industriellen Automatisierung und den neuen Energien. Die Nachfrage nach Jobs in den eher traditionellen Berufssparten bleibt daher zu einem Teil ungenutzt.

China-Handel

Chinas Exporte waren im Jahr 2023 im Vergleich zum Vorjahr rückläufig. Nicht bestätigte Zahlen gehen von einem Rückgang von 4,6 Prozent aus.  Die rückläufige Auslandsnachfrage mag als Verweis darauf dienen, dass die Auslandsnachfrage das Wachstum weiterhin bremst.
Der folgenden Übersicht sind die Veränderungen der Importe und Exporte Chinas von Januar bis einschließlich November 2023 zu entnehmen. Die Exporte verzeichneten im Allgemeinen einen stärkeren Rückgang als die Importe, wobei die Exporte in die ASEAN, die EU und die USA im Jahresvergleich um 5,5 Prozent, 11 Prozent bzw. 13,8 Prozent zurückgingen. Demgegenüber belief sich Der Handel mit Russland belief sich auf insgesamt 218,2 Milliarden US-Dollar, was einem beachtlichen Anstieg von 26,7 Prozent gegenüber dem Vorjahr entspricht, da westliche Sanktionen das Land näher an China trieben. Darüber hinaus stiegen die Importe aus Australien im Jahresvergleich um 8,3 Prozent dank Durchbrüchen in langjährigen Handelsstreitigkeiten über die Einfuhr australischer Waren.


Ausländische Unternehmen – aufgeschlossen gegenüber dem chinesischenMarkt

Aus einem Bericht der Amerikanischen Handelskammer, AmCham South China, geht hervor, das bei einer Untersuchung mehrheitlich 183 Unternehmen das Wachstum in China für 2024 optimistisch einschätzen. 76 Prozent der befragten Unternehmen planen, im Jahr 2024 erneut in China zu investieren. Von den Unternehmen, die im Jahr 2024 Reinvestitionen in China planen, geben 45 Prozent an, dass sich ihre Investitionen in erster Linie auf Vertrieb, Marketing und Geschäftsentwicklung konzentrieren werden. Andere wichtige Bereiche sind laut dem Bericht Forschung und Entwicklung, Automatisierung und Produktivitätsentwicklung.[9]
Die einbezogenen Unternehmen stammen aus den Vereinigten Staaten, der Europäischen Union und anderen Ländern und Regionen, wobei mehr als die Hälfte aller vollständig in ausländischem Besitz sind. US-amerikanische Unternehmen machen knapp die Hälfte der untersuchten Unternehmen aus.
86 Prozent aller Unternehmen geben an, dass sie sich aufgrund der Handelsspannungen zwischen China und den Vereinigten Staaten nicht vom chinesischen Markt abkoppeln werden. Im Jahr 2023 wollten 62 Prozent der untersuchten Unternehmen ihre Investitionen nicht aus China abziehen. 66 Prozent der US-amerikanischen Unternehmen geben an, dass sie sich weiterhin auf dem chinesischen Markt engagieren werden.
Der wichtigste Treiber für die Erhöhung der Investitionen in China oder die Verlagerung von Investitionen von anderen Märkten nach China ist nach Ausasge von Harley Seyedin, Präsident von AmCham South China, das potenzielle Wachstum des chinesischen Marktes, gefolgt vom industriellen Clustereffekt und der Präferenzpolitik. Mehr als die Hälfte der befragten Unternehmen ist der Ansicht, dass ihre Gesamtkapitalrendite in China besser ist als ihre Gesamtkapitalrendite für weltweite Investitionen.
88 Prozent der Unternehmen haben bereits Gewinne in China erzielt, von denen 46 Prozent angaben, ihre Budgeterwartungen erfüllt zu haben. Darüber hinaus haben 90 Prozent der US-amerikanischen Unternehmen dem Bericht zufolge in China Rentabilität erzielt.
57 Prozent der untersuchten ausländischen Unternehmen betrachten China als einen ihrer drei wichtigsten Investitionsstandorte, was einem Anstieg von fünf Prozent gegenüber 2022 entspricht. Guangzhou, die Hauptstadt der Provinz Guangdong und bekannt als das Produktionszentrum Südchinas, hat seinen Status als Top-Investitionsstandort des Landes in sieben aufeinanderfolgenden Jahren gehalten, gefolgt von Shenzhen, Shanghai und Beijing.[10]

 

Ausblick

Das Hauptaugenmerk der chinesischen Wirtschaftsarbeit im Jahr 2024 liegt auf der "Konsolidierung des Fundaments und der Förderung von Innovationen".
Es wird erwartet, dass das offizielle Ziel für das Wirtschaftswachstum weiterhin bei etwa 5 Prozent liegen wird.

Auf dem diesjährigen Treffen des Nationalen Volkskongresses und der Politischen Konsultativkonferenz des Chinesischen Volkes CPPCC, im März d. J.  steht  im Mittelpunkt der Konsultationen  vor allem die komplexe Frage,  wie läßt sich das geplante und fest vereinbarte Ziel des  Wachstums  Die Erkenntnisse einer Reihe von Experten haben zu drei zentralen Schlussfolgerungen geführt: Chinas Wachstumspotenzial ist groß, eine proaktive Politik ist unverzichtbar, und es besteht weiterhin die Notwendigkeit, die Reformen zu vertiefen und die Offenheit des chinesischen Marktes gegenüber den ausländischen Investitionen in einem Land mit nach wie vor sozialistischer Marktwirtschaft  chinesischer Prägung zu erweitern.  Welche Maßnahmen sind nach den Konsultationen zur Bekämpfung einer möglichen Deflation zu erwarten, um ein Wirtschaftswachstum von 5% abzusichern? Bei einer Deflation werden laut Definition Waren und Dienstleitungen billiger, da die Kaufkraft steigt. Gründe für eine Deflation sind zum Beispiel eine Überproduktion von Gütern oder der Rückgang des Geldes im Geldumlauf.

"Die Auswirkungen der im Jahr 2023 eingeführten Maßnahmen, wie die Ausgabe zusätzlicher Staatsanleihen, Steuer- und Abgabensenkungen sowie die Senkung des Mindestreservesatzes und der Zinssätze, werden auch in diesem Jahr zu spüren sein."[11] Ist eine stellvertretende repräsentative Aussage des Leiters des National Buerau of Statistics, Kang Yi.

