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Aktualisiert: vor 2 Stunden 55 Minuten

Arbeitslosigkeit: Bilanz 2024

So, 16/02/2025 - 11:43

Auswirkungen der Rezession auf den Arbeits"markt"

Das Wirtschaftswachstum ging 2024 laut Destatis um 0,2% zurück. Das hat einen Anstieg der Arbeitslosigkeit, Stellenabbau, schlechte Konjunktur, geringere Nachfragen, weniger Produktion, mehr Insolvenzen (2024 gab es insgesamt rund 121.000) zur Folge. „Besonders die Zuwächse bei den Unternehmensinsolvenzen mit einem Plus von fast 25 Prozent gegenüber dem Vorjahr stechen hier heraus“. (1)  „Die meisten Insolvenzen je 10.000 Unternehmen entfielen auf den Wirtschaftsabschnitt Verkehr und Lagerei mit 9,2 Fällen. Danach folgten das Gastgewerbe mit 7,8 Insolvenzen und die sonstigen wirtschaftlichen Dienstleistungen (zum Beispiel Zeitarbeitsfirmen) mit 7,3 Fällen sowie das Baugewerbe mit 7,2 Insolvenzen je 10 000 Unternehmen.“ (2)  Das IAB spricht in diesem Gesamtkontext vom „Arbeitsmarkt im Strukturwandel" (3).

Die auch im Jahr 2024 fortgesetzte Krisenpolitik der Bundesregierung hat die Lebens- und Arbeitsbedingungen der meisten Menschen verschlechtert. Die neoliberale Wirtschaftspolitik ist auch eine gezielte Politik der Angstmacherei nach dem Motto: Wenn Du arbeitslos wirst, rutscht Du ab, dann sollst Du einen noch billigeren Job annehmen, dann ist es gut so. Wenn nicht, dann bist Du allein selbst dafür verantwortlich. Die Angriffe auch Beschäftigte und Erwerbslose nehmen zu.

Es "brennt" also überall in diesem Land … überall?

Industrielle Bereiche wie in der Automobilindustrie, dem Maschinenbau, der Stahlerzeugung, der Chemieindustrie verändern sich schneller und stärker, brechen zusammen – Menschen werden auf die Straße gesetzt, Arbeitsplätze vernichtet. Stellenabbau(pläne) gab es 2024 bei folgenden großen Konzernen: Schäffler, Conti, VW, Bosch, ZF, Mahle, Ford, Opel, Porsche, Daimler, BASF, Thyssenkrupp, DB Cargo (nach einer Übersicht u. a. aus Focus online vom 11.9.2024 und DIE ZEIT vom 24.12.2024, S. 18). Werden die Profiterwartungen der Konzernchefs und Anteilseigner nicht erfüllt, werden Arbeitsplätze abgebaut/vernichtet.

Dem „Rückgang“ an Industriearbeitsplätzen steht ein Zuwachs an Arbeitsplätzen im Dienstleistungsbereich gegenüber, dort sind rund 1,1 Millionen Neue in den letzten fünf Jahren entstanden: Noch 23% arbeiten in der Produktion, rund 75% in den Dienstleistungsbranchen – diese Verschiebungen sagen allerdings noch nichts über die Qualität, den Umfang und die Dauer und die Verdienste in den "neuen" Branchen aus.

Die Aktienkurse klettern derweil trotz der kriselnden Autobranche. Profite machten mit aktiver Unterstützung der Ampel die großen Versicherer, IT-Konzerne und Rüstungsfirmen. Wie wäre es da mit einem Wechsel in die boomende Rüstungsbranche (z.B. „Seit dem Jahresbeginn 2022 hat die Rheinmetall-Aktie 638 Prozent zugelegt…“ so das Handelsblatt online, 18.12.2024) – sicherere Arbeitsplätze gibt es da, auch wenn sie einmal Leben kosten sollten. Während die Party auf den Finanz- und Immobilienmärkten munter weiter geht, die Inflation hoch bleibt, nimmt die Arbeitslosigkeit zu, die Schere zwischen Reich und Arm wird größer. 

Gleichzeitig numerisches Wachstum und Transformation zu fördern, gleichzeitig die zum Teil miserable Infrastruktur zu erneuern, die noch bestehenden Sicherungssysteme zu halten und dann auch Geld in die Aufrüstung umzuleiten – das gelingt nicht. Dazu kommt die sich verschärfende Zerstörung der Lebensgrundlagen Natur, Klima und Umwelt, die zum Teil immer noch gänzlich geleugnet, mindestens aber für beherrschbar gehalten wird. 

Ein zusätzlicher Druck kommt individuell immer stärker auf fast alle Privathaushalte zu: Die massiv steigenden Kosten für die Wohnung inklusive der dazugehörenden Mietnebenkosten (s.a. Handelsblatt vom 18.12.2024 online „Mieten steigen 2024 kräftig – Baugenehmigungen auf Talfahrt“), wie vor allem Wasser, Strom, Heizung. Nach einer Untersuchung des Paritätischen Wohlfahrtsverbandes (4) verbleiben bei über 17,5 Millionen Menschen nach Abzug dieser Kosten nur noch Nettoeinkommen im Armutsbereich. Damit sind nicht 14,4% sondern 21,2% der Bevölkerung von Armut betroffen, insbesondere Menschen ohne Arbeit (61%), Alleinerziehende (36%), junge Erwachsene (31%) und Menschen in Rente (27%). (siehe auch den Artikel: Armut).

Gleichzeitig nahmen die Privatvermögen 2024 um 6 Prozent auf astronomische 9,3 Billionen (9.300.000.000.000) Euro in Deutschland zu. „In Deutschland stieg 2024 das Gesamtvermögen der Milliardär*innen um 26,8 Milliarden US-Dollar. Es kamen neun neue Milliardär*innen hinzu, insgesamt sind es laut Forbes-Reichenliste 130.“ (5)

„Reichtum erzeugt Armut“: Unter dieses Motto muss man die Ergebnisse der Weltbankstudie stellen. 9% aller Menschen auf dieser Erde haben weniger als 2,15 Dollar am Tag zu Leben zur Verfügung. Viele Staaten existieren nahe am finanziellen Bankrott, obwohl sie aufgrund ihrer natürlichen Ressourcen eigentlich sehr gut lebensfähig wären. Neben Kriegen, Kolonialismus alter und neuer Art und auch innerer Zerstrittenheit können sie diese Potentiale jedoch nur unzureichend nutzen. Siehe dazu den Artikel „Armut weltweit und ihre Messung" von Michael Roberts.

Arbeitslosigkeit 2024 – Einige Kernziffern

Die Zahl Erwerbstätiger war 2024 auf einem Höchststand – fast 47,4 Millionen. Gleichzeitig stieg die Zahl registrierter Arbeitsloser auf knapp 2,8 Millionen, ebenso die Zahl der ausschließlich geringfügig Entlohnten auf 4,25 Millionen. Im Jahresdurchschnitt 2024 waren in Deutschland 2.787.000 Menschen nach § 16 SGB III arbeitslos gemeldet, 178.000 oder 7 Prozent mehr als vor einem Jahr.  ...

  • Damit sind Arbeitslosigkeit und Unterbeschäftigung im zweiten Jahr in Folge gestiegen.
  • Die Zunahmen waren vor allem eine Folge der wirtschaftlich angespannten Lage; ukrainische Geflüchtete spielten für die Zunahmen 2024 nur eine geringe Rolle.  ...
  • Arbeitslosigkeit und Unterbeschäftigung wurden größer, obwohl die Beschäftigung gewachsen ist. Offenkundig war der Beschäftigungsaufbau nicht stark genug, um den Anstieg des Arbeitskräfteangebots aufzunehmen. Neben der wirtschaftlichen Schwäche dürfte dafür ein weiterer Grund sein, dass Arbeitslose in berufsfachlicher, qualifikatorischer und regionaler Hinsicht oftmals nicht zur Arbeitskräftenachfrage passen.
  • Von den 2.787.000 Arbeitslosen wurden jahresdurchschnittlich 980.000 oder 35 Prozent im Rechtskreis SGB III von einer Agentur für Arbeit und 1.807.000 oder 65 Prozent im Rechtskreis SGB II von einem Jobcenter betreut. …“ (6)

Die folgenden Angaben stammen aus dem Monatsbericht Dezember der Bundesanstalt für Arbeit. (7)

Die Arbeitslosenquote betrug im Dezember 2024 6 Prozent. 5,7% bei Frauen und 6,3% bei Männern, bei Jugendlichen unter 20 Jahren waren es 4,5%.

Die Arbeitslosenquoten in den einzelnen Bundesländern auf Basis aller zivilen Erwerbspersonen:

  • Niedrigste Quote lag in Bayern mit 3,8%.
  • Bundesdurchschnitt bei 6,0%
  • Höchste Quote in Bremen mit 11,1%.
  • Relativ am stärksten gestiegen ist die Arbeitslosigkeit 2024 im Saarland, dort lag sie am Jahresende bei 7%.

Die Zunahme der registrierten arbeitslosen Menschen im Jahr 2024 war regional sehr unterschiedlich.

„Die Zahl der Langzeitarbeitslosen belief sich im Dezember 2024 auf 984.000. Damit waren in diesem Monat 35,1 Prozent der Arbeitslosen länger als zwölf Monate arbeitslos (Vorjahr 35,2 Prozent).“

Was die offizielle Statistik nicht ausweist: Sie umfasst nicht alle erwerbslosen Menschen – es fehlen diejenigen, die an Schulungsmaßnahmen teilnehmen, Ältere über 58 Jahren. Zählt man diese Personengruppen dazu, liegt die Zahl erwerbsloser Menschen Ende 2024 bei rund 3,18 Millionen. Die Bundesanstalt für Arbeit  geht in ihren Prognosen für 2025 selbst von einer weiter steigenden Arbeitslosigkeit aus.

Seit der Corona-Pandemie leisten Beschäftigte in Deutschland dem Nürnberger Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung (IAB) zufolge immer weniger Überstunden. Im dritten Quartal 2024 waren es so wenige Überstunden wie noch nie. Im Schnitt machte danach jeder und jede Beschäftigte 3,3 bezahlte und 3,9 unbezahlte Überstunden. Seit der Pandemie ist die Zahl der Überstunden pro Arbeitnehmer damit laut IAB um mehr als ein Drittel zurückgegangen. Die 46,1 Millionen Erwerbstätigen leisteten im dritten Quartal dieses Jahres danach 15,7 Milliarden Arbeitsstunden - pro Person waren es 340,7 Stunden. Die Werte lagen auf dem Niveau des Vorjahres.

Erkennbar zugenommen hat dagegen die Zahl der Menschen mit Nebentätigkeit. Sie stieg um 1,2 Prozent im Vergleich zum dritten Quartal 2023 auf nun 4,6 Millionen Beschäftigte.

Auch die Teilzeitquote legte im Vorjahresvergleich um 0,3 Prozentpunkte auf nun 39,7 Prozent zu. Die Zahl der Teilzeitbeschäftigten stieg um 1,1 Prozent, während die der Vollzeitbeschäftigten um 0,4 Prozent sank. "Der Arbeitsmarkt ist zweigeteilt: fast 100.000 Vollzeitjobs weniger als vor einem Jahr - aber fast 200.000 Teilzeitjobs mehr. Die Industrie ist in der Krise, aber Erziehung und Pflege boomen", so Enzo Weber vom IAB (8).

Kurzarbeit

Die Statistik über den Bestand an kurzarbeitenden Betrieben und deren Personen in Kurzarbeit gibt den tatsächlichen Arbeitsausfall an, so die BA. Nach dem Rückgang nach der Pandemie nimmt seit 2023 die Zahl der Kurzarbeitenden von Monat zu Monat wieder zu. Im November 2024 haben die Hochrechnungen der BA folgende Werte ergeben: Es gab 10.225 kurzarbeitende Betriebe mit 282.802 betroffenen Beschäftigten im Bereich des konjunkturellen Kurzarbeitergeldes, damit lag die Kurzarbeiterquote bei 0,8 %. „Nach einer ersten Schätzung der Statistik der Bundesagentur für Arbeit erhöhte sich die jahresdurchschnittliche Zahl der Kurzarbeitenden im Jahr 2024 insgesamt auf rund 320.000, nach 241.000 Kurzarbeitenden im Jahr 2023.“ (7)

Arbeitslosigkeit bei Schwerbehinderung

2023 gab es ca. 3,1 Millionen Menschen zwischen 15 und 65 Jahren, die eine amtlich anerkannte Schwerbehinderung aufwiesen (Statistisches Bundesamt 2024). „Die jahresdurchschnittliche Zahl der schwerbehinderten arbeitslosen Menschen hat 2024 um 6 Prozent auf 175.000 zugenommen. Der Anteil der schwerbehinderten Menschen an allen Arbeitslosen belief sich unverändert auf 6 Prozent." (7)

Auf die nach wie vor bestehende wirtschaftliche Diskriminierung der rund 300.000 Menschen, die in Werkstätten für Menschen mit Behinderungen (WfB) oder auch über andere Sonderprogramme zu Niedriglöhnen ambulant beschäftigt sind, ist hier hinzuweisen.

Minijob – Struktur der Minijobber

Alle folgenden Zahlen beziehen sich auf den Zeitraum bis 30.9.2024.

  • Von den knapp 6,9 Millionen (im Jahr 2023 waren es 6.671.832) bei der Minijobzentrale angemeldete Minijobs gab es 6,7 Mio. im gewerblichen Bereich (eine Zunahme gegenüber dem Vergleichszeitraum 2023 um + 0,3%) und rund 247.000 im Bereich Privathaushalte (eine Abnahme gegenüber dem Vergleichszeitraum 2023 um – 4,2%).
  • Im gewerblichen Bereich waren 64,3% zwischen 25 und 64 Jahren alt, 18,3% ab 65 Jahren; 56,2% waren Frauen und 43,8% Männer, bei 82,4% lag die Staatsangehörigkeit Deutsch vor, 17,6% „Andere“.
  • Die meisten (1.145.905) waren im „Bereich Handel, Instandhaltung und Reparatur von KFZ“ tätig, gefolgt vom „Gastgewerbe“ (928.887), „Sonstige wirtschaftliche Dienstleistungen“ (835.945) und „Gesundheits- und Sozialwesen“ (762.229).
  • 79,6% dieser Minijobber waren nicht rentenversicherungspflichtig gemeldet, bei vielen davon dürfte es sich also um einen Zwei- oder sogar Drittjob handeln.
  • Im Bereich der Privathaushalte waren 76,3% zwischen 25 und 64 Jahren alt, 3,1% ab 65 Jahren; 87,5% waren Frauen und 12,5% Männer, bei 73,3% lag die Staatsangehörigkeit Deutsch vor, 26,7% „Andere“.
  • 88% dieser Minijobber waren nicht rentenversicherungspflichtig gemeldet, bei vielen davon dürfte es sich also ebenso um einen Zwei- oder sogar Drittjob handeln.
  • 44,3% haben im Bereich der Privathaushalte monatliche Einkünfte bis zu 150 €, im gewerblichen Bereich 58,3% zwischen 400 und 520 € verdient. (9) Mehr zu den Einkünften der Minijobber siehe weiter den Beitrag "Armut: Bilanz 2024".
Die sogenannte Stille Reserve 

Menschen, die nach der Definition der BA und den dahinterliegenden gesetzlichen Vorgaben der SGB III und II nicht als arbeitslos gezählt werden, zählen zur Stillen Reserve. Das sind Menschen, die grundsätzlich Arbeit suchen, aber im Moment für den Arbeitsmarkt nicht verfügbar sind, weil sie z.B. gesundheitlich eingeschränkt sind, Betreuungspflichten nachkommen, oder aus anderen Gründen im Moment nicht aktiv suchen. Zu dieser Gruppe zählen rund 3,2 Millionen Menschen. Mehr dazu: Destatis, Pressemeldung vom 16.5.2024 (10)

Arbeitskräftemangel, Zuwanderung 

Nach einer Untersuchung der BA betreffen den viel zitierten Fachkräftemangel nur 36 von 140 Berufsgruppen, und das sind eher Branchen mit niedrigen Einkommen bei gleichzeitig hoher Arbeitsbelastung. Zu diesen zählen Teile des Gesundheitswesens, des Baubereiches, des öffentlichen Dienstes, des Einzelhandels und des Sozialwesens. 

In einzelnen Branchen werden Arbeitskräfte gesucht, gleichzeitig aber wird immer wieder behauptet, dass Arbeitssuchende ihre Beschäftigungsaufnahme an Bedingungen knüpfen könnten und sehr wählerisch seien. Dies trifft auch auf Leiharbeitsverhältnisse zu. Laut BA kommen hier 17% aus einem Asylherkunftsland. Trotz Tarifvertrag hinken die Tarifentgelte hinter den Festangestellten hinterher. (11) Der Anteil migrantischer Arbeitskräfte lag in der Altenpflege – ohne die Betreuungskräfte in den Privathaushalten – bereits 2019 bei über 30%. (12)

Ausbildung 2024

Laut Bundesinstitut für Berufsbildung gingen die Ausbildungsverträge 2024 um 0,5% gegenüber 2023 zurück auf 486.700. Rund 12,6% blieben ohne Ausbildungsplatz.

Deutschland hat nach einer EU-Studie die vierthöchste Quote an Schulabbrechern unter allen EU-Ländern. 2,64 Millionen Menschen zwischen 20 und 34 Jahren waren 2021 ohne Berufsabschluss – Tendenz steigend. (DGB Jugend Broschüre). 2018 waren es noch 14,4% gewesen. 2022 bildeten nur knapp 19% aller Betriebe aus und jammern zumindest teilweise gleichzeitig über einen Fachkräftemangel – da passt etwas nicht zusammen.

Laut Ausbildungsreport 2024 der DGB-Jugend sieht es auch innerhalb der Ausbildungen zum Teil düster aus: Ein Drittel aller Auszubildenden bricht eine Ausbildung vorzeitig ab. Gründe: Kein Ausbildungsplan, ausbildungsfremde Tätigkeiten, keine Übernahmeperspektiven, Überstunden ohne Ausgleiche. Die Ausbildungsvergütungen schwanken sowohl regional wie nach Branchen erheblich von 710 € pro Monat im Frisörhandwerk in NRW bis zu 1.710 € im westdeutschen Bauhauptgewerbe. Wenn, wie z.B. im Frisörhandwerk solch geringe Löhne gezahlt werden, müssen sich diese Branchen nicht wundern, dass Jugendliche andere Bereiche suchen. Hier von Fachkräftemangel zu sprechen, ist unglaubwürdig. (13)

Arbeitslosigkeit europaweit 

10,83 Millionen Menschen, das sind 6,3% waren Ende 2024 in der Euro-Zone offiziell arbeitslos laut Eurostat – die Berechnungsmethoden sind andere als in Deutschland – 266.000 weniger als ein Jahr zuvor. Die Zahl erwerbsloser Menschen in Tschechien 2024 mit 2,5% am niedrigsten, gefolgt von Polen mit 2,8%. Deutschland lag bei 3,0%, die Erwerbslosenquote am höchsten war in den Ländern Griechenland und Spanien mit 11,0 bzw. 11,9%. (14)

Aussichten 2025 

Die Überkapazitäten der Realwirtschaft und das immer weitere Auseinanderklaffen von Armut und Reichtum als Ausdruck gesteigerter Umverteilung und Aneignung von Profiten tragen entscheidend dazu bei, dass es zu sinkenden Reallöhnen und einer Zunahme erwerbsloser Menschen kommen wird. Neben den inländischen Faktoren kommen aufgrund der starken Exportabhängigkeit einiger Industriebranchen zusätzliche Einflüsse wie Kriege und mögliche Zoll- und Einfuhrbegrenzungen anderer Länder hinzu, die nach einer Einschätzung von Dierk Hirschel, dem Bereichsleiter Wirtschaftspolitik beim verdi Bundesvorstand dazu führen können, dass das deutsche Sozialprodukt um bis zu 1,3% schrumpfen kann. (verdi publik 8/2024).

Für 2025 werden über 3 Millionen Erwerbslose prognostiziert. "Der Arbeitsmarkt bekommt weiter die Folgen der wirtschaftlichen Stagnation zu spüren", sagte BA-Chefin Andrea Nahles. Eine Besserung ist nach ihren Worten nicht in Sicht. Die BA schließt nicht aus, dass mit der üblichen Winterarbeitslosigkeit im Januar 2025 erstmals seit zehn Jahren wieder mehr als drei Millionen Arbeitslose registriert werden, so N-TV, Abruf 18.12.2024. Auch das Arbeitsmarktbarometer des IAB zeigt einen Anstieg der Arbeitslosigkeit in 2025 an.

Die Komponente zur Vorhersage der Arbeitslosigkeit in Deutschland sinkt im Vergleich zum Vormonat um 0,5 Punkte und liegt damit im deutlich negativen Bereich bei 97,0 Punkten. „Es sieht nicht gut aus am Arbeitsmarkt. Die Arbeitslosigkeit steigt im dritten Jahr hintereinander“, berichtet Enzo Weber, Leiter des Forschungsbereichs „Prognosen und gesamtwirtschaftliche Analysen“ am IAB. Auch die Beschäftigungskomponente fällt um 0,4 Punkte auf 100,5 Punkte und liegt somit nur noch leicht über der neutralen Marke von 100 Punkten. „Wir haben Rekordbeschäftigung, aber der Trend ist abgeknickt. Zurück in die Erfolgsspur kommt der Arbeitsmarkt nur mit positiven wirtschaftlichen Entwicklungsperspektiven in der Transformation“, erklärt Weber (IAB-Arbeitsbarometer). (15)

KI - Künstliche Intelligenz – eine nächste Stufe im IT-Bereich, auch als Arbeitswelt 5.0 bezeichnet – ist man diesen Entwicklungen hilflos ausgeliefert? Jede Maschine ist nur so gut oder schlecht, wie sie von Menschenköpfen und Menschenhänden erdacht, geschaffen und eingesetzt wird. Dabei wird es Veränderungen nicht nur in der Produktion, sondern auch in der Medizin, der Rechtspflege, in der IT-Branche selbst, im Bereich der Kultur und Kunst, der Bildung geben. KI wird den Niedriglohnbereich wenig, wissensbasierte Arbeit wesentlich stärker verändern, noch völlig offen hinsichtlich der langfristigen Folgen sind die Fragen der Veränderungen der Kommunikation und der Menschenbeziehungen in der Arbeit, in Freundschaften, in der Jugend, im Alter etc.

Es hat sich an der Grundfrage Kapital und Arbeit nichts geändert, es bleibt also dabei: Für fast alle Menschen hängt ihre persönliche Lebenserfolgsquote von den jeweils herrschenden Kräfteverhältnissen ab.

Arbeits-/Erwerbslosigkeit aus statistischer Sicht

"Die amtliche Statistik erfasst Erwerbstätige und Erwerbslose nach dem Erwerbsstatuskonzept der Internationalen Arbeitsorganisation (ILO). Die auf dieser Seite ausgewiesenen Zahlen über Erwerbslose und die Erwerbslosenquote unterscheiden sich definitorisch von der Zahl registrierter Arbeitsloser und der Arbeitslosenquote, die von der Bundesagentur für Arbeit entsprechend des Sozialgesetzbuchs veröffentlicht werden. Für die Berechnung der Erwerbslosenquoten werden im Europäischen Statistischen System einheitlich die Ergebnisse der Arbeitskräfteerhebung zugrunde gelegt.

Erwerbslose sind Personen im Alter von 15 bis 74 Jahren, die im Berichtszeitraum nicht erwerbstätig waren und in den vier Wochen vor der Befragung aktiv nach einer Tätigkeit gesucht haben. Auf den zeitlichen Umfang der gesuchten Tätigkeit kommt es dabei nicht an. Erwerbslose müssen in der Lage sein, eine neue Arbeit innerhalb von zwei Wochen aufzunehmen. Die Arbeitssuche muss dabei nicht über die Bundesagentur für Arbeit oder einen kommunalen Träger laufen. Arbeitslose sind Personen, die bei der Bundesagentur für Arbeit als solche registriert sind und sozialgesetzlichen Vorgaben entsprechen. Aus den unterschiedlichen Konzepten folgt, dass es Personen gibt, die zwar im Sinne der ILO-Definition Erwerbslose sind, bei der Bundesagentur für Arbeit aber nicht als arbeitslos zählen oder umgekehrt." (16)

 

Abkürzungen:

BA: Bundesagentur für Arbeit
BMAS: Bundesministerium für Arbeit und Soziales
Destatis: Statistisches Bundesamte
DIW: Deutsches Institut für Wirtschaftsforschung
Eurostat: Statistisches Amt der Europäischen Union      
IAB: Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung
IFO: Ifo Institut
KV: Krankenversicherung
PV: Pflegeversicherung
RV: Rentenversicherung
SGB II: Sozialgesetzbuch II – Bürgergeld (umgangssprachlich Hartz IV)
SGB III: Sozialgesetzbuch III - Arbeitsförderung

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Quellen:

(1) Creditreform: Insolvenzen in Deutschland, Jahr 2024, https://www.creditreform.de/aktuelles-wissen/pressemeldungen-fachbeitraege/news-details/show/insolvenzen-in-deutschland-jahr-2024

(2) Destatis: Pressemitteilung 21.11.2024, https://www.destatis.de/DE/Presse/Pressemitteilungen/2024/11/PD24_437_52411.html

(3) IAB: Arbeitsmarkt im Strukturwandel, https://iab.de/themen/arbeitsmarkt-im-strukturwandel/

(4) Paritätischer Wohlfahrtsverband: Studie belegt: Wohnen macht arm, 13.12.2024, https://www.der-paritaetische.de/alle-meldungen/studie-belegt-wohnen-macht-arm/

(5) Oxfam: Milliardärsmacht beschränken, Demokratie schützen, 20.1.2025, https://www.oxfam.de/ueber-uns/publikationen/oxfams-bericht-sozialer-ungleichheit-milliardaersmacht-beschraenken

(6) Bundesagentur für Arbeit: Die Lage am Arbeits- und Ausbildungsmarkt in Deutschland 2024, https://statistik.arbeitsagentur.de/Statistikdaten/Detail/202411/arbeitsmarktberichte/lage-arbeitsmarkt/lage-arbeitsmarkt-d-0-202411-pdf.pdf?__blob=publicationFile

(7) Bundesagentur für Arbeit: Monatsbericht zum Arbeits- und Ausbildungsmarkt, Dezember und Jahr 2024. https://statistik.arbeitsagentur.de/Statistikdaten/Detail/202412/arbeitsmarktberichte/monatsbericht-monatsbericht/monatsbericht-d-0-202412-pdf.pdf?__blob=publicationFile&v=2

(8) Tagesschau: Beschäftigte machen so wenige Überstunden wie nie, https://www.tagesschau.de/wirtschaft/arbeitsmarkt/ueberstunden-deutschland-iab-100.html

(9) Minijobzentrale https://www.minijob-zentrale.de/DE/service/minijob-statistik/Digitaler_Quartalsbericht_/node.html

(10) Destatis: Pressemitteilung 16.5.2024, https://www.destatis.de/DE/Presse/Pressemitteilungen/2024/05/PD24_192_13.html

(11) Arbeitsagentur für Arbeit: Migration https://statistik.arbeitsagentur.de/DE/Navigation/Statistiken/Themen-im-Fokus/Migration/Migration-Nav.html

(12) Atlas der Migration: https://www.rosalux.de/fileadmin/rls_uploads/pdfs/sonst_publikationen/atlasdermigration2022.pdf

(13) DGB: Ausbildungsreport 2024, https://www.dgb.de/fileadmin/download_center/Studien/DGB-Jugend-Ausbildungsreport_2024.pdf

(14) Destatis: Europa. Allgemeines und Regionales, https://www.destatis.de/Europa/DE/Thema/Basistabelle/Allgemeines-Regionales.html

(15) IAB: Arbeitsbarometer, https://iab.de/daten/iab-arbeitsmarktbarometer/

(16) Destatis: Erwerbslosigkeit: https://www.destatis.de/DE/Themen/Arbeit/Arbeitsmarkt/Erwerbslosigkeit/_inhalt.html

Armut: Bilanz 2024

So, 16/02/2025 - 10:08

Mindestlohn

Um 3,4% auf 12,82 € steigt der Mindestlohn ab Januar 2025 (die Teuerungsrate lag im Jahr 2024 bei 2,2%). Nach den Kriterien der EU müsste er bei mindestens 60% des Medianlohnes Deutschlands liegen oder aber bei 50% des nationalen Durchschnittslohns, das wären 14,12 € (1) 

Rund 8 Millionen Beschäftigte bekommen aber aus vielen Ausnahmegründen nicht mal diesen Mindestlohnsatz. Gewerkschaften wie z.B. verdi fordern dagegen einen Mindestlohn von wenigstens 15 €.

Minijob – Einkünfte der Minijobber

Alle folgenden Zahlen beziehen sich auf den Zeitraum bis 30.9.2024. Von den knapp 6,9 Millionen (im Jahr 2023 waren es 6.671.832) bei der Minijobzentrale angemeldete Minijobs gab es 6,7 Mio. im gewerblichen Bereich (eine Zunahme gegenüber dem Vergleichszeitraum 2023 um + 0,3%) und rund 247.000 im Bereich Privathaushalte (eine Abnahme gegenüber dem Vergleichszeitraum 2023 um – 4,2%). Mehr zur Struktur der Minijobber siehe weiter den Beitrag "Arbeitslosigkeit: Bilanz 2024"

44,3% der Minijobber haben im Bereich der Privathaushalte monatliche Einkünfte bis zu 150 €, im gewerblichen Bereich 58,3% zwischen 400 und 520 € verdient. (2)

Armut in Deutschland

Die Armutsgefährdungsquote lag 2023 nach Berechnungen des Statistischen Bundesamtes bei den über 65-jährigen Männern bei 15,9% und bei Frauen in der gleichen Altersgruppe bei 20,8%. Um eine gesetzliche Rente oberhalb der Armutsgrenze von 1378 € zu erzielen, müsste aktuell der Stundenlohn einer vollzeitbeschäftigen Person über 45 Jahre hinweg bei 19,36 € liegen, so eine Antwort des BMAS auf eine Anfrage des BSW.

Die Armutsgefährdungsquote lag 2021 bei 19,4%, Frauen 20,9%, Männer bei 17,5% (Berechnung jeweils nach EU-SILC) und sie steigt und steigt weiter an. Siehe auch Neunter Altersbericht des Familienministeriums (3)

Die offizielle Armutsquote in Deutschland hat sich 2024 nicht wesentlich verändert, sie stagniert bei knapp 17%, das sind rund 14,2 Millionen Menschen. Rund ein Viertel dieser Menschen ist erwerbstätig, ein weiteres Viertel in Rente und mehr als 20% sind Kinder, so der Paritätische.  Frauen sind stärker betroffen als Männer, Alleinerziehende und Familien mit mehr als zwei Kindern gehören ebenso dazu. Näheres im Paritätischen Armutsbericht. (4)

Altersarmut ist kein Zukunftsgespenst, sondern auch 2024 Realität. Gegenüber 2023 ist die Zahl der armutsgefährdeten RentnerInnen um 300.000 auf 19,6% im Jahr 2024 gestiegen – auch zum Teil eine Folge zu geringer Löhne und Gehälter im vorhergehenden Berufsleben.

„Um rund 40% ist die Zahl der GrundsicherungsempfängerInnen seit 2015 gestiegen, aktuell sind es rund 469.000. Das entspricht einer Grundsicherungsquote von 2,9 Prozent. Im Vergleich zum Vorjahr hat es damit einen Anstieg um 0,1 Prozent gegeben.“ Quelle: DRV online, Abruf 16.12.24). Dabei ist die Dunkelziffer derjenigen, die diese Mindestleistung nicht beantragen, groß, das DIW hatte bereits 2019 ermittelt, dass bis zu 60% aus die ihnen zustehenden Leistungen nicht beantragen. 

Rund 16,4 Millionen Menschen im regulären Rentenalter bezogen Ende 2023 in Deutschland eine Altersrente aus der gesetzlichen Rentenversicherung, ca. 13% arbeiten aktuell mindestens in den ersten sechs Monaten nach dem erstmaligen Rentenbeginn weiter.“ (5)

Die 2021 eingeführte Grundrente verringert Armut im Alter nicht. Der 2023 durchschnittlich ausgezahlte Monatsbetrag lag bei 86 €. Dieser Zuschlag ist viel zu gering, außerdem sind die Voraussetzungen, überhaupt einen Antrag stellen zu können, viel zu hoch angesetzt – eine durchaus machbare Lösung wäre die Einführung einer Mindestrente, wie es sie z.B. in Österreich gibt. Mehr Infos dazu: DIW, Bilanz der Grundrente. (6)

In der Schweiz hat im gleichen Jahr 2024 eine Mehrheit für eine 13.te Rentenzahlung im Jahr gestimmt, außerdem gegen eine Erhöhung des Renteneintrittsalters auf 66 Jahre.

Gewerkschaften 2024/2025 

Die Tarifbindung geht seit 2009 immer weiter zurück und liegt inzwischen bei unter 50%. 2024 wurden in vielen noch tarifgebundenen Bereichen, so z.B. im Handel, bei der Bahn, im privaten Bankenbereich, der Post, den großen Krankenkassen Tarifauseinandersetzungen geführt. (7)

Die Tarifabschlüsse brachten keine Trendwende, es gelang nicht, die Einkommenshöhen zumindest so anzupassen, dass die Inflation und Preissteigerungen für Wohnen, Energie (Verbraucherpreise) ausgeglichen werden konnten. Die Inflation trifft nicht alle gleich, sie trifft Menschen in schlechter bezahlten Jobs – mehr noch arbeitslose Menschen. Zum gleichen Ergebnis – Reallohnverluste – kommt auch WSI-Tarifarchiv in seiner Jahresbilanz. (vgl. Pressedienst vom 6.12.2024). „Die reduzierte Kaufkraft der Beschäftigten ist ein wesentlicher Grund für die schwache Konjunkturentwicklung in Deutschland“, sagt Thorsten Schulten, der Leiter des WSI Tarifarchivs. „Auch wenn die Einkommen der Beschäftigten in diesem Jahr wieder Boden gut gemacht haben, besteht also weiterhin erheblicher Nachholbedarf", so Schulten weiter. Selbst in vielen Abschlüssen der IG Metall bleiben diese hinter den Preissteigerungsraten zurück, vor allem dann, wenn man die steuerbefreiten Inflationsausgleichsprämien herausrechnet, die sich nicht tabellenwirksam auswirken. Der Abschluss der IGM (bei 7% lag die Entgeltforderung), gerechnet auf die langen Laufzeitmonate, bringt es auf 1,8% jährlich, lediglich beim tariflichen Zusatzgeld gab es einige Verbesserungen.

Es kann auch anders gehen, dazu ein Beispiel: In Österreich konnten die Gewerkschaften 2024 für und mit den Beschäftigten des Roten Kreuzes um 9,2% höhere Löhne aushandeln bei einer 37 Stunden Woche an fünf Tagen in der Woche.  Auch in Deutschland gab es positive Ausnahmen, z.B. im Einzelhandel, dort konnten im unteren Lohnbereich schon mal zwischen 13,7 und 15,6% mehr erreicht werden, nachdem entsprechender Druck aufgebaut worden war. 

Wie lange also hält das Band der Sozialpartnerschaft noch? 

Zum Jahreswechsel 2024/25 laufen für rund 7,5 Millionen Beschäftige die Vergütungstarifverträge aus, unter anderem bei der Post und dem öffentlichen Dienst. Verdi hat für den öffentlichen Dienst seine Tarifforderungen beschlossen: Die Grundforderungen: Entgelterhöhung um 8%, mindestens aber 350 € bei 12 Monaten Laufzeit und mehr freie Zeit in verschiedenen Formen.

Deutschland braucht eine Wende in der Tarifpolitik, aber nicht im Sinne der Unternehmer oder auch der Bundesbank, die den mäßigen Abschluss der IGM lobten, sondern genau umgekehrt, indem Verteilungsfragen wieder offensiv angegangen werden. Diese Tarifauseinandersetzungen müssen dabei über die rein betriebliche Ebene hinausgehen, sie müssen politisch werden, damit die Zeitenwende, wie sie auch in der Nationalen Sicherheitsstrategie beschrieben wird, verhindert wird.

Aussichten 2025

Es hat sich an der Grundfrage, Kapital und Arbeit nichts geändert, es bleibt also dabei: Für fast alle Menschen hängt ihre persönliche Lebenserfolgsquote von den jeweils herrschenden Kräfteverhältnissen ab.

Die Politiken in Kapitalinteresse fordern Hochrüstung, Kriegsfähigkeit, dazu muss an anderen Stellen gespart werden – zuvorderst an den Grundleistungen zum Leben der Menschen, die schon geplante Abkehr selbst vom Bürgergeld = Hartz IV wird dabei nur der Anfang sein. Die massiven Erhöhungen des offiziellen und der versteckten Rüstungshaushalte werden zu weiteren Kürzungen vor allem in den Bereichen Soziales, Kultur, aber auch Gesundheit und Alterssicherung führen, das Argument der Schuldenbremse wird dazu auch noch zusätzlich vorgeschoben und missbraucht. Wenn alles dem sogenannten Markt überlassen wird, braucht man sich nicht darüber zu wundern, was herauskommt. 

