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Aktualisiert: vor 2 Stunden 41 Minuten

Die Brandmauer rutscht

Fr, 19/07/2024 - 07:50

Die von einem CSU-Politiker geführte Europäische Volkspartei (EVP) hat bei den jüngsten Wahlen im Europaparlament den cordon sanitaire („Brandmauer“) weit nach rechts verschoben und erste Parteien der extremen Rechten zu Kooperationspartnern gemacht.
Die ultrarechte Fraktion EKR stellt im Europaparlament drei Mitglieder des Präsidiums – dank Zustimmung der EVP. Sie gilt unter Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen nun als „Partner für die Gesetzgebung“.

 

Am 17. Juli d. J.  wurden mit Stimmen der EVP drei Parlamentarier der ultrarechten EKR-Fraktion (Europäische Konservative und Reformer) ins Präsidium des Europaparlaments gewählt.
Der EKR-Fraktion gehören Parteien der äußersten Rechten mit Ursprüngen im Neofaschismus wie die Fratelli d’Italia (FdI) und die Schwedendemokraten an. Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen (CDU), die vor ihrer gestrigen Wiederwahl eine herbe gerichtliche Niederlage wegen ihrer Impfstoffverträge erlitt, hatte vor dem Wahlgang Absprachen mit den FdI getroffen. Im neuen Europaparlament stellen Parteien der äußersten Rechten neben der viertgrößten (EKR) auch die drittgrößte Fraktion, die Patrioten für Europa (PfE). Die PfE-Parteien haben einen Ministerpräsidenten (Ungarn) in ihren Reihen; zu ihnen gehören zudem zwei aktuelle wie auch zwei einstige Regierungsparteien. Damit ist die extreme Rechte im Europaparlament so stark wie noch nie zuvor.

EU-Recht gebrochen

Am Mittwoch, dem Tag vor ihrer Wahl, hatte EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen eine empfindliche Niederlage vor dem Gericht der Europäischen Union (EuG) erlitten. In dem Verfahren ging es um die Verträge zum Kauf von Covid-19-Impfstoffen, die die EU-Kommission mit den Impfstoffherstellern geschlossen hatte. Scharf kritisiert wird vor allem ein Vertrag mit dem US-Konzern Pfizer über die Lieferung von bis zu 1,8 Milliarden Impfstoffdosen für einen Preis von 35 Milliarden Euro. Der Stückpreis lag damit stolze 25 Prozent über dem Stückpreis früherer Lieferungen; die Menge überstieg den Bedarf bei weitem, weshalb alleine im Jahr 2023 Impfstoff im Wert von vier Milliarden Euro vernichtet werden musste.[1] Aufklärung darüber, wie der für Pfizer exzellente, für die EU beispiellos teure Vertrag zustande gekommen war, ist nicht wirklich möglich: Von der Leyen hat den Vertrag mit Pfizer-Chef Albert Bourla persönlich in Textnachrichten ausgehandelt, sieht sich nun aber außerstande, die Nachrichten aufzufinden. Die Kommission war darüber hinaus nicht bereit, die Verträge einsehbar zu machen.
Mit ihrer exzessiven Geheimhaltungspraxis brechen die EU-Kommission und ihre Präsidentin laut dem Urteil des EuG EU-Recht; sie müssen nun Transparenz herstellen.[2]

Mit Stimmen der EKR

Das EuG-Urteil hat sich offenkundig nicht auf von der Leyens Wiederwahl ausgewirkt; für die CDU-Politikerin stimmten am gestrigen Donnerstag 401 der 720 Abgeordneten im EU-Parlament – eine solide Mehrheit. Grundsätzlich stützt sich von der Leyen schon seit Jahren auf die Fraktionen der Europäischen Volkspartei (EVP), der Liberalen (Renew) und der Sozialdemokraten, die zusammen genau 401 Abgeordnete zählen. Allerdings votierten laut Berichten rund 15 Sozialdemokraten und rund 15 Liberale, darunter die Parlamentarier der FDP, nicht für sie.[3] Bereits vorab waren Beobachter zudem davon ausgegangen, dass Frankreichs Konservative (Les Républicains) nicht für sie stimmen würden.[4] Von der Leyen hatte sich deshalb um Stimmen aus der Grünen-Fraktion bemüht – offensichtlich mit Erfolg. Unklar ist, wie viele Abgeordnete der Rechtsaußenfraktion der Europäischen Konservativen und Reformer (EKR) für sie stimmten. Dies tun zu wollen, hatten vorab alle jeweils drei Abgeordneten der Nieuw-Vlaamse Alliantie (N-VA) aus Belgien sowie der Občanská demokratická strana (ODS, Demokratische Bürgerpartei) aus Tschechien angekündigt. Sie gehören der EKR-Fraktion an, die von den extrem rechten Fratelli d’Italia (FdI, Brüder Italiens) der italienischen Ministerpräsidentin Giorgia Meloni geführt wird.