Das offizielle Wachstumsziel von 5,0 %  ist durch den amtierenden  Premierminister Li Qiang am Dienstag auf der jährlichen Sitzung des obersten chinesischen Gesetzgebers im Rahmen der "Zwei Sitzungen" sozusagen als Marktkonsens in dieser Woche verkündet worden. [12]

Wie der Chefkommentator für Wirtschaftsfragen der Financial Times, Martin Wolf, sagte, sind die Probleme, vor denen Chinas Wirtschaft steht, lösbar. Wenn erkannt wird, dass das alte Modell mit hohen Ersparnissen und hohen Investitionen langfristig nicht haltbar ist, ist China durchaus in der Lage, durch den Aufbau einer ausgewogeneren, konsumorientierten Wirtschaft beträchtliche Wachstumsraten aufrechtzuerhalten. Er glaubt, dass die chinesische Wirtschaft in den nächsten 10 bis 20 Jahren eine Wachstumsrate von 5 % bis 6 % beibehalten kann, wenn China in kritischen Momenten die richtigen Entscheidungen trifft und das Vertrauen durch kurzfristige Regulierungsmaßnahmen und mittel- bis langfristige Strukturreformen stärkt. China strebt für das Jahr 2024 an, die innovative Entwicklung zu beschleunigen, um sein Industriesystem zu modernisieren und Produktivkräfte neuer Qualität schneller zu entwickeln.
 So skizzierte der chinesische Ministerpräsident Li Qiang die wichtigsten Aufgaben zur Erreichung dieses Ziels im Tätigkeitsbericht der Regierung auf der Tagung des diesjährigen  des 14. Nationalen Volkskongresses: Das Konzept von Produktivkräften neuer Qualität ist ein neuer Produktivitätsansatz, der die entscheidende Rolle von Wissenschaft und Technologie bei der Förderung des Wachstums und der Förderung der Entwicklung strategischer aufstrebender Industrien betont. Zu den Aufgaben für 2024 gehören insbesondere die Modernisierung bestehender Industrien und Lieferketten, die Förderung neuer und zukunftsorientierter Sektoren wie Wasserstoffkraft, neue Materialien, Biomanufacturing, kommerzielle Raumfahrt und Quantentechnologie. Die Förderung der Entwicklung der digitalen Wirtschaft und der Start einer „KI Plus“-Initiative zur branchenübergreifenden Integration von Technologien der künstlichen Intelligenz gehörten auch dazu.

Chinas künftiges Wachstum werde nicht mehr nur von traditionellen Faktoren wie Arbeit und Kapital abhängen; sondern ergänzend werden Technologie und Daten zu den Hauptantriebskräften hinzugefügt, um die Industrielandschaft neu zu gestalten.
Wie den verschiedenen Beiträgen zu entnehmen war, gehe es beim Streben nach Innovation nicht nur um wirtschaftliche Entwicklung, sondern auch um das Erreichen einer „technologischen Souveränität“ in einem zunehmend wettbewerbsorientierten globalen Umfeld.[13]
Wie der Chefkommentator für Wirtschaftsfragen der Financial Times, Martin Wolf, sagte, sind die Probleme, vor denen Chinas Wirtschaft steht, lösbar. Wenn erkannt wird, dass das alte Modell mit hohen Ersparnissen und hohen Investitionen langfristig nicht haltbar ist, ist China durchaus in der Lage, durch den Aufbau einer ausgewogeneren, konsumorientierten Wirtschaft beträchtliche Wachstumsraten aufrechtzuerhalten. Er glaubt, dass die chinesische Wirtschaft in den nächsten 10 bis 20 Jahren eine Wachstumsrate von 5 % bis 6 % beibehalten kann, wenn China in kritischen Momenten die richtigen Entscheidungen trifft und das Vertrauen durch kurzfristige Regulierungsmaßnahmen und mittel- bis langfristige Strukturreformen stärkt.
Zwei Wirtschaftsnobelpreisträger, Michael Spence und Edmund Phelps, die sich mit globaler Innovation befassen  und viel mit China zu tun hatten,  sind ebenfalls optimistisch, was Chinas Innovationsaussichten angeht. China sei in vielen technologischen Bereichen weltweit wettbewerbsfähig, darunter die Energiewende, die Digitalisierung und die Biomedizin. Und Chinas Innovationen im Bereich der neuen Energietechnologien seien der Schlüssel zu den weltweiten Bemühungen um ein

 

[1] https://www.agenzianova.com/de/news/cina-il-fondo-monetario-internazionale-rivede-al-ribasso-le-stime-di-crescita-per-il-2023-e-il-2024/

[2] https://www.isw-muenchen.de/online-publikationen/texte-artikel/5069-chinas-boost-fuer-die-wirtschaft-vitalitaet-zuversicht-und-innovation

[3] https://www.caixinglobal.com/2024-01-17/chinas-economic-growth-in-2023-102157036.html

[4] Zur Wirtschaftsentwicklung für Deutschland siehe hierzu vertiefend die isw-Broschüre, Bilanz 2023,
https://www.isw-muenchen.de/broschueren/wirtschaftsinfos/217-wirtschaftsinfo-64

[5] https://www.isw-muenchen.de/online-publikationen/texte-artikel/5195-china-versus-usa

[6] https://www.project-syndicate.org/commentary/how-will-the-chinese-economy-fare-in-2024-by-yu-yongding-2024-01/german

[7] http://german.mofcom.gov.cn/article/nachrichten/202401/20240103467327.shtml

[8] https://www.china-briefing.com/news/chinas-wirtschaft-im-jahr-2023-wachstums-und-erholung/

[9] AmCham South China, http://german.people.com.cn/n3/2024/0229/c209053-20138758.html

[10] Zitiert nach http://german.china.org.cn/txt/2024-02/28/content_117025804.htm

[11] Kang Yi, Leiter des NBS, Pressekonferenz zum Wirtschaftsergebnis, Januar 2024

[12] https://www.caixinglobal.com/2024-03-05/chinas-gdp-growth-target-for-2024-102171656.html

[13] http://german.people.com.cn/n3/2024/0306/c209053-20141237.html

 

Kampf um den Elektro-Automarkt

Mi, 06/03/2024 - 08:09

Abwehrkampf von EU und USA gegen die Einfuhr kostengünstiger Elektroautos aus China beginnt.
Brüssel bereitet Strafzölle vor.
Washington stuft die Fahrzeuge als ein Risiko für die nationale Sicherheit ein.

 

 

 Der Abwehrkampf des Westens gegen eine Exportoffensive chinesischer Elektroautohersteller spitzt sich zu. Während die EU-Kommission eine Antisubventionsuntersuchung fortsetzt, die noch in diesem Jahr zu satten Strafzöllen auf die Einfuhr chinesischer Elektroautos führen kann, hat US-Präsident Joe Biden jetzt mitgeteilt, Autos aus der Volksrepublik stellten unter Umständen ein Risiko für die nationale Sicherheit der Vereinigten Staaten dar. Mit ihren Kameras und ihren Sensoren seien sie in der Lage, die USA auf unvertretbare Weise auszuspionieren; dies gelte es zu verhindern. Vor allem der Konzern BYD aus der südostchinesischen High-Tech-Metropole Shenzhen, der Ende vergangenen Jahres zum größten Elektroautoproduzenten der Welt vor Tesla aufgestiegen ist, bereitet sich darauf vor, nicht nur nach Nordamerika, sondern vor allem auch in die EU zu expandieren. Geplant ist der Verkauf von 120.000 Elektroautos im Jahr 2026 allein in Deutschland. Damit würde BYD für die deutschen Traditionskonzerne eine gefährliche Konkurrenz. In der vergangenen Woche hat das Unternehmen mit dem Export von 3.000 Autos per Spezialschiff nach Deutschland Schlagzeilen gemacht.