Bereiche wie Wohnen, Bildung, Gesundheit, Infrastruktur, Energie gehören in öffentlich verantwortete und kontrollierte Hände, es verbietet sich, sie zu privaten Gütern samt Gewinnerzielungsabsichten zu machen – ja, das Rad muss tatsächlich zurückgedreht werden, zum Beispiel in diese Richtungen:

  • Höhere Tarifbindungen
  • Höhere Tarifabschlüsse, die die Reallöhne tatsächlich steigern
  • Ausbau der Mitbestimmung in den Betrieben
  • Die Behinderung von Betriebs- und Personalräten/MAVen ist kein Antrags- sondern ein Offizialdelikt (die Staatsanwaltschaften verfolgen solche Delikte von sich aus)
  • Arbeitszeitreduzierungen, Wiederaufnahme der Forderung nach Einführung der 32-Stundenwoche
  • Abbau der Überstunden
  • Armutsfeste Löhne und Gehälter oberhalb der bestehenden Armutsgrenzen
  • Einen Mindestlohn, der zu einer armutsfesten Rente führt
  • Eine Grundausbildung für alle Jugendlichen
  • Ausbildungsplatzumlage für alle Betriebe ab 50 Beschäftigten
  • Eine gesetzliche Rentenversicherung, in die alle einzahlen
  • Rekommunalisierung der Energiewirtschaft
  • Besteuerung aller Vermögensarten, Vermögenssteuer für das oberste 1%
  • Steuerflucht unterbinden durch Steuerfahndung
  • Aufhebung der Schuldenbremse
  • Reduzierung des Rüstungshaushaltes
  • Vergesellschaftung von Grund und Boden
  • Enteignung großer Wohnungsbaukonzerne

Es kann und darf nicht sein, dass Menschen das Bedürfnis haben, jeweils danach zu suchen, ob es andere Menschen gibt, die man selbst wieder nach unten treten kann. Alle Menschen sind gleich. Die Begriffe Humanität, „Solidarität“, Widerstand und Gegenmacht müssen wieder zum Wortschatz und Inhalt vor allem der Gewerkschaften gehören, und ihr Wirken muss auch von ihnen organisiert werden. 

So bleiben auch die „alten“ Forderungen der Arbeiterbewegung mehr als aktuell, Georg Herwegh hat sie bereits 1836 in Strophen des Bundesliedes beschrieben – daraus:

„Mann der Arbeit aufgewacht!
Und erkenne deine Macht!
Alle Räder stehen still,
wenn dein starker Arm es will.“

 

Abkürzungen

BA: Bundesagentur für Arbeit
BMAS: Bundesministerium für Arbeit und Soziales
Destatis: Statistisches Bundesamtes
DIW: Deutsches Institut für Wirtschaftsforschung
Eurostat: Statistisches Amt der Europäischen Union
IAB: Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung
IFO: Ifo Institut
KV: Krankenversicherung
PV: Pflegeversicherung
RV: Rentenversicherung
SGB II:  Sozialgesetzbuch II – Bürgergeld (umgangssprachlich Hartz IV)
SGB III: Sozialgesetzbuch III - Arbeitsförderung

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Quellen

(1) DGB: Mindestlohn 2025, https://www.dgb.de/service/ratgeber/mindestlohn/

(2) Minijob-Zentrale: Quartalsbericht der Minijob-Zentrale, https://www.minijob-zentrale.de/DE/service/minijob-statistik/Digitaler_Quartalsbericht_/node.html

(3) Familienministerium: Neunter Altersbericht S. 62ff, https://www.bmfsfj.de/bmfsfj/service/publikationen/neunter-altersbericht-alt-werden-in-deutschland-252680

(4) Paritätischer Wohlfahrtsverband: Armut in der Inflation, https://www.der-paritaetische.de/fileadmin/user_upload/Publikationen/img/Paritaetischer_Armutsbericht_2024.pdf

(5) Destatis: Zahl der Woche, 28.1.2025, https://www.destatis.de/DE/Presse/Pressemitteilungen/Zahl-der-Woche/2025/PD25_05_p002.html

(6) DIW: Bilanz der Grundrente: Weniger Menschen als erwartet profitieren davon, https://www.diw.de/de/diw_01.c.889901.de/publikationen/diw_aktuell/2024_0091/bilanz_der_grundrente__weniger_menschen_als_erwartet_profitieren_davon.html

(7) WSI: Tarifrunde 2024: Aktueller Überblick, https://www.wsi.de/de/tarifrunde-2024-aktueller-ueberblick-54925.htm

Der “China-Preis”: DeepSeek hat die KI-Spekulationsblase angestochen

Sa, 08/02/2025 - 11:12

Als “China-Preis” wurden früher in den westlichen Medien Billigprodukte aus China für Endkunden abgewertet. Unterstellt war immer, dass die mit besonders billigen chinesischen Arbeitskräften hergestellt wurden. Jetzt ist eine neue kostenlose KI-App aus China auf dem Markt, deren Veröffentlichung die Bewertungen der US-Tech-Konzerne auf Talfahrt schickte. Aber das lag nicht am China-Preis, sondern an der Innovation aus China.

Die bisherige US-Handelsministerin Gina Raimondo, die die Sanktionspolitik gegen China mit vorangetrieben hat, erklärte Ende 2024 freimütig, Liefersperren für ultraschnelle Chips seien lediglich “Speed Bumper”. Es sei vergebene Liebesmühe, Chinas Aufstieg zu stoppen. Entscheidend sei die eigene Innovationskraft (Wallstreet Journal, 22.12.2024).

Eine Probe der chinesischen Innovationskraft bekamen Ende Januar 2025 die Finanzmärkte zu spüren. Deren KI-Euphorie bekam einen gewaltigen Dämpfer. Die Aktien des Börsenlieblings Nvidia, Entwickler und Marktführer für Hochleistungs-Chips für KI, verloren an einem Tag 17% oder 589 Mrd. Dollar, der höchste Tagesverlust der Börsengeschichte. Mit Nvidia stürzten auch die Kurse von Amazon, Google, Meta, Microsoft und anderen Tech-Konzernen, Chipherstellern, Cloud-Computing-Anbietern, Stromkonzernen und Lieferanten von Infrastruktur wie Siemens Energy ab, die alle im Umfeld der energiefressenden Zukunftsbranche KI angesiedelt sind. Allein die Kursverluste der US-Tech-Riesen summierten sich an dem Tag auf eine Billion Dollar.

Auslöser für den Börsensturz zeitnah zu Trumps Amtseinführung und zu seiner Ankündigung des 500 Mrd.-Dollar-Megaprojekts Stargate für neue KI-Rechenzentren in Texas war die Veröffentlichung der KI-Sprachmodelle DeepSeek-R1-Zero und DeepSeek-R1 durch das chinesische Unternehmen DeepSeek. Die Investoren waren plötzlich in Panik um ihr Geld, weil die DeepSeek-Sprachmodelle mit einem Bruchteil des Rechenaufwands trainiert worden sind, der in die Entwicklung vergleichbarer KI-Sprachmodelle der westlichen Konkurrenz (ChatGPT von OpenAI, Llama von Meta …) investiert wurde. Zudem erreichen die Modelle nach Angaben von DeepSeek in Benchmarks eine Leistung vergleichbar mit dem derzeit führenden Sprachmodell o1 des US-Unternehmens OpenAI – aber zu einem Bruchteil der laufenden Kosten. Zudem hat das chinesische Unternehmen Deepseek kostenlos zum Download zur Verfügung gestellt und die zugrunde liegenden Algorithmen als Open Source veröffentlicht.

Chinas Coup mit DeepSeek stellt also die bislang gültigen Annahmen des Geschäftsmodells der KI-Industrie in Frage. Erst 2023 erklärte OpenAI-Gründer Sam Altman auf einer Konferenz in Indien auf die Frage, was ein kleines Team mit einem KI-Budget von 10 Millionen Dollar ausrichten könne, mit so einem winzigen Budget sei es aussichtslos, gegen OpenAI zu konkurrieren.

Was ist besonders an DeepSeek?

Das chinesische Unternehmen DeepSeek wurde von dem Ingenieur und Hedgefonds-Manager Liang Wenfeng 2023 gegründet. Liang hatte in den Jahren vorher einen auf quantitativen mathematischen Analysen beruhenden Hedgefonds mitgegründet, der an Chinas Börsen spekulierte und der auch mehrfach mit der chinesischen Börsenaufsicht in Konflikt geriet. Das Team, das jetzt DeepSeek entwickelt hat, besteht hauptsächlich aus jungen Absolventen der Pekinger Tsinghua-Universität, einer von Chinas Elite-Universitäten mit naturwissenschaftlich-technischem Schwerpunkt. Es gibt keine Hinweise dafür, dass DeepSeek besondere staatliche Förderung bekommen hat, auch wenn Liang Wenfeng jetzt zusammen mit dem chinesischen Ministerpräsidenten Li Qiang bei einem Symposium zum Entwurf eines Arbeitsberichts der chinesischen Regierung zum Thema KI im Podium saß. Aber Künstliche Intelligenz ist ein erklärter Schwerpunkt der chinesischen Staatsplanung.

DeepSeek ist ein großes Sprachmodell oder Large Language Model LLM. Damit werden KI-Programme bezeichnet, die an riesigen Massen von Daten - Texten, auch unstrukturiert; Sprache, Bildern - trainiert sind. Aufgrund dieses Trainings und des ständigen weiteren Lernens im laufenden Betrieb können die Sprachmodelle auf Anfragen eigene Texte generieren, Bildanalysen z.B. für Ärzte durchführen, für Servicetechniker Vorschläge für Fehleranalysen machen, für die Personalabteilung Beurteilungen schreiben etc. Die an sogenannten neuronalen Netzen angelehnten Programme durchforsten bei jeder einzelnen Anfrage die riesigen Datenbestände nach passenden Hinweisen. Dafür braucht es das Zusammenwirken von vielen tausend ultraschnellen Logik- und Speicherchips. Daher der riesige Kapitalbedarf für KI-Modelle und für KI-Datenzentren und der hohe Energieaufwand. Deshalb kostet z.B. eine Google-Suche über KI im Vergleich zu einer Datenbankabfrage auch ein Vielfaches an Rechenzeit.

Es liegt auf der Hand, dass die Optimierung des KI-Sprachmodells und des Zusammenspiels der vielen tausend ultraschnellen Chips eine wesentliche Rolle bei der Leistungsfähigkeit und der Effizienz des Systems spielt. Offensichtlich haben die DeepSeek-Entwickler unter dem Zwang, aufgrund der US-Sanktionen mit weniger und mit weniger leistungsfähigen Chips zu arbeiten als die US-Konkurrenz, ein ingenieurtechnisches Meisterwerk vollbracht.

Ende Januar veröffentlichte DeepSeek die technischen Spezifikationen des neuen R1-Modells und erklärte in einem ausführlichen Dokument, wie man mit einem begrenzten Budget ein großes Sprachmodell baut, das automatisch und ohne menschliche Aufsicht lernen und sich selbst verbessern kann. Nach den eigenen Angaben kostet das DeepSeek-Sprachmodell knapp über 2 Dollar für die Ausgabe von ca. 4 Mio. Zeichen Text, während die Konkurrenz von OpenAI’s Sprachmodell o1 ca. 60 Dollar kostet. Der Aufwand für das ursprüngliche Training des KI-Modells ist dabei nicht eingerechnet.

Der kalifonische Chip-Entwickler und Marktführer Nvidia bezeichnete DeepSeek als riesigen Fortschritt und als perfektes Beispiel für eine KI-Methode, bei der die Leistung des Gesamtsystems durch schrittweises Vorgehen bei schwierigen Problemen verbessert wird. Für den Tech-Investor Marc Andreessen aus dem Silicon Valley ist DeepSeek einer der „beeindruckendsten Durchbrüche“. Die Modelle von DeepSeek seien viel billiger und fast so gut wie die der amerikanischen Konkurrenz (Economist, 25.1.2025). Der Erfolg des chinesischen KI-Modells sei der „Sputnik-Moment der KI“. Die technologische Vormachtstellung der USA werde von China „in Frage gestellt“, kommentierte eine Analystin von der Handelsplattform XTB. Ein anderer Analyst erklärte, Anleger müssten jetzt Investitionen und Bewertungen “überdenken“. Die chinesischen KI-Modelle schienen „genauso gut, wenn nicht sogar besser“ als die US-Versionen zu sein.

Der Boss von Microsoft hatte bereits auf dem Weltwirtschaftsforum in Davos auf DeepSeek hingewiesen: „Das neue Modell … ist unglaublich beeindruckend, sowohl in Bezug darauf wie effektiv sie ein Open-Source-Modell entwickelt haben, das diese Berechnungen in Inferenzzeit durchführt und dabei besonders recheneffizient ist. Wir sollten die Entwicklungen in China sehr, sehr ernst nehmen.“  In den letzten Wochen war die App von DeepSeek zeitweilig auf dem ersten Platz der Downloads in den USA in Apples Plattform App Store. 

Braucht KI immer höheren Kapitaleinsatz für Chips und Energie?

Das Börsenbeben Ende Januar hat mehrere Gründe: Die effiziente Software- und Hardware-Architektur von DeepSeek stellt die bislang geltende Annahme der US-dominierten Tech-Industrie in Frage, dass KI-Entwicklungen und KI-Anwendungen immer mehr Rechenleistung erfordern. Mehr Rechenleistung bedeutet: noch mehr ultraschnelle Chips, Serverfarmen und Datenzentren mit riesigem Energieverbrauch und möglichst gleich mit angeschlossenen Kernkraftwerken für die Energieversorgung. So plant der Meta-Konzern (Facebook, WhatsApp, Instagram etc.) jetzt eine Serverfarm, die mit 350.000 der neuesten Nvidia-Chips ausgestattet ist. Ein Nvidia-Chip der jüngsten Generation kostet am Markt weit über 30.000 Dollar. Dagegen zeigen DeepSeek (und vermutlich weitere, demnächst veröffentliche chinesische KI-Modelle), dass ein ingenieurmäßiges Vorgehen mit knappen Ressourcen vergleichbare Resultate liefern kann wie Milliardeninvestitionen der Kapitalmärkte. 

Die Veröffentlichung von DeepSeeks R1 löste jedenfalls im Silicon Valley eine hitzige Debatte darüber aus, ob finanziell besser ausgestattete amerikanische KI-Unternehmen wie Meta und Anthropic ihren technischen Vorsprung verteidigen können. Vor allem fragen sich die US-Konzerne, wie es möglich sein könne, dass DeepSeek mit einem Trainingsbudget für die Algorithmen von nur 5,5 Millionen Dollar eine derart gute Produktqualität erreichen konnte. Damit könnten die aufgeblähten Geschäftsmodelle der US-Technologiekonzerne zerplatzen. Denn DeepSeek hat unter Beweis gestellt, dass komplexe KI-Anwendungen viel billiger entwickelt werden können und auch im Betrieb günstig sind. In KI investierte Unternehmen galten bislang als Rendite-Garanten und sichere Anlage. Aber darauf zu setzen, dass die Veröffentlichung von DeepSeek auch längerfristig zu einem Absatzeinbruch für KI-Chips und für KI-Anwendungen führt, wäre falsch. Denn der damit wahrscheinlich ausgelöste Prozess der Verbilligung der KI-Technologie wird dauerhaft die Verbreitung von KI und der dafür nötigen Hardware und Software fördern.

DeepSeek macht bisherige KI-Geschäftsmodelle obsolet

Bislang bieten die US-amerikanischen und europäischen KI-Anbieter ihre Produkte nicht kostenfrei, sondern als monatliche Abonnements oder Subskriptionen an. So kostet OpenAi’s ChatGPT mit einer professionellen Lizenz monatlich 200 Euro und DeepL Pro, ein Übersetzungsdienst aus Deutschland, bislang 9 Euro monatlich. Auch wenn die Einnahmen der Anbieter dieser KI-Dienstleistungen in vielen Fällen nicht mal die Kosten decken und im laufenden Geschäft noch das Geld der Investoren verbrannt wird, kann DeepSeek seine Dienstleistungen, die auf dem Sprachmodell aufbauen, jetzt zu einem Bruchteil der Preise der US-Rivalen anbieten.

Mit Ingenieurleistung die US-Chip-Sanktionen konterkarieren

Drittens steht damit offensichtlich die zentrale Annahme des bisherigen US-Wirtschaftskrieges gegen China in Frage: Ein Lieferstopp nach China für besonders leistungsfähige Chips könnte den weiteren Aufstieg des großen Rivalen verhindern oder wenigstens deutlich aufschieben. 

Das Gegenteil ist der Fall: Denn die erfolgreiche Entwicklung von DeepSeek dürfte gerade auf die US-Strafsanktionen zurückzuführen sein. In einer Kolumne für die Financial Times schrieb Angela Zhang, Professorin an der Gould School of Law der University of Southern California: „Chinas Effizienzerfolge sind kein Zufall. Sie sind eine direkte Reaktion auf die zunehmenden Exportbeschränkungen, die die USA und ihre Verbündeten verhängt haben. Indem die USA Chinas Zugang zu fortschrittlichen KI-Chips beschränkten, haben sie unabsichtlich dessen Innovation angekurbelt.“ Für Zhang, Autorin des Buchs „High Wire: Wie China Big Tech reguliert und seine Wirtschaft steuert“, ist DeepSeek unter chinesischen Technologieunternehmen kein „Einzelfall“. Investoren sollten darauf vorbereitet sein, dass DeepSeek weitere schnelle Fortschritte in der KI-Technologie machen wird.

Liang sagte schon vor einiger Zeit in einem Interview mit chinesischen Medien, sein Unternehmen habe ausschließlich mit lokalen chinesischen Ingenieuren gearbeitet. Das Unternehmen sei mit einem Bruchteil der Nvidia-Chips ausgekommen: Nur 2.048 Nvidia H800 seien eingesetzt worden. Nvidia ist der in vielen KI-Börsenfonds am stärksten gewichtete Wert und hat vom jüngsten KI-Hype massiv profitiert. Zum Vergleich: Zuckerbergs Meta-Konzern hat nach eigenen Angaben für das Training von Llama, des neuesten Sprachmodells, 16.000 Nvidia-Chips der allerneuesten Generation eingesetzt. Sollte sich DeepSeek als intelligente Antwort auf einen plumpen Handelskrieg erweisen, könnte bei den vermeintlichen Profiteuren dieses Kriegs bald Katerstimmung herrschen.

Auch China kann Innovation, nicht nur Imitation und Kopieren

Zur Erzählung von der Überlegenheit des westlichen kapitalistischen Systems gehört die These, das Innovation letztlich nur in demokratisch verfassten Systemen gedeiht. Die Idee von der Überlegenheit des Westens und seiner Institutionen im Ringen um die Zukunft der Menschheit ist in zahllosen Publikationen und Reden wiederholt worden. Ein prominenter Verfechter ist der MIT-Ökonom Daron Acemoglu, der diese Erzählung von der Überlegenheit des westlichen, demokratisch verfassten kapitalistischen Systems auch empirisch unterlegt hat, u.a. in seinem Buch “Macht und Fortschritt”. 

Für Wissenschaft, Forschung und Entwicklung in China speziell gilt zudem das Etikett, dass Chinesen nur kopieren und imitieren, aber nicht Innovation können. Gerne wird dabei auch auf Konfuzianismus rekurriert, nach dem die Imitation eines Werkes eine besondere Ehrerbietung für den Schöpfer des Originals ist. Schon im Mai 2024, als DeepSeek erstmals ein Vorläufermodell des jetzigen Sprachmodells veröffentlichte, gab es Unglauben und Unruhe im Silicon Valley. Liang erzählte damals chinesischen Medien: “Die waren überrascht, weil plötzlich eine chinesische Firma mit Innovationen ins Spiel kam. Denn chinesische Firmen sind doch daran gewöhnt, nachzumachen statt was Neues zu schaffen.” (zitiert nach: Telepolis, 27.1.2025) 

Jetzt DeepSeek-Verbot im Westen?

Inzwischen gibt es erste Reaktionen der politischen Institutionen im sogenannten Werte-Westen auf die Herausforderung durch DeepSeek: Mit Südkorea und Australien planen die ersten Regierungen ein Verbot von DeepSeek (Nikkei Asia, 6.2.2025). Mit Wahrscheinlichkeit wird die EU folgen. Als Begründung wird immer genannt die Bedrohung der nationalen Sicherheit, weil der chinesische Staat Zugriff auf die Daten von DeepSeek habe.

Zwischen Migrationsabwehr und Arbeitskräftemangel

Sa, 08/02/2025 - 10:57

(1) Mitte 2023 wurden an der deutsch-polnischen und deutsch-tschechischen Grenze allgemeine Kontrollen eingeführt. Am 16. September 2024 wurden diese auf alle deutschen Außengrenzen ausgeweitet. Parallel zu den Grenzschließungen hat die Ampelkoalition ein umfassendes Repressions- und Abschiebeprogramm durchgesetzt: Dabei spricht es Bände, dass das „Sicherheitspaket“, das Ende Oktober verabschiedet wurde, (2) der CDU noch zu „lasch“ war – trotz seiner zahlreichen gegen Kinder- und Menschenrechte verstoßenden Aspekte: von den Kürzungen von Leistungen unter das Existenzminimum über Altersfeststellungen bei Sechsjährigen bis zu den brutalen Verschärfungen in Bezug auf die Zulassung von Abschiebehaft. Seitdem werden diese Maßnahmen, die vor allem als Reaktion auf den tödlichen Anschlag von Solingen am 23. August 2024 präsentiert wurden, in der Öffentlichkeit diskutiert. Zwar gibt es durchaus kritische Stimmen. (3) Diese klingen allerdings aktuell sehr leise. So besteht zweifellos die Gefahr, dass der Rechtsruck des Parteienspektrums mit Ausnahme der Linken sowie der Aufschwung eines gesellschaftlich weit verbreiteten Rassismus die Reste dessen killt, was vom humanitären Impuls des Grundrechts auf Asyl geblieben ist.

Antirassistische Positionen brauchen deshalb dringend Bündnispartner:innen. Aber welche Kräfte und Interessen können Rassismus und Rechtswende etwas entgegensetzen? Kann zum Beispiel ein Hinweis auf die „Nützlichkeit“ der Migration helfen? In diesem Text schlagen wir vor zu unterscheiden, wann der Hinweis auf „unsere“ Abhängigkeit von Migrant:innen eindimensional und utilitaristisch ist und somit gegenüber gesellschaftlichen Rassismen eher konstitutiv als kritisch. Und in welchen Kontexten das Argument wichtig sein kann, um humanitäre Grundsätze zu verteidigen. Ein besonderer Blick muss dabei auf die sich aktuell nach unserem Eindruck schnell wandelnden Positionen der Wirtschaftsverbände geworfen werden.

Die Krise des Schengen-Systems

Die neuen Grenzkontrollen haben eine längere Vorgeschichte: Im Sommer der Migration 2015 überwanden hunderttausende Menschen die EU-Außengrenzen und haben so den faktischen Zusammenbruch des Dublin-Systems – der Verteilung Geflüchteter auf die Mitgliedsländer – und eine Krise des Schengen-Systems – der Abschottung nach außen bei offenen Binnengrenzen – herbeigeführt. Es besteht kein Anlass, die Selbstständigkeit und den eigenen Sinn dieser Bewegung rückblickend zu romantisieren. Sie ist vielmehr umfassender zu verstehen, als „relative Autonomie“ und als Ausdruck sozialer Konflikte. (4) Es entstanden Spielräume für eine Demilitarisierung der europäischen Außengrenzen, aber diese wurden auch wieder verschlossen. So war die Zeit um 2015 nicht nur von der sogenannten Willkommenskultur geprägt, sondern die damalige Große Koalition beschloss – ebenso wie Regierungen in anderen EU-Ländern – erstmals wieder Grenzkontrollen auch im EU-Binnenraum durchzuführen. Diese fokussierten, ob in Österreich, Deutschland oder Dänemark, meist selektiv auf die Einreise aus dem Süden, während zugleich auch an den Außengrenzen der EU eine militärische Aufrüstung gegen Migrant:innen stattfand, wie etwa auf der sogenannten Balkanroute.

Damals warnte etwa die Bertelsmann-Stiftung, als bewährter Think-Tank, der zuvörderst in der Logik kapitalistischer Verwertung zu argumentieren pflegt, in einer Untersuchung in ganz drastischer Weise vor den ökonomischen Folgen von Grenzkontrollen innerhalb des Schengen-Raums. (5) Denn es werde hierdurch nicht nur die Just-in-Time-Lieferung von industriellen Zwischenprodukten, Rohstoffen und Lebensmitteln beeinträchtigt, sondern auch die Zufuhr von Arbeitskräften. Prognostiziert wurden „Schäden“, das heißt erhöhte Kosten für privatwirtschaftliche Betriebe, die sich in einigen Jahren auf eine dreistellige Milliardenhöhe aufsummierten, wobei zuerst der Logistiksektor betroffen sei, dann die Nahrungsmittelindustrie, aber auch Exportindustrien wie die Automobilbranche, die von Lieferungen aus ihrer osteuropäischen Peripherie abhängig sind. Ebenso wurden ein sinkendes Bruttoinlandsprodukt und sinkende Importe vorhergesagt.

Die kritische Würdigung der Verstöße gegen die Freizügigkeit von Waren und Kapital war damals gut nachvollziehbar, und die Position der Bertelsmann-Stiftung spiegelte durchaus eine verbreitet artikulierte Skepsis aus Unternehmerverbänden gegenüber einer Auflösung des gemeinsamen Marktes wider. Ganz dieser Position entsprechend profilierten sich etliche Großunternehmen mit „Welcome“-Initiativen gegenüber Geflüchteten, und Daimler-Chef Zetschke sprach sogar davon, dass die Fluchtbewegung 2014/15 Grundlage für ein „neues Wirtschaftswunder“ sein könne. (6) Und der Präsident der Bundesvereinigung der Deutschen Arbeitgeberverbände (BDA) warnte vor genau dem, was jetzt geschieht, Zitat: „Grenzkontrollen. Arbeitgeber warnen vor einem bösen Ende.“ (7) Auf dieser Grundlage war damals durchaus naheliegend zu glauben, dass man mit dem Hinweis auf die „Nützlichkeit“ von Migration rassistische Impulse ausbremsen konnte. Dies schien sich zu bestätigen, als sich die Prognosen über negative ökonomische Auswirkungen von Grenzschließungen 2020 unter dem Eindruck der Corona-Maßnahmen wiederholten. Auch zu dieser Zeit war die Kritik noch mehr als deutlich. In einer Kurzstudie des Instituts der Deutschen Wirtschaft (IW) hieß es beispielsweise 2021:

Die Corona-Pandemie hatte im Frühjahr 2020 zu nationalen Egoismen unter den EU-Mitgliedsstaaten geführt. Aus Angst vor der Ausbreitung von Virusmutationen führte Deutschland […] einseitig Binnengrenzkontrollen zu Österreich und Tschechien ein. Ein Vorgehen, welches weit über die deutschen Grenzen hinaus (negative) Folgen für den Güterverkehr hat, da Deutschland das logistische Herz Europas darstellt. (8)

Die BDA schloss sich dieser Warnung an. In einer Presseerklärung vom 16. Februar 2021 protestierte man vehement gegen die Einschränkung der Unternehmensfreiheit durch „Diskriminierungen“ an den deutschen Außengrenzen und forderte „Maßnahmen mit möglichst geringen wirtschaftlichen Auswirkungen“. (9) in wichtiger Aspekt blieb dabei neben der Forderung nach logistischer Mobilität die nach der Beweglichkeit von Arbeitskräften. Diese Forderung muss auch im Lichte dessen gesehen werden, dass die Grenzschließungen während der Pandemie die EU-Arbeitnehmer:innenfreizügigkeit behinderten. Die meisten migrantischen Beschäftigten kamen damals und kommen bis heute aus EU-Staaten und nicht aus Drittstaaten (bzw. sind aus geopolitischen Gründen vorläufig de facto mit EU-Migrant:innen gleichgestellt). In Reaktion auf die Proteste von Unternehmen, die immer mehr mit Arbeitskräfteknappheit zu kämpfen hatten, ließ die Bundesregierung im Frühjahr 2020 Kontingente von rumänischen und bulgarischen Arbeiter:innen für die Ernte und andere sogenannte systemwichtige Tätigkeiten zu. Im Anschluss kam es zu Konflikten um deren Arbeitsbedingungen in der Landwirtschaft und in der Lebensmittelindustrie, die zunächst in den Medien der Herkunftsländer sichtbar wurden. (10)

Man könnte vor dem Hintergrund dieser Erfahrung mithin argumentieren, dass Grenzschließungen Arbeitskräfteknappheit hervorbringen, die wiederum Konflikte um die Arbeitsbedingungen verschärft. Beides kann nicht im Interesse derjenigen Fraktionen des Kapitals sein, die entweder fast ausschließlich migrantische Arbeitskräfte vernutzen und / oder auf die Lieferung von Zwischenproduktionen „in time“ angewiesen sind. Die Forderung nach der Aufrechterhaltung der Arbeitnehmer:innenfreizügigkeit ist insofern nur konsequent. Aber muss das Kapital deshalb grundsätzlich gegen Grenzschließungen sein?

 

Dies ist ein Auszug aus dem Text “Zwischen Migrationsabwehr und Arbeitskräftemangel. Anmerkungen zur aktuellen Debatte” von Peter Birke und Janika Kuge, der auf Sozial.Geschichte Online veröffentlicht wurde. Lesen Sie den ganzen Text hier.

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(1) Dieser Text ist auf Grundlage der Frage „Sollte man mit der ‚Nützlichkeit‘ von Migrant:innen argumentieren, um die aktuelle Welle des Rassismus abzuwehren?“ entstanden, die uns in unterschiedlichen Zusammenhängen in den letzten Monaten verstärkt begegnet ist. Die Beantwortung der Frage hängt stark damit zusammen, wie man die Entwicklung eines an Verwertung orientierten Migrationssystems beurteilt, eine Diskussion, die in Sozial.Geschichte Online seit 2015 immer wieder mit ganz verschiedenen Antworten geführt wurde. Der Text hat sich – im Versuch, der Komplexität möglicher Antworten gerecht zu werden – nach einer Debatte in einem Forschungsnetzwerk zu Arbeit und Migration sowie nach der kritischen Würdigung durch die Redaktion der vorliegenden Zeitschrift – stark verändert. Viel zu diesen Veränderungen beigetragen haben neben Maren Kirchhoff auch Anita Heindlmaier und Christan Sperneac-Wolfer, wofür wir hiermit vielmals danken.

(2) Bundesregierung, Mehr Sicherheit für Deutschland, 31.10.2024, [https:// www.bundesregierung.de/breg-de/aktuelles/sicherheitspaket-der-bundesregierung-2304924].

(3) Eine gute Zusammenfassung kritischer Argumente findet sich hier: Medico International, Migration: „Wir überschreiten einen Kipppunkt“, Valeria Hänsel im Gespräch mit Maximilian Pichl, 13.9.2024, [https://www.medico.de/blog/wir-ueberschreiten-einen-kipppunkt-19665].

(4) Zum Konzept der Autonomie der Migration siehe zuerst: Manuela Bojadžijev / Serhat Karakayali / Vassilis Tsianos, Papers and Roses. Die Autonomie der Migration und der Kampf um Rechte, in: Kanak Attak, 2001, [http://www.kanak-attak.de/ka/text/papers.html].

(5) Bertelsmann Stiftung (Hg.), Abkehr vom Schengen-Abkommen. Gesamtwirtschaftliche Wirkungen auf Deutschland und die Länder der Europäischen Union, Gütersloh 2016, [https://www.bertelsmann-stiftung.de/de/publikationen/publikation/did/abkehr-vom-schengen-abkommen].

(6) Frankfurter Allgemeine Zeitung, Daimler-Chef Zetschke. Flüchtlinge könnten ein neues Wirtschaftswunder bringen, 15.9.2015, [https://www.faz.net/aktuell/technik-motor/iaa/ daimler-chef-zetsche-fluechtlinge-koennten-neues-wirtschaftswunder-ausloesen-13803671.html].

(7) Neue Osnabrücker Zeitung, Flüchtlingskrise in Europa. Grenzkontrollen: Arbeitgeber warnen vor „bösem Ende“, 23.1.2016, [https://www.noz.de/deutschland-welt/politik/artikel/ fluechtlingskrise-in-europa-grenzkontrollen-arbeitgeber-warnen-vor-boesem-ende-23419079].

(8) Thomas Obst / Thomas Puls, Corona in der EU: Wiederholen sich die Fehler aus dem Frühjahr 2020?, IW-Kurzbericht 13/2021, [https://www.iwkoeln.de/studien/thomas-obst-thomas-puls-wiederholen-sich-die-fehler-aus-dem-fruehjahr-2020-500307.html], S. 1.

(9) BDA, Presseerklärung, 16.2.2021, [https://arbeitgeber.de/offene-grenzen-im-schengen-raum-duerfen-nicht-einseitig-aufgehoben-werden/].

(10) Peter Birke, Grenzen aus Glas. Arbeit, Rassismus und Kämpfe der Migration in Deutschland, Wien / Berlin 2022, 269 f.

Gewinnentwicklung in Deutschland 2024

Mo, 03/02/2025 - 08:44

Mit den ersten, vorläufigen amtlichen Statistiken für 2024 können wir die Darstellung der Gewinneinkommen weiterführen. Die amtliche Statistik benennt diese Position als "Einkommen aus Unternehmenstätigkeit und Vermögen". Das beinhaltet als Sammeltopf alle Einkommen, die nicht (Lohn- und Gehalts-)Einkommen aus abhängiger Beschäftigung sind. Das ist völlig unbefriedigend, fallen darunter doch undifferenziert die nicht ausgeschütteten Konzerngewinne von RWE und BMW und Siemens, die Dividendenzahlungen der Konzerne, alle Arten von Sparer-Einkommen, aber auch die Einkommen und Gewinne von Autohändlern und Handwerkern, von Anwaltskanzleien und Arztpraxen, und, mehr noch, die Einkommen von Selbständigen und Freiberuflern, die häufig (grob in etwa zur Hälfte) Solo-Selbständige ohne Beschäftigte sind, oft in einer prekären wirtschaftlichen Lage: also Einzeltaxifahrer, kleine Fliesenleger, Landwirte mit familiären Mithelfern, Kioskpächter, Künstler bis hin zu quasi-selbständigen Uber- und Lieferando-Fahrern.

Derzeit werden in der Statistik etwa 3,8 Millionen Selbständige gezählt (erwerbstätig, aber nicht Arbeitnehmer). So viele waren es auch Mitte der 1990er Jahre. Von da an stieg ihre Anzahl bis 2010 auf etwa 4,5 Millionen, seither fällt sie. Viele von ihnen, die kleinen (Schein-)Selbständigen, liegen mit ihrem Arbeitsertrag noch unter dem üblichen Lohnniveau, aber ihr Einkommen ist kein Arbeitnehmer-Einkommen und wird deshalb in der Statistik in derselben Rubrik wie die Konzernprofite erfasst.

Dann muss man noch anmerken: Es handelt sich bei dieser amtlichen Statistik nicht um Bilanzdaten, das heißt, die Gewinne sind hier nicht verzerrt durch steuerbegünstigte Abschreibungsmodelle, durch Rückstellungen für spätere mögliche Ausgaben, durch steuerrechtlich erlaubte Bewertungsänderungen oder sonstige Kursänderungen: Kursgewinne von Aktien oder anderen Anlagen sind nicht Einkommen, sondern Änderungen der Vermögenspreise. Im Vergleich zur üblichen Bilanzpolitik handelt es sich hier um Realwirtschaft.

Nach diesen Vorbemerkungen – und der allgemeinen Bemerkung, dass hier wegen notorisch unzureichender statistischer Abdeckung auch eigene Schätzungen einfließen – sehen wir in Grafik 1 ein Anwachsen der Gewinneinkommen, das etliche Kerben aufweist. Das sind die Flautejahre ab 2000, die Welt-Finanzkrise 2008/09, die Corona-Krise 2020 und die aktuelle Flaute 2024. Man sieht, Gewinne sind viel stärker als Löhne und Gehälter krisenabhängig – aber sie erholen sich nach der Krise rapide.

"Die Gewinne von heute sind die Investitionen von morgen und die Arbeitsplätze von übermorgen." Das ist das konzentrierte Standardwissen von Wirtschaftskunde-Lehrern, Uni-Professoren und Bundeskanzlern. Deshalb muss die Gewinnmacherei gefördert und erleichtert werden. Was aber wird tatsächlich aus den Gewinnen (worin auch, nicht zu vergessen, die Arbeitserträge von vier Millionen arbeitenden Selbständigen mit dabei sind)? In den 1990er Jahren – siehe Grafik 1 und Grafik 2 – konnte die zitierte Sichtweise noch eine Spur Plausibilität für sich beanspruchen. Etwa 20 % der Bruttogewinne nahm die Steuer, etwa ein Drittel ging für den individuellen Konsum der Selbständigen drauf (von der Wohnungsmiete des Scheinselbständigen bis zu seiner Yacht). Der Rest wurde tatsächlich überwiegend investiert.