Mit Stimmen der EVP

Eine Kooperation mit der EKR-Fraktion galt noch vor wenigen Jahren als ausgeschlossen; ihre Parteien sind Teil der äußersten Rechten, kommen in vielen Fällen – so die FdI – direkt aus dem Milieu des Neofaschismus oder sind für offen rassistische Ausfälle führender Mitglieder bekannt wie etwa die Partei Die Finnen. Heute gilt die EKR im Europaparlament als legitimer Kooperationspartner.
Das hat am Mittwoch die Wahl des Parlamentspräsidiums bestätigt. Erhielt unmittelbar nach der vorigen Europawahl im Jahr 2019 noch kein EKR-Abgeordneter einen Posten an der Parlamentsspitze, so war dies vor zweieinhalb Jahren mit Roberts Zīle von der lettischen EKR-Partei Nationale Allianz erstmals der Fall: Zīle wurde Anfang 2022 zu einem der 14 Europaparlaments-Vizepräsidenten gewählt. Am Mittwoch wurde er wiedergewählt; zudem erhielt die EKR mit Antonella Sberna (FdI) einen zweiten Vizepräsidentenposten. Beide bekamen laut Insiderberichten auch Stimmen aus der EVP.[5]
EVP-Abgeordnete votierten zudem dafür, dass Kosma Złotowski von der EKR-Partei PiS (Prawo i Sprawiedliwość) einen der fünf Quästorenposten erhielt, die dem Präsidium angehören und dort für Verwaltungsfragen zuständig sind.
Damit sind der cordon sanitaire bzw. die einstige „Brandmauer“ gegenüber der EKR niedergerissen.

„Partner für die Gesetzgebung“

Als Architekt dieser Entwicklung gilt der EVP-Partei- und Fraktionsvorsitzende Manfred Weber (CSU). Weber hatte sich bereits im Sommer 2022, dies damals noch gegen erhebliche innere und äußere Widerstände, für Italiens Rechtsaußenkoalition aus Forza Italia (EVP), Fratelli d’Italia (EKR) und Lega (heute: Patrioten für Europa) stark gemacht (german-foreign-policy.com berichtete [6]). Er hat sich jetzt dafür eingesetzt, dass die EKR sowie ihre Mitgliedsparteien im Europaparlament von der EVP als kooperationsfähig erachtet werden. Die Wahl dreier EKR-Abgeordneter ins Präsidium des Europaparlaments mit EVP-Stimmen war die Probe aufs Exempel dafür; sie ist – aus Webers Sicht – gelungen. Die EKR-Fraktion könne nun „als potentielle[r] Partner für die künftige Gesetzgebung“ gelten, konstatiert ein Insider; der cordon sanitaire sei damit neu definiert.[7] Zwar gab der EKR-Kovorsitzende Nicola Procaccini (FdI) an, die FdI hätten am Donnerstag nicht für von der Leyen gestimmt. Doch ist unklar, woran das liegt. Meloni hatte Berichten zufolge verlangt, ein FdI-Politiker müsse einen bedeutenden Posten in der EU-Kommission erhalten; sie und von der Leyen hatten sich am Montag darüber ausgetauscht. Sollte ein FdI-EU-Kommissar noch nicht durchsetzbar sein, wäre nicht mit Stimmen der FdI für von der Leyen zu rechnen. Prinzipiell aber sind alle Voraussetzungen für eine FdI-EVP-Kooperation erfüllt.

Stärker denn je

Noch aufrechterhalten wird der cordon sanitaire gegen die Fraktion der Patrioten für Europa (PfE), die vom französischen Rassemblement national (RN) unter Jordan Bardella geführt wird und der unter anderem der ungarische Fidesz von Ministerpräsident Viktor Orbán, der belgische Vlaams Belang (VB), die italienische Lega, die niederländische Partij voor de Vrijheid (PVV), die spanische Vox, die portugiesische Chega, die tschechische ANO 2011 und die FPÖ angehören. Die PfE-Parteien stellen einen Ministerpräsidenten (Orbán), sind in zwei Staaten an der Regierung (Italien, Niederlande), waren Teil einer Regierung (ANO 2011, FPÖ) oder sind stärkste Kraft der Opposition (RN). Mit 84 Abgeordneten bilden sie aktuell die drittgrößte Fraktion im Europaparlament vor der Rechtsaußenfraktion EKR, die über 78 Abgeordnete verfügt. Hinzu kommt die von der AfD geführte Fraktion Europa Souveräner Nationen (ESN), die allerdings nur 25 Abgeordnete hat und durchweg randständigen Parteien entstammt.

Mit der dritt- sowie der viertgrößten Parlamentsfraktion, von denen eine – die EKR – mittlerweile als möglicher Kooperationspartner gilt, stellen die Parteien der extremen Rechten nun eine Kraft im Europaparlament dar, die erhebliches politisches Potenzial besitzt.

 

 

 

[1] Daniel Steinvorth: Umstrittener Impfstoff-Deal: Nun ermitteln Europas Korruptionsjäger gegen Ursula von der Leyen. nzz.ch 03.04.2024.

[2] Gericht: EU-Kommission mauerte. Frankfurter Allgemeine Zeitung 18.07.2024.

[3] Thomas Gutschker: Mit den Grünen zum Sieg. Frankfurter Allgemeine Zeitung 19.07.2024.

[4] Reconduite à la tête de la Commission, von der Leyen promet “une Europe forte”. msn.com 18.07.2024.

[5] Thomas Gutschker: Die EVP definiert den Cordon Sanitaire. Frankfurter Allgemeine Zeitung 18.07.2024.

[6] S. dazu „Wächter der pro-europäischen Politik“.

[7] Thomas Gutschker: Die EVP definiert den Cordon Sanitaire. Frankfurter Allgemeine Zeitung 18.07.2024.

Moskau in Schussweite

Fr, 12/07/2024 - 10:42

Deutschland beteiligt sich an der Entwicklung einer europäischen Mittelstreckenwaffe mit Reichweite bis Russland. Übergangsweise werden  US-Marschflugkörper in Deutschland stationiert.
NATO koordiniert die Aufrüstung der Mitgliedstaaten.