Weltweit Nummer eins

Der Konzern BYD – das Kürzel steht für den chinesischen Naman Biyadi, wird aber im Westen oft mit dem Slogan Build Your Dreams wiedergegeben – ist 1995 in der High-Tech-Metropole Shenzhen im Südosten der Volksrepublik gegründet worden. Zunächst boomte er als Batteriehersteller, und er zählt unverändert zu den global führenden Unternehmen der Branche; nach unterschiedlichen Angaben ist er etwa zweit- oder drittgrößter Produzent von Elektroautobatterien nach der chinesischen Nummer eins, CATL, und – je nach Statistik – vor oder nach der südkoreanischen LG Energy Solutions. Nach einigen gescheiterten Anläufen ist BYD in den vergangenen Jahren der Durchbruch nicht nur mit Plug-In-Hybriden, sondern auch mit reinen Elektroautos gelungen. Im Jahr 2023 schließlich setzte das Unternehmen erstmals über drei Millionen Autos weltweit ab, darunter rund 1,6 Millionen Elektroautos. Damit lag BYD zwar noch hinter Tesla: Der US-Konzern konnte weltweit etwa 1,8 Millionen Elektrofahrzeuge verkaufen. Allerdings wächst der chinesische Rivale so rasch, dass er – im ersten Quartal 2023 mit fast 265.000 Elektroautos noch weit hinter Tesla mit 423.000 zurückliegend – sich im vierten Quartal 2023 mit 526.000 an die Weltspitze setzen konnte (Tesla: 485.000).[1]

 

Der Sprung nach Deutschland

Liegt BYD in China auf dem Elektroautomarkt längst vorn und auf dem Gesamtautomarkt inklusive Verbrenner knapp hinter Volkswagen auf Platz zwei, so macht der Konzern sich nun daran, die Märkte Europas zu erobern, darunter der deutsche Markt. Bislang ist seine Stellung noch schwach; im vergangenen Jahr kam er auf nicht einmal 4.000 verkaufte Elektroautos deutschlandweit. Perspektivisch will er jedoch in Europa den Sprung unter die fünf größten Autohersteller schaffen und in der Bundesrepublik einen Marktanteil von zehn bis 15 Prozent erreichen; 2026 sollen es schon 120.000 verkaufte Elektroautos sein.[2] Dazu sollen rund 100 BYD-Geschäfte allein in Deutschland aufgebaut werden, und zwar so, dass 90 Prozent aller Einwohner binnen maximal einer halben Stunde eine Verkaufsstelle des chinesischen Kfz-Herstellers erreichen können. Berichten zufolge lief der Elektroautoverkauf zwar langsamer an als eigentlich geplant, weil allerlei bürokratische Hindernisse überwunden werden mussten und BYD sich erst auf die deutsche Geschäfts- und Marketingstruktur einstellen musste, die von der chinesischen abweicht. Dafür kann der Konzern bereits fünf, ab 2025 sogar acht Modelle anbieten, die auf unterschiedliche Kundensegmente zugeschnitten sind.

BYD Explorer No. 1

Die aktuelle Exportoffensive ist offenbar gut durchgeplant. China ist schon im vergangenen Jahr zum größten Autoexporteur weltweit aufgestiegen und setzt nun – BYD ist dabei nur ein Beispiel – vor allem auf die Ausfuhr von Elektroautos. Diverse Hersteller haben in China in den vergangenen Jahren Überkapazitäten aufgebaut; der Verkauf ins Ausland scheitert aktuell noch vor allem daran, dass die Transportkapazitäten nicht genügen.[3] Chinesische Werften haben inzwischen begonnen, im großen Stil sogenannte Ro-Ro-Schiffe (roll on –roll off) zu bauen, die speziell für den Fahrzeugtransport geeignet sind und immense Stückzahlen über die Weltmeere verfrachten können. BYD hat mittlerweile ein erstes solches Schiff gechartert, hat es Mitte Januar in Shenzhen vollbeladen auf die Reise nach Europa geschickt; es ist in den vergangenen Tagen zuerst im niederländischen Vlissingen, dann in Bremerhaven, zuletzt im belgischen Zeebrugge vor Anker gegangen, um Autos zu entladen. Allein in Bremerhaven brachte das Transportschiff mit dem Namen BYD Explorer No. 1 rund 3.000 Fahrzeuge an Land.[4] Insgesamt will der chinesische Konzern laut Berichten acht Schiffe beschaffen und mit ihnen auch künftig unter anderem nach Bremerhaven fahren; das dortige Autoterminal gilt als eines der größten weltweit.

„Ein nationales Sicherheitsrisiko“

Die BYD-Exportoffensive löst im Westen ernste Sorgen aus. Tesla-Chef Elon Musk etwa wird mit Blick darauf, dass der Konzern kostengünstiger produzieren kann als viele andere Autohersteller, mit der Aussage zitiert: „Offen gestanden meine ich, dass sie die meisten anderen Unternehmen weltweit ziemlich ruinieren, wenn keine Handelsschranken errichtet werden“.[5] Die US-Regierung bereitet genau dies jetzt vor. Zwar sind Elektroautos aus China wegen der hohen Einfuhrzölle, die die Trump-Administration verhängt hat, kaum präsent. Allerdings plant BYD aktuell den Bau einer Fabrik in Mexiko. Von dort aus wären Lieferungen in die Vereinigten Staaten, weil Mexiko und die USA dem Freihandelsbündnis USMCA (United States – Mexico – Canada Agreement) angehören, ohne die Sonderzölle möglich. US-Präsident Joe Biden hat jetzt erklärt, chinesische Autos könnten, wenn sie auf amerikanischen Straßen führen, ein nationales Sicherheitsrisiko für die USA darstellen. Grund sei, dass sie mit ihren Kameras, ihren Sensoren und ihrer Software Daten sammeln und sie nach China übermitteln könnten. Er habe Wirtschaftsministerin Gina Raimondo angewiesen, dies zu prüfen und gegebenenfalls entsprechende Maßnahmen zu ergreifen.[6] Damit ließe sich ein komplettes Einfuhrverbot für chinesische Autos begründen.