Die Investitionen sind hier Nettoinvestitionen im Inland, und zwar Investitionen in Sachanlagen, nicht in Finanzanlagen. Der größte Teil der Investitionen sind Ersatzinvestitionen: Wiederbeschaffung von verschlissenen Maschinen, Fahrzeugen, Ausstattungen, Fabrikgebäuden. Sie werden finanziert durch die Abschreibungen: in der Preiskalkulation ist neben Löhnen und Material immer auch ein Posten enthalten, der den laufenden Kosten für die Abnutzung der Anlagen entspricht und für ihre Wiederbeschaffung beiseitegelegt wird. Abschreibungserlöse sind Kosten, kein Bestandteil der Gewinne. Ersatzinvestitionen sind hier also nicht enthalten. Aus den Gewinnen werden – jedenfalls statistisch auf das ganze Land hochgerechnet – nur diejenigen Investitionen gezahlt, die neue Kapazitäten schaffen, also Erweiterungsinvestitionen, zusätzliche Maschinen, zusätzliche Fabriken. Das sind die Nettoinvestitionen, nur sie ermöglichen und fördern wirtschaftliches Wachstum.

Nach der Jahrtausendwende, also nach Beendigung der Integration von Ostdeutschland ins Konzerndeutschland, die verbunden war mit großen Investitionen, ändert sich das Bild der Nutzung der Gewinneinkommen massiv. Nach wie vor bleibt zwar, erstaunlich kontinuierlich, dass gut die Hälfte der Bruttoeinkommen an die Steuer und in den Konsum geht. Aber beim verbleibenden Rest sieht man, dass die Nettoinvestitionen drastisch an Bedeutung verloren. Nur ein kleiner Teil der Gewinne macht das, was das obige Zitat verspricht. Und in der aktuellen Krise, ebenso wie schon 2009, stagniert der Umfang des gesamtwirtschaftlichen Sachanlagenbestandes, es gibt keine Nettoinvestition. Wofür auch, wenn die Wirtschaft grad so dahin dümpelt.

Die Unternehmen machen aber dennoch Gewinne, also bleibt ihnen immer mehr anlagesuchendes Einkommen, das sie nicht für Investitionen brauchen. Grafik 3 zeigt das Ausmaß. Seit Anfang der 2000er Jahre bleiben Jahr für Jahr mehr als 200 Mrd. Euro übrig, seit einigen Jahren sogar mehr als 300 Mrd. Euro, wofür es keine Verwendungsmöglichkeit gibt für inländische Sachanlagen. Es sind Finanzströme, die für Finanzanlagen, Spekulationen, Aufkäufe von Konkurrenten, Aufkäufe von eigenen Aktien, irgendwelche Auslandsanlagen genutzt werden können. Grafik 3 zeigt zudem die Netto-Direktinvestitionen ins Ausland als Teil dieser freien Finanzen. Das sind Sachinvestitionen (ohne Finanzanlagen) direkt in ausländische Produktionsmittel, saldiert mit den Sachinvestitionen von ausländischen Konzernen in Deutschland. Interessant 2021 bis 2024: In diesen vier Jahren betrugen sie knapp 300 Mrd. Euro, vermutlich auch ein Resultat der oft diskutierten Abwanderung von Betrieben ins Ausland aufgrund der Energiepreis-Turbulenzen und der US-Gesetzgebung zur massiven Förderung der Verlagerung solcher Betriebe in die USA.

Grafik 3 vermittelt definitiv nicht den Eindruck, dass die deutsche Wirtschaft (gemeint ist mit den beiden Wörtern immer: das deutsche Kapital) Renditeprobleme hat und mit fürsorglicher Wirtschaftspolitik gestützt und hochgepäppelt werden muss. Wobei in diesem Bild die stark zunehmende Ungleichentwicklung innerhalb des Sektors Gewinneinkommen noch gar nicht zum Ausdruck kommt: Der Anteil, den man auf die Arbeitstätigkeit der Selbständigen zurückführen kann, nimmt im Vergleich mit der reinen Kapitalrendite ab (mehr dazu in isw-spezial 35, siehe unten).

Erinnert man sich an einstürzende Brücken, schlechte Bauzustände der Schulen, überlastetes und mies bezahltes Pflegepersonal, den unzureichenden öffentlichen Verkehr, dann verdeutlicht Grafik 3 den Widerspruch zwischen dem riesigen privaten Reichtum und die um sich greifende öffentliche Armut. Latente Wirtschaftskrise, stagnierende Reallöhne, die öffentliche Hand an der Schuldengrenze, aber die Aktienindizes feiern Rekorde um Rekorde. Verständlich: So geht marktkonforme Demokratie.

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Ausführlicher und tiefergehend dazu:

isw-spezial 35: Blackbox Gewinneinkommen. Erzeugung, Verteilung und Verwendung der Gewinne in Deutschland, September 2021

Verband der Autoindustrie will "politische Entfesselung der Wirtschaft"

Fr, 31/01/2025 - 11:18

Die Personalkosten sind nicht das Problem der Autoindustrie und ihre Senkung löst kein Problem, wie am Beispiel Volkswagen deutlich wird.

Volkswagen, Mercedes und Daimler sind keine Sanierungsfälle, sondern global agierende Autohersteller mit hoher Produktion, hohen Verkaufszahlen und mit außerordentlich hohen Gewinnen. Das bestätigt auch der VW-Vorstandschef Blume im Gespräch mit der Hannoverschen Allgemeinen Zeitung: „Die Rendite der Marke VW ist aktuell nicht besser und nicht schlechter als im Schnitt der vergangenen Jahrzehnte“. (1)

Die 750.000 Beschäftigte in der Auto- und Zulieferindustrie produzieren jährlich gut vier Millionen Fahrzeuge und erarbeiten so ihren Lebensunterhalt. Der globale Umsatz von 560 Mrd. Euro, Löhne – und damit Kaufkraft – in Deutschland von ca. 40 Mrd., Gewinne von gut 50 Mrd. Euro und Gewinnrücklagen von VW, Mercedes und BMW von 170 Milliarden Euro machen die ökonomische Macht dieses Industrieblocks aus. Die Autoindustrie hat wesentlichen Anteil am deutschen Exportüberschuss von 250 Mrd. Euro. Die Betriebe sind gewerkschaftlich gut organisiert, deshalb gibt es relativ gute Löhne, die zugleich Steuern generieren und Kaufkraft darstellen.

Warum also das Gejammere der Autobosse und des VDA? Der Verband der Automobilindustrie prognostiziert ein Minus von 190.000 Arbeitsplätzen: „Keine kleinen Schritte, sondern der große Wurf ist notwendig“, forderte die VDA-Chefin mit Blick auf eine neue Bundesregierung und die „Agenda 20230“ der CDU. Sie wollen weniger Bürokratie, niedrige Energiepreise, eine geringe Steuerbelastung, eine politische „Entfesselung“ der Wirtschaft. Stefan Wolf, der Chef von Gesamtmetall will „in Nullkommanichts“ das Lieferkettengesetz und die Datenschutzgrundverordnung abschaffen, droht ansonsten mit der AfD. (2) Die gesamte Industrie hat in den Erpressermodus umgeschaltet: Die deutschen Hersteller würden den Wettlauf um die Zukunft nicht verlieren, „der deutsche Standort ohne massive Reformen schon“, kündigte VDA-Chefin Müller an. (3)

Die Probleme der Auto- und Zulieferindustrie

Für die Autoindustrie gibt es eine besondere Konjunktur: Produktion und Absatz von Autos sind weltweit eingebrochen – immer noch minus 6 Mio. pro Jahr gegenüber 2017. Das betrifft die deutschen Hersteller VW, Mercedes BMW inkl. Töchter, am stärksten die Zulieferer. Ursächlich dafür sind

  • eine relative Marktsättigung
  • Schwächung der Kaufkraft durch niedrige Lohnabschlüsse und Inflation
  • der kaum aufzuholende Rückstand bei Digitalisierung und Elektrifizierung sowie
  • die Modellpolitik – es gibt kein kleines, preiswertes Auto aus deutscher Produktion.
  • Darüber hinaus ist das deutsche Exportmodell erschöpft. „Der Scheck aus China ist kleiner geworden“, sagen die Manager der Industrie.

Das zusammen ist weit überwiegend die Verantwortung der Industrie selbst, die den Antriebswechsel sehr zögerlich anging und teils immer noch von „Technologieoffenheit“ faselt. Zu einem kleineren Teil ist es die Verantwortung der Regierung(en), die selbst keinen Plan hatte, keine Prioritäten festlegte und sich von Lindner auch diesbezüglich vorführen ließ.

Das Ende der Wachstumsphase der Autoindustrie hat 2018 begonnen, allerdings regional unterschiedlich. Produktion und Absatz von Autos sind außerhalb Chinas eingebrochen. Im Jahr 2024 hat sich selbst in China das Wachstum verlangsamt. Mit der Expansion chinesischer Hersteller wie BYD, Geely, GWM und anderen ging der Absatz deutscher Hersteller in China drastisch zurück, Porsche zum Beispiel minus 28 Prozent. Für 2025 ist keine Trendwende in Sicht.

Mit der falschen Modellpolitik, nur große und teure Fahrzeuge anzubieten, sind die Profite kurzfristig gestiegen, aber gleichzeitig wird die Klimakatastrophe befeuert und die Mobilitätswende blockiert.

Des Pudels Kern: Die Kapitalverwertung ist schlechter geworden, die Profitrate sinkt bei allen Herstellern. Volkswagen zum Beispiel bedauert, nur 3,5 statt 10 Prozent Rendite zu realisieren. Noch im Mai 2024 wurden immerhin 4,5 Mrd. Euro für die Aktionäre ausgeschüttet. Volkswagen und die anderen Hersteller sind mit rund 170 Milliarden Euro Gewinnrücklagen alles andere als ein Sanierungsfall.

Erwerbslosigkeit steigt

Tatsächlich handelt es sich um eine Krise der Beschäftigung: 75.000 Arbeitsplätze wurden vorwiegend in den großen und kleineren Betrieben der Zulieferindustrie in den zurückliegenden Jahren gestrichen oder verlagert: bei Bosch und Conti, bei ZF und Mahle, bei hunderten kleineren Zulieferern von Autoliv bis Webasto, bei Grammer, Forvia, GKN, Magna, Michelin und Valeo. Für die kleinstädtische Struktur, die es hauptsächlich trifft, sei hier der Hersteller von Dachzubehör Profilrollen-Werkzeugbau GmbH (PWG) in Neuhaus-Schierschnitz in Thüringen mit 300 Beschäftigten genannt. Die Produktion wird nicht beendet, sondern nach China verlagert. Als Gründe nennt PWG hohen Kostendruck seitens der Kunden, also der Autokonzerne, und gestiegene Produktionskosten. Bei der Muttergesellschaft heißt es noch: „Wir verpflichten uns einen positiven Einfluss auf die Gesellschaft, Kunden, Mitarbeiter und das Ökosystem unseres Planeten zu haben.“ Für die betroffenen Familien und für die kleineren Städte und Kommunen ist es eine Katastrophe, wenn der größte Betrieb im Ort abwandert. Die Erwerbslosigkeit steigt, die Kaufkraft und die Steuereinnahmen sinken, die Kommune wird handlungsunfähig und die „Deindustrialisierung“ wird am eigenen Leibe erfahren.

Diese Verlagerungen finden ihren Niederschlag im Anstieg der Erwerbslosigkeit: 8% unbereinigt sind 3,6 Mio. Erwerbslose zu 600.000 offenen Stellen im Dezember 2024. Das ist die Begleitmusik zum Angriff auf die sozialen Rechte der Arbeiterinnen und Arbeiter: Mercedes-Chef Källenius sagt: „Es darf nicht so einfach sein, sich krank zu melden“. Der Patriarch des Porsche-Piëch-Clans lässt mitteilen: „Die Mitbestimmung ist ein Bremsklotz.“ Und der Stern schreibt: Zu lange haben VW-Arbeiter „wie Maden im Speck gelebt.“

Zum Beispiel Volkswagen

Um die Profitrate von 3,5 Prozent auf 6,5 Prozent zu erhöhen und die vorher teuer geschaffenen Überkapazitäten wieder abzubauen, kündigt der VW-Vorstand im September 2024 den Tarifvertrag zur Beschäftigungssicherung, die Entlassung von 30.000 Arbeiterinnen und Arbeitern, eine pauschale Senkung der Löhne um 10 Prozent und die Schließung von drei Werken in Deutschland an. Das löst bei den 120.000 Beschäftigten und ihren Familien große Verunsicherung und ebenso große Empörung aus. Aus dieser Empörung wuchs die Bereitschaft, das Erkämpfte zu verteidigen. Es folgten mehrere große Warnstreikaktionen mit der deutlichen Ansage der Streikbereitschaft.

Nach diesen Warnstreiks und zähen Verhandlungen vor Weihnachten 2024, bei denen die IG Metall den „Kompromiss“ als Angebot weitgehend vorweggenommen hat, wurden im Ergebnis Werksschließungen und Entlassungen abgewendet und gleichzeitig schmerzliche Zugeständnisse gemacht: Reduzierung der Ausbildungsplätze von 1.400 auf 600 und Entgeltreduzierung durch Arbeitszeitverlängerung für tausende Beschäftigte von 33 auf 35 Stunden bzw. Einbehalt von 5,5 % als „Beschäftigtenbeitrag“: In Summe mehr als 5.000 Euro brutto pro Beschäftigten und Jahr. Gleichzeitig kündigt das Unternehmen den Abbau von 35.000 Arbeitsplätzen an – überwiegend Verlagerungen aus Verwaltung und Produktion nach Polen, Indien, Türkei, Mexiko und China.

Der Betriebsrat und die IG Metall sind von der irrigen Annahme ausgegangen, Volkswagen sei ein Sanierungsfall und die Arbeiterinnen und Arbeiter müssten jetzt Beiträge leisten, um das Schiff wieder flott zu machen für die Zukunft von Volkswagen. Der IG Metall und dem Betriebsrat ist lange jedoch klar, dass nicht die Tariflöhne das Problem sind (4): „Volkswagen krankt nicht an seinen deutschen Standorten und an den deutschen Personalkosten. Volkswagen krankt daran, dass der Vorstand seinen Job nicht macht“ (5) – sicher auch als Erinnerung an die über 30 Milliarden Euro, die durch den gigantischen Abgasbetrug des Managements in den Sand gesetzt wurden. Weiter sagt Betriebsrastvorsitzende Cavallo: „Ein Menschenleben lang jede Woche aufs Neue Lottomillionär werden – das ist die Summe, die unsere Großaktionäre Porsche und Piëch allein seit 2014 an Dividende erhalten haben.“ (6) Und für die zehn Millionen Euro Jahressalär des Vorstandsvorsitzenden Blume müsste eine Arbeiterin in der Montage bei Volkswagen mehr als 200 Jahre schuften und über die 80 Millionen Euro pro Jahr für die VW-Fußballabteilung VfL wird auch nicht geredet.

Völlig zu Recht haben Betriebsrat und IG Metall aus der Geschichte heraus Eigentumsrechte und aus Krisenerfahrungen heraus Arbeitszeitverkürzung gefordert. Beides findet sich im Verhandlungsergebnis nicht wieder. Stattdessen: Ausschluss betriebsbedingter Kündigungen bis 2030, zunächst keine Schließung von Werken, jedoch Lohnsenkung unter Einbeziehung von nicht ausgezahlter Lohnerhöhung plus Streichung von Urlaubsgeld (Boni) von zusammen gut zehn Prozent oder eben 5.000 Euro brutto pro Jahr in den mittleren Entgeltgruppen. Weiter wurde eine Kapazitätsreduzierung von mehr als 700.000 Fahrzeugen pro Jahr und eine entsprechende Personalreduzierung vereinbart. Das Management geht von minus 35.000 Stellen aus. Das könnten aber auch mehr werden, wenn die geplanten Absatzzahlen und die vorgegebene Rendite nicht erreicht werden. Es bleibt mir ein Rätsel, warum die IG Metall sich auf die Senkung der Personalkosten eingelassen hat, obwohl diese doch nicht das Problem sind und also auch die Probleme nicht lösen werden und obwohl es eine große Kampfbereitschaft bei den gewerkschaftlich gut organisierten Arbeiterinnen und Arbeitern gab.

Im oben genannten Interview, das im Zuge einer Öffentlichkeitskampagne des Unternehmens ähnlich in allen Zeitungen der Region erschien, in der Gifhorner Allerzeitung mit der Überschrift „Ab 2026 geht es mit allen Konzernmarken bergauf“, sagt Blume, worum es eigentlich geht. Die Gewerkschaft sollte das und den Interessengegensatz von Kapital und Arbeit kennen, weil es in den gewerkschaftlichen Grundlagenseminaren vermittelt wird und gewerkschaftliche Vertrauensleute auf einem Transparent beim Warnstreik geschrieben haben: „Lieber Vorstand! Statt mit Krise und mit Gier – wenn ihr nicht könnt übernehmen wir.“ Blume sagt geschichtsvergesssen bezüglich der Herkunft des Geldes und des Unternehmens in oberlehrerhaftem Ton: „Wenn jemand investiert, dann möchte er eine Rendite erzielen. Der Markt für Geldanlagen ist groß: Ich kann in Unternehmen investieren, ich kann mein Geld zur Bank bringen und Zinsen bekommen. Als Investor überlege ich mir, wo mein Geld am besten angelegt ist. Wenn ich den Investoren jetzt erzähle, dass wir ihnen die Rendite kürzen, dann droht ein Vertrauensverlust, Investoren könnten sich zurückziehen. Das muss jeder wissen, der scharfe Einschnitte bei Dividenden fordert. Wir brauchen gerade jetzt in dieser Phase eine Verbindlichkeit für Investoren, damit sie weiterhin zu uns stehen.“ An anderer Stelle verteidigt er den milliardenschweren Einstieg von Audi in den Rennzirkus der Formel 1 und lobt die Entwicklung synthetischer Kraftstoffe als Weg, am Verbrennungsmotor festzuhalten. (7)

Gänzlich unverständlich das Schönreden eines Abschlusses, den man als Niederlage bezeichnen muss und die trotzige Ansage von Cavallo im neuen Jahr: „Willkommen in der Automobilindustrie im Jahr 2025. Um uns herum in der Branche werden Standorte dichtgemacht und Beschäftigte betriebsbedingt gekündigt.“ (8) Die Lohnkürzungen finden die Arbeiterinnen und Arbeiter weniger schön, allerdings wäre eine dauerhafte Gehaltskürzung von zehn Prozent die Alternative gewesen, so die Betriebsratschefin – als gäbe es keine andere Alternative, als gäbe es keine Bereitschaft für die sozialen Rechte zu kämpfen. Unverständlich auch, dass sie sich in dieser Situation mit den Größen der SPD zeigt, für diese wirbt und sich als „Niedersächsin des Jahres“ von einem Unternehmerblättchen auszeichnen lässt. (9)

Das Verhandlungsergebnis: Betriebsrat und IG Metall auf „Produktrenditen“ festgelegt

Es gibt das Verhandlungsergebnis vom 20.12.2024 und einen neuen Zukunftstarifvertrag vom 1.1.2025.

  • Im Verhandlungsergebnis wird zunächst der von der IG Metall gekündigte Entgelttarifvertrag wieder in Kraft gesetzt. Das ist der Verzicht auf eine Entgelterhöhung seitens der Gewerkschaft, außer für die Auszubildenden, deren Vergütung zum 1.3.2025 um 140 Euro je Ausbildungsjahr steigt.
  • Im Punkt zwei geht es um die „Beiträge der Beschäftigten“. Vereinbart wurde, eine fiktive Lohnerhöhung von 5,5 Prozent und eine ebenso fiktive Einmalzahlung von 600 Euro „als Beitrag der Beschäftigten“ auszusetzen. Für die Kalenderjahre 2027 bis 2030 besteht Einigkeit, dass die Aussetzung der Erhöhung als Beitrag der Beschäftigten von der Volkswagen AG zum sozialverträglichen Personalabbau, zur Ermöglichung von Arbeitszeitabsenkungen mit Entgeltausgleich sowie im Rahmen der Transformation für Qualifizierungsmaßnahmen genutzt wird. Hiermit wird der geplante Personalabbau bis 2030 sozialverträglich umgesetzt.“ Das Unternehmen plant also einen Personalabbau von 35.000 Personen, und dieser Abbau wird mit nicht ausgezahlten Löhnen der Arbeiterinnen und Arbeiter finanziert. Zu den vorenthaltenen monatlichen Zahlungen kommen noch jährliche Beträge hinzu, nämlich die bis 2030 reduzierte Maizahlung (Ergebnisbeteiligung) und das gleichermaßen reduzierte Urlaubsgeld. Für die unteren Entgeltgruppen wurde eine Ausgleichszahlung vereinbart.
  • Im dritten Punkt wurde die Angleichung der Arbeitsbedingungen bzw. der Arbeitszeit vereinbart. Konkret bedeutet dies für tausende Arbeiterinnen und Arbeiter, die vor 2005 eingestellt wurden, eine Arbeitszeitverlängerung von 33 auf 35 Stunden pro Woche nicht mit analoger Entgelterhöhung, sondern einem „Kompensationsbeitrag“ von 600 bzw. 800 Euro im Jahr. Zur Umsetzung dieser Vereinbarung müssen Entgelttarifverträge, Arbeitszeittarifvertrag und Manteltarifvertrag überarbeitet und neu formuliert werden.
  • Im Punkt vier wurde ein Zukunftstarifvertrag vereinbart mit Inkrafttreten ab 1.1.2025 und der Ausschluss betriebsbedingter Kündigungen bis einschließlich 2030 (ohne Nachwirkung, da sind sie genau). Der bis dahin gültige „Zukunftstarifvertrag“ mit seitens des Unternehmens nicht eingehaltenen Produktzusagen für die einzelnen Standorte, z.B. den Transporter in Hannover oder der ID.3 in Zwickau, wurde sang- und klanglos „ohne Nachwirkung“ beendet. Die Koppelung von Beschäftigungssicherung und dem Rückfall auf die Regelungen, die vor dem 1.1.1994 galten, wurden ebenso sang- und klanglos beendet. Es würde zu weit führen, das jetzt im Detail zu erläutern – aber da steckt richtig viel Geld dahinter.
  • Schließlich wurde im Punkt fünf wurde vereinbart, ein neues „modernes“ Entgeltsystem zum 1.1.2027 in Kraft zu setzen, mit dem, von der Gewerkschaft als „Obergrenze“ bezeichnet, die Personalkosten um sechs Prozent reduziert werden sollen. Das gilt zunächst für dann neu Eingestellte Arbeiterinnen und Arbeiter. Die anderen erhalten eine halbe „Besitzstandswahrung“, bei der 1,5 Prozent künftiger Lohnerhöhungen auf diesen „Besitzstand“ angerechnet werden. Tagespauschalen für höherwertige Tätigkeiten entfallen ersatzlos – die Flexibilität des „Humankapitals“ wird maximal auf alle Standorte des Konzerns ausgedehnt. Dieser drastische Griff in das Portemonnaie der Arbeiterinnen und Arbeiter summiert sich dann mit den oben beschrieben Kürzungen auf weit mehr mehr als 10 Prozent Entgeltreduzierung.
  • Ganz zum Schluss des Verhandlungsergebnisses wird mitgeteilt, dass die Anzahl der Ausbildungsplätze von 1.400 „bedarfsgerecht“ auf 600 pro Jahr reduziert werden. Damit ist der historische Tiefstand von nur noch zwei Prozent Ausbildungsplätzen in der VW AG erreicht. Der Jammer um den angeblichen „Fachkräftemangel“ in der Industrie, der immer ein Mangel an Ausbildung durch die Unternehmen war, ist damit vollständig als Propaganda entlarvt.

Im neuen Zukunftstarifvertrag ist in § 2.4 formuliert, dass bei Abweichungen von der geplanten Belegschaftsentwicklung die Betriebsparteien in Gespräche über weitere Maßnahmen zur Zielerreichung eintreten. Alles ist offen, nichts ist sicher.

Dann werden in § 3 wieder „Standortzusagen“ gemacht. Im § 3.1.2 sind die Bedingungen formuliert: „Erforderlich sind Standortvereinbarungen zur Werksbelegung, Planstückzahl, Kompetenzentwicklung, Fabrikkostenziele, Belegschaftsentwicklung und Produktrenditen. Diese enthalten verbindliche Zusagen.“

Im § 4 wird festgelegt, dass alle Produktzusagen im Wettbewerb ausgeschrieben und erst einmal in interner und externer Konkurrenz „gewonnen“ werden müssen. Dabei werden alle Entscheidungen „mit Priorität darauf geprüft, ob sie an den Standorten wettbewerbsfähig dargestellt werden können.“ Das Gewinnen aller Standortvereinbarungen ist die Voraussetzung dafür, dass nicht mehr als die geplanten 35.000 Arbeiterinnen und Arbeiter überflüssig und freigesetzt werden.

Schließlich gibt es eine Revisionsklausel: Bei wesentlichen Änderungen der Grundannahmen oder der wirtschaftlichen Rahmenbedingungen während der Laufzeit des Tarifvertrages bis zum 31.12.2023 verpflichten sich die Tarifvertragsparteien zu Überprüfungsgesprächen. „Die Tarifvertragsparteien erörtern dabei die notwendigen Maßnahmen unter Einschluss sozialpolitischer Instrumente.“ Nochmals: Alles ist offen, nichts ist sicher.

Kritische Solidarität mit der IG Metall

Von Christiane Benner, Erste Vorsitzende der IG Metall, kamen zu Beginn klare Worte: „Die Nachrichten aus Wolfsburg sind dramatisch. Und unsere Reaktion darauf ist deutlich: Die Beschäftigten stehen nicht mit Lohneinbußen oder ihrem Arbeitsplatz dafür ein, dass ihr (das Management) jahrelang die falschen Entscheidungen getroffen habt.“ (10) Das Missmanagement hat in den zurückliegenden Jahren wirklich viele Milliarden gekostet: Mehr als 30 Milliarden Euro alleine für den gigantischen Abgasbetrug, darüber hinaus die teure und unsinnige Planung für eine „Gigafactory“ (Trinity) vor den Toren Wolfsburgs, der Auf- und Abbau der Software-Tochter Cariad, die falsche Produktstrategie, das Risiko bei der Batterieproduktion mit Northvolt und schließlich die teuren Einstiege bei Rivian und Xpeng mit der trügerischen Hoffnung, die Technologieführerschaft wieder zu gewinnen.

Dennoch: Die IG Metall und der Betriebsrat standen bei dieser Auseinandersetzung unter erheblichem Druck des Kapitals. Das Management und vor allem der Porsche-Piëch-Clan meinten es sehr ernst damit, die Produktion umfangreich dorthin zu verlagern, wo höhere Profite erzielt werden können. Sie wollen sich mit der Rendite von 3,5 Prozent nicht zufrieden geben. Dazu erpressen sie die Regierungen in Bund und Land. Dazu wollen sie die Mitbestimmung des Betriebsrates schleifen und den Einfluss der Gewerkschaft zurückdrängen. Die etwas unklaren Verhältnisse seitens der IG Metall im Aufsichtsrat von Volkswagen, Jörg Hofmann sitzt dort noch immer drin, werden vom Management geschickt ausgenutzt.

Wenn man sich auf die Logik des Kapitals einlässt, dass Wachstum und maximale Profite Voraussetzung für alles andere sind, dann hat man sich schon dem Diktat des Kapitals unterworfen. Stolz verkündet VW-Chef Blume im oben genannten Interview mit der HAZ: „Das Ergebnis der Tarifverhandlungen liegt genau im Zielkorridor, um die Marke VW robust für die Herausforderungen der Zukunft aufzustellen.“ Die Beendigung der Produktion im Werk in Dresden, die unsichere Perspektive für das Werk in Osnabrück und die größeren Lasten, die im Werk Zwickau zu tragen sind, liegen dann wohl „genau im Zielkorridor“. Klaus Lang kritisiert das als „verheerende Ostvergessenheit“ auch der Politik: „Ein Manko des Kompromisses besteht darin, dass die VW-Standorte im Osten einen größeren Teil der Last zu tragen haben.“ (11)

Die besondere Mitbestimmung auf Grundlage des Volkswagengesetzes – das zu erläutern würde den Rahmen dieses Textes sprengen – hat nicht gewirkt bzw. reicht nicht aus bei solch erpresserischen Vorgehen des Kapitals. Das reicht vor allem deshalb nicht aus, weil das Land Niedersachsen sich mehr dem Unternehmensinteresse verpflichtet fühlt als den Interessen des Landes und den Interessen der Menschen im Betrieb und in den Kommunen. Die Landesregierung nutzt ihren Anteil am stimmberechtigten Kapital von Volkswagen und ihre zwei Mandate im Aufsichtsrat nicht, um strategische Entscheidungen zu beeinflussen. Ganz anders der Porsche-Piëch-Clan, der sich die Mehrheit ergaunert hat und diese brutal zur Vermehrung des eigenen Reichtums nutzt.

Wenn man sich, wie die Regierung und leider auch die IG Metall, auf die Logik und das Diktat des Kapitals einlässt, kommen Zukunftsbilder wie Wirtschaftsdemokratie, Arbeitszeitverkürzung statt Überstunden und Personalabbau oder eine Konversion der Produktion gar nicht erst zum Vorschein.

Die doppelte Katastrophe vor dem Kollaps

Immer mehr Autos können angesichts der Klimakatastrophe, der Verstopfung der Städte und der begrenzten Ressourcen nicht die Lösung sein. Helfen würde die Auflösung des Widerspruchs, dass einerseits in der Auto- und Zulieferindustrie wegen der Überkapazitäten Personalabbau und Werksschließungen anstehen, andererseits die Schienenfahrzeughersteller wegen zu geringer Kapazitäten mit der Lieferung von Triebwagen und Waggons nicht hinterherkommen. Dabei liegt die Lösung auf der Hand: Die Autoindustrie muss nicht weiter subventioniert werden (auch nicht durch Lohnverzicht), stattdessen muss kräftig in den ÖPNV investiert und die Kapazitäten für den Schienenfahrzeug- und Busbau müssen ausgebaut werden. Solche Konversion ist möglich, wie an den leider negativen Beispielen des schnellen Aufbaues von Rüstungsschmieden ablesbar ist. Tatsächlich gibt es Spekulationen darüber, dass Rheinmetall und andere Waffenproduzenten sich die Fabriken von Ford in Saarlouis, Conti in Gifhorn und Volkswagen in Osnabrück mit großem Interesse anschauen. Aber der Bedarf an anderen Produkten ist groß. Wärmepumpen statt Autoteile, Solarkollektoren statt Reifen, smarte Busse statt Panzer, Straßenbahnzüge statt SUV – das ist doch mindestens so schnell machbar wie die Produktion von Kriegsgerät. Die Konversion der Mobilitätsindustrie ist voraussetzungsvoll – es braucht einen gesellschaftlichen Konsens, politischen Willen und viel Geld für den Umbau. Mit der Schuldenbremse funktioniert das allerdings nicht und unter dem Diktat des Kapitals funktioniert es ebenfalls nicht. Der § 2 in der Satzung der IG Metall, gestützt auf die Artikel 14 und 15 unseres Grundgesetzes, ist doch mehr als eine ferne Erinnerung an die allgemein kapitalismuskritische Lage nach der Befreiung vom Faschismus: „Erringung und Sicherung des Mitbestimmungsrechtes der Arbeitnehmer und Arbeitnehmerinnen im Betrieb und Unternehmen und im gesamtwirtschaftlichen Bereich durch Errichtung von Wirtschafts- und Sozialräten; Überführung von Schlüsselindustrien und anderen markt- und wirtschaftsbeherrschenden Unternehmungen in Gemeineigentum.“ (12)

Um einen gesellschaftlichen Konsens zur Mobilitätswende zu erreichen, muss sich die Gesellschaft, müssen sich die relevanten Akteure von der Fixierung auf die Autoindustrie lösen. Die Krise mit Massenentlassungen und Werksschließungen macht die Perspektivlosigkeit dieser Fixierung deutlich. Die Aufgabe besteht darin, die Autoindustrie zu schrumpfen und gleichzeitig die Industrien auszubauen, die für den tatsächlichen gesellschaftlichen Bedarf und gegen die Klimakatastrophe produzieren. Strategische Industriepolitik auf Basis einer bedarfsorientierten Investitionsplanung wäre nötig für gute Arbeit und ein gutes Leben für alle. Wichtige Instrumente sind dabei Wirtschaftsdemokratie, Beteiligung der Arbeiterinnen und Arbeiter an den Entscheidungen und eine kollektive Arbeitszeitverkürzung in Richtung einer Drei- oder Vier-Tage-Woche, der kurzen Vollzeit für alle und Zeit für reproduktive Tätigkeiten. Es ist eine gesellschaftliche Aufgabe, für Beschäftigte in der Autoindustrie, deren Arbeitsplätze durch den notwendigen Umbau wegfallen, neue Arbeitsplätze zur Verfügung zu stellen. Der Übergang zu neuen Arbeitsplätzen muss durch einen Rechtsanspruch auf bezahlte Umschulung und soziale Garantien abgesichert werden. Das zusammen bedeutet eine Abkopplung vom Wachstumszwang, einen Ausstieg aus der globalen Konkurrenz, in der Menschen und Länder gegeneinander in Stellung gebracht werden.

 

Bertolt Brecht: Lob der Dialektik

Das Unrecht geht heute einher mit sicherem Schritt.
Die Unterdrücker richten sich ein auf zehntausend Jahre.
Die Gewalt versichert: So, wie es ist, bleibt es.
Keine Stimme ertönt außer der Stimme der Herrschenden.
Und auf den Märkten sagt die Ausbeutung laut:
Jetzt beginne ich erst.
Aber von den Unterdrückten sagen viele jetzt:
Was wir wollen, geht niemals.

Wer noch lebt, sage nicht: niemals!
Das Sichere ist nicht sicher.
So, wie es ist, bleibt es nicht.
Wenn die Herrschenden gesprochen haben,
Werden die Beherrschten sprechen.
Wer wagt zu sagen: niemals?
An wem liegt es, wenn die Unterdrückung bleibt? An uns.
An wem liegt es, wenn sie zerbrochen wird?
Ebenfalls an uns.
Wer niedergeschlagen wird, der erhebe sich!
Wer verloren ist, kämpfe!
Wer seine Lage erkannt hat, wie soll der aufzuhalten sein?
Denn die Besiegten von heute sind die Sieger von morgen,
Und aus Niemals wird: Heute noch!

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Quellen

1 HAZ-Gespräch mit Oliver Blume, 22. Januar 2025

2 https://www.welt.de/wirtschaft/article255159152/Arbeitsmarkt-Die-Industrie-wird-noch-deutlich-mehr-Arbeitsplaetze-verlieren.html?icid=search.product.onsitesearch

3 https://www.handelsblatt.com/unternehmen/industrie/industrie-vda-chefin-deutschland-kann-zukunft-als-auto-standort-verlieren/29370036.html

4 https://www.igmetall.de/tarif/tarifloehne-sind-nicht-das-problem

5 https://www.igmetall.de/im-betrieb/vw-sparkurs-standortschliessungen-und-stellenabbau-drohen

6 BR-Vorsitzender Daniel Cavallo, https://www.igmetall.de/metallzeitung-epaper/januar-februar-2025/#8

7 https://www.waz-online.de/lokales/wolfsburg/vw-chef-oliver-blume-darum-geht-es-fuer-den-konzern-ab-2026-bergauf-7ABIGCLDWJC3PLGNZROXHHMC3Y.html

8 https://www.msn.com/de-de/finanzen/personalwesen/vw-mitarbeiter-hoffnung-geplatzt-cavallo-knallhart-willkommen-im-jahr-2025/ar-AA1xggPR

9 https://www.rundblick-niedersachsen.de/die-wuerfel-sind-gefallen-daniela-cavallo-ist-die-niedersaechsin-des-jahres-2024/

10 https://www.igmetall.de/im-betrieb/vw-sparkurs-standortschliessungen-und-stellenabbau-drohen

11 Express – Zeitung für sozialistische Betriebs- und Gewerkschaftsarbeit 1-2025, https://www.express-afp.info/

12 https://www.igmetall.de/download/20231222_IGM_Satzung_2024_232da4272e6e85e92c762acbccd45acb4569dafd.pdf

Rentenversicherung in China: Rentenalter erhöht. Aber Absicherung im Alter nur für eine Minderheit

Mi, 29/01/2025 - 12:42

Falls sie überhaupt davon Notiz genommen haben, dürften sich jetzige und künftige Rentner in Deutschland über die gerade in China verkündete Rentenreform gewundert haben. Dort hat die Regierung, der Staatsrat beschlossen, dass das gesetzliche Rentenalter ab 2025 von derzeit 55 Jahren für angestellte Frauen (50 für Arbeiterinnen) und 60 für Männer schrittweise auf 63 Jahre angehoben wird. Auch nach der Anhebung des Rentenalters, der ersten Reform seit fast 70 Jahren, ist China mit einer ähnlichen Lebenserwartung wie in Westeuropa in puncto Rentenalter immer noch ein Arbeitnehmerparadies. Das gilt zumindest für die meisten Beschäftigten in den Städten.