Aus Berichten des zu Ende gegangenen NATO-Gipfels in Washington geht hervor, dass. Deutschland  sich an der Entwicklung neuer Mittelstreckenwaffen beteiligt,  die Ziele in Russland erreichen können, darunter vermutlich Moskau.
Demnach haben Deutschland, Frankreich, Italien und Polen beschlossen, gemeinsam einen Marschflugkörper oder eine Hyperschallrakete zu entwickeln, die eine Reichweite von rund 2.000 Kilometern haben könne.
 Damit gerät bei einer Stationierung der Waffe in der Bundesrepublik die russische Hauptstadt ins Visier. Übergangsweise sollen US-Marschflugkörper vom Typ Tomahawk sowie Lenkraketen SM-6 in Europa stationiert werden, vermutlich in Wiesbaden. Washington will dort zudem Hyperschallwaffen vom Typ Dark Eagle aufstellen, sobald deren Entwicklung abgeschlossen ist. Der NATO-Gipfel in Washington knüpfte an die Gipfel in Madrid (2022) und in Vilnius (2023) an: Hatte das Militärbündnis in Madrid ein neues Streitkräftemodell, in Vilnius neue Verteidigungspläne beschlossen, so diente der Gipfel in Washington dazu, die Pläne nun zu konkretisieren – den Aufbau rüstungsindustrieller Kapazitäten und die Entwicklung neuer Waffen inklusive.

Die Rüstungsprioritäten der NATO

Bei der Konkretisierung der Planungen geht es nicht nur darum, militärische Strukturen auszubauen und in Manövern Kriegsszenarien zu üben, sondern auch darum, in der Rüstung neue Kapazitäten zu schaffen und neue militärische Fähigkeiten zu erschließen. Dazu wurde in Washington eine Vereinbarung mit dem Titel NATO Industrial Capacity Expansion Pledge geschlossen, die im Wesentlichen vorsieht, die Rüstungsindustrie zu stärken sowie neue Fabriken zu errichten – dies nach Möglichkeit in multinationaler Kooperation.[1] Die NATO will dies künftig koordinieren, womit sie freilich in direkte Rivalität mit der EU gerät, die ihrerseits danach strebt, sich eine eigenständige rüstungsindustrielle Basis zu verschaffen.[2] Die Rüstungsproduktion sei ein „Teil der Verteidigungsplanung“, wird ein hochrangiger NATO-Beamter zitiert.[3] Um eine möglichst straffe Koordination sicherzustellen, sollen die Mitgliedstaaten ihre Rüstungsmaßnahmen einmal im Jahr nach Brüssel melden. Zu den Prioritäten gehöre es, heißt es unter Berufung auf den NATO-Beamten, die Logistik „für die schnelle Verlegung von Einheiten“ zu optimieren, zudem „moderne IT für Kommunikation und Aufklärung“ zu beschaffen, „erheblich größere Munitionsbestände“ aufzubauen und „Schläge in der Tiefe mit Abstandswaffen“ zu ermöglichen.

Mittelstreckenwaffe aus der EU

Mit Letzterem werden sich Deutschland, Frankreich, Italien und Polen gemeinsam befassen. Eine entsprechende, noch recht allgemein gehaltene Absichtserklärung zur Entwicklung von Waffen, mit denen man Ziele auf feindlichem Territorium weit hinter der Front treffen kann, unterzeichneten die Verteidigungsminister der vier Staaten am Rande des NATO-Gipfels. Konkret gehe es darum, dies berichtet ein gewöhnlich gut informierter Korrespondent, „eine landgestützte Waffe mit einer Reichweite von deutlich mehr als tausend Kilometern zu entwickeln“. Dabei könne es sich um „einen Marschflugkörper“ oder auch „eine ballistische Rakete“ handeln, wobei letztere, sollte man sich auf sie einigen, auch als Hyperschallrakete konstruiert werden könne.[4] „Derlei Waffen könnten von Deutschland aus auf russische Ziele gerichtet werden“, heißt es weiter – „bei einer Reichweite von 2.000 Kilometern auch auf Moskau“. In Berlin gehe man davon aus, dass sich nach dem Regierungswechsel in London auch Großbritannien an dem Vorhaben beteiligen werde. Als Modelle, die dabei als Anknüpfungspunkte genutzt werden könnten, werden der deutsche Taurus, der britische Storm Shadow und der französische Scalp genannt. Deren Reichweite liegt freilich bloß bei wenig mehr als 500 Kilometern.

Tomahawk als Übergangslösung

Weil die Entwicklung der neuen Waffe – unabhängig davon, ob es sich bei ihr um einen Marschflugkörper oder um eine Hyperschallrakete handelt – voraussichtlich eine Menge Zeit benötigen wird, ist zunächst eine Übergangslösung vorgesehen. Dazu werden die Vereinigten Staaten ab 2026 Raketen und Marschflugkörper in Deutschland stationieren. Zum einen handelt es sich um Lenkraketen des Typs SM-6, deren Reichweite mit über 350 Kilometern angegeben wird. Zum anderen ist auch die Stationierung von Tomahawk-Marschflugkörpern vorgesehen, die Ziele in einer Entfernung von bis zu 2.500 Kilometern erreichen können; damit gerät bei einem Standort in Deutschland auch Moskau ins Visier. Anders als die neu zu entwickelnde europäische Waffe werden die übergangsweise stationierten US-Waffen unter US-Kontrolle bleiben und im Kriegsfall von US-Einheiten abgeschossen werden. Als der wahrscheinlichste Standort gilt Wiesbaden, wo die Vereinigten Staaten schon im Jahr 2021 – also vor Beginn des Ukraine-Kriegs – ihre Second Multi-Domain Task Force aktiviert haben. Ein Dozent der Münchner Bundeswehr-Universität wird mit der Einschätzung zitiert, eine Stationierung von Waffen wie SM-6 und Tomahawk sei angesichts der Fähigkeiten der Second Multi-Domain Task Force „zu erwarten“ gewesen.[5]