Strafzölle geplant

Auch die EU bereitet inzwischen Maßnahmen gegen die Einfuhr von Elektroautos aus China vor. Im vergangenen September teilte Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen mit, die Kommission leite eine Antisubventionsuntersuchung gegen Elektrofahrzeuge ein, die in der Volksrepublik produziert würden. Deren Preise würden „künstlich durch gewaltige staatliche Beihilfen niedrig gehalten“; dies verzerre „unseren Markt“.[7] Die Wahrscheinlichkeit, dass die EU tatsächlich Strafzölle auf die Einfuhr in China produzierter Fahrzeuge verhängt, gilt in Branchenkreisen als hoch; von Zöllen in Höhe von 10 bis 20 Prozent, die zu den ohnehin zu zahlenden Einfuhrzöllen von 10 Prozent hinzukämen, ist die Rede.[8] Befürchtungen, von der Maßnahme könnten auch Fahrzeuge deutscher Hersteller oder von Tesla betroffen sein, die aus China nach Deutschland importiert werden, bestätigen sich wohl nicht: Im Herbst wurde bekannt, dass die Kommission ihre Untersuchung gezielt gegen chinesische Marken richtet, darunter insbesondere BYD. Andere Marken sind davon nicht betroffen.[9] Die Entscheidung der EU-Kommission wird im Lauf dieses Jahres erwartet. Beobachter warnen allerdings, es sei mit chinesischen Gegenmaßnahmen zu rechnen; zudem würden Elektroautos auch in Deutschland stark subventioniert.

Standorte in Europa

BYD bereitet sich schon jetzt darauf vor, derlei Gegenmaßnahmen mit dem Bau mindestens einer Fabrik in der EU auszuhebeln; dort hergestellte Fahrzeuge entgingen schließlich den bei der Einfuhr fälligen Strafzöllen. Bereits vereinbart ist der Bau einer Elektroautofabrik im ungarischen Szeged. Die Rede ist von einer Produktionskapazität von rund 200.000 Autos pro Jahr.[10] Kürzlich bestätigte BYD zudem am Rande der Genfer Automesse, man sei mit der italienischen Regierung über den Bau einer weiteren BYD-Fabrik in Europa im Gespräch – in Italien.[11]

 

Mehr zum Thema: Paradebranche unter Druck

 

 

[1] Christoph Rottwilm: So rollt BYD den Weltmarkt für Elektroautos auf. manager-magazin.de 05.01.2024.

[2] Wie BYD Europas Markt für E-Autos erobern will. tagesschau.de 26.02.2024.

[3] Thomas Stölzel: So bereitet China den Auto-Tsunami vor. wiwo.de 09.12.2023.

[4] Thomas Stölzel: Dieses Schiff ist eine Kampfansage an Deutschlands Autoindustrie. wiwo.de 28.02.2024.

[5] Keith Bradsher: How China Built BYD, Its Tesla Killer. nytimes.com 12.02.2024.

[6] Mögliche Spionage: Präsident Biden bremst Autos aus China. Frankfurter Allgemeine Zeitung 01.03.2024.

[7] 2023 State of the Union Address by President von der Leyen. ec.europa.eu 13.09.2023.

[8] S. dazu Paradebranche unter Druck (II).

 

[9] Patrick Freiwah: EU-Strafzölle gegen Elektroautos aus China? Deutsche Hersteller atmen auf. merkur.de 19.01.2024.

[10] BYD baut neue Elektroauto-Fabrik in Ungarn. faz.net 22.12.2023.

[11] BYD hat keine Angst vor EU-Untersuchungen. Frankfurter Allgemeine Zeitung 28.03.2024.

 

"Kanonen und Butter, das ist Schlaraffenland"

So, 03/03/2024 - 18:46

Schulden für den Krieg.
Die Aufrüstung wird mit einer Umverteilung von unten nach oben finanziert werden.
Einfrieren der Sozialausgaben um mehr Geld für die Bundeswehr zu haben.

 

"Kanonen und Butter, das ist Schlaraffenland", entgegnete ifo-Chef Clemens Fuest der Grünen-Vorsitzenden Ricarda Lang bei der Talk-Runde von Maybrit Illner am 22. Februar. "Wir dürfen die Sicherheit nach außen nicht gegen soziale Sicherheit im Land ausspielen", hatte Ricarda Lang gesagt. Deutschland müsse aber mehr Geld investieren, um die Ukraine zu unterstützen und um zu helfen, Europa bei der Verteidigung unabhängiger von den USA zu machen.

Fakt ist, die Bundesregierung braucht sehr viel Geld, um die Bundeswehr "kriegstüchtig" zu machen. Viel Geld auch für die Ukraine, weil Russland den Krieg ja nicht gewinnen darf und Verhandlungen für den Westen bisher keine keine Option sind. Zudem entstehen weltweit Krisenherde – vom Roten Meer über Afrika bis Taiwan -, bei denen die Bundeswehr nicht abseitsstehen will.

"Die wichtigsten Waffensysteme und vor allem auch Munition müssen kontinuierlich vom Band laufen", sagte Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) in seiner wöchentlichen Videobotschaft. Und von den Steuerzahler:innen bezahlt werden, hätte er hinzufügen müssen. Denn kostenlos geben die Rüstungskonzerne ihre Mordinstrumente nicht ab. Die privaten Gewinne der Rüstungsunternehmen und die Dividenden ihrer Anleger werden mit öffentlichen Mitteln bezahlt. Das freut die Aktienmärkte. Seit der Zeitenwende hat sich der Börsenwert des Waffenherstellers Rheinmetall vervierfacht.

Zuletzt hat der Bundeskanzler auf der Münchner Sicherheitskonferenz Mitte Februar den NATO-Verbündeten versprochen, Deutschland werde auch nach Verbrauch des 100-Milliarden-„Sonder"-Vermögens" für die Bundeswehr langfristig zwei Prozent seines Bruttoinlandsprodukts in die Verteidigung stecken. "Von 2028 an wollen wir aus dem allgemeinen Haushalt bestreiten, was nötig ist, um das Zwei-Prozent-Ziel zu erreichen. Das ist nicht einfach, wir können das aber bewältigen“, sagte der Kanzler in der Süddeutschen Zeitung. Schätzungen zufolge würde dies für das Jahr 2028 eine Verdopplung des Wehretats von 52 Milliarden in diesem Jahr auf 108 Milliarden Euro bedeuten.

In der oben genannten Sendung bei Maybrit Illner schlug Finanzminister Lindner (FDP) vor, die Sozialleistungen drei Jahre lang einzufrieren. Anders sei die zur Sicherung der "Freiheit" des Westens nötige Erhöhung der Verteidigungsausgaben nicht möglich. "Mir geht es nicht darum, dass wir jetzt Dinge abschaffen müssen. Darüber kann man auch diskutieren. Aber das Wichtigste ist, dass nicht immer neue Subventionen, neue Sozialausgaben, neue Standards dazukommen." Der Gesellschaft müsse es gelingen, "mit dem auszukommen, was wir haben“.