Aber es gibt krasse Unterschiede zwischen den Beschäftigten, die als Stadtbewohner registriert sind, und den etwa 300 Millionen Arbeitsmigranten oder Wanderarbeitern, die schon viele Jahre in den Städten arbeiten und leben, aber offiziell immer noch Landbewohner sind Schließlich lebt ein Drittel der Bevölkerung oder ca. 450 Millionen Menschen immer noch auf dem Land. Ein Beispiel für die Unterschiede zwischen Stadt und Land bzw. mit städtischem oder ländlichem Hukou, also der Registrierung als Stadtbewohner bzw. als Landbewohner: Über 60% der Frauen mit städtischem Hukou gehen mit 50 bzw. 55 Jahren in Rente. Von den Frauen, die formal auf dem Land registriert sind, dagegen nur 30%. Hauptgrund dafür sind die unterschiedlichen Rentenansprüche ("Challenges and concerns surrounding China's retirement age reform”, China Labour Bulletin, 12.7.24, unter: clb.org.hk).

Einige Arbeiter schlugen nach der Ankündigung der Regierungsentscheidung in den sozialen Medien vor, das Rentenalter für Angestellte gleich auf 80 (!) Jahre zu erhöhen. Für Arbeiter dagegen sollte es generell auf 50 abgesenkt werden. Denn ein Arbeiter über 45 würde nur noch schwer einen Job finden, bei dem der Arbeitgeber auch für die Rentenversicherung zahlt. Arbeiter besonders im prekären Jobs sind gegen die Anhebung des Rentenalters, weil sie länger arbeiten und mehr in die Rentenversicherung einzahlen müssen. Sie befürchten, dass ihre Rentenansprüche nicht sicher sind.

Von Maos Barfußärzten und der “eisernen Reisschüssel” zur Marktwirtschaft

Zu Zeiten Maos bis Ende der 70er Jahre gab es für Arbeiter, Angestellte und Staatsbeamte in den Städten die sogenannte “eiserne Reisschüssel” mit lebenslanger Beschäftigung und garantierten Renten. Sie mussten keine Sozialabgaben zahlen und gingen mit Erreichung des Rentenalters in Rente, die auch die medizinische Versorgung umfasste. 

Auf dem Land war nach der Kollektivierung der Landwirtschaft in den 50er Jahren die kooperative medizinische Versorgung ein Grundpfeiler der sozialen Sicherung: Sie kombinierte kollektive Ressourcen und Beiträge der Landbevölkerung für eine medizinische Grundversorgung und erreichte Ende der 1970er Jahre eine umfangreiche Abdeckung. Das System der »Fünf Garantien« leistete eine soziale Grundversorgung für alle Landbewohner, damit sie nicht durch das soziale Netz fielen. Die »Fünf Garantien« beinhalteten die Versorgung mit Nahrungsmitteln, Kleidung, Unterkunft, die medizinische Versorgung und die Kosten für eine Beerdigung. Die kollektiven Strukturen der Landwirtschaft hatten eine wichtige Schutzfunktion und erleichterten die Bereitstellung von öffentlichen Gütern. Der Staat und die öffentliche Verwaltung spielten in diesem subsidiär organisierten System nur eine begrenzte Rolle.

Die Ende der 70er Jahre begonnenen Wirtschaftsreformen von Deng Xiaoping – die Einführung der Marktwirtschaft, die Zulassung von Privatunternehmen und die Öffnung für ausländisches Kapital, die Privatisierung der Landwirtschaft und die Lohnarbeit auf Basis von Arbeitsverträgen – erschütterten die Grundlagen der bisherigen Systeme der sozialen Sicherung.

In den Städten, der Machtbasis der Kommunistischen Partei, ließ die Regierung die soziale Sicherung nicht einfach zusammenbrechen. Ihre Institutionen bestanden fort, aber funktionierten immer schlechter. Die Versicherung der Arbeiter erfasste nur den öffentlichen Sektor. Mit dem Aufstieg der Privatwirtschaft führte das zu sinkendem Versicherungsschutz der städtischen Bevölkerung. Denn Beschäftigte in Privatunternehmen waren in der Regel nicht versichert, was diesen einen erheblichen Kostenvorteil gegenüber dem Staatssektor verschaffte. Staatsunternehmen und genossenschaftliche Unternehmen beklagten zudem die ungleiche Verteilung der Kosten der sozialen Sicherung, weil es kein überbetriebliches Pooling gab: Schon lange existierende Firmen mit älteren Belegschaften hatten höhere Aufwendungen für Renten und medizinische Versorgung als jüngere Unternehmen. (Thomas Heberer/Armin Müller: “Chinas gesellschaftliche Transformation“, Studie der Friedrich-Ebert-Stiftung, 2017, abrufbar unter: fes.org)

In den 1990er Jahren erfüllten auch immer weniger staatliche Unternehmen die zugesagten Versicherungsleistungen. Unter dem Diktat des Marktes und mit betriebswirtschaftlichen Kennzahlen wurde Chinas Staatssektor mit harter Hand saniert. Unzählige Staatsbetriebe wurden geschlossen, andere wurden fusioniert mit dem Ziel, auf dem Weltmarkt konkurrenzfähige Konzerne zu entwickeln. Ca. 40 (!) Millionen Beschäftigte im Staatssektor wurden freigesetzt. Damals gab es in China keine Arbeitslosenversicherung und kein System der Sozialhilfe.

U.a. mit Anleihen bei europäischen Systemen der Sozialversicherung und mit verschiedenen regionalen Experimenten entwickelte die chinesische Regierung dann bis zur Jahrtausendwende ein von Arbeitgebern und Arbeitnehmern finanziertes Sozialversicherungssystem, das in erster Linie Arbeiter und Angestellte mit Arbeitsverträgen in den Städten erfasste. Neben der Rentenversicherung umfasst die Sozialversicherung auch die Krankenversicherung, die Arbeitslosenversicherung, den Schutz bei Invalidität und Unfällen. Die Rentenfonds werden bis heute meist auf Provinzebene verwaltet.

Dieses System erreichte allerdings bei weitem nicht alle Einwohner, die als Städter registriert sind. Die Implementierung konzentrierte sich zunächst auf den öffentlichen Sektor, während private Unternehmen bei der Einführung zögerlicher waren. Die vielen Millionen Arbeitsmigranten, die nach der Privatisierung der Landwirtschaft und nach der Aufhebung der strikten Zuzugskontrollen in die Städte strömten, waren nur teilweise in die Sozialversicherung integriert. Sie hatten oft Schwierigkeiten, die ihnen zustehenden Leistungen auch wirklich zu bekommen.

Heute gehen die meisten städtischen Beschäftigten mit Erreichung des Rentenalters auch in Rente. Viele nehmen auch die Frühverrentung in Anspruch – entweder aus gesundheitlichen Gründen oder aufgrund gefährlicher Arbeitsbedingungen (was nach verschiedenen Studien sehr lax ausgelegt wird). Auch im Rahmen von Personalabbau-Programmen der Staatsunternehmen wurde eine Frühverrentung angeboten.

Die durchschnittliche Rente lag 2023 für Chinesen, die als Stadtbewohner registriert sind, bei monatlich 3.300 RMB. Das ist auskömmlich angesichts der Tatsache, dass die meisten Wohneigentum haben. Beschäftigte staatlicher Institutionen erhalten deutlich höhere Renten – über 7.000 RMB monatlich. 

Auf dem Land nur geringe steuerfinanzierte Basisrente, aber Krankenversicherung

Auf dem Land wurde mit der Privatisierung, mit dem System der sogenannten Haushaltsverantwortung, die kollektive Landwirtschaft aufgegeben. Familien bewirtschaften heute die ihnen zugeteilten Parzellen, die formell weiter im Kollektivbesitz sind. Die Privatisierung verlieh der landwirtschaftlichen Produktion einen gewaltigen Schub, setzte gleichzeitig aber viele Millionen Arbeitskräfte frei. Die Privatisierung senkte auch die Fähigkeit ländlicher Regierungs- und Parteiorgane, für die soziale Sicherung zu sorgen. Mit dem Ausbleiben finanzieller und politischer Unterstützung durch die höheren Staatsebenen brach das System der medizinischen Versorgung auf breiter Front zusammen. Denn das System der »Fünf Garantien« war stark von der Lage der kommunalen Haushalte in Dörfern und Gemeinden abhängig. Die Familie wurde wieder der Garant der sozialen Sicherung, was zunächst durch steigende ländliche Einkommen gestützt wurde.

Aber in den 1990er Jahren wurde immer deutlicher, dass die Familien damit überfordert waren. Viele Alte in den Dörfern waren vom Altersarmut bedroht. Krankheit war die häufigste Ursache der Verarmung ländlicher Haushalte.

Der Aufbau neuer Versicherungssysteme auf dem Land wurde zunächst unter der Maßgabe finanzieller Subsidiarität betrieben, also was sich die Kommunen und Dörfer leisten konnten. Das war aber kein Konzept, um die zunehmende Verarmung der Landgebiete zu stoppen. Es waren Chinas Bauern, die durch ihre Arbeit, ihr Mehrprodukt die Grundlagen für den neuen Reichtum in den Küstenregionen, für das Entstehen einer neuen riesigen Mittelschicht und für Chinas Millionäre und Milliardäre geschaffen hatten. Eindrucksvoll ist die Darstellung der Lage der Bauern in dem Buch von Chen Guidi und Wu Chuntao: “Zur Lage der chinesischen Bauern “ (Frankfurt 2006).

Das erste große Programm war die neue kooperative Krankenversicherung, deren Implementierung 2003 begann und bis 2008 in allen Landkreisen Chinas erfolgt war. Offizielles Ziel war die Bekämpfung krankheitsbedingter Armut. Vor allem sollten finanzielle Schocks aufgrund schwerer Erkrankungen und von Krankenhausaufenthalten abgefedert werden. Durch einen ländlichen Hukou, die Bescheinigung, Bewohner in einem bestimmten Dorf zu sein, war die Mitgliedschaft in der kooperativen Krankenversicherung gegeben.

Der Aufbau einer ländlichen Rentenversicherung startete 2009. Die Rentenversicherung für die Landgebiete besteht zum einen aus einer Basisrente, die vor allem aus Steuern finanziert wird, und aus individuellen Rentensparkonten. Auf die Rentensparkonten werden individuelle Beiträge, kollektive Unterstützungszahlungen sowie Zuschüsse der Lokalregierungen eingezahlt. Die ländliche Rentenversicherung war zunächst als Ergänzung zur Absicherung durch Familie, die Bewirtschaftung des kollektiven Bodens und die Sozialhilfe gedacht. Das Mindestniveau der Basisrente wurde 2009 bei monatlich 55 RMB festgelegt, umgerechnet etwa 8 €, weit unter den Lebenshaltungskosten auch auf dem Land. 2023 lag die Durchschnittsrente auf dem Land bei 173 RMB monatlich. Den ländlichen Versicherungssystemen folgten jeweils städtische Varianten. Die sollen die von der Sozialversicherung für Arbeitnehmer nicht erfassten Stadtbewohner abdecken, also Familienmitglieder ebenso wie Beschäftigte im privaten oder informellen Sektor.

Es gibt also ein landesweites System einer sehr niedrigen Basisrente, das nicht nur die Menschen auf den Dörfern umfasst. Die Basisrente gilt auch für die Beschäftigten im informellen im privaten Sektor und auch für die Arbeitsmigranten, sofern sie keinen Anspruch auf die viel höhere städtische Rente haben. 

Wanderarbeiter: ohne Arbeitsvertrag kein Anspruch auf gesetzliche Rente 

Die meisten Arbeitsmigranten sind froh, wenn sie einen Arbeitsvertrag haben und in Betrieben arbeiten, die in das Sozialversicherungssystem einzahlen. Denn dann haben sie nach 15 Jahren Zahlungen in die Rentenkasse einen Rentenanspruch bei Erreichung des gesetzlichen Rentenalters. Aber sie haben wenig Informationen darüber, wie die Arbeitnehmer- und Arbeitgeberbeiträge kalkuliert sind, welche Rente sie erhalten und wie sie ihre künftige Rente maximieren können. Die meisten zahlen nur den Mindestbeitrag. Da es in der Regel keine Tarifverhandlungen auf Unternehmens- oder Betriebsebene gibt, können auch keine höheren Arbeitgeberbeiträge ausgehandelt werden.

Nach Daten des Ministeriums für soziale Sicherheit von 2017 waren Arbeitsmigranten nicht angemessen in der städtischen Rentenversicherung repräsentiert. Weniger als ein Viertel der Arbeitsmigranten landesweit zahlten selbst und über ihre Arbeitgeber Beiträge in die städtische Rentenversicherung ein, die ein viel höheres Leistungsniveau hat als die Basis-Rentenversicherung.

Denn die meisten Arbeitsmigranten haben keinen Arbeitsvertrag. Das bedeutet, dass die Arbeitgeber nicht zu ihrer Rentenversicherung beitragen müssen und dass ihre Arbeitsjahre nicht zählen für die mindestens 15 Jahre Beitragszahlung, damit ein Anspruch auf die gesetzliche Rente besteht. Nach Daten von 2017 des Nationalen Statistikbüros (seitdem gibt es keine Daten mehr) hatten überhaupt nur 35% der Arbeitsmigranten einen Arbeitsvertrag.

Im Bausektor ist das Problem besonders akut. Bis zur Immobilienkrise, die seit 2021 auf der Volkswirtschaft lastet, war der Bausektor ein wesentlicher Treiber für den Arbeitsmarkt, gerade auch für ungelernte und angelernte Arbeiter. Das ist jetzt vorbei. Informelle Arbeit ist weit verbreitet, die meisten Arbeiter haben keine Arbeitsverträge. Viele müssen sich als Tagelöhner verdienen, die morgens an den Ausfallstraßen auf die LKWs der Baufirmen warten und verzweifelt nach Arbeit suchen. Die Unternehmer können die Löhne drücken und sparen sich die Sozialabgaben. Diese prekären und informellen Jobs haben keinerlei gesetzlichen Schutz. Viele Arbeitsmigranten arbeiten über das gesetzliche Rentenalter hinaus, weil sie nur minimale Rentenansprüche haben. 2020 lag der durchschnittliche Rentenanspruch bei 173 RMB pro Monat, während die Beschäftigten in den Städten durchschnittlich 3.300 RMB pro Monat als Rente kassierten.

Auch die Beschäftigten in Chinas wachsenden Dienstleistungssektor, besonders in der Plattform-Ökonomie, werden vom gegenwärtigen System der Sozialversicherung praktisch nicht erfasst. Nach Schätzungen soll es inzwischen bis zu 200 Millionen Arbeitnehmer in diesem Sektor geben. Vergleichbar den Wanderarbeitern arbeiten diese flexiblen Beschäftigten meist ohne Arbeitsvertrag. Sofern sie einen Arbeitsvertrag haben, zahlen die Arbeitgeber nicht in die Rentenkasse ein. Nach Daten der International Labour Organisation ILO halbierte sich von 2018 bis 2021 die Zahl der Beschäftigten der Lieferdienste mit Arbeitsvertrag auf nur noch 20%, während die Zahl der Lieferkuriere ohne jeden Vertrag auf 42% angestiegen war. Auch nach einer Studie über die soziale Absicherung der Plattform-Arbeiter in den Städten Peking, Chengdu und Hangzhou waren nur 20% über den Arbeitgeber rentenversichert. 

Altersarmut programmiert? 

Aufgrund der enormen Unterschiede bei den Rentenansprüchen ist klar, dass viele Arbeiter und Angestellte in den Städten weit über das Rentenalter von jetzt 60 Jahren (für Männer) hinaus arbeiten müssen. Sie erhalten zwar eine Rente, aber die ist minimal.

Aber weil sie über das Rentenalter hinaus arbeiten, können sie nach dem Gesetz keine Arbeitsverträge mehr abschließen. Diese Widersprüche in der Gesetzgebung sind gut für die Arbeitgeber: Ohne Arbeitsvertrag sind sie nicht verpflichtet, Sozialversicherungsabgaben zu zahlen. Die Betroffenen müssen mit Dienstleistungsverträgen auf Baustellen, als Sicherheitskräfte oder als Putzkräfte arbeiten. 2024 haben verschiedene chinesische Städte die Altersgrenze für Taxifahrer auf 65 angehoben. Noch zwei Jahre vorher sollten Taxifahrerinnen in Sichuan schon ihre Lizenz verlieren, wenn sie 50 wurden. Jedenfalls können diese älteren Taxifahrer*innen keine Arbeitsverträge mehr abschließen, weil sie das Rentenalter erreicht haben. Das gleiche Problem hatten die älteren Putzkräfte in der U-Bahn von Shenyang: Sie konnten nicht mehr in die Rentenversicherung einzahlen, wenn sie 50 oder älter waren. Die U-Bahn-Gesellschaft erklärte, man wolle Rentenbeiträge zahlen, dürfe es nach dem Gesetz aber nicht.

Auch die gegenwärtig schwierige Wirtschaftslage in China beeinflusst die Rentenzahlungen und damit die künftigen Rentenansprüche. Das China Labour Bulletin mit Sitz in Hongkong berichtet immer wieder von Fällen besonders aus dem Perlfluss-Delta, der größten Fabrik-Konzentration weltweit. Firmen zahlen jahrelang keine Rentenbeiträge – manchmal mit stillschweigender Duldung der zuständigen Regierungsbehörden. Erst bei der Fabrikschließung und Verlagerung z.B. nach Indonesien kommt der massive Sozialbetrug heraus. Als die betroffenen Beschäftigten das lokale Arbeitsamt der Stadtregierung kontaktierten, mussten sie feststellen, dass die nationalen Gesetze zur Sozialversicherung auf der lokalen Ebene nicht umgesetzt werden. Bei einer anderen Fabrikschließung im Perlfluss-Delta wurden die Beschäftigten vor die Alternative gestellt, entweder auf die noch ausstehenden Löhne zu verzichten oder auf die Arbeitgeberbeiträge zur Rentenversicherung.

Angesichts der aktuell schwierigen Wirtschaftslage in China kürzen viele Beschäftigte selbst ihre Beiträge zur Rentenversicherung und zahlen nur noch den Mindestbeitrag. Oder sie zahlen nur so lange Beiträge, bis sie nach 15 Jahren Beitragszahlung die Mindestrente erreicht haben. In der Privatwirtschaft ist die Beitragszahlung auch bei abhängig Beschäftigten Privatsache, wird also nicht vom Arbeitgeber erledigt.  Viele Selbständige oder z.B. Lieferkuriere der Plattform-Ökonomie zahlen überhaupt keine Beiträge mehr zur Sozialversicherung oder nur noch für die Basis-Krankenversicherung. Sie überlegen, wieder Beiträge zur Sozialversicherung zu zahlen, wenn sie es sich leisten können. Das bedeutet, dass weitere Millionen Beschäftigte in den Städten gar keine oder nur eine winzige Rente bekommen werden, während die meisten Städter gut abgesichert in die Rente gehen. 

Wirksame Alterssicherung derzeit nur für eine Minderheit

Eine effektive, staatlich garantierte Alterssicherung bleibt einer Minderheit in China vorbehalten. Gesellschaftlich wirkt dieses System damit eher regressiv als progressiv, es erhöht die soziale Ungleichheit. Die Expansion der sozialen Sicherungssysteme seit über 20 Jahren hat zwar dafür gesorgt, dass der allergrößte Teil der Bevölkerung zumindest eine kleine Absicherung für das Alter und gegen die Folgen von Krankheit, Unfällen etc. hat. Doch die Absicherung ist in ihrem Umfang beschränkt. Ein effektives Sozialsystem aufzubauen, ist eine der zentralen Herausforderungen für die Transformation des chinesischen Wirtschaftssystems und für die gesellschaftliche Entwicklung der kommenden Jahrzehnte.

Allein das Rentenalter zu erhöhen, löst nicht die Probleme der Rentenversicherung. Aufgrund ihrer schwierigen wirtschaftlichen Lage sind hunderte Millionen Chinesen in den Städten und auf dem Land derzeit gezwungen, auch nach dem Eintritt in das Rentenalter weiterzuarbeiten. Ob das gesellschaftlich erwünscht und notwendig ist, ist die eine Frage. Die andere ist offensichtlich, wie das Rentensystem – trotz der volkswirtschaftlichen Beschränkungen, die noch kein allgemein höheres Rentenniveau ermöglichen – unter Einbeziehung der Beschäftigten und der Gewerkschaften so gestaltet werden kann, dass es transparenter und egalitärer wird.

Derzeit wird von der chinesischen Regierung nach US-amerikanischen Modell auch eine staatlich geförderte kapitalgedeckte Rente als sogenannte dritte Säule der Rentenversicherung propagiert. Sie sei besonders geeignet für kleine Unternehmen und Selbstständige. Die erste Säule umfasst die Rentenversicherung für die Stadtbewohner und die steuerfinanzierte Basisrente für die Landgebiete. Die zweite Säule ist eine von Arbeitgebern (und Arbeitnehmern) finanzierte Betriebsrente.

Aber wie Chinas früherer Finanzminister Lou Jiwei in einer Rede kürzlich zugeben musste, haben Experimente in reichen Küstenprovinzen mit Finanzprodukten für kapitalgedeckte Renten noch nicht den von der Regierung erwünschten Zuspruch gefunden. Das mag auch daran liegen, dass die versprochenen Vorteile bei der Steuer irrelevant sind, weil die meisten Chinesen ohnehin keine oder kaum Einkommensteuer zahlen. Seit Ende 2024 wird das System landesweit eingeführt. Immerhin sollen inzwischen 60 Millionen Chinesen in eine kapitalgedeckte Rente investieren. Der Markt ist so riesig, dass auch die Allianz dabei ist.

Trumps Triumph

Mi, 22/01/2025 - 12:06

Nach dem Wahlsieg fiel vor allem eins auf: wieviel besser das Trump-Lager diesmal vorbereitet war. Man vollzog die Verkündung der Personalentscheidungen mit einiger Cleverness. Trump hatte nicht bloß die Stimmen der multiethnischen Arbeiterklasse zu signifikanten Teilen gewonnen, sondern auch gelernt, die abgestandene Sprache der (links-)liberalen Identitätspolitik gegen seinen am Boden liegenden Gegner zu wenden. Genüsslich imitierte er bei der Ernennung von Susie Wiles die Rhetorik der »firsts« – »first black president«, »first woman«, »first openly gay«. Die 67 Jahre alte Managerin der Kampagne, zudem Lobbyistin für zuletzt 42 Konzerne, wird als Stabschefin im Weißen Haus tätig sein: »Susie« werde die »erste Frau in der Geschichte der Vereinigten Staaten, die das Amt bekleiden wird«. Eine Kooptation der Sprache seines Gegners, die das ganze Elend des progressiven Neoliberalismus bloßlegt, der den Fortschritt nicht anhand materieller Verbesserungen misst, sondern anhand symbolischer Repräsentation.

Entsprechend schwer tat sich die linksliberale Blase auch damit, dass Trumps designierter Finanzminister Scott Bessent nicht nur ein marktradikaler Milliardär, sondern der erste offen homosexuelle Mann in diesem Amt sein wird. Bessent sei »seine Community offenbar egal«, echauffierte sich das Portal LGBTQNation über dessen Bereitschaft, »für die LGBTQ+-feindlichste Regierung aller Zeiten zu arbeiten«. Der Gedanke, dass Bessent womöglich einer anderen, sehr viel entscheidenderen Community angehört, nämlich der Gemeinschaft der Milliardäre, lag offensichtlich fern. Was die betrifft, wird er in guter Gesellschaft sein. Mindestens 13 Milliardäre rücken am 20. Januar in höchste Regierungsämter.

Loyalität oder Ideologie?

Einer der Strippenzieher bei der Kabinettsbildung war Howard Lutnick, ein Milliardär und alter Freund Trumps. Mit Blick auf die erste Trump-Regierung sprach Lutnick von »Anfängerfehlern«, die es nun zu vermeiden gelte. In den Medien wurde viel über die Personalie Robert F. Kennedy Jr. gesprochen, der als Coronaskeptiker neuer Gesundheitsminister werden soll. Die Aufregung verdeckte eine wichtigere Frage: die nach dem Motiv der Akquise. War uneingeschränkte Loyalität zu Trump das entscheidende Kriterium oder ideologische Reinheit? Tatsächlich hat Trump viele Gefolgsleute um sich geschart, die sich als treue Weggefährten erwiesen haben. Zu ihnen gehören die designierten Chefs Lee Zeldin (Umweltschutzbehörde), Russell Vought (Bundeshaushaltsbehörde), John Rat­cliffe (CIA) und Brooke Rollins (Landwirtschaftsministerium) sowie die designierte Generalstaatsanwältin Pam Bondi und Elise Stefanik, designierte UN-Botschafterin der USA.

Bondi stammt aus der Tea-Party-Bewegung und ist regelmäßig bei Fox News zu Gast. Als Generalstaatsanwältin in Florida stellte sie ein Betrugsverfahren gegen Trump ein, den sie später als Anwältin vertrat. Zeldin wiederum hat Trump schon während des ersten Amtsenthebungsverfahrens vom Dezember 2019 vertreten. Als republikanischer Abgeordneter hatte er sich vor allem für die Verschärfung des Abtreibungsrechts sowie für eine proisraelische Politik eingesetzt, jetzt soll er die Umweltschutz­behörde übernehmen, und das heißt: sie systematisch schrumpfen und entmachten.

Die entscheidende Personalie unter den Trump-Loyalen ist Vought. Der antikommunistische Kulturkrieger erwarb sich in der ersten Trump-Regierung als Chef des »Office of Management and Budget« Loyalitätspunkte, indem er der von Trump nicht anerkannten Biden-Regierung den Zugang zur ständigen Verwaltung versperrte. Jetzt soll er auf seinen Posten zurückkehren. Dort dürfte der nach eigener Aussage »christliche Nationalist« den Kulturkampf in den Bundeshaushalt tragen. Im Februar 2018 sprach er im Senat davon, dass »Muslime nicht bloß theologisch defizitär«, sondern als »Ungläubige«, die Jesus nicht als Sohn Gottes anerkennen würden, auch »verdammt« seien. Nach seinem Ausscheiden gründete er das »Center for Renewing America«, das sich dem Kampf gegen die »Critical Race Theory« verschrieben hat, und war eine zentrale Figur beim »Project 2025«.

Wall Street vs. Industrie

Für die Hegemoniefähigkeit des Trump-Projekts ist die wirtschaftspolitische Ausrichtung entscheidend. Seit der neoliberalen Wende wird darüber im Finanzministerium entschieden, bei Scott Bessent also. Die ersten Schritte zu seinem Milliardenvermögen machte er als Mitarbeiter von George Soros. So war Bessent an der berüchtigten Spekulation beteiligt, die auf einen herbeigeführten Kursverfall des britischen Pfunds wettete. Der Gewinn betrug eine Milliarde US-Dollar. Bessent war auch mit an Bord, als das Finanzunternehmen eine ähnliche Operation gegen den japanischen Yen unternahm. Seine Anteile an der Beute nutzte er für die Gründung eines eigenen Hedgefonds, der »Key Square Group«, die nicht nur engen Kontakt zu Soros hielt, sondern wie dieser auf die Demokraten setzte. So trat Bessent als finanzieller Unterstützer von Al Gore, Hilary Clinton und Barack Obama in Erscheinung, ehe er 2016 die Trump-Kampagne mit Beträgen im hohen zweistelligen Millionenbereich finanzierte.

Als Repräsentant des Finanzkapitals sorgt sich Bessent vor allem um die Profite der Wall Street. Mit seiner Person könnte, wie schon 2016, die Perspektive einer dauerhaften Einhegung Trumps durch das globale Finanzkapital verbunden sein. Seine wirtschaftspolitische Ausrichtung ist entsprechend eher neoliberal und marktradikal: Senkung von Steuern für Konzerne und Superreiche durch Haushaltsdisziplin (soziale Kürzungsmaßnahmen und Austerität), expansive Geldpolitik und Offenheit für Industriesubventionen vor dem Hintergrund der Konkurrenz mit China. Handelspolitisch hingegen warnt Bessent im Interesse des Finanzkapitals, das auf global uneingeschränkte Mobilität angewiesen ist, vor dauerhaftem Protektionismus durch Außenhandelszölle, da sie die Börsenkurse beeinträchtigen könnten. Auf die nach seinem Wahlsieg in die Höhe geschossenen Kurse ist auch Trump stolz, weil sie für ihn persönliche Bereicherung bedeuten und die Vermögensanhäufung des oberen einen Prozents ihm als Messlatte seines politischen Erfolgs gilt.

Zugleich aber hat Trump im Wahlkampf die Einführung eines 20-Prozent-Grundzolls gegen alle Staaten der Welt und einen Zoll von 60 Prozent auf alle Warenimporte aus China versprochen. Aus Sorge um das Finanzkapital, dem er angehört, hat Bessent beschwichtigt, die 20-Prozent-Grundzollforderung sei lediglich ein »negotiating ploy«, um mit der Androhung von Handelsbeschränkungen verbesserte Handelsbindungen, Extraprofite durch verstärkte Patentregelungen und höhere Rüstungsausgaben seitens der NATO-Verbündeten zu erzwingen.

Auch diesmal hat Trump im Wahlkampf argumentiert, dass Importbeschränkung ein Machthebel sei. Zollpolitik als Waffe passt auch in sein Verständnis von Verhandlungen und seine Präferenz für bilaterale Deals. Zugleich hat er versprochen, dass die Zollerhöhungen die Senkung der Unternehmenssteuer und des Spitzensteuersatzes gegenfinanzieren sollen (statt wie nach 2017 die Staatsschulden und das Haushaltsdefizit dramatisch zu erhöhen). Womöglich zeichnet sich hier also ein Richtungsstreit ab, der dann auch einer mit Lutnick sein wird, der das Amt des Handelsministers ausüben wird. Im Gegensatz zu Bessent sieht Lutnick in Schutzzöllen die Grundlage für allgemeinen Wohlstand. Auch er ist Milliardär. Mit Trump verbindet ihn eine lange New Yorker Businessgeschichte.

Lutnicks Kapitalfonds »Cantor Fitzgerald« setzt auf Investment in Immobilien und den Handel mit US-Staatsanleihen, wofür er die Lizenz vom Staat hat. Auch vor diesem Hintergrund erklärt sich, dass der künftige Handelsminister eher die Interessen des binnenorientierten Industriekapitals vertritt, das vor seiner mangelnden Wettbewerbsfähigkeit am Weltmarkt geschützt werden soll. Die Schutzzollpolitik ist von Trump und Lutnick immer wieder im Namen der Arbeiterklasse bemüht worden, als Mittel zum Erhalt von Arbeitsplätzen. Der rechte Protektionismus hat einen wahren Kern, der ihn überhaupt erst plausibel macht, weil er im Gegensatz zum alten Neoliberalismus das Primat der Politik über die Wirtschaft zurückfordert. Zugleich ist dieser Wirtschaftsnationalismus eine gefährliche Illusion, weil Reindustrialisierung und das Anlocken von Auslandskapital mittels der Kombination von hohen Außenhandelszöllen und »Local Content«-Lieferkettenregelungen, verbunden mit neoliberalen Steuersenkungen und der Eliminierung von Umwelt- und Arbeitsschutzmaßnahmen, nie zum Gemeinwohl führen können. Eine solche Politik wird das »verlorene Paradies« der 1950er und 1960er Jahre, das die »Make America Great Again«-Ideologie nostalgisch herbeiruft, nicht wiederherstellen.

Trotzdem wirkt das Schutzzollversprechen als süßes Gift. Der Lebensstandard der US-Arbeiterklasse ist abhängig von Importen günstiger Konsumgüter aus den Entwicklungsländern. Die Entmachtung der Gewerkschaften im Westen und die daraus folgenden sinkenden Lohnquoten wurden ab den 1980er Jahren faktisch nur durch diese Form der Globalisierung des Kapitalismus kompensiert. Schutzzölle treffen nun aber eine ökonomisch verwundbare Arbeiterklasse, die sich die Teuerung der Importgüter nicht leisten kann. Sollte sich also der starke Lutnick-Flügel in der Trump-Administration durchsetzen, wird die Arbeiterklasse, die Trump zu großen Teilen gewählt hat, die Steuersenkungen bezahlen. Für eine nachhaltige Bindung der Klasse an Trump und die Republikanische Partei spricht das nicht.

Im Juni 2024 warnten 16 Wirtschaftsnobelpreisträger – darunter Joseph Stiglitz und Edmund S. Phelps – in einem offenen Brief, dass Trumps Schutzzollpolitik die Inflation »wieder anheizen« werde. Trotz Differenzen seien sie überzeugt, dass Bidens »Wirtschaftsagenda« mit ihrem Fokus auf »Infrastrukturinvestitionen, nationale Industrieproduktion und Klimaschutz« der Agenda »von Donald Trump weit überlegen« sei. Eine Studie der Volkswirte Kimberly Clausing und Mary Lovely bezifferte die zu erwartenden Einkommensverluste pro Privathaushalt auf 2.600 US-Dollar im Jahr, sollte es zur Einführung von 60-Prozent-Schutzzöllen auf alle Waren aus China und von 20-Prozent-Außenhandelszöllen auf Waren aller anderen Länder kommen. Das Peterson Institute for International Economics stellte für 2026 eine Inflationsrate von 6 bis 9,3 Prozent in Aussicht statt 1,9 Prozent, sollte Trump neben seiner Schutzzollpolitik auch die angekündigten Massendeportationen von mehr als zwölf Millionen Menschen ohne Aufenthaltsgenehmigung durchführen. Das würde zu einem erheblichen Arbeitskräftemangel in der Landwirtschaft führen.

China im Visier

Ein möglicher Kompromiss zwischen dem Bessent- und Lutnick-Flügel zeichnet sich ab, insofern Bessent zwar kritisch gegenüber dem dauerhaften Grundzoll von 20 Prozent ist, aber den Handelskrieg gegen China durchaus führen will. In einem Interview mit Bloomberg News vom August 2024 verknüpfte er seine Beteuerung, dass Zölle nur »einmalige Preisanpassungen« seien, mit der Aussage, dass sie ausschließlich gegen China gerichtet sein werden. Denkbar, dass er damit der Stärke des wirtschaftsnationalistischen Flügels Rechnung trägt. Lutnick weiß vor allem den Schattenpräsidenten Elon Musk auf seiner Seite, der als 486 Milliarden US-Dollar reicher Marktradikaler den Bundeshaushalt drastisch zusammenkürzen will und von Trump auch mit entsprechenden Kompetenzen versehen worden ist. Musk stellte sich nach den Wahlen auf Lutnicks Seite: In einem Tweet schrieb er, dass Bessent eine »Weiter-so-Wahl« sei.

Weitere Verbündete von Lutnick sind Jamieson Greer, der den Präsidenten in Handelsfragen berät, und Trumps oberster persönlicher Berater Peter Navarro. Der emeritierte Ökonom Navarro hat in Trumps erster Regierung zunächst den »Nationalen Handelsrat« des Weißen Hauses geleitet und anschließend das »Office of Trade and Manufacturing Policy«, das die wirtschaftsnationalistischen Kräfte in der Regierung als besondere Bastion neu geschaffen hatten. Greer wiederum war in der ersten Trump-Regierung als Stabschef des damaligen Handelsbeauftragten Robert Lighthizer für die Schutzzollpolitik gegen China und die Neu­verhandlung des Nordamerikanischen Freihandelsabkommens (NAFTA) zuständig.

Die Wirtschaftspolitik der USA ist darauf geeicht, den Wirtschaftskrieg gegen China noch einmal zu intensivieren. Womit die USA ihren relativen Abstieg als Hegemonialmacht aufzuhalten und die Verschiebung des weltwirtschaftlichen Schwerpunkts in den globalen Süden zu blockieren suchen. In diesem Ziel haben Demokraten und Republikaner Konsens. Wie auch im Ziel einer Reindustrialisierung, das schon von Obama ausgegeben wurde. Während die Biden-Regierung aber eine Mischung aus Schutzzöllen, Konkurrenz bei der Elektro­revolution und außenpolitische Einkreisungspolitik favorisierte, sehen die Trump-Republikaner den Kampf um die E-Revolution offenbar als verloren an und setzen eher auf das alte fossile Kapital und neoliberale Steuerpolitik zur Stärkung der Verbrenner produzierenden Autokonzerne.

Diese Orientierung teilt auch die neue Regierung. Energieminister wird Chris Wright, CEO von Liberty Energy, dem mit einem Marktwert von 3,2 Milliarden Euro zweitgrößten Frackinggas-Konzern Nordamerikas. Wrights persönliches Jahreseinkommen 2023 betrug 5,6 Millionen US-Dollar. Für Trump spendete er 228.390 Dollar. Wright leugnet, dass es eine Klimakrise gibt und betont, dass »wir uns nicht in der Mitte einer Energiewende befinden«. Sein erklärtes Ziel ist, die Maßnahmen der Biden-Regierung – einschließlich der Beschränkungen für CO2-Emissionen – rückgängig zu machen. Unter Wright und Trump werden die USA voraussichtlich auch wieder aus dem Pariser Klimaabkommen austreten.

Entscheidend wird sein, wie stark Trumps Bruch mit Bidens allgemeiner Konjunktur- und Infrastrukturpolitik ausfällt. Im Wahlkampf stellte er sich gegen deren tragende Säulen. Aber auch 2016 hatte er sich im Wahlkampf zunächst gegen Obamas Gesundheitsreform ausgesprochen, um »Obamacare« in seiner Amtszeit dann doch fortzuführen. Gegen die Fortsetzung der fiskalisch expansiven Wirtschaftspolitik wird Trump wohl von Stephen Miran beraten werden, dem designierten Chef des »Council of Economic Adviser«. Miran, »Senior Strategist« des großen Kapitalanlegers »Hudson Bay Capital Management«, arbeitete bereits von 2020 bis 2021 für die Trump-Regierung und den damaligen Finanzminister Steven Mnuchin. Er war in dieser Zeit ein Kritiker der Konjunkturpolitik der US-Notenbank in Reaktion auf die durch die Coronapandemie verschärfte Rezession.