Ausstieg aus dem INF-Vertrag

Dass die Stationierung der Tomahawk-Marschflugkörper zulässig ist, ist dem Auslaufen des INF-Vertrags geschuldet, den Washington und Moskau am 8. Dezember 1987 geschlossen hatten. Er sah die vollständige Abrüstung aller landgestützten Raketen mit einer Reichweite von 500 bis 5.500 Kilometern vor. Das Ende des Vertrags wird heute allgemein Russland in die Schuhe geschoben. Tatsächlich hat Washington bereits Anfang 2019 offen eingeräumt, schon Ende 2017 mit der Entwicklung neuer Mittelstreckenraketen begonnen zu haben. Recherchen der International Campaign to Abolish Nuclear Weapons (ICAN) haben belegt, dass das Pentagon bereits im Oktober 2018 begann, Aufträge im Wert von mehr als 1,1 Milliarden US-Dollar für Entwicklung und Bau neuer Raketen zu vergeben. Am 1. Februar 2019 kündigte die Trump-Administration den INF-Vertrag; im März 2019 bestätigte das Pentagon, man beginne nun mit dem Bau neuer Mittelstreckenraketen.[6] Demnach lag der Ausstieg aus dem Vertrag eindeutig im US-Interesse.

Gegen China

Ursache für den US-Ausstieg aus dem INF-Vertrag war damals Berichten zufolge der Plan, US-Mittelstreckenraketen in größtmöglicher Nähe zu China zu stationieren (german-foreign-policy.com berichtete [7]). Im November 2023 kündigte der Kommandeur der U.S. Army Pacific, General Charles Flynn, an, die Vereinigten Staaten würden im Jahr 2024 sogenannte Typhon-Batterien in die Asien-Pazifik-Region verlegen; dabei handelt es sich um Batterien, von denen etwa Tomahawk-Marschflugkörper abgeschossen werden können.[8] Im April verlegten die Vereinigten Staaten erstmals eine Typhon-Batterie im Rahmen eines Manövers in den Norden der Philippinen, von wo aus mit Tomahawks große Teile Südchinas attackiert werden können.[9] Hieß es zunächst aus den philippinischen Streitkräften, die Typhon-Batterien würden in den Philippinen bleiben, so wird nun berichtet, sie sollten im September wieder abgezogen werden. Doch könnten sie jederzeit erneut in den Norden der Philippinen verlegt werden.[10] Möglich ist dies dank der Aufkündigung des INF-Vertrags.

 

[1] NATO Industrial Capacity Expansion Pledge. nato.int 10.07.2024.

[2] S. dazu Auf dem Weg in die Kriegswirtschaft.

[3], [4] Thomas Gutschker: Eine neue Waffe, die Moskau treffen könnte. faz.net 11.07.2024.

[5] Nils Metzger: Warum die USA Raketen bei uns stationieren. zdf.de 11.07.2024.

[6] S. dazu Abschied vom INF-Vertrag (III).

[7] S. dazu „Ein Alptraumszenario für China“.

[8] Ashley Roque: Army’s new Typhon strike weapon headed to Indo-Pacific in 2024. breakingdefense.com 18.11.2023.

[9] Laurie Chen, Mikhail Flores: China’s defence ministry condemns US missile deployment in Philippines. reuters.com 31.05.2024.

[10] Seong Hyeon Choi, Sylvie Zhuang: Why is the US typhon missile system being withdrawn from the Philippines? scmp.com 05.07.2024.

Chinesische E-Automobile - ihre Marktentwicklung, Schutzzölle und die Gegenmaßnahmen

Fr, 12/07/2024 - 06:08

China hat seine weltweiten Automobil-Verkäufe signifikant steigern können.
Chinesische Hersteller von Elektrofahrzeugen dringen verstärkt in große Schwellenländer wie Brasilien und Russland und in den Nahen Osten vor.



Nach den Rückschlägen durch die höheren Zölle in den USA und jüngst der Europäischen Union lenken die Automobilhersteller Chinas ihre Exporte auf andere Ziele um.

Die Automobil-Lieferungen  von batterieangetriebenen Fahrzeugen aus chinesischer Produktion an Käufer in den Ländern von Brasilien bis zu den Vereinigten Arabischen Emiraten (VAE) nehmen in besonderem Maße zu.

Dabei sind es vor allem die elektrisch angetriebenen chinesischen Automobile, insbesondere der boomartige Anstieg der Exportanteile der Marke BYD, die auf den internationalen Märkten aufgrund ihres vergleichbar günstigen Preis-Leistungs-Verhältnisses eine hohe Akzeptanz erreichen.(1)

Erwähnt sei nur am Rande die nicht zu übersehene Markenwerbung des Turniersponsors BYD bei den Spielen der Fussball-Europameisterschaft. Wer hätte gedacht, dass neben den Fussball-Interessierten selbst die vielen europäischen Politik-Repräsentanten und möglicherweise Anhänger protektionistischer Politik bei nahezu jedem Spiel chinesische Markenwerbung ertragen oder genießen konnten.