Noch weisen SPD und Grüne den Vorstoß des Finanzministers zurück. "Es darf nicht heißen: Rüstung oder Rente", sagte Grünen-Fraktionschefin Britta Haßelmann der Süddeutschen Zeitung.

Auch der Bundeskanzler erklärte, er lehne soziale Einschnitte und den Abbau von Arbeitnehmerrechten strikt ab. CDU und CSU wollten über die Anhebung des Renteneintrittsalters an die Rente rangehen, andere wollten Leistungen im Krankheits- und im Pflegefall einschränken, manche den Kündigungsschutz und anderes abbauen. "Für mich kommt das nicht in Betracht", betonte Scholz in Berlin. Er schließe aus, dass "eine von mir geführte Regierung so etwas macht".

Vorsichtshalber baut er sich aber eine Hintertüre ein. Die meisten würden verstehen, wenn man nach dem Auslaufen des Sondervermögens an anderer Stelle sparen müsse, um den Wehr­etat zu finanzieren, hatte Kanzler Scholz am 16. Februar 2024 der Süddeutschen Zeitung gesagt.

Auch die Sozialverbände wenden sich dagegen, dass die "Kanonen" mit "Butter" bezahlt werden. Die massive Aufrüstung stellen sie jedoch wie SPD und Grüne nicht infrage, sondern betonen lediglich, sie dürfe nicht zulasten der Ärmeren gehen.

Die Vorstandsvorsitzende des Sozialverband Deutschland (SoVD), Michaela Engelmeier, forderte: "Statt Aufrüstung auf Kosten von Sozialleistungen zu finanzieren, müssen wir die Einnahmen des Staates stärken. Wir brauchen eine Reform der Schuldenbremse und höhere Steuereinnahmen."

Sebastian Dullien, wissenschaftlicher Direktor des Instituts für Makroökonomie und Konjunkturforschung der gewerkschaftsnahen Hans-Böckler-Stiftung, erklärte: "Die Diskussion auf dieser Ebene zu führen, hilft auch der Ukraine nicht: Vielmehr ist zu erwarten, dass mit einer solchen Politik die Zustimmung in Deutschland für die Ukraine-Unterstützung schwindet."

Doch irgendwo muss das Geld herkommen.

Ifo-Chef Fuest verwies auf Erfahrungen aus der Vergangenheit: "Wenn man mehr für das Militär ausgeben musste, dann blieb eben weniger für andere Dinge." Fuest geht fest von Einbußen aus. "Kanonen ohne Butter", sagte er wörtlich. Der Sozialstaat, so Fuest, werde zwar weiter finanziert. "Aber er wird halt kleiner ausfallen." "Die Verschuldung kann das nicht verhindern", fügte er hinzu.

Es werde nicht gelingen die notwendige Aufrüstung aus dem laufenden Haushalt zu finanzieren, meint auch Grünen-Vorsitzende Ricarda Lang. "Dafür müssen wir andere Möglichkeiten finden."

Der CDU-Rüstungspolitiker Roderich Kiesewetter schlägt eine Erhöhung der "Sonderschulden" für die Bundeswehr von 100 auf 300 Milliarden vor. Aber auch das gehe "nur mit Umpriorisierung" bei den Ausgaben, so der CDU-Mann – also Kürzungen bei Sozialem, Bildung, Kultur, Umwelt.

SPD-Haushaltspolitiker Andreas Schwarz will die Verteidigungs- und Zivilschutzausgaben von der Schuldenbremse im Grundgesetz ausnehmen. Auch die Grünen verweisen auf die Möglichkeit weiterer „Sonder"-Vermögen" oder eine Aussetzung der Schuldenbremse – also die Finanzierung mittels neuer Schulden.

Die Richtung scheint EU-weit abgesteckt zu sein. Denn auch die Europäische Union will mit Eurobonds in den Krieg ziehen. Der Vizepräsident der Europäischen Kommission, Valdis Dombrovskis, und EU-Wirtschaftskommissar Paolo Gentiloni halten die Finanzierung der Rüstungsindustrie durch Eurobonds für "eine gute Idee". Zur Finanzierung des Aufrüstungsplans sollen die EU-Länder gemeinsam Schulden in Höhe von 100 Milliarden Euro "pro Jahr" auf dem Finanzmarkt aufnehmen. So wird aus dem "Green Deal" ein "Weapons-Deal".

Die Aufrüstung wird mit einer Umverteilung von unten nach oben finanziert werden – bezahlt mit geringeren Renten, längerer Lebensarbeitszeit und schlechterer Absicherung von Arbeitslosigkeit und Armut, was dazu führen wird, dass mehr Leute gezwungen sind, schlechte Arbeitsbedingungen oder zu niedrige Löhne zu akzeptieren. Ihr Versprechen beim Klimageld, durch das vor allem Menschen mit geringen Einkommen finanziell entlastet werden sollen, hat die Bundesregierung jetzt schon gebrochen.

Die Kosten des Wirtschaftskrieges gegen Russland, des Boykotts russischer Energieimporte

So, 03/03/2024 - 18:00

Nein zu Kohle, Öl und Gas,
ja zu Uran aus Russland.
Als Reaktion auf Putins militärischen und politisch potentiell selbstzerstörerischen Überfall auf die Ukraine verhängten insbesondere Deutschland, aber auch die EU, die USA, der Westen insgesamt wirtschaftliche Sanktionen. Man will Russland "ruinieren", wie es Annalena Baerbock formulierte.

 

Ein zentraler Punkt war der Stopp der Einfuhr von Kohle, Öl und Gas – nicht dagegen von Uran: Ausgerechnet der Atomkonzern Rosatom erfreut sich ungestörter Geschäftsbeziehungen, liefert Uran an die Brennelementefabrik in Lingen und an Abnehmer in aller Welt, baut die Zusammenarbeit mit der französischen Framatome aus, spielt im AKW-Neubaugeschäft eine große Rolle.

Egal. Bei Kohle, Öl und Gas wurde auf EU-Ebene der schnellstmögliche Importstopp russischer Energieträger beschlossen. Bei Gas wurde die "Schnellstmöglichkeit" bekanntlich forciert: Nordstream 2 wurde nicht in Betrieb genommen; drei der vier Nordstream-Leitungen wurden vorsorglich von unseren Freunden gesprengt; russisches Gasangebot auf der noch lieferfähigen vierten Leitung wird von deutscher Seite schlicht ignoriert; die Gasleitung durch Polen hindurch wurde gleich zu Kriegsbeginn von polnischer Seite abgesperrt; die riesige Ukraineleitung wird von Deutschland aus boykottiert und soll zum Jahresende von ukrainischer Seite aus endgültig gesperrt werden (isw-spezial 36, S. 8; isw-spezial 37, S. 3).