Konfrontation statt Isolationismus

Die Zeichen stehen auf Konfrontation. Darauf deuten nicht nur die Personalentscheidungen in der Wirtschafts- und Finanzpolitik hin, sondern auch die in der Außenpolitik. Hierfür steht zunächst einmal der designierte Außenminister Marco Rubio. Wirtschaftspolitisch fügt sich der frühere Präsidentschaftskandidat nahtlos in die marktradikale Ausrichtung ein. Lange trat er als Freihändler in Erscheinung und engagierte sich für – das Kapitalprofite gegen demokratische Entscheidungen absichernde – Investitionsschutzabkommen »Trans Pacific Partnership«. Dann aber zeigte er sich als Unterstützer des Wirtschaftskriegs gegen China. 2017 setzte er sich dafür ein, dass der US-Staat chinesische Beteiligungen an US-Hightechfirmen im Namen der nationalen Sicherheit verbieten darf. Wenig später war er Mitinitiator eines parteiübergreifenden Briefs an das Heimatschutzministerium, das die zuständigen Minister zu einer Verschärfung der Sanktionspolitik gegen Huawei aufforderte. Außerdem legte Rubio eine Gesetzesinitiative vor, die Trumps Exekutivanordnung kodifizieren sollte, damit Huawei und andere chinesische Konzerne als eine Gefahr für die nationale Sicherheit vom amerikanischen Markt ausgeschlossen werden konnten. Im November 2018 warnte er in einem offenen Brief an Trump vor einer vermeintlichen Infiltration der Medien und Hochschulen durch Chinesen, um dann, wenige Wochen später, auch auf schärfere Maßnahmen zur Sanktionierung von europäischen und anderen internationalen Konzernen zu drängen, die Handel mit China treiben. Zudem forderte er im Februar 2019 weitere Gesetze, die chinesische Investitionen in den USA einschränkten und mit Sondersteuern belegten. Dem Finanzkapital warf er im Mai 2021 vor, »das kommunistische China zu unterstützen« und schwadronierte über eine ominöse »Linkswende unserer Konzerne und des Finanzsektors«. Im März 2023 forderte Rubio, dass zum Schutz der US-Industrie China der Status als normaler Handelspartner entzogen werde.

Keine Koexistenz mit »Barbaren«

Der Wirtschaftskrieg wird auch bei Rubio mit einer Politik der militärischen Einkreisung verknüpft, Regime-Change-Strategien eingeschlossen. Während der Hong-Kong-Proteste von 2014 und von 2019/2020 gab er dem unverhohlen Ausdruck. 2017 drängte er zusammen mit 16 weiteren Kongressabgeordneten auf die Verabschiedung des »Global Magnitsky Act«, nach dem chinesische Staatsbürger wegen Chinas Uigurenpolitik in Xinjiang sanktioniert werden können. Im Januar 2021 hatte Rubio Erfolg, als die von ihm vorgelegte Gesetzesvorlage »Uyghur Forced Labor Prevention Act« vom Kongress angenommen wurde, obwohl sich die Lage in der Provinz in den letzten Jahren entschärft hatte, Terroranschläge zurückgegangen, Straßenblockaden aufgehoben und »Internierungslager« aufgelöst worden waren. Nicht erfolgreich war Rubio ein Jahr später mit einer Gesetzesvorlage, die den mehr als 100 Millionen Mitgliedern der chinesischen Kommunistischen Partei verbieten sollte, in die USA einzureisen. Die ebenfalls 2022 in China ausgetragenen Olympischen Winterspiele verurteilte Rubio und bezeichnete die Volksrepublik als ein »genozidales Regime des Bösen«.

Die militärische Flanke der neuen Block­konfrontation führt dabei über den Weg der Aufweichung der Ein-China-Politik. Die Biden-Regierung hat hier bereits wesentliche Schritte unternommen. Dazu gehörten erstens die Reise Nancy Pelosis nach Taipeh im August 2022, zweitens die mehrfache Betonung des Präsidenten, man werde Taiwan gegen eine chinesische Invasion nicht nur mit Waffen und Geld, sondern auch eigenen Truppen verteidigen, und drittens die im November 2023 beschlossene direkte Finanzierung der US-Aufrüstung Taiwans durch den US-Steuerzahler. Rubio geht noch weiter und plädiert offen für die Unabhängigkeit Taiwans. Insofern nun die Volksrepublik mit dem Status quo gut leben kann, weil Festlandchina und Taiwan wirtschaftlich eng verflochten sind und die Guomindang heute die wirtschaftliche Verflechtung der Insel mit der Volksrepublik befördern, die chinesische Regierung aber ein mit US-Waffen, womöglich atomaren Mittelstrecken­raketen, aufgerüstetes Taiwan nicht akzeptieren kann, stehen die Zeichen in dieser Frage auf Sturm.

Auch andere Weltregionen betreffend gilt Rubio als Falke. Etwa beim Embargo gegen Kuba oder in Bezug darauf, ob es in der Ukraine zu einem Einfrieren des Konflikts kommt. Der USA-China-Konflikt, der Bedeutungsverlust des Westens und der Aufstieg des globalen Südens haben das Potential für rasch eskalierende Stellvertreterkriege in vielen Weltregionen. Das gilt auch für den Nahen Osten. Die Nominierung von proisraelischen Hardlinern wie der UN-Botschafterin der USA, Elise Stefanik, oder dem Sondergesandten für den Nahen Osten, Steve Witkoff, sendet entsprechende Signale. Auch der künftige Außenminister ist für seine besonders harte Haltung gegen die Palästinenser bekannt. Zu letzterer gehören die Ablehnung der Zweistaatenlösung – Rubio bezeichnet sie als »eine Anti-Israel-Position« –, seine Zustimmung zur Anerkennung Jerusalems als Israels neuer Hauptstadt und die Unterstützung der rechtsextremen israelischen Regierung bei ihrer Kriegspolitik nach den terroristischen Anschlägen der Hamas vom 7. Oktober 2022. Angesprochen auf die israelischen Kriegsverbrechen und die hohe Zahl an Ziviltoten im Ergebnis der KI-gestützten Kriegführung sagte Rubio gegenüber CNN: »Ich glaube nicht, dass irgend jemand von Israel erwarten kann, mit diesen Barbaren (im Original: savages, jW) zu koexistieren oder irgendeinen diplomatischen Kompromiss zu finden (…). Sie müssen ausgerottet werden.«

Rubios Außenpolitik wird komplettiert durch den prominenten Fox-News-Kommentator und designierten Verteidigungsminister Peter ­Hegseth. Vor seiner Tätigkeit als Talkshowmoderator bei Trumps Lieblingssender war Hegseth Teil des Wachpersonals im berüchtigten US-Foltergefängnis Guantánamo. Als Fox-News-Kommentator und Trump-Unterstützer war er es, der Trump 2019 zur Begnadigung von angeklagten und verurteilten US-Kriegsverbrechern ermutigte, darunter Eddie Gallagher, der für die versuchte Tötung von Zivilisten sowie die Ermordung eines minderjährigen Kriegsgefangenen unter Anklage stand. In seinem Buch »American Crusade. Our Fight to Stay Free« sprach sich Hegseth, der über enge Kontakte zu neonazistischen Gruppen verfügt, für einen »heiligen Krieg in der gerechten Sache der Freiheit« aus, wobei sein Verständnis von Freiheit die Abschaffung der »linken« Demokratie impliziert, da er davon ausgeht, dass der Gegensatz von links und rechts – Demokraten sieht Hegseth als »Feinde« der Freiheit an – sich nicht im politischen Prozess lösen lasse. Konkret prophezeite Hegseth für den Fall einer Wahlniederlage Trumps eine »nationale Scheidung« und plädierte für einen Militärputsch zugunsten Trumps: Polizei und Militär würden »in einer Form von Bürgerkrieg« gezwungen sein, »sich zu entscheiden«. Sein Buch sei in diesem Sinne auch als Grundlegung »der Strategie« gedacht, »die angewandt werden muss, um Amerikas innere Feinde zu besiegen«.

Im Amt will Hegseth nun nicht nur den »Wokeism im Militär« bekämpfen. Die Öffnung des Militärs für Homosexuelle betrachtete er lange als Teil einer »marxistischen« Agenda, heute wendet er sich nur noch gegen Transpersonen. Zugleich vertritt er die Position, dass »der Zionismus und Amerikanismus die Frontlinie der westlichen Zivilisation und Freiheit in der Welt« seien. Hegseth vertritt die rechtsextreme Great-Replacement-Theorie, nach der der Islam plane, Europa und Amerika zu erobern – im Bündnis mit dem Säkularismus. In Hegseth hat die Netanjahu-Regierung daher einen engen Verbündeten bei ihren Plänen, den Iran anzugreifen. »Das kommunistische China« wiederum, sagte Hegseth im Mai 2020, wolle »unsere Zivilisation beenden« und schaffe sich ein Militär, das »die Vereinigten Staaten von Amerika besiegen will«.

Deportation und Säuberungen

In der Innenpolitik, zu der wesentlich die geplanten Deportationen und die politischen Säuberungen gehören, gibt es ebenfalls Personalien, die es in sich haben. Trumps Beauftragter für Grenzschutz wird erneut der ehemalige Polizist Tom Homan. Homan ist ein Verfechter der Deportationspolitik und hat den »sanctuary cities« den Kampf angesagt. Als »Grenzzar« schon während der Obama- und dann in der ersten Trump-Administration war er Verfechter einer Politik, die Kinder an der Grenze von ihren Eltern trennte und sie separat in Abschiebegefängnissen internierte, um damit potentielle Einwanderer abzuschrecken. Nach Ende der ersten Trump-Regierung wurde er Fox-News-Kommentator und hat wesentlich am »Project 2025« und den darin enthaltenen Massendeportationsplänen mitgearbeitet.

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Quelle: Ingar Solty: Trumps Triumph? Gespaltene Staaten von Amerika, mehr Nationalismus, weitere und neue Handelskriege, aggressive Geopolitik. Eine Flugschrift, Hamburg: VSA-Verlag 2025. Wir veröffentlichen diesen redigierten Auszug mit freundlicher Genehmigung von Autor und Verlag.

Trumps zweite Amtszeit: Wie US-Oligarchen Medien in Europa kontrollieren wollen

Di, 21/01/2025 - 11:12

Am 20. Januar 2025 übernahm Donald Trump zum zweiten Mal das Amt des Präsidenten der Vereinigten Staaten übernehmen. Vor vier Jahren rief er noch zum Sturm auf das Weiße Haus auf, mehrere Menschen starben. In wenigen Tagen betritt er ganz offiziell den Amts- und Regierungssitz der USA, und die ganze Welt schaut zu. Denn was in den USA passiert, beeinflusst Länder und Regierungen weltweit.

Auch für die Medien zeigt sich der transatlantische Einfluss. Unabhängig von der Frage, inwieweit journalistische Inhalte hierzulande von der US-Regierung mitfinanziert werden, konsumieren und zirkulieren Journalistinnen und Journalisten in Deutschland und Europa Informationen von Trump, seiner Regierung und deren Umfeld. Sie tun das beispielsweise auf der Plattform X, deren Besitzer Elon Musk die Plattform und seine über 200 Millionen Follower für den Wahlkampf nutzte und nun Mitglied der Trump-Regierung wird. Gleichzeitig sitzen große Technologiekonzerne wie Meta (Facebook) und Alphabet (Google) in den USA, beherrschen aber auch die Märkte in Europa. In Deutschland finanzieren sie große Verlagshäuser, Journalismusprojekte (z.B. Neue Deutsche Medienmacher) und Forschungseinrichtungen (z.B. an der Technischen Universität München). Auf nationaler und europäischer Ebene bekämpfen sie Versuche, Technologie- und Digitalkonzerne stärker zu regulieren. Mit Musk hat Big Tech nun einen Vertreter ihrer Interessen in der US-Regierung. 

Indes schürt Trump weiter Hass gegen alle, die ihn kritisieren – dazu gehören vor allem auch Journalistinnen und Journalisten, die er als  »Feinde des Volkes« bezeichnet. Laut der britischen Zeitung Guardian drohte e Trumps Kandidat für das Amt des FBI-Direktors Kash Patel: »Wir werden uns die Leute in den Medien vorknöpfen.« Das wirft die Frage auf, ob die Präsidentschaft Trumps auch Einfluss auf die Medien und Medienregulierung in Deutschland und Europa nehmen wird. 

Der Druck wird steigen – auch hierzulande

Bereits in seiner ersten Amtszeit attackierte Donald Trump US-amerikanische Mainstream-Medien, stellte deren Kritik mit Lüge gleich und untergrub so wiederholt die Glaubwürdigkeit von Journalistinnen und Journalisten. Für die Verbreitung seiner Ideen nutzte Trump vor allem die Plattform Twitter, die ihn aufgrund von Aufrufen zu Hass und Gewalt letztlich sperrte. Dennoch verschärfte Trumps Agieren die Debatten um Faktizität, Wahrheit und Konsens, beispielsweise zu Corona, der Klimakrise und seinen Straftaten. Mittlerweile gleichen diese Debatten medialen Informationskriegen – auch in Deutschland. Zudem verschärfte die damalige Trump-Administration die strafrechtliche Verfolgung von Nachrichtenquellen in den USA, mischte sich in die Geschäfte von US-Medienkonzernen ein und schikanierte Journalistinnen und Journalisten bei ihrer Einreise ins Land. CNN-Mitarbeitenden wie Jim Acosta, die im Weißen Haus zu viele Fragen stellten, wurden Presserechte entzogen.

Das war zu Trumps erster Amtszeit. Damals war die Administration schlecht vorbereitet und stellte sich teilweise aktiv gegen Trumps Pläne. Diesmal ist es anders. Das Konzept Project 2025 – entworfen von rund 400 konservativen Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern unter der Leitung der Heritage Foundation – beschreibt auf knapp 900 Seiten die Prioritäten und Ziele für Trumps zweite Amtszeit. Auch wenn Trump sich öffentlich vom Project 2025 distanziert hat, sind viele der Autorinnen und Autoren sehr gut in republikanischen Kreisen vernetzt. Sie werden wichtige Positionen in der neuen Administration einnehmen. Das Konzept enthält Empfehlungen zu Fragen der Außen- und Innenpolitik, Bildung und Wirtschaft. In Bezug auf Medien unterstreicht Project 2025, dass Trump die öffentlichen Medien in den USA reformieren müsse,  beispielsweise den  öffentlichen Rundfunk, also den Public Broadcasting Service (PBS) und das National Public Radio (NPR). Beiden Institutionen wird vorgeworfen, ein voreingenommenes linksliberales Meinungsumfeld zu schaffen, das konservative Ansichten unterdrücke. Damit seien sie »nicht-bildend«. Ihre Finanzierung solle deshalb gestrichen, der Status als nicht-kommerzielle Bildungssender genommen und die Verpflichtung zu hohen Lizenzgebühren gegeben werden. 

Außerdem solle, laut Konzept, das Verhältnis der Regierung zu Nachrichtenmedien generell überdacht werden. Beispielsweise solle untersucht werden, ob Journalistinnen und Journalisten überhaupt Zugang zu den Räumlichkeiten des Weißen Hauses erhalten müssten. Gleichzeitig sieht Project 2025 die leichtere Beschlagnahmung von E-Mails und Telefonaufzeichnungen, also die Überwachung von Journalistinnen und Journalisten, vor. Laut Kelly McBride, Senior Vice President des Poynter Instituts für Journalismus, seien diese Drohungen ernst zu nehmen. Vor allem die Unterwanderung des Quellenschutzes sei ein offenes Einfallstor, um die Pressefreiheit in den USA weiter einzuschränken. 

Diese Maßnahmen dürften die deutschen und europäischen Medien direkt und indirekt beeinflussen. Zum einen hätten wohl auch deutsche und europäische Journalistinnen und Journalisten mit größeren Einschränkungen im Weißen Haus zu rechnen und damit einen eingeschränkten Zugang zu den Entscheidungsprozessen der Exekutive in den USA. Zum anderen schaffen die Rhetorik und die finanzielle Aushöhlung des ohnehin schon kaum finanzierten öffentlichen Rundfunks in den USA einen Präzedenzfall, der Gegnerinnen und Gegnern des öffentlich-rechtlichen Rundfunks in Deutschland politisches Futter gibt. Beispielsweise propagiert die AfD gern die „Entideologisierung des Rundfunks“. Sie will den öffentlich-rechtlichen Rundfunk nicht reformieren, sondern ihn abschaffen, inklusive „Zwangsgebühren“ und Rundfunkräte. 

Trump wird weitere Regulierung auf europäischer Ebene fast unmöglich machen 

Die erste Amtszeit Donald Trumps zeichnete sich durch ambivalente Positionen gegenüber großen Konzernen aus. Trump und seine Regierung äußerten sich wiederholt kritisch zu Big Tech und anderen großen Konglomeraten, doch dies geschah primär, wenn es politisch opportun war. Beispiele dafür reichen von den Versuchen, die Fusion von dem Telekommunikationskonzern AT&T und Time Warner zu blockieren, über die Forderung, Amazon höhere Versandkosten bei der US-amerikanischen Post aufzuerlegen, bis hin zu ersten Gesprächen über ein Verbot der Videoplattform TikTok. Letztlich passierte auf ordnungspolitischer Ebene aber nichts Substantielles während Trumps erster Amtszeit – der Medienwissenschaftler Philip Napoli hat deshalb argumentiert, dass die Technologiepolitik der ersten Trump-Präsidentschaft ein klassischer Fall für symbolische Politikgestaltung war.

Seit seiner ersten Amtszeit hat sich Trumps Haltung zu den großen Technologiekonzernen deutlich verändert. Inzwischen ist er mit den Tech-Konzernen eng verbunden, was sich auch in der Finanzierung seiner Wahlkampagne zeigt: Trump erhielt insgesamt 273,2 Millionen US-Dollar von einigen der einflussreichsten Persönlichkeiten der Technologiebranche. Darunter fallen erhebliche Spenden von Elon Musk (242,6 Millionen US-Dollar), Marc Andreessen (5,5 Millionen US-Dollar) und Jan Koum (5,1 Millionen US-Dollar). Diese Nähe der kommenden US-Regierung zu Big Tech wird sehr wahrscheinlich auch auf ordnungspolitischer Ebene Wirkung zeigen. Bereits während des Wahlkampfs kündigte Elon Musk – der mit Abstand größte individuelle Spender für Donald Trumps Wahlkampf – über seine Plattform X an, dass die Vorsitzende der US-Wettbewerbsbehörde, Lina Khan, sofort entlassen werde, sollte Trump gewinnen. Der von Donald Trump designierte künftige Chef der US-Bundeshandelskommission FCC, Andrew Ferguson, kündigte diesbezüglich an, dass er Digitalkonzerne und Künstliche Intelligenz nicht oder nur geringfügig regulieren werde.

Gleichzeitig ist die Zukunft der Videoplattform TikTok in den USA hart umkämpft. Während seiner ersten Amtszeit hatte Trump versucht, die Plattform aufgrund nationaler Sicherheitsbedenken zu verbieten. Mittlerweile erklärte er jedoch öffentlich, dies nicht mehr tun zu wollen. Das steht im klaren Gegensatz zur aktuellen US-Gesetzgebung, die darauf abzielt, TikTok zu einer Abspaltung von seiner chinesischen Muttergesellschaft ByteDance zu zwingen. Unklar ist auch, welche wirtschaftlichen Interessen der Trump-Großspender Jeffrey S. Yass verfolgt, dessen Private-Equity-Unternehmen Susquehanna einen 15-prozentigen Anteil an ByteDance hält.

In Europa wird die zweite Trump-Regierung mit großer Wahrscheinlichkeit die Regulierung von Digitalkonzernen erschweren und aktuelle Regulierungen infrage stellen. Biden hatte bereits Österreich, Frankreich, Italien, Spanien und dem Vereinigte Königreich mit Strafzöllen gedroht, nachdem diese Länder Digitalsteuern eingeführt hatten, die primär für US-amerikanische Großkonzernen fällig wurden. Doch der im Februar 2024 in Kraft getretene Digital Services Act (DSA) der Europäischen Union und auch der Digital Markets Act (DMA) sowie der AI-Act werden Konsequenzen für US-amerikanische Plattformen und Suchmaschinen nach sich ziehen. Beispielsweise fallen einige US-amerikanische Digitalkonzerne unter die Regulierung des DSA, der für sehr große Online-Plattformen und Suchmaschinen besonders scharfe Regeln vorsieht. Es ist damit zu rechnen, dass US-amerikanische Digitalkonzerne, die über eine ohnehin schon große Lobbymacht in der EU verfügen, ihre enge Beziehung zur US-Regierung nutzen werden, um EU-Regulierungen soweit wie möglich aufzuweichen. Die damit weiter zunehmende Schwierigkeit, Digitalkonzerne effektiv zu regulieren, stellt eine ernsthafte Herausforderung für die demokratische Kontrolle über zentrale digitale Infrastrukturen dar. Dies schwächt die Fähigkeit, öffentliche Interessen gegenüber mächtigen transnationalen Akteuren durchzusetzen. Fällt diese notwendige Regulierung weg oder wird sie aufgeweicht, nimmt die ökonomische, politische und kulturelle Macht von Digitalkonzernen in Zukunft weiter zu.

Die zunehmende Oligarchisierung der US-Politik wird sich auch hier auswirken 

Die besprochenen Auswirkungen der zweiten Trump-Regierung auf Medien und Kommunikation in Deutschland und Europa werden begleitet von einer grundlegenden Oligarchisierung US-amerikanischer Politik. Natürlich hatten reiche Menschen auch schon in vorherigen Regierungen in den USA und weltweit mehr Einfluss auf die Politik als ärmere Menschen. Unter Trumps zweiter Amtszeit werden allerdings einige wenige extrem reiche Menschen, die mit Trump eng verbunden sind, regierungsähnliche Funktionen ausüben, obwohl sie nie gewählt oder für ein offizielles Amt nominiert wurden. Dies zeichnet sich schon jetzt ab: Mitte November 2024 wurde bekannt, dass Elon Musk, künftiges Regierungsmitglied der Trump-Regierung, den UN-Botschafter des Iran getroffen hat. Es ist also beispielsweise nicht völlig abwegig, dass die künftige US-Regierung ihre weitere NATO-Beteiligung davon abhängig machen wird, ob und wie streng die EU die Plattform X reguliert – so wie JD Vance im Wahlkampf bereit angedroht hatte.

Diese Verhandlungen werden dann mit direkter Beteiligung von Elon Musk stattfinden. Ähnliches droht auch im Fall von TikTok, Meta oder Trump Media denkbar. Am Letzteren hielt Donald Trump selbst noch über 50 Prozent der Anteile, bevor er diese in einen Trust für seinen Sohn Donald Trump Jr. überschrieb. Infolge dieser Oligarchisierung der US-amerikanischen Politik werden künftige EU-Regulierungsbestrebungen wohl nicht nur auf den Widerstand von Digitalkonzernen treffen, sondern auch Vergeltungsmaßnahmen der US-Regierung hervorrufen. Beispiel Meta: Mark Zuckerberg hatte in einem vieldiskutierten Video angekündigt, dass Meta in den USA die Faktencheck-Teams abschafft. Sollten Faktencheck-Teams auch in Europa abgeschafft werden, steht das im Gegensatz zu den neuen EU-Regulierungen im Rahmen des DSA. Es ist denkbar, dass aufgrund Zuckerbergs und Metas Nähe zu Trump, die kommende US-Regierung beispielsweise Strafzölle auf Importe aus Europa ankündigt, wenn die EU Meta zu Faktenchecks verpflichtet.

Die oligarchische Verzahnung wirtschaftlicher und politischer Interessen in der US-amerikanischen Politik wird auch den politischen Meinungsbildungsprozess in Europa und Deutschland verstärkt beeinflussen. Elon Musk nutzt die Plattform X nicht nur zur Bündelung nationaler und transnationaler rechter Kräfte. Ende Dezember 2024 verfasste er auch einen Gastbeitrag in der Welt am Sonntag und machte darin unverhohlen Wahlwerbung für die AfD. Er nannte die Partei »den letzten Funken Hoffnung« und widersprach ihrer rechtsextremen Einstufung. Anfang Januar legte Elon Musk nach und lud AfD-Parteivorsitzende Alice Weidel zu einem Livegespräch auf X ein. Ein paar Tage später teilte er auch noch den Livestream des AfD-Parteitags auf X und verhalf der Partei damit zu einem Millionen-Publikum.

Unabhängige, kritische Medien sind wichtiger denn je 

Verschiedene Organisationen, wie der Deutsche Journalistenverband (DJV), kritisierten die Welt am Sonntag für den Abdruck von Musks Wahlwerbung stark. Andere Journalistinnen und Journalisten hoben dagegen hervor, dass nicht nur die Welt am Sonntag Musk und der AfD eine Bühne biete. Vielmehr griffen verschiedene deutsche und europäische Medien Musks Thesen auf, streuten sie und gaben ihnen damit eine Plattform. Dies sind bedenkliche Anzeichen dafür, wie Medien mit der zukünftigen US-Regierung umgehen werden. Denn die Oligarchisierung der US-amerikanischen Politik und der damit einhergehende anti-demokratische Kurs müssen konsequent offengelegt, kritisch hinterfragt, eingeordnet und bekämpft werden.

Das bedeutet auch, aufzuzeigen, wie die Kontrolle über soziale Medien und die Gesetzgebung genutzt werden, um die Interessen einer kleinen mächtigen Gruppe durchzusetzen. Die zweite Trump-Regierung wird nicht mehr nur größtenteils durch die Streuung von Mis- und Desinformation punkten. Vielmehr wird diese Informationsstrategie mit einer rigorosen Nutzung aller weiteren zur Verfügung stehenden politischen, wirtschaftlichen und kommunikativen Mittel und Wege verknüpft sein – diesmal sogar mit einem akkordierten Plan

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Eine Version dieses Textes erschien am 20. Januar 2025 auf Jacobin.

Krise in der Autoindustrie – Vernichtung, Verlagerung oder sozial-ökologische Transformation?

Sa, 11/01/2025 - 18:21

Die Krisen überlagern und verstärken sich: Die Klimakatastrophe, die Kriege und die Verrohung der Politik, die begründete Abstiegsängste der Arbeiterinnen und Arbeiter. Vor diesen Hintergründen erklären die Auto- und Zulieferkonzerne drastische Programme zu Werksschließungen und Massenentlassungen. Daraus wächst Verzweiflung und Wut derjenigen, die jahrzehntelang für den sagenhaften Reichtum der Großaktionäre, der Porsches, Piëchs, Klatten und Quandts, und für einen eigenen bescheidenen eigenen Wohlstand gearbeitet haben. Die Regelmäßigkeit der Krisen macht neugierig auf die Erforschung ihrer politisch-ökonomischen Ursachen. Ohne eine belastbare Krisentheorie wird es keine adäquate linke und gewerkschaftliche Praxis, keine Klassenorientierung in diesen Krisen geben.

Ist das noch eine normale Rezession oder ist das der Weg zur Deindustrialisierung? „Die Industriekrise und der langanhaltende Wirtschaftsabschwung hinterlassen am Arbeitsmarkt ihre Spuren“, berichtet Prof. Enzo Weber, Leiter des Forschungsbereichs „Prognosen und gesamtwirtschaftliche Analysen“ am Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung (IAB) bei der Bundesagentur für Arbeit: „Wir verlieren jeden Monat in Deutschland 10.000 Arbeitsplätze in der Industrie, die Produktion liegt mittlerweile 15 Prozent unter dem Vor-Corona-Nieveau. … Während die eher klassische Industrie Jobs abbaut, werden viel zu wenig Jobs in den neuen Bereichen aufgebaut, insgesamt ist die Jobbilanz in der Industrie tiefrot. Wir brauchen einen Schub nach vorn: Deindustrialisierung ist nicht unausweichlich.“

I. So ist der Kapitalismus

Im Herbst 2024 und Frühjahr 2025 wird die Krise in der Auto- und Stahlindustrie zum großen Thema. Ausschlaggebend sind die Ankündigungen von Volkswagen, Ford, Bosch, Thyssen-Krupp und anderen, Werke zu schließen, Arbeiter_innen in zehntausender Größe zu entlassen und Löhne zu senken. Vorgeblich geht es darum, Verluste „wegen zu hoher Energie- und Arbeitskosten“ zu minimieren – der Strompreis ist inzwischen wieder auf dem Niveau von vor der Krise angekommen. Tatsächlich geht es um höhere Profite und darum, selbst geschaffene Überkapazitäten wieder zu vernichten.

Angst und Schrecken zu verbreiten ist Methode und Ziel der Kampagne der Unternehmen. Unberechtigt ist die Abstiegsangst nicht, wurden doch in den zurückliegenden Jahren bereits 75.000 Arbeitsplätze in der Auto- und Zulieferindustrie verlagert oder vernichtet. Die Inlandsproduktion sank von 5,7 Mio. PKW im Jahr 2016 auf 4,1 Mio. im Jahr 2023. Im scheinbaren Widerspruch zu diesen Überkapazitäten stiegen die Profite auf 60 Milliarden Euro bei den big three in Deutschland, die Gewinnrücklagen auf sagenhafte 250 Milliarden Euro. Luxusautos und hoch motorisierte SUV bringen weniger Absatz als kleine, smarte Fahrzeuge, aber mehr Profit. Die sinkende Nachfrage und der Rückgang der Produktion von Autos in Deutschland um 30 Prozent seit 2016, der Absatzeinbruch von E-Autos um 70 Prozent im Jahresverlauf 2024 und der Einbruch deutscher Hersteller auf dem wichtigen chinesischen Markt um 20 Prozent von 2019 bis 2024 markieren die Verwertungskrise des Kapitals.

Es ist nicht in erster Linie eine Krise der Autoindustrie, sondern der Arbeiterinnen und Arbeiter in der Autoindustrie. Es ist eine Krise der Kapitalverwertung, der Überakkumulation, der sinkenden Arbeitsproduktivität, der zunehmenden Bindung von konstantem Kapital, der sinkenden Profitrate, der sinkenden Massenkaufkraft. Wohin mit dem ganzen Profit, wenn es gewinnträchtigere Bereiche gibt als die Autoindustrie? Ursächlich sind die Modellpolitik, die fast ausschließliche Produktion großer und teurer Fahrzeuge (SUVs), die Erwartung von 10 Prozent Umsatzrendite, die hintertrieben Verkehrswende, die arrogant angegangene und letztlich verschlafene Antriebswende und Digitalisierung sowie die vom Zaun gebrochenen Handelskriege. Ursächlich ist der Wachstumszwang für renditeorientierte Unternehmen und die weit vorauseilende Konkurrenz aus China. Der aufkommende Protektionismus trägt seinen Teil zur Krise bei.

„Es kann sein, dass es zu viele Autos gibt, sicher aber zu wenige von BMW“ – so ein oft zitierter Spruch eines ehemaligen Managers von BMW. Alle Konzerne haben in Erwartung von Profiten ihre Kapazitäten ausgebaut. Bis vor kurzem wollte Volkswagen für zwei Milliarden Euro eine neue Gigafactory für ein Luxusmodell Trinity bauen. Auch der Verkehrswendebewegung mit ihren kreativen Protesten in Wolfsburg ist zu danken, dass diese wahnsinnige Idee zu den Akten gelegt wurde. Erstmals konstatieren Unternehmen wie Volkswagen, Ford und Stellantis jetzt die Überkapazitäten in ihren eigenen Fabriken. Nach sich zum Teil widersprechenden Quellen und Berechnungsgrundlagen (VDA, destatis, OICA, CAAM, ACEA) sieht die Marktentwicklung etwa so aus (siehe Tabelle).

 

PKW Zulassungen (Mio.)

 

2017

2023

 China

23

27

 USA

17

15

 EU

14

11

Summe

55

53

Weltweit

84

78

 

Im Jahr 2024 ging es weiter runter mit Produktion und Absatz in Deutschland, in Europa und speziell für die Hersteller aus Deutschland auch in China; für 2025 ist keine Trendwende absehbar.

Der kapitalismuskritische US Arbeitsmarktforscher Ian Greer wird in der Süddeutschen Zeitung vom 9./10.11. so zitiert: „Die Überkapazitäten sind eine größere Herausforderung als der sinkende Arbeitskräftebedarf. Unternehmen wie die amerikanischen Elektroauto-Spezialisten Tesla und Rivian und viele chinesische Hersteller bauen ihre Produktion aus. Und die traditionellen Automobilhersteller haben ebenfalls expandiert. Es wird Unternehmen geben, die scheitern und Werke schließen müssen. Noch wissen wir aber nicht, welche das sein werden. … Die wichtigste Lektion ist: Die Arbeiter haben gerade viel strukturelle Macht. Autounternehmen brauchen sie, um den Übergang zur Elektromobilität zu bewältigen. Das verschafft den Arbeitern Hebelwirkung, um Forderungen durchzusetzen. … Die Hersteller nutzen die Unsicherheit, um von den Beschäftigten Zugeständnisse zu verlangen – und so zuerst die Renditen für die Aktionäre zu sichern. Aber so ist Kapitalismus.“

II. VW – Abbau oder Umbau?

Der Volkswagenkonzern verbreitet die Mär von Verlusten in der Marke Volkswagen, will Löhne senken, Werke schließen und 30.000 Arbeiter_innen aus der Produktion, der Verwaltung, der Forschung und Entwicklung entlassen. Konservative Medien bis hin zu ARD und ZDF sekundieren bei der millionenfachen Verbreitung dieser Mär und erzeugen im Land das gewünschte Klima von Angst, Neid und Missgunst.

Der Jammer von Volkswagen besteht darin, dass der angepeilte Profit von 6,5 Prozent nicht erreicht wird, sondern – abzüglich der „Restrukturierungskosten“ – nur bei gut vier Prozent liegt. Der Jammer von Volkswagen liegt darin, dass für 2023 „nur“ 4,5 Mrd. Euro an die Aktionäre ausgeschüttet wurden statt der angepeilten 10 Milliarden. Der Jammer von VW besteht darin, dass sie keine Möglichkeiten sehen, die Gewinnrücklagen von fast 150 Milliarden Euro gewinnbringend im Inland anzulegen.

Wem gehören die Fabriken?

Die Geschichte von Volkswagen ist schnell erzählt: Ab Mitte der 1930er Jahre haben die Nazis das „Projekt Volkswagen“ mit Ferdinand Porsche und dem geraubten Vermögen der freien Gewerkschaften umgesetzt. Im Frühjahr 1945 setzte sich Porsche nach Österreich ab und nahm die Kasse von Volkswagen mit. VW war „herrenlos“, wurde von den Briten verwaltet und 1948 „zu treuen Händen“ an die deutsche Bundesregierung übergeben. Alle Gewinne wurden in den Betrieb investiert und das Unternehmen entwickelte sich prächtig. 1960 hat die damalige CDU-Regierung aus der GmbH eine AG gemacht. Das VW-Gesetz wurde verabschiedet, um den Widerstand von Betriebsräten und Gewerkschaften zu brechen. 1980 hat die Kohl-Regierung ihren 20-Prozent-Anteil zu schlechten Bedingungen an die Börse gebracht. Sofort begannen die Porsches und Piëchs im Geheimen damit, Anteile zu kaufen – Porsche wollte Volkswagen schlucken. Es kam etwas anders, im Ergebnis blieb es aber Gleiche: dem PorschePiëch-Clan gehören 53 Prozent der Stammaktien – ohne dass sie sich je an der konkreten Arbeit beteiligt hätten.

Juristisch ist das also ganz klar: 53,3 Prozent der Stimmrechte liegen beim Porsche-Piëch-Clan, 20 Prozent beim Land Niedersachsen, 17 Prozent beim Staatsfond von Katar und 9,7 Prozent im Streubesitz. Historisch und moralisch aber gehört das Unternehmen denen, die dort arbeiten und alle Werte schaffen. Deshalb gilt immer noch das VW-Gesetz von 1960. Die Betriebsratsvorsitzende Daniela Cavallo hat recht: „130 Millionen Reichsmark entsprechen einer heutigen Kaufkraft von knapp 700 Millionen Euro. Mit einer durchschnittlichen Verzinsung hätte sich aus diesem Kapital, das die Nazis der Arbeiterbewegung geraubt hatten, über die Jahrzehnte ein Milliardenbetrag ergeben. Dieses Geld, unser Geld, steckt heute im VW-Konzern. Und deswegen ist klar: Bei Volkswagen wird niemals der Turbo-Kapitalismus Einzug halten. Sondern bei Volkswagen haben die abhängig Beschäftigten, ihre Familien und Standortregionen immer ein starkes Gewicht. Volkswagen gehört all denen, die tatkräftig mit anpacken, Wirtschaftlichkeit und Beschäftigungssicherung gleichermaßen und gleichberechtigt voranzubringen.“

Für Volkswagen gilt deshalb: Management und Aktionäre haben versagt. Das Unternehmen wird nach Artikel 14/15 des Grundgesetzes vergesellschaftet. Beim aktuellen Aktienkurs kostet eine Entschädigung etwa 40 Milliarden Euro – das bezahlen wir nach der Übernahme als gemeinnützige GmbH oder Genossenschaft, abzüglich der Schäden durch das Management, fast aus der Portokasse bzw. von den Gewinnrücklagen.