E-Autos chinesischer Bauart

Chinesische Elektroautos gewinnen zunehmend an Bedeutung auf dem deutschen Markt. Mehrere Hersteller wie BYD, MG, Nio, Xpeng und Aiways bieten bereits Modelle in Deutschland an. Diese Fahrzeuge zeichnen sich zumeist durch moderne Technologie, attraktive Preise und hohe Reichweiten aus. Trotz anfänglicher Skepsis bezüglich Qualität und Sicherheit schneiden viele chinesische E-Autos in Crashtests gut ab. Der Marktanteil ist noch gering, wächst aber stetig.
2023 machten chinesische Marken 5,5% der zugelassenen Elektrofahrzeuge in Deutschland aus.
Allerdings werden sich die von der EU verhängten   Strafzölle von bis zu 38,1% auf chinesische E-Autos auf die Zulassungen negativ auswirken. Dies wird die Wettbewerbsfähigkeit dieser Fahrzeuge auf dem deutschen Markt, im wahrsten Sinn des Wortes nachhaltig beeinflussen. Die EU schlägt neben den USA dabei aber eine unvorteilhafte Entwicklung der eigenen Automobilbranche ein, was im Folgenden näher betrachtet wird.

Der weltweit zunehmende Absatz chinesischer E-Automobile

China hat Japan im vergangenen Jahr als weltgrößter Automobilexporteur abgelöst. Die chinesischen Automobilhersteller lieferten 4,91 Millionen Fahrzeuge aus, 58 Prozent mehr als 2022. Davon waren 1,2 Millionen batteriebetriebene Fahrzeuge, ein Allzeithoch und ein Anstieg um 77 Prozent gegenüber 2022.

"Die lebhaften Exporte spiegeln die Widerstandsfähigkeit der chinesischen Automobilindustrie wider. "Die in China hergestellten New-Energy-Vehicles haben dank ihrer hohen Qualität eine wichtige Rolle dabei gespielt, den wachsenden Einfluss des Landes weltweit zu demonstrieren."
Cui Dongshu, Generalsekretär der China Passenger Car Association (CPAC).

So stiegen die Exporte chinesischer Autos nach Brasilien von Januar bis Mai d. J. um mehr als das Sechsfache auf 159.612 Einheiten, während sich die Auslieferungen in den Vereinigten Arabischen Emiraten um 92 Prozent auf 114.530 Fahrzeuge erhöhten.

Nach Angaben des chinesischen Verbands der Automobilhersteller ist China  der größte Autolieferant Rußlands.  So stieg der Absatz von Januar bis Mai d.J. im Vergleich zum Vorjahreszeitraum um 92,8 Prozent auf 438.000 Fahrzeuge an. In den ersten fünf Monaten des Jahres 2024 wurden mehr als 154.000 Elektroautos ausgeliefert, doppelt so viele wie im gleichen Zeitraum des Vorjahres.

Chinesische Elektroautohersteller haben inzwischen den größten Marktanteil in Südostasien. Ihr Anteil wuchs von 47 Prozent im Jahr 2021 auf 74 Prozent im vergangenen Jahr, wie aus einem im Mai veröffentlichten Bericht von Deloitte China hervorgeht.

Die Produktion chinesischer Autos mit E-Antrieb

Bei der Herstellung von Elektroautos haben chinesische Autohersteller nach veröffentlichten Untersuchungen einen enormen Kostenvorteil gegenüber ihren globalen Konkurrenten, Danach ist eine voll entwickelte Lieferkette für die starke Produktionskraft verantwortlich, so Stephen Dyer, Co-Leader im Bereich Automobil und Leiter der Asien-Praxis von AlixPartners. (2)

Ein in China hergestelltes Elektroauto kostet nach Angaben von AlixPartners in der Produktion 35 Prozent weniger als die Fahrzeuge anderer Hersteller.

Umweltfreundlichkeit chinesischer Elektroautos

 Generell tragen chinesische Elektroautos durch ihre Förderung der E-Mobilität zu einer umweltfreundlicheren Zukunft bei. Auf den verfügbaren Informationen basierend stechen einige chinesische Elektroautohersteller durch ihr Engagement für Umweltfreundlichkeit und Nachhaltigkeit hervor:

BYD (Build Your Dreams) gilt als Pionier für umweltfreundliche Technologien.

Das Unternehmen setzt auf innovative Batterietechnologien wie die Blade-Batterie, die eine höhere Energiedichte und längere Lebensdauer bietet. BYD legt besonderen Wert auf nachhaltige, umweltfreundliche und zugleich praktische Mobilitätslösungen. (3)

Die Marke Nio zeichnet sich durch die Verwendung von recycelten und nachhaltigen Materialien in ihren Fahrzeugen aus. Zudem bietet Nio ein innovatives Batteriewechselsystem, das die Nutzungsdauer der Batterien verlängern und somit Ressourcen schonen kann. (4)

Die Marke Aiways setzt bei seinen Modellen U5 und U6 auf effiziente Antriebstechnologien und nachhaltige Materialien im Innenraum. (5)

Es ist wichtig zu beachten, dass die Umweltfreundlichkeit von Elektroautos nicht nur vom Fahrzeug selbst, sondern auch vom Strommix des jeweiligen Landes abhängt, in dem es geladen und gefahren wird.
Generell tragen aber chinesische Elektroautos zu einer umweltfreundlicheren Zukunft bei.

 
Handelsschranken

Bereits im Mai d.J.  kündigte das Weiße Haus in den USA eine Vervierfachung der Zölle auf in China hergestellte Elektrofahrzeuge an, die nun 100 Prozent betragen. (6)

Zu Beginn des Monats Juli traten in der EU, ergänzend zu den 10 % Standardzöllen auf chinesische Importfahrzeuge zusätzliche Schutzzölle von 17,4 bis 37,6 Prozent auf Elektrofahrzeuge chinesischer Hersteller, zumindest  vorläufig, in Kraft.
Die Angelegenheit soll noch mit den zuständigen Zoll – und Handelsbehörden beider Seiten weiterverhandelt werden, dessen endgültiges Ergebnis in vier Monaten erwartet wird.