In einer Marktwirtschaft hat das selbstverständlich Auswirkungen auf die Preise. Boykottiert man einen Teil des weltweiten Angebotes (und Russland steuert einen beträchtlichen Anteil bei), dann steigen die Preise: kurzfristig sehr stark, mittelfristig gemäßigter, denn zusätzlicher Raubbau an Bodenschätzen war im Kapitalismus auf Dauer noch nie ein Problem.

Sanktionsbedingte Mehrkosten für Energie in Deutschland

In den beiden Grafiken sind für die Öl- und die Gasimporte nach Deutschland die monatlichen Importpreise dargestellt in Euro pro MWh (eine MWh besteht aus knapp 100 Liter Öl bzw. knapp 100 m³ Gas). Es sind dies keine Börsenhandelspreise oder Preisnormen, sondern die aus der Außenhandelsstatistik berechneten tatsächlich gezahlten Preise an der deutschen Grenze. Öl und Gas werden von Deutschland nicht nur importiert, sondern – in kleineren Mengen – auch exportiert, z.B. nach Österreich oder in die Schweiz durchgeleitet. Das ist hier abgezogen, es sind die Kosten für das hierzulande netto verbleibende Öl und Gas dargestellt.

Aufgeführt sind, jeweils für Öl und Gas, der Dreijahres-Durchschnittspreis für 2019 bis 2021 (vor der Invasion) und die Preise für 2022 und 2023. Es wird sofort deutlich, dass die Preise im Zusammenhang mit den Sanktionen massiv gestiegen sind und in 2023 langsam sanken, aber weiterhin über dem früheren Niveau verharren. Beim Gas fällt die Extrem-Preisspitze im Sommer 2022 auf: Seitens der Regierung und der BNA wurde mit allen Kräften Panik geschürt, dass der Russe kein Gas mehr liefere (wie oben ausgeführt, war es in Wirklichkeit viel eher umgekehrt) und wir alle im kommenden Winter bitter frieren müssten (isw-spezial 37, S. 4). Das Habeck-Ministerium fiel auf die eigene Propaganda herein und kaufte zur schnelleren Füllung der Gasspeicher über eine staatseigene Gesellschaft jeden verfügbaren m³ Gas, egal was er noch kosten möge. Die Anbieter frohlockten, setzten die Preise auf das Zehnfache der bisherigen, und die Steuerzahler löhnten dafür viele Milliarden Euro Mehrkosten im Vergleich zu den bisherigen Weltmarktpreisen (isw-spezial 37, S. 9).

Es kommt noch hübscher: In der Panik wurde ein Gesetz erlassen, dass die Gasspeicher zum Winterbeginn voll gefüllt sein müssen. Da die Speicher ziemlich überdimensioniert sind, sind sie zum Winterende noch zu etwa zwei Dritteln voll – 2022/23 ebenso wie aktuell 2023/24, bei den derzeitigen Temperaturen braucht man bereits kaum mehr Speichergas. Das bedeutet, dass die Mehrkosten, um die Speicher proppenvoll zu kriegen, als unnütze Ausgabe, als totes Kapital im Speicher liegen, dass sie niemals im Leben rentabel an einen Käufer gebracht werden können.

Zurück zu den Preisstatistiken: Ich habe berechnet, wieviel das benötigte (netto importierte) Öl und Gas in 2022 und in 2023 gekostet hätte, wenn man es zu den Vor-Sanktionspreisen bekommen hätte, also zu Preisen, die im Schnitt 2019 bis 2021 gezahlt wurden. Vergleicht man das mit den tatsächlichen Importkosten, dann ergeben sich als Differenz die sanktionsbedingten Mehraufwendungen. Wobei das hier nur eine grobe Orientierungsgröße für die Sanktionskosten liefert. Für eine präzise Analyse müsste genauer nachgeforscht werden, wie sich die Preise ohne den Ukrainekrieg, also unter Beibehaltung der früheren politischen Verhältnisse und Marktlagen entwickelt hätten. Zumindest aber gelten die folgenden Werte, wenn man den Preisanstieg im Kern auf die Sanktionsbeschlüsse
zurückführt.

*) Kosten unter der Annahme, dass die durchschnittlichen Preise von 2019 bis 2021 gelten.

Es handelt sich um enorme Summen: 104 Mrd. Euro für Öl und Gas in beiden Jahren zusammen. Bei Kohle ist es weniger, aber immerhin 5 bis 10 Mrd. Euro. Zusammen also rund 110 Mrd. Euro zusätzlich ins Ausland abgeflossene Kosten für den Kauf von Kohle, Öl und Gas, bedingt durch die Sanktionspolitik. Dies ist die Bilanz nur für Deutschland.

Sanktionsgewinner

Man kann die Politik der USA-orientierten Länder (des "kollektiven Westens" nach Putin) als Gewinner bezeichnen, sie haben die Sanktionen durchgesetzt – für ihre Länder. Die realen Gewinner sind aber viel mehr die Energiekonzerne in Öl und Gas sowie die staatlichen Fördergesellschaften, etwa Aramco (Saudi-Arabien) oder der norwegische Staatsfonds für die Öl- und Gaserträge. Die 5 größten Ölkonzerne verbuchten 2022 laut SZ zusammen Rekordgewinne von rund 200 Mrd. Dollar. In 2023 lagen die Profite von 14 Öl- und Gaskonzernen nach Oxfam um 278 % über dem Durchschnitt 2018 bis 2021.

Als ganz wesentlicher Gewinner hier zu erwähnen ist die US-amerikanische Gaswirtschaft. Sie ersetzt in großem Stil das russische Pipeline-Gas. US-Gas ist heutzutage hauptsächlich Frackinggas, wird also unter ökologisch richtig üblen Bedingungen erzeugt, anschließend in einem extrem aufwendigen Verfahren verflüssigt (LNG) und in Schiffen nach Europa verbracht. Weiterhin als Gewinner sind zu nennen die Begleitwirtschaft für Förderausstattung, die Werften für den Neubau von Schiffen für verflüssigtes Gas, die Erbauer von neuen LNG-Häfen in USA (Verschiffung) und in Deutschland (Anlandung), letzteres in einem völlig überhöhten Ausmaß.

Auf einen besonderen Gewinner will ich speziell hinweisen: Putin. Die massiv gestiegenen Weltmarktpreise führen dazu, dass die russische Energiewirtschaft (Gazprom, Rosneft usw.) zwar mengenmäßig viel weniger exportiert, damit auch weniger Kosten hat, aber weitaus höhere Erlöse und Überschüsse einheimst als vor dem Krieg. Das heißt, wir finanzieren nicht nur die ukrainischen Kriegskosten, sondern aufgrund unserer Sanktionen indirekt auch die russischen Kriegskosten. Ohne diese Sanktionen hätte die russische Seite zweifellos viel mehr Probleme mit der Kriegsfinanzierung. Diese Sanktionspolitik bewirkt daher mehr die Verlängerung als die Eindämmung des Krieges.