Zur Vorgeschichte des aktuellen Konfliktes gehört, dass beim Abschied von der 28,8-Stunden-Woche ein »Arbeitszeitkorridor« von 25 bis 33 Stunden vereinbart wurde, der per »Arbeitszeitfixpunkt« im Einvernehmen mit dem Betriebsrat bisher regelmäßig fast ausschließlich in Richtung 33 Stunden plus Mehrarbeit umgesetzt wurde. Jetzt, wo es darauf ankäme, durch differenzierte Arbeitszeitverkürzung in Richtung 25-Stunden-Woche diesen Vertrag mit Leben zu erfüllen, wird er vom Unternehmen aufgekündigt. Das Ziel ist wohl die Angleichung zwischen Haustarif I und Haustarif II in Richtung der 35-Stunden-Woche als Regelarbeitszeit ohne Lohnausgleich. Praktisch bedeutet das, dass die Arbeiter:innen fast zwei Jahrzehnte lang wöchentlich vier Stunden gratis für das Unternehmen geschuftet haben. Künftig sollen es sechs Stunden werden, die vom Unternehmen nicht vergütet werden. Konservativ gerechnet eine Vorleistung von rund zehn Milliarden Euro aus den zurückliegenden Jahren.

Zur Vorgeschichte gehört auch ein »Zukunftspakt« mit nicht eingehaltenen Zusagen für die Auslastung der Fabriken – nicht nur wegen schlechter Absatzlage, sondern weil Produktion wie die des Transporters und des Passats sowie administrative Arbeit wie Controlling in die Türkei, in die Slowakei und nach Polen oder Indien verlagert wurden. Und wenn die Absatzlage schlecht ist (was mit der völlig verfehlten Modellpolitik zu tun hat), ist vom Management des sozialpartnerschaftlichen Musterbetriebs zu erwarten, dass sie sich zumindest um eine teilweise Neuausrichtung des Unternehmens kümmern. Aber wir erleben gerade, dass in diesem System absolut nichts sicher ist, was sicher schien.

Bei der Betriebsversammlung im Wolfsburger VW-Werk am 4. September sagte der Finanzchef des Konzerns: „Es fehlen uns die Verkäufe von rund 500.000 Autos, die Verkäufe für rund zwei Werke. Der Markt ist schlicht nicht mehr da.“ Im September 2024 platzte die erste Bombe: Das Unternehmen hat eine Reihe von Tarifverträgen gekündigt.

  • Tarifvertrag zur Beschäftigungssicherung. Damit sollen Massenentlassungen und Werksschließungen ermöglicht werden. VW-Markenchef Schäfer sagt, die Reduzierung der Personalkosten um 20 Prozent reichten nicht, auch nicht Abfindungen oder Altersteilzeit.
  • Tarifvertrag zur Übernahme von Auszubildenden nach erfolgreicher Ausbildung.
  • Tarifvertrag zur Leiharbeit, der eine etwas bessere Entlohnung von Leiharbeiter_innen regelt.
  • Vereinbarung zur Mitbestimmung des Betriebsrats bei übertariflicher Entlohnung (Tarif-Plus).
  • Erklärtermaßen soll die Arbeitszeit für das Gros der Arbeiterinnen und Arbeiter ohne Lohnausgleich auf Minimum 35 Stunden regelmäßig verlängert werden.

Alte gegen Junge, Büro gegen Fließband, Emden gegen Zwickau – das ist das Kalkül des Managements. Die Zwickauer „Freie Presse“ fragt, ob es zum Duell Zwickau gegen Emden kommt. „Beide Standorte haben ein ähnliches Profil. Laut Medienberichten kann nur einer von beiden überleben – und für Emden sollen die besseren Argumente sprechen.“ Konzernboss Blume versucht es sentimental: „Wir führen VW wieder dorthin, wo die Marke hingehört – das ist die Verantwortung von uns allen. Ich komme aus der Region, arbeite seit 30 Jahren im Konzern. Ihr könnt auf mich zählen und ich zähle auf Euch – Wir sind Volkswagen“. Aber Tausende skandieren selbstbewusst: „Wir sind Volkswagen – aber ihr seid es nicht!“

Vor der dritten Verhandlung am 21. November platzte die zweite Bombe, die IG Metall legte ein eigenes Angebot vor, verzichtet auf die ursprüngliche Lohnforderung von 7 Prozent und bot ein Sparpaket für das Unternehmen von 1,5 Milliarden Euro in zwei Jahren. Gerechnet auf die 120.000 Beschäftigten macht das mehr als 12.000 Euro Entgeltverlust für jede einzelne Person – und das nach Reallohnverlusten seit 2019 und einer Inflationsrate von 6 Prozent und mehr bei Lebensmitteln. Die kommende Tariferhöhung, so die Idee der Gewerkschaft, könnte befristet als Arbeitszeit in einen Zukunfts-Fonds eingebracht werden. Darüber bekäme das Unternehmen ein Instrument, um bei Bedarf Arbeitszeiten abzusenken. Falls also durch den Strukturwandel in Produktion oder Verwaltung Unterauslastungen entstehen, würde der Fonds helfen, Personalabbau weiterhin sozialverträglich gestalten zu können. Weiter sollen 2025 und 2026 Teile der Boni (ehemals Urlaubs- und Weihnachtsgeld) für Zukunftssicherung eingebracht werden. Im Kern geht es bei dem „Zukunftsfond“ darum, künftigen Personalabbau durch Lohnverzicht zu finanzieren. Außer Acht bleibt dabei, dass die Arbeiterinnen und Arbeiter seit der Verlängerung der Arbeitszeit vor 20 Jahren von 29 auf 33 Stunden ohne Lohnausgleich bereits jede Woche rund vier Stunden gratis für den Konzern arbeiten – eine Summe von rund 50.000 Euro, die jede und jeder zum Gewinn der letzten beiden Jahrzehnte beigetragen hat. Nun sollen es zwei weitere Gratis-Stunden sein, die alle erbringen sollen.

Ziemlich populär fordern Christiane Benner und Daniela Cavallo, dass das Management und Aktionäre auch einen Beitrag leisten sollen. Die Forderung ist richtig, weil Gewinnentnahme und Managergehälter in ihrer Höhe nicht gerechtfertigt sind – und sie ist zugleich falsch, weil mit dem auch hier von Verlustgeschäften und einem Sanierungsfall ausgegangen wird und „Beiträge“ der Arbeiterinnen und Arbeiter dann zwangsläufig sind. Die IG Metall betont mehrfach, dass „die Arbeitskosten“ nicht das Problem von VW seien. Dennoch fänden sie es gerecht, wenn nach den Arbeiterinnen und Arbeitern bei VW auch der Vorstand auf Gehalt verzichten würde? Das ist eine Form von Populismus, die der IG Metall schnell auf die Füße fallen wird. Wenn Vorstandsboss Oliver Blume auf die Hälfte seiner Bezüge verzichten würde, hätte er immer noch 20.000 Euro AM TAG! Wenn der ehemalige Genrealsekretär des Konzernbetriebsrates und jetzige Personalvorstand Gunnar Kilian auf die Hälfte seiner Vergütung verzichten würde, hätte er immer noch 10.000 Euro AM TAG. Der Vorstand stimmt großzügig zu und erklärt, er habe 2024 das Fixgehalt schon um fünf Prozent gekürzt und auf die Inflationsprämie von 1.000 Euro verzichtet. Weil es letztlich um höhere Profite geht, würden durch „Dividendenpolitik“ keine Beiträge – wofür eigentlich – erwirtschaftet. Und das alles noch im Konjunktiv. Natürlich müssen Vorstandsgehälter begrenzt, vor allem aber müssen Gewinne der Großaktionäre stärker besteuert werden. 

Christiane Benner sagt weiter: „Entscheidend ist, ob es eine Strategie nach vorne gibt. Und die zu entwickeln ist eine Führungsaufgabe.“ Das genau macht das Management seit Jahren nicht. Woher der Glaube oder die Hoffnung, dass sie das jetzt machen werden. Und wo bleibt da der Mitbestimmungsanspruch und der alternative Plan der weltgrößten Gewerkschaft mit einem Organisationsgrad von über 90 Prozent in diesem Konzern?

„Wir verschließen uns keinem Personalabbau und keinem Outsourcing“, sagt Daniela Cavallo bei der Pressekonferenz am 20. November. Das passt dann zur Antwort auf die Frage, wie den Überkapazitäten begegnen werden solle: Der Betriebsrat wäre einverstanden, wenn die Werksbelegung auf der drastisch reduzierten Fertigung vom Herbst 2024 erfolgen würde. Das entspricht in Wolfsburg einer Auslastung von maximal 60 Prozent. In Emden und Zwickau ist das näher an 40 Prozent und in den Komponentenwerken folgt eine angepasste Absenkung der Produktion. Mit Beschäftigungs- und Standortsicherung hat das nichts zu tun. Die Hoffnung, dass das Management sich an solche Abmachungen halten würde, ist spätestens mit der Nichterfüllung des Zukunftspaktes obsolet.

Bei großer Kampfbereitschaft und dem gewerkschaftlichen Organisationsgrad von über 90 Prozent müsste die IG Metall in die Offensive gehen. Denn es ist absehbar, was nach einer Niederlage der größten und stärksten Gewerkschaft im bestorganisierten Betrieb folgen würde: Großflächig wird in der Auto- und Zulieferindustrie, später in der gesamten Metall- und Elektroindustrie und schließlich in allen anderen Bereichen von Industrie- und Dienstleistung Personal entlassen, das Einkommen der Arbeiter_innen nach unten „angepasst“, die Arbeitszeit ausgeweitet und weiter flexibilisiert. Das ist die politische und soziale Dimension dieser Auseinandersetzung, aus der sich die Verantwortung der Gewerkschaft und der gesellschaftlichen Linken ergibt. 

Nur am Rande sei erwähnt, dass die IG Metall kaum mit Solidarität aus dem Werk in Belgien rechnen kann. Für die kämpfenden Kolleginnen und Kollegen im vor der Schließung stehenden Audi-Werk in Brüssel gab es keine Unterstützung von der IG Metall. 

Im Dezember dann die dritte Bombe mit dem Tarifabschluss:

  • Keine betriebsbedingten Kündigungen bis Ende 2030. Zunächst keine Werksschließungen – alles mit Revisionsklausel. Erleichterung bei vielen Arbeiterinnen und Arbeitern, mit dem blauen Auge davongekommen zu sein – und weiterhin große Sorgen in Osnabrück und Emden wegen Unterauslastung und möglicher Werksschließungen.
  • Abbau von 35.000 Arbeitsplätzen bis 2030 = Reduzierung der Personalkosten um 1,5 Mrd. Euro nachhaltig
  • Kapazitätsreduzierung von 730.000 Fahrzeugen
  • Reduzierung der Ausbildungsplätze von 1.400 auf 600 pro Jahr
  • Entgeltreduzierung durch Arbeitszeitverlängerung von 33 auf 35 Stunden und Einbehalt von 5,5 % durch das Unternehmen als „Beschäftigtenbeitrag“ plus reduziertes Urlaubsgeld, Boni etc. In Summe mehr als 10.000 Euro brutto pro Beschäftigten und Jahr (je nach Entgeltstufe).

Die IG Metall hat frühzeitig erklärt, dass die Personalkosten nicht das Problem von Volkswagen sind. Also ist die Senkung der Personalkosten auch keine Lösung des Problems. Deutlich wird am Beispiel: Lohnverzicht sichert keine Arbeitsplätze!

Im Verhandlungsergebnis werden die Betriebsräte mit dem „Zukunftstarifvertrag“ § 3.1.2 darüber hinaus zu „Produktrenditen“ verpflichtet, die natürlich vom Unternehmen gesetzt werden. Im § 4 ist weiter festgelegt, dass „alle Entscheidungen darauf geprüft werden, ob sie an den Standorten wettbewerbsfähig dargestellt werden können“. Für das laufende Jahr ist eine Revision des Entgelttarifvertrages vereinbart, mit den zukünftigen Arbeiterinnen und Arbeitern, also denjenigen, die jetzt ausgebildet werden, weitere Lohnbestandteile im Umfang von sechs Prozent gestrichen werden sollen. Die 130.000 Arbeiterinnen und Arbeiter werden trotz Gewinnrücklagen des Konzerns von über 140 Milliarden Euro um viele Milliarden ihres erarbeiteten und verdienten Entgelts gebracht. US-Gewerkschaften haben in der Autoindustrie und auch bei Boeing vorgemacht wie es möglich ist, dem weinerlichen Kapitalistengenöhle nicht auf dem Leim zu gehen und viel mehr herauszuholen. Die IG Metall hat dem Standortdiskurs und den Interessen von Autokonzern und Großaktionären nicht widerstanden, sondern die Konkurrenz zu Arbeiterinnen und Arbeitern anderer Automobilunternehmen verschärft. 

III. Linke Industriepolitik und die sozial-ökologische Transformation

Die Konversion der Autoindustrie ist voraussetzungsvoll – es braucht einen gesellschaftlichen Konsens, politischen Willen und viel Geld für einen massiven Ausbau des öffentlichen Verkehrs in ländlichen Räumen. Als Olaf Scholz die „Zeitenwende“ ankündigte, waren über Nacht 100 Milliarden Euro dafür da, Rheinmetall und andere Rüstungsunternehmen expandierten mit Fabriken, Personal, Produktion und Profit. Rheinmetall schaut sich leerstehende Fabriken der Auto- und Zulieferindustrie an und übernimmt deren Personal, u.a. bei Conti und Ford. Panzer statt Busse und Züge? Dabei handelt es sich um eine industrielle Konversion, die, weil es um Kriegsgeräte geht, zu weiterem Sozialabbau, zu Kürzungen von Ausgaben für den Klimaschutz und Klimaresilienz und zur Vernichtung in künftigen Kriegen führt.

Ein Beitrag zur Verkehrswende ist der Niedergang der Autoindustrie nicht, weil der öffentliche Verkehr nicht im notwendigen Umfang aufgebaut wird. Das Ergebnis ist eher Mobilitätsarmut. Um einen gesellschaftlichen Konsens zur Mobilitätswende zu erreichen, muss sich die IG Metall von ihrer Fixierung auf die Autoindustrie lösen. Die Aufkündigung der Sozialpartnerschaft durch die Arbeitgeber mit der Androhung von Massenentlassungen und Werksschließungen macht die Perspektivlosigkeit dieser Fixierung sichtbar. Das ist aber nicht Konsens in dieser vielfältigen Gewerkschaft, in der zum Beispiel auch die Arbeiter_innen im Schienenfahrzeugbau organisiert sind. So erklärt die IG Metall in ihrem 11-Punkte-Plan: „Unternehmen und Politik müssen die Mobilitätswende massiv beschleunigen. Schluss mit den Debatten um Ausstiegsdaten und Grenzwerte! Ein Zick-Zack-Kurs gefährdet nur Arbeitsplätze. Mobilität bedeutet für uns die bestmögliche Kombination von Auto, Bus, Bahn und anderen Verkehrsmitteln – in der Stadt wie auf dem Land. Von zentraler Bedeutung: deutlich höhere Investitionen in den Ausbau des öffentlichen Nahverkehrs und in das Schienennetz.“

Die Folge des Kahlschlags sind weniger Einkommens- und Gewerbesteuern, weniger Sozialversicherungsbeiträge und weniger Kaufkraft in den Kommunen: Haushalts-Schock in Wolfsburg! 270 Millionen Euro fehlen. "Zu knapp bemessen ist auch die Kostenpauschale für Asylbewerber. 6.000 Euro schießen die Kommunen pro Person zu. Oberbürgermeister Weilmann kündigte an, künftig mehr Menschen abschieben zu wollen." In Köln ist zu lesen: "Nicht mal für neue öffentliche Toiletten in der Stadt ist Geld da. Um die prognostizierten jährlichen Verluste von bis zu einer halben Milliarde Euro abzumildern, müssen die Kölnerinnen und Kölner mehr Gebühren bezahlen.“ Die da oben, wir da unten – das wird immer konkreter, sichtbarerer und krasser.

Es geht um Umbau statt Abbau! Die Eigentümer und Manager der Autoindustrie fahren den Laden gerade gegen die Wand. Ursächlich für die Krise sind die Fehlplanungen und die falsche Produktstrategie der Manager, der rückläufige Autoabsatz sowie die Weigerung von Autoindustrie und der Regierung, die Weichen Richtung Verkehrswende zu stellen. Während VW, Mercedes und BMW mit immer größeren und teureren Autos hohe Gewinne machen, müssen die Arbeiterinnen und Arbeiter um ihre Zukunft bangen. Wir brauchen eine Jobgarantie, eine Einkommensgarantie und eine Weiterbildungsgarantie für die Arbeiterinnen und Arbeiter in einer Industrie mit Zukunft. Es braucht politische Steuerung und mehr Mitbestimmung, denn die Unternehmen werden ihrer Verantwortung nicht gerecht.

VW und die gesamte Auto- und Zulieferindustrie könnte besser dastehen, wenn man auf Die Linke gehört hätte: Ein sozial-ökologisches Investitionsprogramm auf Basis einer bedarfsorientierten Investitionsplanung, kräftige Investitionen in die Infrastruktur, den smarten Fahrzeugpark und das Personal des öffentlichen Personenverkehrs. Weil die profitorientierten privaten Unternehmen das wegen zu geringer Gewinne nicht machen, müssen gemeinwirtschaftlich orientierte Unternehmen aufgebaut werden: gGmbH`s, Genossenschaften oder Stiftungen. Zunächst mit Anschubfinanzierung des Bundes, der Länder oder der Kommunen, bald sich selbst tragend.

Ein weiteres Instrument ist eine kollektive Arbeitszeitverkürzung in Richtung einer Drei- oder vier-Tage-Woche mit Zeitwohlstand für alle, die in diesen Betrieben arbeiten. Das bedeutet eine Abkopplung vom Wachstumszwang, einen Ausstieg aus der globalen Konkurrenz, die die globalen Krisen verursacht hat und kein Teil der Lösung sein kann. Ein ganz praktischer Grund besteht darin, dass die Konkurrenz zu China auf diesem Sektor nicht mehr zu gewinnen ist.

Die politischen Verwerfungen, die Tendenz zu autoritären „Lösungen“ der Krise sind bedrohlich und unübersehbar. Die neuen Nazis beschäftigen sich damit und plakatieren ihren "Stolz auf den deutschen Diesel" vor jedem Werk, greifen BR und IGM an. Zu diesem Teil der „Zeitenwende“ gehört, dass Rüstungshersteller wie Rheinmetall auf die Übernahme der Arbeiterinnen und Arbeiter warten, um neue Waffen zu produzieren, die sich ihren Weg suchen und einen Krieg für finden.

Ohne wesentlich mehr Mitbestimmung der Produzentinnen und Produzenten und der gesamten Gesellschaft, ohne Beschneidung der Macht des Kapitals, ohne Vergesellschaftung wird es keine Krisenlösung gebe, sondern die Katastrophe wird mit allen politischen und sozialen Konsequenzen ihren Lauf nehmen. Carsten Büchling, Betriebsratsvorsitzender bei VW in Kassel sagt dazu: „Dass jetzt betriebsbedingte Kündigungen und Werksschließungen im Raum stehen, ist Wasser auf die Mühlen der AfD. Wenn wir mehr Einfluss hätten auf strategische Entscheidungen, könnten solche Zuspitzungen vermieden werden. Die Beschäftigten müssen zu Miteigentümern der Betriebe werden.“

 

EU-Wahl 2024

AFD

Die LINKE

Niedersachsen

13,2

2,1

Salzgitter

22

2,1

Emden

16,5

2,8

Wolfsburg

15,7

1,7

Deutschland

15,9

2,7

 

Über Klasse und Klassenpolitik zu reden ist richtig, solche praktisch zu machen aber ungleich wichtiger und schwieriger. In den Betrieben gibt es maximale Verunsicherung und große Ängste vor Entlassungen und Betriebsschließungen. Das, was wir jetzt tun müssen, um den Rechten nicht das Feld zu überlassen sind Aktionen auf Basis unserer Kenntnisse und Erfahrungen: Wir brauchen eine klare politisch-ökonomische Analyse entsprechend der aktuellen ökonomischen Lage, der realen Entwicklung, den Kräfteverhältnissen und der Klassenauseinandersetzungen. Angesichts der Krise der Automobilindustrie als Schlüsselindustrie und der notwendigen sozial-ökologischen Transformation sind öffentliche Kontrolle, die Demokratisierung von Unternehmen und öffentliches Eigentum dringend notwendig für eine zukunftsfähige, nachhaltige und gute Arbeit sichernde Industrie – und nicht die Steigerung des Aktienwerts und der Dividendenausschüttung, anknüpfend an das Transparent von gewerkschaftlichen Vertrauensleuten bei der Warnstreikdemo am 2. Dezember in Wolfsburg: „Statt Krise und mit Gier – wenn ihr nicht könnt übernehmen wir!“. Es geht nicht um die radikalste Forderung – aber mit „Sozialpartnerschaft“ und auf Basis der Konkurrenz und Profitwirtschaft sind die Probleme nicht zu lösen.

Es bleibt dabei: Uns aus dem Elend zu erlösen, können wir nur selber tun!

Steigender Arbeitsdruck durch Management per RFID, Excel & KI

Sa, 11/01/2025 - 16:40

Im letzten Jahr hat sich erneut gezeigt: Arbeit macht auch in der modernen Arbeitswelt krank. Zahlreiche wissenschaftliche Untersuchungen haben gezeigt, wie Beschäftigte unter Druck gesetzt werden. Jeder fünfte Arbeitnehmer war mindestens einmal aufgrund von mentalen Problemen krankgeschrieben, meldet der AXA Mental Health Report 2024 (1). Bei vielen Arbeitsstellen ist die psychische Belastbarkeit des Arbeitenden nachhaltig gefährdet. „Führung geht nicht per Excel-Tabelle“, schreibt der Psychologe Rolf Schmiel in seinem neuen Buch „Toxic Jobs“ (2). Er kritisiert, dass Zahlen von vielen Managern als einziges Steuerungsinstrument genutzt werden. Motivation, die Suche nach Verbesserungspotential der Beschäftigten – all das hält er für sinnvollere Instrumente.

Die Realität sieht anders aus: Bedeutete Controlling in der Vergangenheit, die Gewinnerwartung zu ermitteln und Kostenrechnung zu betreiben, soll heute jeder Arbeitsablauf mit aktuellen Zahlen verfolgt werden. Das ist Ziel der „digitalen Transformation“, von der Unternehmen zunehmend sprechen. Neue Software verspricht immer mehr Möglichkeiten, wie das Beispiel „Microsoft“ zeigt: „Microsoft Fabric verfolgt einen integrierten Ansatz, der Datenintegration, Datenmanagement und Business Intelligence nahtlos miteinander verbindet. Während Power BI bisher überwiegend für die Datenvisualisierung und -analyse verwendet wurde, erweitert Fabric diese Funktionalitäten zu einer umfassenderen Datenplattform. Power BI ermöglicht zwar bereits Datenintegration und Datenmodellierung, aber Fabric hebt das Ganze auf ein völlig neues Niveau.“ (3) Die Dokumentation und Verwaltung von Beschäftigtendaten mit Hilfe moderner Technik ist von besonderer Bedeutung – denn sie liefern Vorgesetzen Daten zur Kontrolle. In „Echtzeit“, wie es heute heißt, indem sofort nach einzelnen Arbeitsschritten etwa das Arbeitstempo überwacht wird. 

Dabei ist diese prozessorientierte Steuerung nicht so einfach umzusetzen, wie ein Bericht des Fraunhofer-Instituts für Arbeitswirtschaft und Organisation (Fraunhofer IAO) zeigt. Geschildert wird die Situation in einer Werkshalle der Firma Bosch in Bühl. Es wird alle paar Sekunden ein neuer elektrischer Motor für die Sitzverstellung in Autos produziert – und zwar auf einer rund 50 Meter langen Fertigungsstraße, die seit vielen Jahren genutzt wird. „Um die Performance der Linie durch Daten- und KI-gestützte Analysen zu verbessern, müssen wir zunächst Daten sammeln und korrelieren, was mit den alten Maschinen nicht so einfach möglich ist. Zugleich wäre es aber nicht wirtschaftlich gewesen, sie technisch aufzurüsten“, erläutert Dr. Stefan Groh, Data Scientist bei Bosch (4). „Also haben wir nach einer intelligenten Lösung gesucht, wie wir die Daten kostengünstig sammeln, aufbereiten und weiterverwenden können“. Statt die ganze Maschine zu vernetzen, wurden die Werkstückträger aufgerüstet, auf denen der Motor durch die Fertigungslinie fährt. Diese Träger sind mit RFID-Chips ausgestattet, durch die sich der Weg durch die Linie nachvollziehen lässt. RFID bedeutet „Radio Frequency Identification“. Auf einem kleinen RFID-Chip können die unterschiedlichsten Informationen gespeichert und durch Funkwellen gesendet werden. Durch dieses Senden werden einzelne Arbeitsschritte nachvollziehbar, was den „gläsernen Arbeiter“ ermöglicht. Sobald sich andeutet, dass etwas nicht nach Plan läuft, bewertet eine KI-Software die Auswirkung und schickt eine Meldung auf die Handys von Produktionsplaner und Facharbeiter. Diese Meldungen können dann auch in der Freizeit bei Beschäftigten ankommen, so dass die Arbeit immer mehr in die Freizeit eindringt.

KI-Verordnung ohne Beschäftigtendatenschutz

Im letzten Jahr wurde eine europaweite Regelung zum KI-Einsatz verabschiedet. Die EU-KI-Verordnung gilt für alle Unternehmen mit Sitz in der EU – und zwar nach dem Marktortprinzip gemäß Art. 2 EU KI-VO auch unabhängig vom Standort des Betreibers, solange der Einsatz des KI-Systems für Nutzer in der EU erfolgt. Sie gilt sowohl für Entwickler oder Anbieter von KI-Systemen als auch für deren Anwender im Betrieb und hat deshalb auch für Arbeitsplätze eine große Bedeutung. Mit der Verordnung werden KI-Systeme in unterschiedliche Risikogruppen unterteilt. Zu Hochrisiko-KI-Systemen gehören Recruiting-Programme, die Bewerbungen sichten, Bewerber bewerten oder Aufgaben automatisiert zuweisen. Selbst diese Hochrisiko-KI-Systeme sind aber nicht verboten, sie sollen Anbieter zur Transparenz zwingen, indem eine sogenannte Konformitätserklärung abzugeben ist – sie sollen so zusichern, dass sie sich an die geltenden EU-Vorgaben halten.

Die Mängel der Neuregelung sind offensichtlich: Sie umfasst keinen Schutz der Belegschaften vor Überwachung. Ein spezifisches Beschäftigtendatenschutzgesetz, wie es die Gewerkschaften seit Langem fordern, fehlt also weiterhin.

An oberster Stelle steht bei vielen Technik-Projekten die Begrenzung sogenannter nicht-wertschöpfender Tätigkeiten. Dazu zählen im Industriebereich das Holen von Werkzeugen, Reparaturarbeiten oder die Nachbearbeitung. Auch Abstimmungen zwischen Schichten oder Arbeitsgruppen können dazu gehören. Übersehen wird bei dieser Suche nach „Luft in den Prozessen“ bewusst: Diese Arbeiten dienen den Beschäftigten nicht nur dazu, auch eine kleine Verschnaufpause zu haben, sie sind vielmehr in der Regel Voraussetzung für eine ordnungsgemäße Erledigung der Arbeit. Auch die Auswertung der einzelnen Arbeitsschritte und somit die Kontrolle der Arbeitenden zählen zu den Möglichkeiten der neuen Technik. Voraussetzung ist oft eine Datenbank, in der Informationen aus unterschiedlichen Quellen in einem einheitlichen Format zusammengefasst werden. Die Folge ist steigender Leistungsdruck in den Betrieben.

Proteste gegen Leistungsdruck bei Amazon

Dagegen regt sich Widerstand. Die Gewerkschaft ver.di hat Beschäftigte von Amazon am „Black Friday“ im Dezember 2024 die zum Streik aufgerufen. In Bad Hersfeld fand eine zentrale Protestaktion statt, zu der 1.200 Streikende aus der ganzen Republik anreisten. Die Arbeiter fordern nicht nur eine Bezahlung nach Tarif. Vielmehr soll der Tarifvertrag für gute und gesunde Arbeit im Einzelhandel durchgesetzt werden. „Die Beschäftigten berichten uns von einem enormen Leistungsdruck, von einer erschöpfenden Arbeitsverdichtung und von einer Überwachung am Arbeitsplatz, die ein Klima der Angst erzeugt“, erklärt ver.di-Bundesvorstand Silke Zimmer (5).

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Nachweise:

(1) www.axa.de/presse/mediathek/studien-und-forschung/mental-health-report-2024

(2) Rolf Schmiel, Toxic Jobs, https://www.zsverlag.de/book/toxic-jobs-e-book-9783965844827

(3) www.haufe.de/controlling/controllerpraxis/microsoft-fabric-veraendert-rolle-des-power-bi-entwicklers_112_639058.html

(4) www.iao.fraunhofer.de/de/forschung/beitrag_01-die-frau-fuers-digitale.html

(5) www.verdi.de/presse/pressemitteilungen/++co++9452b59c-ad91-11ef-be85-2b47d3ea26bf

Internationale Kooperation für eine andere Weltordnung – 22. Doha-Forum erörtert Wege der multipolaren Zusammenarbeit

So, 29/12/2024 - 13:34

Das Streben des globalen Südens nach einer gerechteren Weltordnung hat auf dem 22. Doha-Forum, das vom 7. bis 8. Dezember2024 stattfand, neuen Schwung erhalten. Das diesjährige Forum betonte unter dem Motto „Der Imperativ der Innovation" die Notwendigkeit offener, kollaborativer und sektorübergreifender Zusammenarbeit.

Der hochrangige Dialog fand zu einem kritischen Zeitpunkt statt, da die globale Handelslandschaft mit neuen Unsicherheiten konfrontiert ist. Das Doha-Forum versteht sich seit seiner Gründung in 2001 als eine Plattform für transformative Diskussionen über die wichtigsten Herausforderungen der Welt und sinnvolle Veränderungen. In regelmäßigen Abständen richtet sich die Einladung des Forums an ein weltweites Publikum zur Teilnahme an den Diskussionen.

In diesem Jahr standen die organisierten Foren zu einem großen Teil im Zeichen der Erörterung progressiver und innovativer Lösungen für die schwierigsten Herausforderungen wie z.B. geopolitische Spannungen, globale Sicherheit, humanitäre Krisen und technologische Fortschritte, die die meisten Menschen auf der Welt erleben. Innovation, so die Veranstalter, spiele eine entscheidende Rolle, wenn es um eine Überwindung globaler Hindernisse gehe. Die Zukunft liege nicht in konkurrierenden Narrativen, sondern in gemeinschaftlichen Lösungen. Mit der Absicht, unterschiedliche Stärken zu vereinen, könnten gerechtere globale Partnerschaften geschmiedet werden. Das Doha-Forum umfasste 80 Diskussionsrunden und über 350 Redebeiträge.

Im Folgenden sind einige ausgewählte Themen in der gegebenen Kürze zu überprüfen, ohne den Anspruch einer vollständigen Zusammenfassung erheben zu wollen.

Zuvor eine knappe Erläuterung von zwei unterschiedlich akzentuierten Foren im Vergleich: Weltwirtschaftsforum in Davos und das Doha-Forum: Beide Foren sind bedeutende internationale Veranstaltungen, die sich mit globalen Herausforderungen befassen. Beide Foren sind konzipiert als Plattformen für den Austausch, beides sind keine Entscheidungs-Gremien.

Das Weltwirtschaftsforum Davos ist traditionell stark auf Wirtschaftspolitik ausgerichtet 2024 stand unter dem Motto "Wiederaufbau des Vertrauens". Zahlende Mitglieder, international führende Wirtschaftsexperten, Politiker, Wissenschaftler, gesellschaftliche Akteure und Journalisten kommen zusammen, um über aktuelle globale Fragen zu diskutieren. Im Jahr 2024 zählte das Forum 2.800 TeilnehmerInnen. Viele Diskussionsrunden fanden erfahrungsgemäß hinter verschlossenen Türen statt. Zunehmender Fokus auf Themen wie Umweltschutz und soziales Unternehmertum, zudem standen 2024 aktuelle Krisen wie der Krieg in der Ukraine und im Nahen Osten auf der Tagesordnung.

Das Doha-Forum existiert seit 2002 und versteht sich als eine Plattform zur Erörterung von Themen der globalen Herausforderung und konzentriert sich schwerpunktmäßig auf Diplomatie, Dialog und Diversität. In den Diskussions-Foren werden im allgemeinen Themen der wirtschaftlichen Entwicklung, neue Technologien, geopolitische Themen und Themen der kulturellen Diplomatie. Die Veranstalter legen besonderen Wert auf Innovation und offene, kollaborative Ansätze. Im Jahr 2024 nahmen mehr als 4.500 Menschen aus 150 Ländern an den diversen Foren, Experten-Panels und Diskussions-Runden teil, einschließlich Staats- und Regierungschefs, Minister, Parlamentarier, Akademiker, Wirtschaftsführer, Vertreter von Nichtregierungs-organisationen und Think Tank-Vertretern aus aller Welt.

Wirtschaftliche Entwicklung und neue Technologien

Die Nutzung innovativen Denkens zur Neugestaltung der Zukunft bildete entsprechend des Tagungs-Mottos den ersten Diskussions-Schwerpunkt des diesjährigen Doha-Forums. Den Teilnehmern ging es vor allem darum, die Wettbewerbsfähigkeit der beteiligten Staaten in der Ära intelligenter Volkswirtschaften zu erörtern. Zur Bewältigung globaler Krisen sei Innovation eine Verpflichtung. Dabei kündigte sich eine Kooperationsvereinbarung zwischen dem Doha-Forum und dem Weltwirtschaftsforum zur Intensivierung des internationalen Dialogs an.

Unter dem erwähnten Begriff „Der Imperativ der Innovation" ging es insbesondere um eine effektive Steuerung neuer Technologien wie KI, Klimabezogene Technologie, der digitale Wirtschaft und des Übergangs zu grüner Energie, um diese neue Technologie als Säulen für eine Zusammenarbeit zur Förderung von Wohlstand und Entwicklung, auch in den Ländern des globalen Südens einschließlich der arabischen Staaten zu nutzen. Die Redner plädierten in ihren Beiträgen dafür, die Entwicklung von Technologie für den Einsatz zur Bewältigung globaler Krisen auszurichten. In ergänzenden Podiums-Diskussionen ging es um die Frage der Förderung des Dialogs zwischen verschiedenen Ländern und Organisationen, wofür Plattformen wie das Doha-Forum eine gute Basis bildeten. Zustimmung fand dabei u.a. der Vorschlag der Veranstalter, sich als Forum dem existierenden globalen Netzwerk anzuschließen, das sich der globalen Wirkung durch Zusammenarbeit, Innovation und Inklusivität widmet.

Geopolitik und internationale Beziehungen

Im Zentrum der Podiumsdiskussion über Chinas Rolle in einem aufstrebenden globalen Süden standen Fragen zu Geopolitik und internationale Beziehungen sowie zur Neudefinition der zukünftigen Weltordnung. In den Redebeiträgen spielte die jüngste Erweiterung der BRICS-Gruppe sowie die Frage, wie Chinas wirtschaftliche und politische Führungsrolle Allianzen beeinflusst und globale Handelsnetze umgestaltet, eine wichtige Rolle. Die chinesische Berichterstattung stellt China als konstruktiven Partner für den Globalen Süden und als wichtigen Akteur in der internationalen Zusammenarbeit dar, wobei der Fokus auf Chinas Beiträgen und seine Rolle bei der Gestaltung einer neuen Weltordnung lag. Die chinesischen Teilnehmer betonten die Bereitschaft ihres Landes, mit anderen Ländern, so auch mit der EU und den USA zusammenzuarbeiten, um das UN-System zu unterstützen und nach UN-Prinzipien zu handeln. Zu erwähnen ist dabei, dass die jüngste Ankündigung des Teilnehmerlandes China, die Zölle für mehr als 40 am wenigsten entwickelte Länder zu senken, große Aufmerksamkeit erregte, während große Volkswirtschaften wie die Vereinigten Staaten und die Europäische Union eine Rückkehr zu protektionistischen Maßnahmen signalisierten.

Sicherheit

Sicherheitsfragen, einschließlich Cybersicherheit und die aktuellen Krisen in verschiedenen Regionen der Welt bildeten einen weiteren Schwerpunkt in den Diskussions-Runden, beispielsweise der "Wandel der öffentlichen Meinung in der arabischen Welt im Lichte des Gaza-Krieges" sowie "Globale Governance und Politik nach einem Jahr mit Wahlen in über 50 Ländern" und die "Stärkung der zukünftigen UN-Charta für Frieden und nachhaltige Entwicklung".