 Eine Bewertung der angewandten Handelspraktiken

Die chinesischen Behörden haben als Reaktion eine Untersuchung initiiert mit dem Ziel, die Auswirkungen der EU-Handelsschranken gegenüber chinesischen Unternehmen zu bewerten. Der ohnehin brodelnde Handelsstreit dürfte dadurch weiter angeheizt werden. Die Behörden wollen Fragebögen, öffentliche Anhörungen und Vor-Ort-Inspektionen durchführen und die Untersuchung bis zum 10. Januar abschließen.  (7)

Das Handelsministerium der Volksrepublik China (Ministry of Commerce, MOFCOM) ist zuständig für die Regulierung des Binnen- und Außenhandels. In seine Zuständigkeit fallen ebenso Angelegenheiten für die internationale Wirtschaftszusammenarbeit und der Regelung von Import- und Exportangelegenheiten, Handelsverhandlungen, Investitionen und den Schutz geistigen Eigentums im Handelskontext.
Das Mofcom erklärte, dass die initiierten chinesischen Untersuchung auch die Bereiche der EU in Bezug auf chinesische Lokomotiven, Solarpaneele, Windkraftprodukte und Sicherheitskontrollgeräte einschließt.

Wirtschafts-Analysten sind sich darüber einig,  dass eine solche Untersuchung in der Regel den Beginn von Vergeltungsmaßnahmen markiert.

"Es ist nicht das erste Mal, dass China ein solches politisches Instrument einsetzt, und es ist möglich, dass es weitere Zölle auf ausgewählte europäische Waren geben wird".

"Die zersplitterte politische Landschaft bedeutet, dass sich die Beziehungen zwischen der EU und China wahrscheinlich in einer Sackgasse befinden, sich aber nicht wesentlich weiter verschlechtern werden."
Gary Ng, leitender Ökonom bei der Natixis Corporate and Investment Bank.

Lea Zuber, die EU-Wettbewerbssprecherin, betont dazu, dass die Kommission die Einzelheiten der chinesischen Untersuchung prüfe, fügte aber hinzu, dass die EU alle zur Verfügung stehenden Instrumente, einschließlich der Verordnung über ausländische Subventionen, voll ausschöpfen werde.

Generell bleibt festzuhalten, dass handelspolitische Maßnahmen, so wie sie von der EU gegenüber einem der wichtigsten außereuropäischen Handelspartner angewandt werden, seinem Charakter nach einem konservativen Protektionismus entsprechen. Vor allem steht s dieser EU-Protektionismus diametral zur verkündeten europäischen Entwicklung der grünen Industrie, die auch die Förderung des Ausstiegs aus der automobilen Verbrenner-Antriebs-Industrie einbezieht.

Es ist also davon auszugehen, dass China seinerseits alle notwendigen Maßnahmen ergreifen wird, um seine eigenen Rechte und Interessen angesichts der Anwendung missbräuchlicher Regeln zu schützen.

"Dies ist ein normaler Schritt in Handelsverhandlungen und wahrscheinlich eine Reaktion Pekings auf die jüngsten Gespräche mit Brüssel über Zölle auf Elektrofahrzeuge",
sagte Ding Shuang, Chefökonom für Greater China, Standard Chartered.

Mei Yuan, Assistenzprofessor für Wirtschaftswissenschaften an der Singapore Management University, merkt dazu an, dass die chinesische Untersuchung der EU im Einklang mit den Ausgleichsregeln der Welthandelsorganisation stehe:
"Wir wissen nicht, ob die EU strenger vorgegangen ist oder sogar zwischen den chinesischen Unternehmen differenziert hat, deshalb muss (Mofcom) die Situation untersuchen".

Unabhängig vom Ausgang der chinesischen Untersuchungen bleibt festzuhalten, dass höhere Zölle, die die USA und die EU auf chinesische Elektroautos erheben, chinesische Unternehmen dazu veranlassen werden,  ihren Absatz-Fokus auf die Schwellenländer zu verlagern, wo chinesische Autos der globalen Konkurrenz derzeit überlegen sind und vor allem einen konsumorientierten Preisvorteil bieten.
Damit soll aber nicht der individuellen Automobilität im globalen Süden per se das Wort geredet werden; aber auch dort ist die individuelle Mobilität ein Gradmesser für aufkommenden und nachgefragten Wohlstand. Einschränkend ist dabei allerdings auf die damit einhergehende Entwicklung eines  sozialen Einkommens-Ungleichgewichts hinzuweisen, was keinesfalls Zustimmung finden kann.  Aber das ist ein umfassendes sozial-ökonomisches Thema, das hier nicht beantwortet werden kann.


Chinesische E-Automobile auf dem deutschen Automobilmarkt

Derzeit sind mehrere chinesische Elektroautomarken und -modelle auch in Deutschland erhältlich. Hierzu ein paar Informationen zu den weiter oben bereits erwähnten chinesischen E-Automobilen:

BYD (Build Your Dreams) gilt als Vorreiter für umweltfreundliche Technologien.

BYD gilt als der weltgrößte Hersteller von Elektroautos und hat in 2023 sogar Tesla übertroffen.

In Europa setzte BYD in 2023 15.700 Automobile mit Elektro-Antrieb ab. In zwei Jahren ist der Absatz von knapp 100.000 Einheiten geplant.