Sanktionsverlierer

  1. Klima und Umwelt: US-LNG in Gaskraftwerken oder im Hausbrand zu verbrennen ist klimamäßig noch verheerender als das Verbrennen von Kohle. Mal ganz abgesehen von den Umweltsauereien beim Fracken (isw-spezial 36, S. 26; isw-spezial 37, S. 11).
  2. Die armen Länder im Süden: Die ersten konkreten Maßnahmen hierzulande waren, das LNG der USA den bisherigen Käufern wegzukaufen, sie zu überbieten. LNG-Schiffe haben auf dem Meer kehrt gemacht und sind nach Europa gefahren. Südasiatische Länder litten am meisten (isw-spezial 36, S. 23; isw-spezial 37, S. 11).
  3. Wer bezahlt die 110 Mrd. Euro? Die Mehrkosten verteuern den Konsum, und zwar ohne dass sie andererseits Einkommen von anderen Beschäftigten darstellen (wie z.B. Mehrkosten für klimaschonende Heizung oder E-Autos). Sie verschwinden als Extraprofite in den Förderländern und in den internationalen Konzernkassen. Die Mehrkosten werden faktisch von den Endkonsumenten bezahlt. Sie sind die zentrale Ursache für die Inflation und den realen Einkommensschwund der letzten beiden Jahre.
  4. Die zerstörten und stillgelegten Gaspipelines stellen riesige Verluste dar, zerstörtes Kapital und/oder totes Kapital. Die Ukraine erhielt in der Vergangenheit (auch noch heute während des Krieges) Durchleitungsgebühren von der Gazprom in Milliardenhöhe. Das fällt künftig weg. Man kann natürlich freilich sagen: Bei Kriegsschäden von vielen 100 Mrd. Euro kommt es auf diese paar Milliarden jährlich auch nicht mehr an.

 

Fazit: Die Kriegstreiberei zerstört alles

Jewgeni Jewtuschenkos berühmtes Gedicht "Meinst Du, die Russen wollen Krieg?" hat Putin eindeutig beantwortet und sich damit dem größeren Gegenspieler angenähert, der die Frage Krieg immer schon ausschließlich nach Macht- und Nützlichkeitsaspekten entschied.

Da stoßen die zwei führenden, jetzt aber absteigenden Groß- und Weltmächte aufeinander, von denen die eine auf Biegen und Brechen die günstige Gelegenheit nutzen will, um den alten Konkurrenten billig (kostet nur ukrainisches Blut) endlich klein und den Rücken frei zu kriegen für den neuen Kampf gegen China, während die andere absteigende Macht (von Obama als Mittelmacht und von Helmut Schmidt als Obervolta mit Atomraketen bezeichnet) um ihre Bedeutung kämpft und auch um den Preis einer Selbstzerstörung Weltmachtambitionen aufrecht erhalten will.

Die imperialen Bestrebungen der USA und die bedingungslose, auch gewalttätige Unterdrückung von jeglichem Widerstand dagegen: dieses grundlegende Motiv und dieses zielstrebig, systematisch, strategisch und taktisch jahrzehntelang verfolgte Ziel mündet angesichts der ebenso bedingungslosen Bereitschaft des heutigen Russlands für Krieg, Kriegsverbrechen, Annexionspolitik zwangsläufig in einen Krieg. Der wiederum mit Sanktionen, mit einer seit Jahrzehnten nie mehr gesehenen Hochrüstung und mit dem Aufbau eines kompromisslosen Feindbildes Russland & China (muss "ruiniert" werden) beantwortet wird – statt mit Gesprächen, Kontakten, Verhandlungen, Rüstungskontrollen, OSZE-Zusammenarbeit.

Um Klimazerstörung, Artensterben, Armut in der Welt, den zunehmenden Hunger brauchen wir uns bei dieser Konstellation jedenfalls nicht mehr zu kümmern: Dafür fehlen definitiv Geld und Motivation zur Zusammenarbeit.

 

isw-spezial 36: Wirtschaftskrieg, Gaskrise, Inflation, November 2022

isw-spezial 37: Gasmarkt + Strommarkt in Deutschland, Juni 2023

isw = Institut für sozialökologische Wirtschaftsforschung

 

 

Anmerkung: Obervolta ist der Kolonialname für das heutige Land Burkina Faso.

Westen vor Intervention in der Ukraine?

Do, 29/02/2024 - 07:20

Die Eskalation des Ukraine-Kriges durch die NATO. Auf dem Weg in den atomaren Schlagabtausch: Laut Aussagen des slowakischen Ministerpräsidenten Fico diskutieren Nato-Staaten Formen direkter militärischer Intervention in der Ukraine.

 

 

Der slowakische Ministerpräsident Robert Fico gab am Montag alle diplomatische Zurückhaltung auf. Der als prorussisch geltende Regierungschef erklärte kurz vor dem europäischen Gipfeltreffen in Paris, dass mehrere Staaten der Nato und der Europäischen Union Schritte zur direkten militärischen Intervention in der Ukraine diskutierten. [1] Die Entsendung westlicher Armeekräfte in das Kriegsland soll auf "bilateraler Basis" vonstattengehen. Inzwischen bestätigt dies auch der polnische Präsident Duda, der in einer ersten Stellungnahme "Grenzsicherung" und "Minenräumung" als Aufgabenbereiche westlicher Interventionstruppen in der Ukraine bezeichnete.[2]

Entscheidend ist in diesem Zusammenhang das Wörtchen "bilateral". Die Nato- und EU-Truppen würden rechtlich nicht unter dem Schutzschirm der Nato intervenieren, sondern auf Grundlage von zwischenstaatlichen Beistandsverträgen. Damit würde die Nato-Beistandsgarantie hinfällig, die bei Angriffen auf einzelne Nato-Staaten das gesamte Militärbündnis zur militärischen Reaktion verpflichtet. Mittels dieser rechtlichen Regelung soll somit ein Beistandsautomatismus bei direkten militärischen Konflikten zwischen Russland und den potenziellen westlichen Interventionsländern verhindert werden, der zwangsläufig zu einem Weltkrieg samt nuklearen Schlagabtausch führen würde.

Polen gilt in diesem Zusammenhang als sicherer Kandidat für einen solchen Eskalationsschritt. Derzeit läuft eine Einberufungskampagne in dem östlichen Nato-Land, bei der Hunderttausende Bürger zur militärischen Musterung aufgerufen werden.[3] Zwischen 1997 und 2005 geborene Staatsbürger müssen vor Auswahlkommissionen erscheinen, die ihre militärische Verwendbarkeit prüfen. Bei Weigerung drohen Geldstrafen oder eine Vorführung durch die Polizei. Frankreichs Präsident Macron will ebenfalls den Einsatz von Bodentruppen in der Ukraine nicht mehr ausschließen.