Katar als Veranstalterland des Doha-Forums spielt mit seinen Netzwerken und Kommunikationskanälen in der arabischen Welt gerade bei der Frage der Sicherheit eine bedeutende Rolle. Keinem anderen regionalen Akteur sei es in den letzten Jahren besser gelungen, sich über die Kommunikationskanäle mit Gruppen zu verhandeln, mit denen es andere Akteure der internationalen Politik ablehnen, direkt zu verhandeln. Katar gilt neben seiner Gastgeber-Rolle des Doha-Forums als ein Mediator, der sich mit hyperaktiver Diplomatie internationale Anerkennung verschaffen konnte. Auf die derzeit ruhende Vermittler-Rolle Katars als einflussreiche Mittelmacht zwischen den Konfliktparteien Israel und palästinensischen Organisationen ist an dieser Stelle nicht einzugehen.

Wichtige Redebeiträge bezogen sich darauf, Daten über die öffentliche Meinung in der arabischen Welt zu erfassen und Wissen über arabische Bürger und arabische Gesellschaften zu erheben, um die politischen Verhältnisse in der arabischen Welt besser zu verstehen und sie basierend auf Fakten einordnen zu können.

Transformative diplomatische Strategien für die geopolitischen Herausforderungen der Gegenwart

In der Veranstaltung Transformative diplomatische Strategien für die geopolitischen Herausforderungen der Gegenwart, die in Zusammenarbeit mit dem Zentrum für Internationale Politikforschung und der Konrad-Adenauer-Stiftung durchgeführt wurde, untersuchten die Podiumsteilnehmer den sich wandelnden Charakter der Diplomatie als Reaktion auf die komplexe globale Landschaft von heute.

Weiterentwicklung des UN-Zukunftspakts für globalen Frieden und nachhaltige Entwicklung

In dieser Veranstaltung untersuchten die Podiumsteilnehmer neue Partnerschaften und Akteure, die erforderlich seien, um diese in der Praxis umzusetzen. S.E. Philémon Yang: Präsident der Generalversammlung der Vereinten Nationen, erklärte dazu: „Wir müssen den Frieden erhalten, wo immer er gebrochen wurde. Wir müssen nachhaltige Entwicklung fördern, wo Armut herrscht. Wir müssen sicherstellen, dass wir uns an dem Kampf um einen gesunden Planeten für uns alle beteiligen."

Einführung einer globalen Charta für humanitäre Diplomatie

Erwähnenswert ist auch die Forums-Diskussion, bei der es um die Frage ging, ob eine koordinierte Strategie der humanitären Diplomatie die weltweite Krisenreaktion revolutionieren könnte. An der Diskussion nahm eine Reihe von Experten teil, um deren Ziele und Herausforderungen von humanitärer Arbeit zu erörtern. Es ging insbesondere um den Zustand, mit denen die Mitarbeiter humanitärer Organisationen konfrontiert seien, wie z. B. das gezielte Angreifen und Blockieren von Hilfe, was gegen das humanitäre Völkerrecht verstoße. Eine besondere Rolle spielte dabei die Initiative von Katar zur Entwicklung einer „Globalen Charta für humanitäre Diplomatie“. Es geht um die Förderung eines gemeinsamen Verständnisses für die humanitäre Diplomatie sowie ihrer ethischen und rechtlichen Grundlagen. Mit klaren Leitlinien und methodischen Vorgaben soll die Zusammenarbeit zwischen Regierungen, humanitären Organisationen und der Zivilgesellschaft gefördert und die Effektivität humanitärer Diplomatie zu gesteigert werden.

"Gemeinsam für den Wandel: Eine globale Allianz gegen Hunger und Armut"

Im Forum „Uniting for Change: A Global Alliance Against Hunger and Poverty“ (Übersetzung siehe Überschrift) untersuchte die entscheidende Rolle der Globalen Allianz gegen Armut und Hunger, die auf dem G20-Gipfel in Rio de Janeiro im November 2024 ins Leben gerufen wurde, um weltweite Bemühungen für Nahrungsmittelsicherheit und soziale Gerechtigkeit zu mobilisieren. Hierzu betonte S.E. Wellington Dias, Minister für Entwicklung und soziale Sicherheit, Familie und Hungerbekämpfung der Föderativen Republik Brasilien: „Armut ist kein Problem für die Armen. Sie ist ein Problem für die ganze Welt. Die Lebensmittelproduktion ist sehr hoch und könnte auf alle Länder verteilt werden, insbesondere auf diejenigen, die unter Hunger leiden.“ Ergänzend dazu stellte S.E. der Außenminister von Mali, Abdoulaye Diop die weitreichenden Folgen, die ein Scheitern bei der Bekämpfung des Hungers mit sich bringen in den Mittelpunkt seiner Ausführungen: “Die Frage der Ernährungssicherheit ist mit Frieden und Investitionen verbunden. Menschen, die hungern, können keine Menschen sein, die Frieden wollen – deshalb brauchen wir Ernährungssicherheit.“

Notwendigkeit der Reform der internationalen Institutionen

Mehrere Redner setzten sich mit der Frage der Notwendigkeit einer Reform der internationalen Institutionen auseinander. Die Vereinten Nationen müssten verändert werden lautete eine der vorgebrachten Forderungen. Sie seien unverzichtbar, aber es müsse Brücken geben zwischen den Großmächten, die den Sicherheitsrat in eine Sackgasse brächten, und denen, die die sogenannte zweite Welt repräsentieren.

Ein Zwischenfazit

Die Rolle des Doha-Forums als Plattform für den Austausch von Lösungsansätzen zur internationalen Verständigung über globale Krisen mit seiner bemerkenswerten Teilnehmerzahl aus Politik und Wissenschaft sollte nicht überbewertet werden. Aus den Reihen der Teilnehmer erfolgte auch der Hinweis an die Veranstalter, die Erwartungen eher zu dämpfen und nicht zu viel zu erwarten, wenn es in den Konflikt-Zonen Sudan, Gaza, Ukraine und Syrien zu baldigen Friedensabkommen kommen sollte.

Und dennoch ist die Auseinandersetzung mit den erörterten Konzepten und Ideen für internationale Kooperation und Bemühungen der Verständigung von Ländern des globalen Südens begrüßenswert. Auch wenn einige der erörterten Initiativen in ihrer weiteren Präzision weiter betrachtet werden sollten, sind sie doch als Aufklärung und Information über das Bemühen auch jener Länder einzuordnen, die einen Beitrag bei der Neudefinition der Weltordnung mit Partnern auf Augenhöhe leisten können.

 

Quellen:

https://www.scmp.com/opinion/china-opinion/article/3291558/chinas-ties-global-south-show-different-world-order-possible

https://dohaforum.org/docs/default-source/default-document-library

https://qna.org.qa/de-DE/news/news-details?id=das-dohaforum-beginnt-morgen-mit-einem-weltweiten-publikum

https://qna.org.qa/de-DE/news

https://impacthub.net/de/impact-hub-policy-approach

https://gws-os.com/fileadmin/downloads/fb-632-effekte-co2-grenzausgleichsmechanismus-wirtschaft-beschaeftigung.pdf

https://www.mfa.gov.cn/eng/xw/wjbxw/202412/t20241211_11542637.html

Kriege befeuern das Geschäft der Top-100 Waffenkonzerne

Do, 12/12/2024 - 10:38

Die globalen Kriege und Krisen treiben die Umsätze der 100 weltgrößten Rüstungskonzerne in die Höhe. Wie das Stockholmer Friedensforschungsinstitut SIPRI in seinem jährlich aktualisierten Bericht zu den Umsätzen der 100 größten globalen Rüstungsunternehmen schreibt, haben deren Einnahmen im Jahr 2023 um 4,2 Prozent (+ 35 Milliarden Dollar) auf 632 Milliarden Dollar (fast 600 Milliarden Euro) zugenommen. Es ist ein neues Allzeithoch! (The Sipri Top 100 Arms-Producing and Military Services Companies, 2023).

An der Spitze stehen wieder US-amerikanische Waffenproduzenten. Platz 1 bis 5 im Ranking sind von US-Firmen belegt. Diese fünf generieren 31 Prozent (198 Milliarden Dollar) der Waffenverkäufe der Top 100. Weitere 36 der Top 100-Rüstungsfirmen haben ebenfalls ihren Sitz in den USA, insgesamt also 41, auf die 50,3% der weltweiten Top-100-Rüstungsumsätze entfallen: 317 Milliarden Dollar. Die USA stellen nur vier Prozent der Weltbevölkerung – sie müssen sich besonders bedroht fühlen!

Nicht nur die USA, sondern der Westen – Nordamerika und Europa (ohne Russland) – insgesamt dominiert das Geschäft mit dem Tode in einem erdrückenden Ausmaß. Die kollektiven imperialistischen Mächte, die sich in der G7 zusammengeschlossen haben – USA, Deutschland, Japan, UK, Frankreich, Italien, Canada – beheimaten 63 der Top 100 Rüstungsfirmen, die 72,2 Prozent der Umsätze erwirtschaften. Und das bei einem Anteil an der Weltbevölkerung von lediglich neun Prozent.

Die 32 NATO-Staaten mit gerade mal 12 Prozent der Weltbevölkerung kommen auf 69 der Top-100-Waffenschmieden und fast Dreiviertel (73,4%) der Waffenproduktion. Dennoch wird in Politik und Medien das Narrativ von der „Bedrohung aus dem Osten“ – Russland und Fernost (China) – in Endlosschleife abgespielt.

 

„Die beiden russischen Unternehmen, die in den Top 100 gelistet sind, verzeichneten einen gemeinsamen Umsatzanstieg von 40 Prozent auf schätzungsweise 25,5 Milliarden US-Dollar“, schreibt SIPRI. Gewiss ein rasanter Anstieg, hauptsächlich infolge des Ukrainekriegs. Aber zusammengenommen betragen die Waffenverkäufe der beiden Holdings (Rostec und United Shipbuildings Corp.) nur vier Prozent der Rüstungsumsätze aller Top 100 – USA dagegen: 50 Prozent.

Nimmt man China mit seinem 16%-Anteil (9 Konzerne) noch dazu, dann sind es noch immer erst 20 Prozent. Dagegen 72% G7 (50 Prozent USA). Selbst die europäische NATO (einschließlich Türkei) toppt mit 21,8 Prozent den zusammengefassten Wert von Russland und China: 20,0 Prozent. Zur Panikmache besteht also nicht der geringste Anlass. Sie dient nur dazu, den Bürgern noch mehr Geld abzupressen und Kriege mental vorzubereiten. „Die Zahlen stehen im offenen Widerspruch zu einer angeblich unzureichenden Verteidigungsfähigkeit des Westens und Forderungen nach mehr und mehr Aufrüstung“, sagte Greenpeace-Experte Alexander Lurz.

Deutsche Konzerne fahren Rüstungskapazitäten hoch

Die Zahl europäischer Konzerne unter den 100 größten Waffenherstellern beträgt 27 (ohne Russland); der Rüstungsumsatz 132,6 Milliarden Dollar (21 Prozent. Die Umsatzsteigerung betrug 2023 0,2 Prozent. Die vier deutschen Konzerne unter den Top-100 steigerten dagegen ihre addierten Waffenverkäufe um 7,5 Prozent auf 10,7 Milliarden Dollar.

Die Zahl rein deutscher Rüstungskonzerne unter den Top 100 ist unverändert bei vier: Rheinmetall, der größte deutsche Rüstungskonzern rangelte sich um drei Positionen nach vorne: von Platz 29 auf 26. Zehn Prozent Umsatzwachstum. Den größten Sprung in der Skala machte Diehl mit seinen Luftabwehrsystemen: von Platz 98 auf 83. ThyssenKrupp ging dagegen von 64 auf 66 zurück; auch Hensoldt verlor an Boden: Platz 73 gegenüber 71. Bei der deutschen Rüstungsindustrie muss man auch die Transeuropäischen Konzerne mit deutscher Beteiligung berücksichtigen. Es sind dies Airbus Defence (Luftrüstung) (von Platz 14 auf 12), MBDA (Lenkwaffen/Raketen) (von 33 auf 30) und KNDS (Panzer) (46 auf 45). (siehe auch Fred Schmid; „Zeitenwende und der Militär-Industrie-Komplex“, isw-report 140, S. 14ff).

Die deutschen Firmen unter den Top-100 werden auch 2024 im Ranking nach oben gehen; ihre Auftragsbücher sind prallvoll. Möglicherweise kommt noch Renk (Panzergetriebe) dazu. Allen voran der Kanonen-, Granaten- und Panzer-Konzern Rheinmetall, dessen Auftragsbestand ein Mehrfaches des Jahresumsatzes ausmacht. Rheinmetall wird in diesem Jahr seinen Umsatz wahrscheinlich auf zehn bis elf Milliarden Euro verdoppeln und sich dann unter die 20 umsatzstärksten Rüstungskonzerne der Welt einreihen. Die Rheinmetall-Aktionäre – zuvorderst angelsächsische Vermögensverwalter und andere Finanzfonds – setzen auf verstärkte europäische Rüstung, die Präsident Trump den Europäern abverlangen wird. Die Rheinmetall-Aktie hat nach den US-Wahlen einen mächtigen Satz nach oben gemacht: sie stieg von 495 Punkten (6.11.2024) auf 658 am 5. Dezember. Ein Kursgewinn von fast einem Drittel (32,9%) binnen eines Monats.

2024 dürfte sich der starke Anstieg der Rüstungsverkäufe nach Einschätzung des SIPRI-Experten Lorenzo Scarazzato „weiter fortsetzen“. „Die Rüstungseinnahmen der 100 größten Waffenhersteller spiegelten (2023 – F.S.) das Ausmaß der Nachfrage immer noch nicht vollständig wider, und viele Unternehmen haben Rekrutierungsmaßnahmen gestartet, was darauf hindeutet, dass sie optimistisch sind, was die zukünftigen Verkäufe angeht“.

Auch das Börsenblatt finanz-trends bescheinigt der Rüstungsindustrie eine glänzende Perspektive: „Schätzungen zufolge wird die globale Rüstungsindustrie bis zum Jahre 2030 jährlich um rund acht Prozent wachsen. Damit zählt sie zu den wachstumsstärksten Teilindustrien der Welt“. „Treiber“ sind vor allem der Ukraine-Krieg, die Konflikte im Nahen Osten und die „zunehmenden militärischen Spannungen in Asien“. Finanz-trends nennt dann gleich auch noch die Vor- und Nachteile von Investments in Rüstungsaktien. „Hauptvorteil“ sei die Stabilität der Branche“ aufgrund des staatlichen Auftraggebers. „Hinzu kommt, dass es sich um eine vergleichsweise stark wachsende Branche handelt. Angesichts der zahlreichen Krisenherde in aller Welt haben Rüstungsindustrie-Aktien hervorragende Renditeperspektiven“. „Ein dritter Vorteil von Rüstungsindustrie-Aktien ist ihre überdurchschnittlich hohe Dividendenrendite. Aufgrund ihrer starken Cashflows (durch staatliche Anzahlungen – F.S.) können Rüstungsindustrie-Aktien meist hohe Dividenden zahlen“. Hauptnachteil sei „die ethische Bedenklichkeit“ – „Dividenden versus ethische Bedenken“.

Die SIPRI-Tabelle ist erst seit Dezember 2024 verfügbar; deshalb konnten wir sie in isw-report 140 noch nicht veröffentlichen.

isw-report 140, November 2024, 32 Seiten, 3,50 Euro zzgl. Versand

 

30. isw-Forum: Weltordnung im Umbruch. (III/III)

Mo, 09/12/2024 - 09:49

Die Gegenbewegungen und neue Bündnisse zur westlich dominierten Globalisierung.

Neue Bündnisse und Machtkonstellationen sind im Entstehen, nachdem sich viele Länder des globalen Südens von Westen distanzieren und ihren eigenen Interessen folgend neue Partner suchen.  Die Entwicklung hin zu einer multipolaren Weltordnung birgt  Chancen einer Kriegsvermeidung und eine partnerschaftlichen demokratischen Entwicklung des internationalen Systems.

 

30. isw-Forum: Weltordnung im Umbruch. (II/III)

Mo, 09/12/2024 - 09:49

Der globale Süden und seine zunehmende geopolitische Bedeutung.

Welche Rolle spielt der globale Süden in einer multipolaren Welt, die am Rand eines/mehrere Kriege steht? Und welche Rolle spielen die Verdammten dieser Erde, die Unsichtbar Gemachten in einer sich herausbildende neuen globale Ordnung oder Unordnung?

30. isw-Forum: Weltordnung im Umbruch. (I/III)

Mo, 09/12/2024 - 09:49

Der neue kalte Krieg, der Kampf um die globale wirtschaftliche und politische Macht.

Die Umgestaltung der Weltordnung vollzieht sich im 21. Jahrhundert als eine große Auseinandersetzung um widersprüchliche Macht- und Interessenskonstellationen. 
Der kalte Krieg erneuert sich und prägt die Hauptlinie des globalen Konflikts.

Thyssenkrupp von Krise zu Krise – Personalabbau trotz Staatsgeldern

Mi, 04/12/2024 - 08:04

Die Geschäftsführung von ThyssenKrupp kündigt für die Stahlsparte in großem Stil Arbeitsplatze-Abbau an.
Kampfansage für die IG Metall.

 



5.000 Stellen sollen gestrichen, 6.000 ausgelagert werden. 
Die Situation bei ThyssenKrupp ist vergleichbar mit der bei VW: Wie beim Autokonzern hat auch der Aufsichtsrat von Thyssenkrupp keine Probleme damit, trotz Krise Dividenden an Aktionäre auszuschütten. So fehlt Geld für die nötige Modernisierung des Unternehmens. Thyssenkrupp sieht sich als Vorzeigeunternehmen der industriellen Transformation.
Für den Umbau zur Produktion von „grünem Stahl“ fliessen Steuergelder an den Konzern. Bund und Land haben zwei Milliarden Euro Fördermittel für den Aufbau einer mit Wasserstoff betriebenen Anlage bereitgestellt. 700 Millionen Euro hat der Konzern mittlerweile davon abgerufen, meldet tagesschau.de. „An der grünen Transformation führt kein Weg vorbei“, sagt Konzernchef Miguel Lopez. „In kaum einer anderen Industrie ist der Hebel zur Senkung der Emissionen so groß wie beim Stahl.“[1]
 

Das Land NRW gibt dem Stahlkonzern die größte Einzelsubvention der Landesgeschichte in Höhe von 700 Millionen Euro, ohne dass mit der Vergabe des Geldes dem Unternehmen irgendwelche Bedingungen gestellt werden.
Hinter Planungen des Managements steht „die Frage, wie der klimagerechte Umbau der Industrie in Deutschland aussehen wird: sozialverträglich oder raubtierkapitalistisch?“, schreibt die Journalistin Anja Krüger in der taz. Und sie bemängelt das Verhalten der Vorstände: „Milliarden an Förderung einstreichen und Jobs in großem Stil abbauen, verträgt sich nicht. Steckt der Staat Geld in das Unternehmen, muss er die Bedingung stellen, auf den Kahlschlag zu verzichten.“[2]

Gewerkschafter: Offensiveres Vorgehen der Gewerkschaften erforderlich

Ein offensiveres Vorgehen der Gewerkschaften fordern einzelne Gewerkschafter.

Betriebsrat bei VW in Braunschweig, Lars Hirsekorn erklärt dazu: 
„Zum Beispiel die Debatte um Wasserstoff: Natürlich hat diese Technologie, die für Autos ohnehin nicht zu gebrauchen ist, ihre Probleme, aber es ist sicher sinnvoll, ein Stahlwerk auf Wasserstoff umzustellen. Die Regierung will den Wasserstoff dem freien Markt überlassen. Das ist Irrsinn, die Industrie muss unter gesellschaftliche Kontrolle kommen. Da müssen wir mutiger werden in den Forderungen“. 

Neue Ideen stoßen auch in der Belegschaft auf Interesse. „Wenn ich zum Beispiel mit Leuten über den ehemaligen Autoteilehersteller GKN in Florenz rede, wo die Belegschaft den Betrieb übernommen hat und auf klimafreundliche Produkte umstellen will, sagen alle, das ist super, da wehrt sich jemand“, berichtet Hirsekorn, der seit 1994 bei Volkswagen und seit Mai 2022 freigestellter Betriebsrat ist, von Gesprächen mit Arbeitern.[3]

 In ihrer Satzung fordert die IG Metall nach Artikel 2 seit 1949 eine Vergesellschaftung:
„Überführung von Schlüsselindustrien und anderen markt- und wirtschaftsbeherrschenden
Unternehmungen in Gemeineigentum“ [4]Bereits im Oktober 1983 beschloss der Gewerkschaftstag der IG Metall die Forderung nach Vergesellschaftung der Stahlindustrie.[5]

Mit dem Berliner Volksentscheid zur Vergesellschaftung konzerneigener Wohnungsbestände hat die Mietenbewegung gezeigt, wie populär diese Forderungen sein können. Die Transformation in der Stahlindustrie mit einer Neuordnung der Eigentumsverhältnisse zu verknüpfen, wäre die logische Konsequenz aus dem Managerversagen. Ein Blick auf die saarländische Stahlindustrie zeigt, dass es auch anders geht. Anteilseigner ist dort die „Montan-Stiftung-Saar“ ist. Die Stiftung setzt eine Unternehmenspolitik durch, die Gewinne zum größten Teil im Unternehmen lässt, um notwendige Investitionen zu finanzieren.  

Krise: keine neue Erfahrung für die Belegschaft

Krise ist keine neue Erfahrung für die Beschäftigten. So wollte das Management in den 2010er Jahren Weltkonzern werden. Mit einem neuen Hüttenwerk bei Rio de Janeiro und einem Walzwerk in den USA sollte ein Global Player aus NRW entstehen. „Wir leiden immer noch unter den Folgen der Fehlinvestitionen in Brasilien und den USA“, erklärte vor zwei Jahren die damalige Vorstandschefin Martina Merz. [6]

Die Wut auf die Vorstände bei den Beschäftigten groß. „Auf einer Belegschaftsversammlung bei Thyssenkrupp Steel in Bochum wurde es laut. Die Stahlarbeiter sind sauer und enttäuscht“, meldet tagesschau.de. Der Vorstand musste mit Sicherheitskräften vor wütenden Arbeitern geschützt werden. [7]

 


[1]  www.tagesschau.de/wirtschaft/unternehmen/thyssenkrupp-gruener-stahl-100.html

 [2]  https://taz.de/Stellenabbau-bei-Thyssenkrupp/!6048548  

 [3]  www.akweb.de/bewegung/massenentlassungen-bei-vw-ein-angriff-auf-alle-arbeiterinnen-betriebsrat-lars-hirsekorn-im-interview 

[4]www.igmetall.de/download/20231222_IGM_Satzung_2024_232da4272e6e85e92c762acbccd45acb4569daf
  d.pdf
  

[5]  https://www.nd-aktuell.de/artikel/1176984.ig-metall-gemeineigentum-als-krisenloesung.html

 [6] www.sueddeutsche.de/wirtschaft/thyssenkrupp-stahlwerke-verluste-krise-1.4750048 )

 [7] (www.tagesschau.de/inland/regional/nordrheinwestfalen/wdr-belegschaftsversammlung-bei-thyssenkrupp-die-leute-haben-geweint-102.html

COP-out 29

So, 24/11/2024 - 18:53

Die COP29, die internationale Klimakonferenz im ölreichen Baku (Aserbaidschan), fand ein qualvolles und schmerzhaftes Ende. 
Planung statt Preisgestaltung. Die COP29 bot nichts dergleichen.

 

 


Die Hauptfrage war, wie viel die reichen Länder den armen Ländern zur Verfügung stellen würden, um die Maßnahmen zur Eindämmung der globalen Erwärmung und zur Bewältigung der durch die steigenden Treibhausgasemissionen verursachten Schäden zu bezahlen.

Als Finanzierungsziel waren mehr als 1,3 Billionen Dollar pro Jahr bis 2035 vorgesehen.
Die endgültige Einigung basierte jedoch auf nur 300 Mrd. $ an tatsächlichen Zuschüssen und zinsgünstigen Darlehen der Industrieländer.

Der Rest sollte von privaten Investoren und vielleicht von Abgaben auf fossile Brennstoffe und Vielflieger kommen - die Einzelheiten blieben vage.
Das Angebot der „entwickelten“ Länder, das aus ihren Staatshaushalten und der Auslandshilfe finanziert wird, soll den inneren Kern einer so genannten „gestaffelten“ Finanzierungsregelung bilden, die von einer mittleren Schicht neuer Finanzierungsformen wie neuen Steuern auf fossile Brennstoffe und kohlenstoffintensive Aktivitäten, dem Kohlenstoffhandel und „innovativen“ Finanzierungsformen sowie einer äußeren Schicht von Investitionen aus dem Privatsektor in Projekte wie Solar- und Windparks begleitet wird. Dies sei ein „Ausweg“ aus der Bereitstellung echter Geldtransfers.

Mohamed Adow, Direktor des Thinktanks Power Shift Africa, sagte:
"Dieser [Gipfel] war eine Katastrophe für die Entwicklungsländer.
Er ist ein Verrat an den Menschen und dem Planeten durch reiche Länder, die behaupten, den Klimawandel ernst zu nehmen. Die reichen Länder haben versprochen, einige Mittel in der Zukunft zu 'mobilisieren', anstatt sie jetzt bereitzustellen. Der Scheck ist auf dem Postweg. Aber Leben und Lebensgrundlagen in gefährdeten Ländern gehen jetzt verloren.

Juan Carlos Monterrey Gómez, Panamas Klimabeauftragter, schloss: "Das ist definitiv nicht genug. Wir brauchen mindestens 5 Mrd. Dollar pro Jahr, aber wir haben nur 1,3 Mrd. Dollar gefordert. Das ist 1 % des weltweiten BIP. Das sollte nicht zu viel sein, wenn es um die Rettung des Planeten geht, auf dem wir alle leben." Das endgültige Abkommen „läuft ins Leere, wenn man es aufteilt.
Nach Dürren und Überschwemmungen haben wir Rechnungen in Milliardenhöhe zu bezahlen. Es wird uns nicht auf einen Pfad zu 1,5C bringen. Eher auf 3C."

Mehr als 60.000 Menschen hatten sich für die Konferenz angemeldet, die die Hotelpreise um 500 % in die Höhe schnellen ließ. Ein Standardzimmer im Holiday Inn in Baku kostete für die Dauer der Konferenz 700 Pfund pro Nacht, verglichen mit den üblichen 90 Pfund.
Laut FlightRadar24, einer Website zur Flugüberwachung, landeten in der ersten Woche 65 Privatjets in Baku, doppelt so viele wie üblich.

Edi Rama, Ministerpräsident von Albanien, kommentierte: „Die Menschen dort essen, trinken, treffen sich und machen gemeinsam Fotos - während im Hintergrund immer wieder Bilder von sprachlosen Führern laufen “, sagte er. „Für mich sieht das genauso aus wie das, was jeden Tag in der realen Welt passiert. Das Leben geht weiter, mit seinen alten Gewohnheiten, und unsere Reden - voll von guten Worten über den Kampf gegen den Klimawandel - ändern nichts. Was bedeutet es für die Zukunft der Welt, wenn die größten Umweltverschmutzer so weitermachen wie bisher?“, fragte Rama.
„Was um alles in der Welt machen wir auf dieser Versammlung, immer und immer wieder, wenn kein gemeinsamer politischer Wille in Sicht ist, über Worte hinauszugehen und sich für sinnvolle Maßnahmen zu vereinen?“

Auf der COP29 war keine Rede mehr von der „Abkehr von der Verbrennung fossiler Brennstoffe“, wie sie die Staaten der Welt vor einem Jahr versprochen hatten, und für 2024 ist ein neuer Rekord bei den weltweiten Kohlenstoffemissionen geplant.

 Die neuesten Daten zeigen, dass die den Planeten erhitzenden Emissionen aus Kohle, Öl und Gas im Jahr 2024 um 0,8 % steigen werden. Im krassen Gegensatz dazu müssen die Emissionen bis 2030 um 43 % sinken, damit die Welt überhaupt eine Chance hat, das im Pariser COP-Abkommen festgelegte Ziel eines Temperaturanstiegs um 1,5 °C einzuhalten. Dieses Ziel ist in weite Ferne gerückt, und der Planet steuert schnell auf einen Anstieg von 2,0 °C (und mehr) im Vergleich zur vorindustriellen Zeit zu.

Die derzeitige Politik steuert sogar auf einen Temperaturanstieg von 2,7 °C zu. Das erwartete Niveau der globalen Erwärmung bis zum Ende des Jahrhunderts hat sich seit 2021 nicht verändert, wobei in diesem Jahr „minimale Fortschritte“ erzielt wurden, so das Climate Action Tracker-Projekt.[1] Die Schätzung des Konsortiums hat sich seit dem Cop26-Klimagipfel in Glasgow vor drei Jahren nicht verändert. „Wir haben es eindeutig nicht geschafft, die Kurve zu biegen “, sagte Sofia Gonzales-Zuñiga von Climate Analytics. Die erwartete Erwärmung liegt mit 2,1 °C etwas niedriger, wenn man die Zusagen und Ziele der Regierungen einbezieht, aber auch das hat sich seit 2021 nicht geändert. Die Erwärmung im optimistischsten Szenario stieg leicht von 1,8 °C im letzten Jahr auf 1,9 °C in diesem Jahr, so der Bericht. „Wir verursachen eine globale Erwärmung, die 100 Mal schneller ist als frühere natürliche Veränderungen. „Wir bringen das Klima der Erde über die natürlichen Grenzen hinaus, mit CO2- und Temperaturwerten, die seit 3 Millionen Jahren nicht mehr erreicht wurden“, sagte Mark Maslin, [2]

Veränderungen der globalen Durchschnittstemperaturen, die gering erscheinen, können zu massivem menschlichem Leid führen. Letzten Monat wurde in einer Studie festgestellt, dass die Hälfte der 68.000 Hitzetoten in Europa im Jahr 2022 auf die bisherige globale Erwärmung von 1,3 °C zurückzuführen ist. Bei den höheren Temperaturen, die für das Ende des Jahrhunderts prognostiziert werden, wird auch das Risiko irreversibler und katastrophaler Extremereignisse in die Höhe schnellen. Die Forscher warnten, dass die von ihnen geschätzte mittlere Erwärmung von 2,7 °C bis zum Jahr 2100 eine so große Fehlerspanne aufweist, dass sie sich in weitaus heißeren Temperaturen niederschlagen könnte, als die Wissenschaftler erwartet hatten. „Es besteht eine 33%ige Chance, dass unsere Projektion 3°C oder mehr beträgt, und eine 10%ige Chance, dass sie 3,6°C oder mehr beträgt “, sagte Gonzales-Zuniga. Letzteres wäre „absolut katastrophal“, fügte sie hinzu.

Und das liegt nicht nur an den Kohlenstoffemissionen. Die Industrie für fossile Brennstoffe stößt gefährliche Mengen an Methanemissionen aus - das schädlichste aller Treibhausgase.
 Es verbleibt zwar nicht so lange in der Atmosphäre wie Kohlendioxid, aber über einen Zeitraum von 20 Jahren ist Methan 80-mal stärker beim Einfangen von Wärme. Es ist für schätzungsweise 30 Prozent der weltweiten Erwärmung seit der industriellen Revolution verantwortlich.

Laut einer Studie, die im September in der Zeitschrift Earth System Science Data veröffentlicht wurde, steigen die Methanemissionen mit einer Rekordrate. In den letzten zwei Jahrzehnten haben sie um etwa 20 Prozent zugenommen. Die atmosphärischen Konzentrationen des Gases sind heute mehr als 2,6 Mal höher als in der vorindustriellen Zeit und damit so hoch wie seit mindestens 800.000 Jahren nicht mehr. Es gelangt auf verschiedene Weise in die Umwelt: Es wird aus Sicherheitsgründen oder in Notfällen von Öl- und Gasfeldern in die Atmosphäre abgelassen oder aus Rohren oder Schornsteinen abgefackelt“, wodurch es hauptsächlich in Rauch und Kohlendioxid umgewandelt wird. (Wenn das Abfackeln ineffizient ist, wird auch reines Methan freigesetzt.)

Weltweit ist die Luftverschmutzung durch die Verbrennung fossiler Brennstoffe für etwa 1 von 5 Todesfällen verantwortlich - das entspricht in etwa der Bevölkerung von New York City. In den USA werden 350.000 vorzeitige Todesfälle auf die Verschmutzung durch fossile Brennstoffe zurückgeführt. Die Belastung durch Feinstaub aus fossilen Brennstoffen war 2012 für 21,5 % aller Todesfälle verantwortlich und wird 2018 aufgrund der verschärften Luftqualitätsmaßnahmen in China auf 18 % sinken. In Indien hingegen war die Verschmutzung durch fossile Brennstoffe im Jahr 2018 für fast 2,5 Millionen Menschen (über 14 Jahre) verantwortlich, was mehr als 30 % der gesamten Todesfälle in Indien bei Menschen über 14 Jahren entspricht. Tausende von Kindern unter 5 Jahren sterben jedes Jahr aufgrund von Atemwegsinfektionen, die auf die Verschmutzung durch fossile Brennstoffe zurückzuführen sind.

Die gängige Wirtschaftswissenschaft hat das Ausmaß und die Auswirkungen der Treibhausgasemissionen auf die Weltwirtschaft nicht erkannt.
William Nordhaus erhielt 2018 den Nobelpreis für Wirtschaftswissenschaften für seine Modellierung der Kosten und des Nutzens von Maßnahmen gegen den Klimawandel durch die Begrenzung der Emissionen.[3]
Er leistete Pionierarbeit bei der wirtschaftlichen Analyse des Klimawandels.
Nordhaus' Beitrag bestand darin, ein Modell zu entwickeln, mit dem die wahrscheinlichen Auswirkungen des Klimawandels auf die Volkswirtschaften abgeschätzt werden können.

Nordhaus konstruierte so genannte integrierte Bewertungsmodelle (IAMs), um die sozialen Kosten des Kohlenstoffs (SCC) zu schätzen und alternative Vermeidungsstrategien zu bewerten. IAMs werden verwendet, um die sozialen Kosten des Kohlenstoffs (SCC) zu berechnen. Sie versuchen, die inkrementelle Veränderung bzw. den Schaden an der globalen Wirtschaftsleistung zu modellieren, die sich aus einer Tonne anthropogener Kohlendioxidemissionen oder einem Äquivalent ergibt. Diese SCC-Schätzungen werden von politischen Entscheidungsträgern in Kosten-Nutzen-Analysen von Maßnahmen zur Eindämmung des Klimawandels verwendet. Da die IAMs jedoch so viele der großen Risiken auslassen, sind die SCC-Schätzungen oft viel zu niedrig. Die Werte hängen oft entscheidend von der „Diskontierung“ ab, mit der zukünftige Kosten in heutige Dollar umgerechnet werden.

Diese Abzinsungssätze sind für jede Diskussion von zentraler Bedeutung. Die meisten aktuellen Modelle zu den Auswirkungen des Klimawandels gehen von zwei fehlerhaften Annahmen aus: dass die Menschen in Zukunft viel reicher sein werden und dass das Leben in der Zukunft weniger wichtig ist als das Leben in der Gegenwart. Die erste Annahme ignoriert die großen Risiken schwerer Schäden und Störungen der Lebensgrundlagen durch den Klimawandel. Die zweite Annahme ist eine „Diskriminierung aufgrund des Geburtsdatums“. Es handelt sich um ein Werturteil, das selten hinterfragt wird, schwer zu verteidigen ist und den meisten Moralvorstellungen zuwiderläuft.

Der Abzinsungssatz, der zur Berechnung des wahrscheinlichen monetären Schadens für die Volkswirtschaften verwendet wird, ist willkürlich. Wenn wir einen Abzinsungssatz von 3 % verwenden, bedeutet dies, dass der derzeitige Anstieg der globalen Erwärmung zu einem wirtschaftlichen Schaden von 5 Billionen Dollar (Verlust des BIP) führen würde, aber die Kosten der globalen Erwärmung in heutigem Geld nicht mehr als 400 Milliarden Dollar betragen würden, etwa so viel wie China für Hochgeschwindigkeitszüge ausgibt. Bei diesem Abzinsungssatz verursacht die globale Erwärmung also nur geringe wirtschaftliche Schäden, so dass die sozialen Kosten des Kohlenstoffs (SCC) nur etwa 10 $/Tonne betragen und Maßnahmen zur Abschwächung begrenzt werden können. Dies hat Nordhaus in seinem Modell verwendet.

Aber warum 3 %? Im Jahr 2018 hat Nicholas Stern, der Verfasser des berühmten Stern-Berichts über den Klimawandel, Nordhaus' Daten verwendet und einen Diskontsatz von 1,4 % angesetzt. Der SCC steigt dann auf 85 $/Tonne - was bedeutet, dass jede Tonne Co2 die Wirtschaft 85 $ kostet, also annähernd 3 Billionen $. In jüngerer Zeit sind die SCC-Schätzungen unter Verwendung komplexerer Methoden und realistischerer Annahmen als die ursprünglichen auf 180 bis 300 Dollar pro Tonne gestiegen.