Das Unternehmen setzt auf innovative Batterietechnologien wie die Blade-Batterie, die eine höhere Energiedichte und längere Lebensdauer bietet. Modelle wie der BYD Dolphin und der BYD Atto 3 zeichnen sich durch gute Energieeffizienz aus.
BYD bietet den Atto 3, den Dolphin, den Seal und die Modelle Han und Tang an.
Der BYD Dolphin gehört auch zu den preiswerteren Modellen auf dem deutschen Markt.
Die Preise sind vergleichsweise wettbewerbsfähig, wobei nach Verkäufer-Aussagen beim Kauf auch andere Faktoren wie Verbrauchskosten, Wiederverkaufswert und Langlebigkeit berücksichtigen sollte. Zugegeben, diese letzten Angaben sind Allgemeinweisheiten zum Automobilmarkt; keinesfalls sollte damit aber der Eindruck einer Reklame für chinesische
E--Automobile entstehen.

Für das Jahr 2026 plant BYD sogar ein eigenes Werk in Ungarn mit einer Kapazität von zunächst 150.000 Einheiten.
BYD wäre dann der erste chinesische Anbieter mit einer eigenen Pkw-Fabrik auf dem europäischen Kontinent. Schutzzölle der EU gegenüber dem Mitgliedsland Ungarn, der chinesische e-Autos im europäischen Automobilmarkt anbietet, wäre vermutlich selbst nach der Regie von EU-Protektionisten mehr als eine komödiantische Einlage.

MG, eine Marke des chinesischen Konzerns SAIC, hat den MG4 Electric, MG5 Electric, MG ZS EV und MG Marvel R Electric im Angebot in Deutschland.

Die Marke Nio verkauft die Modelle ET5, ET7 und EL7. Aiways ist mit den SUV-Modellen U5 und U6 vertreten.

GWM Ora bietet den Ora 03 (früher Funky Cat) an. Weitere verfügbare Modelle sind Seres 3 und Seres 5, Xpeng G9, Zeekr 001, Maxus Euniq 6. (8); (9)

Für 2024 sind trotz der verhängten Schutzzölle weitere Markteintritte chinesischer
E-Automobile in Europa bisher geplant.


Verbrenner-Aus und Strafzölle – wohin zeigt die Industriepolitik der EU?

Wie bereits in einem Artikel Mitte Mai erwähnt, waren EU-Stellen seit langem damit beschäftigt, einem Nachweis der Wettbewerbsverzerrung durch unzulässige Subventionierung chinesischer Elektro-Fahrzeuge zu belegen. In den zurückliegenden acht Monaten, seit diese Untersuchung eingeleitet wurde, haben die verantwortlichen Stellen Chinas mehrere "politische" Angebote an Brüssel gemacht, um den Streit zu beenden. Die Kommission hat stets geantwortet, dass die Untersuchung technischer Natur sei, ausgelöst durch Chinas eigene Subventionen. Die Entscheidung ist nun gefallen und es werden Import- Zölle auf in China hergestellte Elektrofahrzeuge erhoben. (10)

Kritische Ökonomen und auch Branchen-Vertreter der deutschen Automobil-Hersteller haben sich öffentlich und selbstredend ihren eigenen Profitinteressen verpflichtet gegen die Erhebung von Importzöllen und deren Konsequenzen für die eigenen Exportziele in China ausgesprochen. Sie warnen davor, dass eine Verteuerung von E-Fahrzeugen die Klimaziele der EU zurückwerfen und die europäischen Autoprodukte wirtschaftlich nicht mehr wettbewerbsfähig machen könnten.(11, 12)

In einem Interview des iwd, dem Informationsdienst des Instituts der deutschen Wirtschaft, erläutert der Aufsichtsratsvorsitzende Arndt G. Kirchhoff der Kirchhoff-Gruppe, einem weltweit agierenden Automobilzulieferer,  die anzunehmenden Auswirkungen der  Strafzölle auf  die hiesige Automobilindustrie und ihrer  Zulieferer.

Seine Antworten  auf die Fragen nach einer möglichen Rücknahme des Verbrenner-Aus durch die EU-Kommission  und der Erhebung von Schutzzöllen gegenüber preisgünstigen chinesischen E-Autos seien  hier auszugsweise dargestellt:

Frage: Rücknahme des Verbrenner-Aus in der EU ?

Antwort: „Ich halte das für unklug, weil so ein Hin und Her die Verbraucher total verwirrt. Die Frage ist eigentlich eine ganz andere, nämlich die, wie wir klimaneutral Auto fahren. Das geht auch mit einem Verbrenner, indem man ihm CO2-freien Kraftstoff gibt, der regenerativ erzeugt wurde. Dann fährt auch ein Otto- oder Dieselmotor klimaneutral. Das elektrische Fahren, das zurzeit in Europa praktiziert wird, ist nicht CO2-frei, denn der dafür verwendete Strom ist zumeist nicht grün. Der Strom ist in Deutschland in guten Jahren zur Hälfte grün, in Europa insgesamt ist er nicht mal zur Hälfte grün. Wir haben weltweit 1,4 Milliarden Autos mit Verbrenner-Motoren, die werden nicht morgen weg sein. Wenn wir diese Autos mit regenerativen Kraftstoffen nutzen würden, hätte das den schnellsten und größten Umweltnutzen.“

Frage: Schutzzölle auf chinesische E-Autos?
Antwort: „Das ist insbesondere aus deutscher Sicht sehr schlecht, weil wir ein kleines Land sind und unser Wohlstand im Wesentlichen darauf beruht, dass wir mit anderen Ländern handeln. Wenn wir jetzt Handelsbarrieren unterstützen, verbauen wir im Grunde genommen den deutschen Weg des Wirtschaftens. Denn wenn wir in Europa Barrieren aufbauen, dann werden die Handelspartner das auch tun. Und am Ende wird das Produkt für die Verbraucher teurer.“ (13)

Quellen

(1) https://www.scmp.com/business/china-business/article/3270034/chinese-ev-makers-train-sights-middle-east-brazil-russia-after-us-eu-raise-tariffs.