Gerade die Form bilateraler Beistandsabmachungen, die derzeit in der Nato als rechtliche Grundlage einer Intervention diskutiert wird, macht somit einen ersten Schritt zur direkten militärischen Konfrontation zwischen russischen und westlichen Truppen möglich. Zugleich würden die betreffenden westlichen Staaten den Schutz der Nato in dieser Auseinandersetzung verlieren – und dies in einer Zeit, in der das westliche Militärbündnis aufgrund eines möglichen Trump-Sieges in den USA ohnehin vor einer ungewissen Zukunft steht.

Hintergrund der sich konkretisierenden Interventionspläne ist die sich immer deutlicher abzeichnende Niederlage der Ukraine, die auf längere Sicht dem ungleich größeren militärischen Potenzial Russlands nicht gewachsen ist.[4] Die Chance, einen relativ vorteilhaften Waffenstillstand zu verhandeln, hat Kiew längst verpasst – sie wurde Ende 2022, als Russland seinen Rückzug aus Cherson antreten musste, verpasst.[5] Seitdem gewinnt in dem gnadenlosen Abnutzungskrieg die russische Militärmaschinerie zunehmend die Überhand. Je länger der Krieg dauert, desto unwahrscheinlicher scheint noch ein Friedensschluss, nach dem noch eine unabhängige Ukraine existieren sollte.

The thin red line

Die direkte westliche Intervention in dem Kriegsland stellt in mehrfacher Hinsicht eine rote Linie dar. Sie macht den nuklear geführten Großkrieg zwischen der Nato und Russland – der bislang durchaus möglich war – fortan sehr wahrscheinlich. Russlands Armee kann durch Nato-Truppen besiegt werden, die russische Militärmaschine ist weiterhin ineffektiv, korruptionszerfressen und innovationsunwillig. Der russische Materialüberschuss im Krieg resultiert aus Deals mit Nordkorea sowie dem Iran und der Umstellung Russlands auf Kriegsproduktion,[6] die vom Westen gescheut wird.

Russlands Armee könnte in einem konventionellen Krieg von westlichen Truppen besiegt werden – was dessen Eskalation in einen Atomkrieg – getriggert durch den Einsatz taktischer Nuklearwaffen – wahrscheinlich macht. Und es ist wiederum unwahrscheinlich, das die Nato bei einem Einsatz taktischer Atomwaffen gegen westliche Truppen in der Ukraine stillhalten würde.

Die Verluste Russlands – das offenbar immer noch nicht zu kombinierter Kriegsführung fähig ist – sind weiterhin sehr hoch, nur setzt sich das größere quantitative Potenzial der Russischen Föderation im Krieg langsam durch. Der Ukraine gehen das "Menschenmaterial" und die Ressourcen für die Front aus – was zu einem zunehmenden Übergewicht Moskaus, etwa bei Artillerie und Luftunterstützung, führt. Nach der Niederlage der ukrainischen Armee in Avdiivka,[7] einem zu einer Festung ausgebauten Vorort von Donetsk, scheint der russische Vormarsch in Gang zu kommen. Dabei verfügt Moskau noch über starke Reserven von Hunderttausenden von Soldaten, die für eine kommende Offensive im Frühjahr oder Sommer zur Verfügung stehen. Jede neue Verteidigungslinie, die Kiews Truppen errichten, ist zwangsläufig schwächer als die letzte, die sie aufgeben mussten.

Fakt ist somit, dass nur noch eine direkte militärische Intervention des Westens den Sieg Russlands verhindern kann. Dieser krisenimperialistische Krieg[8] – in dem die Ukraine zwischen West und Ost[9] faktisch zerrieben wird – kann keinen "guten", einigermaßen progressiven Ausgang mehr nehmen. Ein Sieg Russlands wird nicht nur ein Ende der Souveränität der Ukraine mit sich bringen, sondern auch europaweit autoritären, faschistischen Kräften wie der AfD weiteren Auftrieb verleihen. Eine Niederlage Russlands – die nur im Rahmen einer westlichen Intervention möglich wäre – wird mit einer an Sicherheit grenzenden Wahrscheinlichkeit in einem nuklearen Schlagabtausch enden. Als einzige gangbare Option bleibt ein "dreckiger Deal" zwischen Ost und West, der das geschundene Grenzland aufteilen würde.

Der Einsatz in der Ukraine ist für beide Seiten – für den Westen wie den Kreml – zu hoch, als dass sie eine Niederlage einfach akzeptieren könnten. Russlands Angriffskrieg resultierte aus einer Position der geopolitischen Schwäche, da der Einfluss Moskaus in seinem krisengeplagten und sozial zerrütteten postsowjetischen "Hinterhof" zunehmend bröckelte.[10] Für den Kreml geht es in der Ukraine um alles – um die Beibehaltung der Stellung Russlands als imperiale Macht. Doch inzwischen ist auch der Einsatz für den Westen immer höher geworden. Ein Sieg Russland würde das westliche Bündnissystem insbesondere in Europa, wo wirtschaftliche Stagnation und soziale Unruhen um sich greifen, rasch destabilisieren.

Russland und der Westen können es sich um ihrer inneren Stabilität willen nicht leisten, die Ukraine zu verlieren – das macht diese Eskalation so gefährlich. Die rote Line, die hier überschritten werden könnte, gilt aber auch progressive Kräfte. Die Unterstützung des völkerrechtlich legitimen Verteidigungskrieges der Ukraine, auch was militärische Hilfe anbelangt, muss bei direkter militärischer Intervention des Westens ein Ende finden – die sehr wahrscheinliche Eskalationsspirale führt hierbei in den nuklearen Schlagabtausch.

 

Fußnoten

[1] https://www.reuters.com/world/europe/slovak-pm-says-some-western-states-consider-bilateral-deals-send-troops-ukraine-2024-02-26/
[2] https://twitter.com/MurzynfrogXXX/status/1762278676006154482
[3] https://www.tag24.de/thema/aus-aller-welt/polen/angst-vor-krieg-maenner-und-frauen-in-polen-muessen-zur-musterung-3081619
[4] https://www.konicz.info/2023/12/14/putins-rechnung-geht-auf/
[5] https://www.konicz.info/2023/01/19/kiews-verpasste-chance/
[6] https://www.konicz.info/2023/08/26/putins-kriegswirtschaft/
[7] https://en.wikipedia.org/wiki/Battle_of_Avdiivka_(2022%E2%80%932024)
[8] https://www.konicz.info/2022/06/23/was-ist-krisenimperialismus/
[9] https://www.konicz.info/2022/06/20/zerrissen-zwischen-ost-und-west/
[10] https://www.akweb.de/politik/russland-ukraine-konflikt-kampf-auf-der-titanic/

 

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