Nordhaus' IAMs ( Integrated Assessment Models) weisen Mängel auf, die sie als Instrumente für die politische Analyse nahezu unbrauchbar machen. IAMs haben Schwierigkeiten, das Ausmaß der wissenschaftlichen Risiken zu berücksichtigen, wie das Auftauen des Permafrosts, die Freisetzung von Methan und andere potenzielle Kipppunkte. Darüber hinaus werden viele der größten potenziellen Auswirkungen nicht berücksichtigt, wie z. B. weit verbreitete Konflikte als Folge einer groß angelegten Migration von Menschen, die aus den am stärksten betroffenen Gebieten fliehen. IAMs tragen Risiken und Unsicherheiten nicht Rechnung. Diese Modelle schätzen die Schäden jedes Jahr anhand eines Schadensfaktors x, multipliziert mit T2 in diesem Jahr - das heißt, die sehr einfache Schadensfunktion ist eine sanft ansteigende Linie.

Der kürzlich verstorbene Klimaökonom Martin Weitzman, ein Kollege von Nordhaus, war mit diesem Ansatz der „Diskontierung“ der Zukunft nicht einverstanden. Weitzman wies auf die enorme Unsicherheit in den Prognosen der Klimaauswirkungen hin, einschließlich Kipppunkte, große Fehlerbalken und „unbekannte Unbekannte“.
In der Wirtschaftssprache bezeichnete er dies als enormes "Abwärtsrisiko, einschließlich einer potenziell kleinen, aber grundsätzlich unbekannten Chance der totalen Vernichtung der Menschheit.

Weitzman argumentierte, dass Durchschnittswerte nicht die ganze Geschichte erzählen. Tatsächlich weist eine Pareto-Wahrscheinlichkeitsverteilungsfunktion der aktuellen Projektionen „Fettschwänze“ auf [4], die auf eine Wahrscheinlichkeit von 1 % für einen Temperaturanstieg von 12⁰C hindeuten.

Weitzman: 
"Das auffälligste Merkmal der Ökonomie des Klimawandels ist, dass seine extreme Kehrseite nicht zu vernachlässigen ist. Eine tiefe strukturelle Ungewissheit über die unbekannten Dinge, die schief gehen könnten, ist mit einer im Wesentlichen unbegrenzten Haftung für mögliche planetarische Schäden verbunden." Bei dieser Art von Temperaturanstieg würde das menschliche Leben wahrscheinlich nicht überleben. Das Problem ist, dass „niemand im ‚globalen Durchschnittsland‘ lebt!“



Der auf eine Dürre folgende Sturm, der an einem Tag eine ganze Saison an Niederschlägen abwirft, hat wahrscheinlich Auswirkungen auf das finanzielle Risiko, wird aber nicht in den Messgrößen für den durchschnittlichen JAhresniederschalg in einer Region erfasst.[5] Wirtschaftsmodelle ignorieren diese Feinheiten des Klimas. Das Modell, das von vielen Zentralbanken der Welt verwendet wird, stützt sich beispielsweise auf eine Schadensfunktion, die die regionale Wirtschafts- und Arbeitsproduktivität mit der jährlichen Temperatur und den Niederschlägen in Beziehung setzt.

Steve Keen argumentiert, (6) dass die IAMs "davon ausgehen, dass empirische Beziehungen, die aus Daten über Temperatur- und BIP-Änderungen zwischen 1960 und 2014 abgeleitet wurden, bis zum Jahr 2100 extrapoliert werden können - sie gehen also davon aus, dass eine weitere Erderwärmung von 3,2°C das Klima nicht verändern wird! Sie sind davon ausgegangen, dass Kipppunkte - kritische Merkmale des Erdklimas wie die grönländischen und westantarktischen Eisschilde, der Amazonas-Regenwald und die atlantische meridionale Umwälz-zirkulation, die Europa heute warm hält - mit nur minimalen zusätzlichen Schäden für das BIP“ gekippt werden können.

Ökonometrische Berechnungen, die auf dem Verhalten der Vergangenheit beruhen, ignorieren nicht nur die „Kipp-Punkte“ wie die Methanfreisetzung aus dem schmelzenden Permafrost, sondern auch die, die viel leichter zu erkennen sind, wie das Austrocknen des Großen Salzsees. Auch in der Gesellschaft gibt es Kipp-Punkte; Infrastrukturen haben Sollbruchstellen; Ökosysteme haben Schwellenwerte; ab einem gewissen Temperaturanstieg verlieren Nutzpflanzen nicht ihre Produktivität, sondern sterben einfach ab - das Gleiche gilt für Menschen.

Trotz der enormen Mängel in den IAMs haben sie weiterhin Einfluss auf die Politik, insbesondere um „Marktlösungen“ für den Klimawandel zu befürworten, die keine öffentlichen Investitionen in die Klimakontrolle oder eine öffentliche Beteiligung an der fossilen Brennstoffindustrie erfordern.
So wurde Nordhaus beispielsweise von der EZB und der G20 eingeladen, um über Maßnahmen zur Bekämpfung der globalen Erwärmung zu beraten. Nordhaus' Antwort lautete: Märkte für Kohlenstoffpreise.[7]

Nordhaus' IAMs gehen davon aus, dass die Weltwirtschaft in 50 Jahren ein viel größeres BIP haben wird, so dass die Regierungen, selbst wenn die Kohlenstoffemissionen wie vorhergesagt steigen, die Kosten für die Eindämmung auf die Zukunft verschieben können. Wendet man dagegen strenge Maßnahmen zur Verringerung der Kohlenstoffemissionen an, z. B. die Beendigung der gesamten Kohleproduktion, so könnte dies zu niedrigeren Wachstumsraten und Einkommen führen und damit die Verringerung der Emissionen in der Zukunft erschweren. Stattdessen, so Nordhaus, können wir mit Kohlenstoffpreisen und -steuern die Emissionen kontrollieren und reduzieren, ohne die Produktion und den Verbrauch fossiler Brennstoffe an der Quelle zu verringern.

Dies ist die Lösung für die Bepreisung und Besteuerung von Tabak und Zigaretten. Je höher die Steuer oder der Preis, desto geringer der Verbrauch, ohne die Tabakindustrie zu treffen. Abgesehen von der Frage, ob das Rauchen durch Preisanpassungen wirklich weltweit ausgerottet werden konnte, kann die globale Erwärmung wirklich durch Marktpreise gelöst werden? Marktwirtschaftliche Lösungen für den Klimawandel basieren auf dem Versuch, das „Marktversagen“ zu korrigieren, indem die schädlichen Auswirkungen der Kohlenstoffemissionen durch ein Steuer- oder Quotensystem berücksichtigt werden. Das Argument lautet, dass der Preismechanismus durch eine Steuer oder einen neuen Markt „korrigiert“ werden muss, da die gängige Wirtschaftstheorie die sozialen Kosten von Kohlenstoff nicht in die Preise einbezieht.

Auf der COP29-Klimakonferenz einigten sich die Länder auf Regeln für einen globalen Markt zum Kauf und Verkauf von Kohlenstoffgutschriften, die laut Befürwortern Milliarden von Dollar für neue Projekte zur Bekämpfung der globalen Erwärmung mobilisieren werden.
Es hat sich jedoch herausgestellt, dass Emissionsgutschriften gefälscht sind.[8] Letztes Jahr stellte eine Bloomberg-Untersuchung fest[9], dass fast 40 % der im Jahr 2021 gekauften Emissionsgutschriften aus Projekten für erneuerbare Energien stammten, die in Wirklichkeit keine Emissionen vermieden haben.

Dieser Ansatz ist hoffnungslos unzureichend und nicht umsetzbar. Die weltweiten Pläne für saubere Energien (und das sind nur Pläne) liegen immer noch um fast ein Drittel unter dem, was nötig wäre, um diese Zahl zu erreichen. Und um das erforderliche Investitionsniveau zu erreichen, muss die Klimafinanzierung bis 2030 weltweit auf etwa 9 Mrd. Dollar pro Jahr ansteigen, gegenüber knapp 1,3 Mrd. Dollar im Jahr 2021-22, so die Climate Policy Initiative. Das auf der COP29 festgelegte (und jetzt ohnehin nicht erreichte) Ziel von 1,3 Billionen Dollar ist meilenweit verfehlt.

Auf der COP29 sagte die Chefin des IWF, Kristalina Georgieva, dass 98 % der Anpassungsfinanzierung aus öffentlichen Quellen stammt. Das ist nicht nachhaltig. Wir müssen den privaten Sektor sowohl bei der Anpassung als auch bei der Abschwächung freisetzen. Es ist machbar!"
Und die Chefin der EZB, Christine Lagarde, fügte hinzu: „Wir müssen dringend alle möglichen Kapitalquellen erschließen, und zwar schnell und in großem Umfang.“ Doch die private Klimafinanzierung wird nach Angaben der OECD im Jahr 2022 nur 21,9 Mrd. Dollar betragen. Und ein Großteil der öffentlichen Mittel wurde bisher aus den bestehenden Budgets für Auslandshilfe entnommen. Nur 21-24,5 Mrd. Dollar der 83 Mrd. Dollar bleiben als reine Klimafinanzierung ohne Auflagen übrig, so Oxfam in seinem Schattenbericht zur Klimafinanzierung 2023.

Warum wird das Klimaziel nicht erreicht? Warum werden die notwendigen Finanzmittel nicht bereitgestellt?
Es liegt nicht an den Kosten der erneuerbaren Energien. Die Preise für erneuerbare Energien sind in den letzten Jahren stark gesunken. Das Problem besteht darin, dass die Regierungen darauf bestehen, dass private Investitionen die Entwicklung hin zu erneuerbaren Energien anführen sollen.
Private Investitionen werden aber nur getätigt, wenn sie rentabel sind.[10]

Die Rentabilität ist das Problem. Die durchschnittliche Rentabilität liegt weltweit auf einem niedrigen Niveau, und so hat sich das Investitionswachstum in allen Bereichen ebenfalls verlangsamt. Ironischerweise drücken die niedrigeren Preise für erneuerbare Energien die Rentabilität solcher Investitionen. Die Hersteller von Solarmodulen leiden ebenso wie die Betreiber von Solarparks unter einem starken Gewinndruck. Dies offenbart den grundlegenden Widerspruch bei kapitalistischen Investitionen zwischen Kostensenkung durch höhere Produktivität und Verlangsamung der Investitionen aufgrund sinkender Rentabilität.

Dies ist die Kernaussage eines weiteren hervorragenden Buches von Brett Christophers,
The Price is Wrong - why capitalism won't save the planet.
[11]
Christophers argumentiert, dass nicht der Preis für erneuerbare Energien im Vergleich zu fossilen Brennstoffen das Hindernis für die Erreichung der Investitionsziele zur Begrenzung der globalen Erwärmung ist. Es ist die Rentabilität der erneuerbaren Energien im Vergleich zur Produktion fossiler Brennstoffe.

Marktlösungen werden nicht funktionieren, weil es für kapitalistische Unternehmen einfach nicht rentabel ist, in die Eindämmung des Klimawandels zu investieren.
Wie es der IWF selbst ausdrückt: „Private Investitionen in Produktivkapital und Infrastruktur sind mit hohen Vorlaufkosten und erheblichen Unwägbarkeiten verbunden, die nicht immer eingepreist werden können. Investitionen für den Übergang zu einer kohlenstoffarmen Wirtschaft sind zudem erheblichen politischen Risiken, Illiquidität und ungewissen Erträgen ausgesetzt, die von politischen Ansätzen zur Eindämmung des Klimawandels sowie von unvorhersehbaren technologischen Fortschritten abhängen."

In der Tat:
"Die große Kluft zwischen den privaten und gesellschaftlichen Erträgen aus kohlenstoffarmen Investitionen wird wahrscheinlich auch in Zukunft bestehen bleiben, da die künftigen Wege der Kohlenstoffbesteuerung und -bepreisung nicht zuletzt aus politökonomischen Gründen sehr unsicher sind. Das bedeutet, dass es nicht nur einen fehlenden Markt für den derzeitigen Klimaschutz gibt, da Kohlenstoffemissionen derzeit nicht bepreist werden, sondern auch fehlende Märkte für künftige Klimaschutzmaßnahmen, was für die Renditen privater Investitionen in künftige Klimaschutztechnologien, Infrastruktur und Kapital relevant ist. Mit anderen Worten:
Es ist nicht profitabel, etwas Bedeutendes zu tun.

Ein globaler Plan könnte Investitionen in Dinge lenken, die die Gesellschaft braucht, wie erneuerbare Energien, ökologische Landwirtschaft, öffentliche Verkehrsmittel, öffentliche Wassersysteme, ökologische Sanierung, öffentliche Gesundheit, gute Schulen und andere derzeit unerfüllte Bedürfnisse.

Und er könnte die Entwicklung auf der ganzen Welt angleichen, indem er Ressourcen aus der nutzlosen und schädlichen Produktion im Norden in die Entwicklung des Südens verlagert, in den Aufbau einer grundlegenden Infrastruktur, von Abwassersystemen, öffentlichen Schulen und der Gesundheitsversorgung. Gleichzeitig könnte ein globaler Plan darauf abzielen, gleichwertige Arbeitsplätze für Arbeitnehmer zu schaffen, die durch die Verkleinerung oder Schließung unnötiger oder schädlicher Industrien verdrängt werden.

Planung statt Preisgestaltung. Die COP29 bot nichts dergleichen.

 

 

[1] https://climateactiontracker.org/publications/the-climate-crisis-worsens-the-warming-outlook-stagnates

[2] https://x.com/ProfMarkMaslin/status

[3] https://thenextrecession.wordpress.com/2018/10/09/climate-change-and-growth-nordhaus-and-romer

[4] https://thenextrecession.wordpress.com/2020/02/11/the-climate-and-the-fat-tail-risk

[5] https://metamodel.blog/posts/fed-climate-risk

[6] https://www.tandfonline.com/doi/full/10.1080/14747731.2020.1807856

[7] https://thenextrecession.wordpress.com/2021/07/22/global-warming-planning-not-pricing/

[8] https://time.com/6264772/study-most-carbon-credits-are-bogus

[9] https://www.bloomberg.com/graphics/2022-carbon-offsets-renewable-energy

[10] https://thenextrecession.wordpress.com/2024/06/23/fixing-the-climate-it-just-aint-profitable

[11] https://thenextrecession.wordpress.com/2024/06/23/fixing-the-climate-it-just-aint-profitable

 

Rechtsentwicklung EU-Kommission: Die Brandmauer bricht

Do, 21/11/2024 - 07:35

Einigung im Europaparlament: Der EU-Kommission gehören künftig zwei ultrarechte Kommissare an. Damit bricht Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen den cordon sanitaire gegenüber der extremen Rechten.

 

 

 Die EU-Kommission unter ihrer Präsidentin Ursula von der Leyen bricht den bisherigen cordon sanitaire gegenüber der extremen Rechten: Sie wird künftig zwei Kommissare aus dem ultrarechten Parteienspektrum umfassen. Dabei handelt es sich um Raffaele Fitto von den Fratelli d’Italia, der Partei von Italiens Ministerpräsidentin Giorgia Meloni, und um Olivér Várhelyi, der der Partei von Ungarns Ministerpräsident Viktor Orbán, dem Fidesz, nahesteht. Die Fratelli d’Italia gehören zur Rechtsaußenfraktion der Europäischen Konservativen und Reformer (EKR), der Fidesz zur Fraktion der Patrioten für Europa (PE), zu der auch der Rassemblement National (RN) von Marine Le Pen und die FPÖ zählen.
Die konservative Europäische Volkspartei (EVP) hat unter der Führung des CSU-Politikers Manfred Weber bereits in der vergangenen Legislaturperiode immer wieder mit der EKR kooperiert und behält sich dies explizit auch in Zukunft vor. Zuletzt hatte sie sogar mehrfach mit den PE, zuweilen gar mit der Fraktion Europa der Souveränen Nationen (ESR), der die AfD angehört, gemeinsam abgestimmt. Die tradierte Abgrenzung gegenüber der extremen Rechten („Brandmauer“) bröckelt damit weiter.

In kleinen Schritten

Die jahrzehntelang übliche Praxis, Parteien der äußersten Rechten von der Macht in der EU fernzuhalten und sie deshalb auch nicht zu Mehrheitsbeschaffern aufzuwerten, ist von der konservativen Fraktion im Europaparlament, der Europäischen Volkspartei (EVP), schon in der vergangenen Legislaturperiode systematisch ausgehöhlt worden. Bereits im Januar 2022 ermöglichte es die EVP, dass ein Abgeordneter der ultrarechten EKR-Fraktion (Europäische Konservative und Reformer) zu einem der Vizepräsidenten des Europaparlaments gewählt wurde.[1] Eine Untersuchung der Grünen-Fraktion ergab, dass sich die EU-Kommission unter Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen bei rund 340 Abstimmungen auf Abgeordnete der EKR oder sogar der noch weiter rechts angesiedelten Fraktion ID (Identität und Demokratie) gestützt hatte, um eine Mehrheit zu bekommen. Gewöhnlich sei es dabei darum gegangen, etwa den CO2-Preis für die Kfz-Industrie zu senken oder Subventionen für fossile Energien abzusegnen, heißt es in der Untersuchung – etwas, wofür von der Leyen die Grünen nicht als Mehrheitsbeschaffer gewinnen konnte.[2] Mit den Stimmen von EKR und ID gelang es der EVP im April 2024 auch, einen Antrag zu blocken, der Maßnahmen vorsah, um die Belästigung von Parlamentsmitarbeitern durch Abgeordnete zu verhindern.[3] Der Bruch des cordon sanitaire wurde demnach in kleinen Schritten sukzessive eingeübt.

Die „Venezuela-Mehrheit“

Größere Aufmerksamkeit erhielt im September eine der ersten Abstimmungen des Anfang Juni neu gewählten Europaparlaments. Die Resolution, die zur Debatte stand, sah vor, den in der venezolanischen Präsidentenwahl vom 28. Juli 2024 unterlegenen Kandidaten Edmundo González als angeblich tatsächlichen Wahlsieger anzuerkennen. Den Schritt hatten zuvor die Vereinigten Staaten vollzogen. Dass der Westen meint, darüber befinden zu dürfen, wer in Venezuela als Präsident amtiert, ist absurd und kaum anders denn als Fortbestand alter Kolonialherrenmentalität zu erklären; es ist aber nicht neu: Schon Anfang 2019 hatten einige westliche Staaten, darunter die USA und Deutschland, den venezolanischen Umstürzler Juan Guaidó freihändig – und erfolglos – zum Präsidenten des Landes erklärt (german-foreign-policy.com berichtete [4]). Die neue Resolution zugunsten von González wurde gemeinsam von der EVP und der EKR vorgelegt; in der EKR sind die Fratelli d’Italia (FdI) von Italiens Ministerpräsidentin Giorgia Meloni stärkste Kraft. Verabschiedet wurde die Resolution letztlich mit den Stimmen der PE (Patrioten für Europa), zu denen der Fidez von Ungarns Ministerpräsident Viktor Orbán, der Rassemblement National (RN) von Marine Le Pen und die FPÖ gehören, sowie mit Stimmen der ESR (Europa der Souveränen Nationen), zu der unter anderem die AfD zählt.[5]

Wechselnde Abstimmungsbündnisse

Die „Venezuela-Mehrheit“, wie die breite Abstimmungsmehrheit von konservativen und extrem rechten Parteien im Europaparlament seitdem genannt wird, ist inzwischen mehrmals zum Tragen gekommen. Dies war etwa im Oktober der Fall, als das Europaparlament über die Modalitäten bei der Präsentation der künftigen EU-Kommissare und bei der Abstimmung über sie entschied.[6] Ebenfalls im Oktober stimmte die EVP für einen Haushaltsantrag der AfD, der die Schaffung umfassender Abschottungsanlagen an den Außengrenzen der EU vorschlug.[7] Auch die Vergabe des diesjährigen Sacharow-Preises des Europaparlaments im Oktober an González und an die rechte venezolanische Oppositionspolitikerin María Corina Machado geschah mit den Stimmen von EVP, ECR und PE.[8]
EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen war im Juli noch auf der Basis eines Abstimmungsbündnisses von EVP, Liberalen, Sozialdemokraten und Grünen gewählt worden; es kam damals nicht zuletzt zustande, um der EKR keine wahlentscheidende Funktion einzuräumen. Allerdings zeigt der mehrmalige Rückgriff auf die „Venezuela-Mehrheit“ nun, dass diese der Kommission ganz ungeachtet der Ursprungsmehrheit der Kommissionspräsidentin jederzeit zur Verfügung steht.

Rechts des cordon sanitaire

Konflikte gab es nun um die Wahl der EU-Kommissare – und zwar, weil einige EU-Staaten Politiker nominiert hatten, deren Parteien rechts der EVP stehen und die, würde der tradierte cordon sanitaire noch gewahrt, nicht auf führende Positionen in Brüssel gehievt werden dürften. Das betraf vor allem Raffaele Fitto, der den Fratelli d’Italia angehört, der Partei von Ministerpräsidentin Giorgia Meloni. Von der Leyen will Fitto, einen der engsten Mitarbeiter von Meloni, zu einem der exekutiven Vizepräsidenten der EU-Kommission ernennen, mit spezieller Zuständigkeit für Kohäsion und Reformen. Ungarn wiederum hatte als seinen Kommissar in Brüssel Olivér Várhelyi benannt, den bisherigen Erweiterungskommissar, der künftig für Gesundheit zuständig sein soll. Várhelyi steht dem Fidesz von Ministerpräsident Orbán sehr nahe. Der Fidesz gehört der dieses Jahr neugegründeten PE-Fraktion an, zu der mit dem RN, der FPÖ und anderen auch Parteien zählen, die bisher klar jenseits des cordon sanitaire eingestuft wurden. Gegen Fitto und gegen Várhelyi regte sich in den Fraktionen der Sozialdemokraten und der Grünen, die ansonsten die von der Leyen-Kommission mittragen, heftiger Protest; bis vor kurzem hieß es, beide Fraktionen würden die Ernennung der zwei Politiker nicht mittragen.

Taktik und Strategie

In den vergangenen Tagen spitzte sich der Streit um die künftigen Kommissare zu. Dabei wurde massiv taktiert; so hieß es etwa, der EVP-Fraktionsvorsitzende Manfred Weber (CSU), der als maßgeblicher Drahtzieher bei der Öffnung seiner Fraktion für Abstimmungsbündnisse mit EKR und PE gilt, könne zwar theoretisch die beiden Rechtsaußenkommissare mit der „Venezuela-Mehrheit“ bestätigen lassen, werde das praktisch aber kaum tun: Stimmten CDU- bzw. CSU-Politiker im Europaparlament jetzt bei einer zentralen Entscheidung gemeinsam mit der AfD, dann gebe das kurz vor der vorgezogenen Bundestagswahl ein unwillkommenes Signal.[9]
Gleichzeitig hieß es – so äußerten sich etwa am Dienstag die früheren italienischen Ministerpräsidenten und Ex-EU-Spitzenfunktionäre Romano Prodi und Mario Monti –, in einer Zeit, in der die EU „gewaltigen Herausforderungen im Osten wie auch im Westen“ ausgesetzt sei – dem Konflikt mit Russland und den drohenden Differenzen mit der künftigen Trump-Administration –, müsse das Staatenkartell geschlossen agieren: ein Hinweis nicht zuletzt an die sozialdemokratische Fraktion im Europäischen Parlament, das Personaltableau von Kommissionspräsidentin von der Leyen nicht weiter zu blockieren.[10]

Primat der Außenpolitik

Am gestrigen Mittwoch haben die Fraktionsspitzen in Brüssel nun eine Einigung erreicht. Demnach dürfen Fitto und Várhelyi die Posten in der EU-Kommission übernehmen, die von der Leyen ihnen zugedacht hat; die sozialdemokratische Fraktion will dem zustimmen.
Im Gegenzug verspricht die EVP, nur mit Parteien zu kooperieren, die proukrainisch – also antirussisch – sind, die EU befürworten und für den Rechtsstaat eintreten.
Damit wird die einstige Abgrenzung gegenüber der extremen Rechten, der cordon sanitaire, durch vor allem außenpolitische Festlegungen ersetzt.
 
Laut Interpretation der EVP steht der Kooperation mit der EKR damit nichts mehr im Weg.[11] Ob die EVP in Zukunft wirklich darauf verzichten wird, auch mit den PE und der ESN-Fraktion zusammenzuarbeiten, wird sich zeigen. Die endgültige Abstimmung im Europaparlament über die neue EU-Kommission einschließlich der beiden ultrarechten Kommissare ist für den kommenden Mittwoch angekündigt.

 

Mehr zum Thema: Die Brandmauer rutscht (II).

[1] S. dazu Europa auf dem Weg nach rechts.

[2] S. dazu Europa auf dem Weg nach rechts (III).

[3] Eleonora Vasques: Right-wing bloc votes against bid to make anti-harassment training mandatory in Parliament. euractiv.com 25.04.2024.

[4] S. dazu Die Weltenherrscher (II) und Heute schon geputscht?

[5] Noemi Morucci: Prove di maggioranza a destra all’Eurocamera: passa la condanna a Maduro con i voti compatti di Ppe, Ecr e sovranisti. eunews.it 19.09.2024.

[6] Eddy Wax, Max Griera: Here’s the final schedule for commissioner hearings in November. politico.eu 10.10.2024.

[7] Eddy Wax, Max Griera, Jacopo Barigazzi: Far-right ‘Venezuela majority’ signals new power balance in European Parliament. politico.eu 28.10.2024.

[8] Csongor Körömi: Venezuela’s opposition wins top EU human rights award. politico.eu 24.10.2024.

[9] Thomas Gutschker: Wer sich bewegt, verliert. Frankfurter Allgemeine Zeitung 15.11.2024.

[10] Alessia Peretti: Former Italian PMs Prodi, Monti want veto on Fitto, Ribera to be lifted. euractiv.com 20.11.2024.

[11] Thomas Gutschker, Hans-Christian Rößler: Am weitesten mussten sich die Sozialdemokraten bewegen. Frankfurter Allgemeine Zeitung 21.11.2024.

 

EU-Parlament verschiebt Gesetz zum Schutz der Wälder und des Klimas

Di, 19/11/2024 - 08:21

Die Ernährungs- und Landwirtschaftsorganisation der Vereinten Nationen (FAO) schätzt, dass zwischen 1990 und 2020
420 Millionen Hektar Wald - eine Fläche größer als die EU -
durch Entwaldung verloren gegangen sind.

 

 

Wenn in Brasilien die Regenwälder brennen, ist die Empörung in Europa groß. Für Rinderweiden, den Anbau von Soja als Tierfutter, aber auch Palmöl, Holz, Kakao und Kaffee werden vor allem in Südamerika und Südostasien riesige Flächen Regenwald abgeholzt und zum Beispiel auch Graslandökosysteme und Savannenwälder im brasilianischen Cerrado in gigantische Ackerflächen umgewandelt. Doch tatsächlich trugen die Handelspolitik der EU und der Fleischhunger der Europäer:innen erheblich zur Waldzerstörung besonders in Brasilien, Indonesien, Paraguay und Argentinien, aber auch in anderen Ländern bei. Für den Konsum an landwirtschaftlichen Erzeugnissen in Europa werden anderswo auf der Welt Wälder zerstört oder geschädigt.

Die Ernährungs- und Landwirtschaftsorganisation der Vereinten Nationen (FAO) schätzt, dass zwischen 1990 und 2020 420 Millionen Hektar Wald - eine Fläche größer als die EU - durch Entwaldung verloren gegangen sind. Der EU-Verbrauch macht etwa 10 % der weltweiten Entwaldung aus. Palmöl und Soja sind für mehr als zwei Drittel davon verantwortlich.

Entwaldungsfreie Lieferketten sind daher ein wichtiger Baustein für den Schutz der Umwelt und des Klimas.

Am 19. April 2023 beschloss das EU-Parlament die Entwaldungsverordnung, die darauf abzielt, den Klimawandel und den Verlust der biologischen Vielfalt zu bekämpfen.

Nach dem Gesetz dürfen Produkte wie Kaffee, Holz, Soja, Kakao,Kautschuk, Palmöl und aus Rindern hergestellte Erzeugnisse künftig nur noch dann in der EU verkauft werden, wenn dafür nach 2020 keine Wälder gerodet wurden. Damit soll auch die Abholzung des Regenwaldes etwa im südamerikanischen Amazonasgebiet deutlich reduziert werden.

Unternehmen müssen künftig eine Sorgfaltserklärung abgeben, dass für ihr Produkt nach dem 31. Dezember 2020 kein Wald gerodet oder geschädigt wurde. Wer sich nicht an die Vorschriften hält, muss mit hohen Strafen von mindestens vier Prozent des Jahresumsatzes in der EU rechnen.

Die Regelungen gelten auch für Landwirte, Waldbesitzer und Händler in der EU, sobald sie die relevanten Rohstoffe und Erzeugnisse auf dem EU-Markt bereitstellen oder exportieren.

Die Verordnung ist am 30. Juni 2023 in Kraft getreten und sollte nach einer Übergangszeit von 18 Monaten ab dem 30. Dezember 2024 angewendet werden.
Für kleine Unternehmen sollte eine Übergangszeit von 24 Monaten gelten.


Grüne Minister: Anwendung der Verordnung verschieben

Doch EU-Mitgliedstaaten und betroffene Unternehmen wehren sich gegen die Verordnung und erklärten, dass sie nicht in der Lage wären, die Vorschriften der EU-Entwaldungsverordnung einzuhalten, wenn sie ab Ende 2024 gelten würden.

Daraufhin haben bereits im April 2024 auf Initiative von Bundeslandwirtschaftsminister Cem Özdemir (Grüne) zusammen mit Bundesumweltministerin Steffi Lemke (Grüne) mehrere EU-Mitgliedstaaten an die Europäische Kommission appelliert, den Anwendungsstart zu verschieben. Die Kommission stimmte Anfang Oktober zu und schlug eine Verschiebung um 12 Monate vor.[1]

EU-Parlament: Verschiebung um ein Jahr

Am Donnerstag, 14. November, hat auch das EU-Parlament die Verschiebung um ein Jahr mit 371 Stimmen gegen 240 Stimmen und 30 Enthaltungen gebilligt.

Das Parlament nahm auch andere Änderungen an, darunter die Schaffung einer neuen Kategorie von Ländern, die hinsichtlich der Entwaldung "kein Risiko" darstellen, zusätzlich zu den bestehenden drei Kategorien "geringes", "normales" und "hohes" Risiko. Für Länder, die als "kein Risiko" eingestuft werden, d. h. für Länder mit stabiler oder zunehmender Entwicklung der Waldfläche, gelten deutlich weniger strenge Anforderungen, da das Risiko der Entwaldung vernachlässigbar sei oder gar nicht bestehen würde.

Eingebracht wurde der Antrag von der Fraktion der Europäischen Volkspartei EVP - der auch CDU und CSU angehören.

Die neue Allianz zur Abschaffung des Green Deal

Weil im EU-Parlament die Grünen sowie die Sozialdemokraten die von einer CDU-Abgeordneten eingebrachten Anträge ablehnten, waren die europäischen Christdemokraten auf die Stimmen der ultrarechten, nationalistischen Abgeordneten angewiesen.
Ohne die Stimmen von mehreren AfD-Abgeordneten wäre keine ausreichende Mehrheit zustande gekommen

Damit hat eine Allianz von Christdemokraten und Ultrarechten eines der prominenteren Umweltgesetze ("Entwaldungsverordnung") der Sozialdemokraten und Grünen gekippt.

Im Jahr 2019 war der Kampf gegen die Klima- und Umweltkrise das Bindeglied zwischen den beiden großen Fraktionen, der Volkspartei und den Sozialdemokraten. Heute haben sich die Dinge geändert: Die Umwelt ist nach wie vor der Klebstoff, aber zwischen der EVP und den ultrarechten politischen Kräften (einschließlich der AfD), die sich zusammengeschlossen haben, um grüne Politik zu verzögern oder zu blockieren

Es lag in der Luft, aber wahrscheinlich hat niemand damit gerechnet, dass es so schnell gehen würde. Die Mehrheit aus christdemokratischer Volkspartei, Sozialdemokraten und Liberalen, die es vor einigen Monaten mit Hilfe der Grünen geschafft hatte, Ursula von der Leyen (CDU) für eine neue Amtszeit als Präsidentin der Europäischen Kommission ins Amt zu hieven, zeigt nun sichtbare Risse.

Die Tatsache, dass die Europäische Volkspartei, nachdem sie ursprünglich die Zustimmung zur Verordnung gegen die Abholzung unterstützt hatte, eine beispiellose Kehrtwende vollzieht und sich mit den Stimmen der Ultrarechten gegen Klima- und Umweltschutz stellt, ist ebenso ein Beweis dafür wie die Pattsituation bei der Anhörung der Kandidatinnen und Kandidaten für die EU-Kommission.

Patt bei der Anhörung der Kandidaten für die EU-Kommission

Die Sozialdemokraten bestehen auf einer gemeinsamen Abstimmung über die fünf Vizepräsidenten, die Ausdruck der "Mehrheitsparteien" sind, und eine separate Abstimmung über den sechsten, den "Außenseiter" Raffaele Fitto von den faschistischen Fratelli d'Italia, der zum Kommissar befördert würde, aber nicht Vizepräsident werden soll. Die französischen und die spanischen Sozialdemokraten drohen: Entweder gibt von der Leyen bei Fitto als Vizepräsident nach oder wir stimmen gegen die gesamte Kommission. Die Christdemokraten Volksparteien stellen als Gegenmaßnahme die spanische Sozialdemokratin Teresa Ribeira als Kommissarin für Green Deal in Frage. Im Moment ist alles eingefroren bis zum 27. November.

Tiefe Übereinstimmung zwischen den Positionen der EVP und denen der Ultrarechten

Die gemeinsame Abstimmung von Christdemokraten und Ultrarechten könne als Drohsignal an die Sozialdemokraten betrachtet werden, um sie in der Frage der Vizepräsidentschaft zu erweichen, meint der italienische Journalist und Kommentator, Andrea Colombo. Das sei zwar nicht ganz unbegründet, aber trotzdem irreführend.

"Es ist nicht so, dass die zweite Ursula-Mehrheit, die um die Grünen erweitert wurde, die im vergangenen Juli für von der Leyens Wiederwahl gestimmt haben, im Sterben liegt. Sie wurde nie geboren. Selbst wenn die Kommission die für den 27. November angesetzte Abstimmung im Europaparlament dank eines Taschenspielertricks bestehen sollte, wäre dies nur eine neue Täuschung. So wie auch das Bündnis vom Juli eine Täuschung war", so Andrea Colombo. Denn in Wirklichkeit gebe es beim Green Deal wie bei der Einwanderung eine echte und tiefe Übereinstimmung zwischen den Positionen der EVP und denen der Rechten, einschließlich ihrer ultrarechten Flügel, Orbáns Patrioten und sogar der AfD-Souveränisten. [2]

Sollte sich diese neue politische Konstellation konsolidieren, wird es nicht nur eine gemeinsame Zerschmetterung von Green-Deal-Projekten geben, sondern angesichts weitgehend identischer Standpunkte wird sie sich auf weitere Bereiche ausdehnen: Rüstungs-, Innen-, Sozial-, Migrations-, Konzern-, Finanz-, Steuer-, Haushalts- und alle Teile der Außenpolitik.

Ein Probelauf fand bereits am 20. September statt, als die Christdemokraten mit den Ultrarechten und Faschisten der Fraktion der Partei Europäische Konservative und Reformer (EKR) unter Vorsitz von Giorgia Meloni und den Patrioten für Europa (PfE mit FPÖ, Lega, Partij voor de Vrijheid, Rassemblement National, Vlaams Belang, Vox, ..) einen gemeinsamen Antrag einbrachten, mit dem der venezolanische Oppositionelle Edmundo Gonzalez Urrutia als Sieger der Wahl in Venezuela im Juli anerkannt wird.

"Anstatt einen Kompromiss mit uns zu suchen, arbeiten die Konservativen mit Rechtsaußen zusammen und ziehen somit eine ultrarechte Mehrheit durch."
Moritz Körner (FDP), Mitglied des Europäischen Parlaments über die gemeinsame Resolution von EVP, EKR und PfE zu Venezuela

"Größere inhaltliche Differenzen können wir zwischen CDU und AfD, EVP und den noch rechteren politischen Gruppierungen im EU-Parlament längst nicht mehr erkennen", sagt der EU-Abgeordnete Martin Sonneborn (Die Partei).

Die Grünen-Abgeordnete Jutta Paulus sieht in dem Vorgehen ein Einreißen der sogenannten Brandmauer. Das Mitte-rechts-Bündnis EVP "baut aus den Trümmern Brücken zur Rechten", so Paulus.

In Straßburg bilden die Christdemokraten bereits eine Schattenmehrheit mit den Ultrarechten und warten darauf, in den einzelnen Staaten in Regierungskoalitionen zu wechseln - mit Italien, wo sie dies bereits tun, als leuchtendes Vorbild. Die Sozialdemokraten wollen genau das Gegenteil erreichen: eine Barriere errichten, hinter der sie versuchen können, die letzte Verteidigung angesichts einer Offensive zu organisieren, die sie immer weiter zurückdrängt.

 

Anmerkungen:

[1] https://eur-lex.europa.eu/legal-content/DE/TXT/?uri=CELEX%3A52024PC0452R%2801%29&qid=1731321503796

[2] il manifesto, 15.11.2024: Commissione Ue, comunque sia sarà un insuccesso
https://ilmanifesto.it/commissione-ue-comunque-sia-sara-un-insuccessone

 

https://www.isw-muenchen.de/broschueren/reports/219-report-138-139

 

 

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