(2) https://www.alixpartners.com/insights/102id44/disruption-in-consumer-products-why-building-a-change-proof-organization-is-es/

(3) https://www.auto-naim.de/blog/die-4-groessten-elektroauto-hersteller-aus-china-zukunftstrends

(4) https://www.cardino.de/blog-posts/chinesische-elektroautos

(5) https://www.cardino.de/blog-posts/chinesische-elektroautos

(6) https://www.isw-muenchen.de/online-publikationen/texte-artikel/5244-100-schutzzoelle-ein-rueckfall

(7) https://www.scmp.com/economy/global-economy/article/3269892/china-probe-eus-trade-barriers

(8) https://www.autoscout24.de/informieren/ratgeber/beste-autos/chinesische-elektroautos/

(9) https://www.carwow.de/automagazin/elektroauto/e-auto-tipps-und-begriffserklaerung/aktuelle-chinesische-elektroautos

(10) https://www.isw-muenchen.de/online-publikationen/texte-artikel/5244-100-schutzzoelle-ein-rueckfall

(11) ) https://www.kleinezeitung.at/wirtschaft/18447769/bmw-chef-zipse-warnt-die-politik-man-schiesst-sich-ins-knie-damit;

(12 https://www.sueddeutsche.de/wirtschaft/strafzoelle-autoindustrie-handelskrieg-usa-china-1.7251371

(13) https://www.iwd.de/artikel/interview-durch-strafzoelle-wird-alles-teurer-625719/?utm_source=nl&utm_medium=email&utm_campaign=kw28-2024&utm_content=interview-kirchhoff-automobilindustrie

 

Einigung in der Bundesregierung: Grüße aus der Mottenkiste statt Fortschrittskoalition

Di, 09/07/2024 - 16:20

Worklife-Balance ist ein wichtiges Thema in den Betrieben, wie Berichte von Betriebsräten zeigen.
Auszubildende wollen nach Übernahme Nachtschichten vermeiden, Bewerber fordern eine 4-Tage-Woche.
Die Bundesregierung jedoch ignoriert diese Stimmung in den Betrieben.

Die jüngsten Beschlüsse der Bundesregierung scheinen eher aus der Mottenkiste zu stammen, statt von einer selbsternannten „Fortschrittskoalition“:
Steuerfreie Überstundenbezahlung und Arbeiten trotz Renteneintritt scheinen Ideen gegen den Fachkräftemangel zu sein.

Nach wochenlangen Verhandlungen haben sich Bundeskanzler Scholz (SPD), Bundeswirtschaftsminister Habeck (Grüne) und Bundesfinanzminister Lindner (FDP) auf einen Nachtragshaushalt für das laufende Jahr sowie den Etatentwurf für 2025 geeinigt, meldet zeit.de
https://www.zeit.de/politik/deutschland/2024-07/bundeshaushalt-einigung-ampel-koalition-spd-saskia-esken-lars-klingbeil

Das Bundeskabinett soll den Entwurf am 17. Juli beschließen, anschließend geht er an den Bundestag.

Medienberichten zufolge will die Regierung Überstunden und Arbeiten über das Renteneintrittsalter hinaus attraktiver machen.
Dafür sollen offensichtlich auf bezahlte Überstunden keine Steuern und Abgaben mehr bezahlt werden. In Betrieben mit Tarifbindung gelte das für Mehrarbeit oberhalb von 34 Wochenarbeitsstunden, in Firmen ohne Tarifvertrag ab der 41. Arbeitsstunde, meldet tagesspiegel.de https://www.tagesspiegel.de/politik/bericht-uber-plane-der-ampelkoalition-empfanger-von-burgergeld-mussen-offenbar-arbeitsweg-von-bis-zu-drei-stunden-akzeptieren-11976677.html

Die Beschäftigten haben hierzulande im vergangenen Jahr laut Tagesschau 1,3 Milliarden Überstunden geleistet (www.tagesschau.de/wirtschaft/arbeitsmarkt/arbeit-deutschland-ueberstunden-100.html).
Demnach fielen pro Arbeitnehmer 2023 durchschnittlich 31,6 Überstunden an, allerdings war laut Bericht mehr als die Hälfte der geleisteten Überstunden 2023 unbezahlt.
Dies vor allem auch deshalb, weil die Bundesregierung bis heute eine Entscheidung des Bundesarbeitsgerichtes nicht umsetzt, nach der Arbeitszeiten zu erfassen sind.
Gesetz dazu fehlt bis heute.

Rentner, die weiter arbeiten, soll demnach nicht nur die Auszahlung des Arbeitgeberanteils zur Arbeitslosen- und Rentenversicherung erhalten können, sondern zusätzlich eine Renten-Aufschub-Prämie wählen können. Dabei erhalte der über die Altersgrenze hinaus arbeitende Mitarbeiter eine Einmalzahlung in Höhe der Rente, die ihm sonst ausgezahlt worden wäre.

Fachkräftemangel setzt Unternehmen unter Druck, Ideen zur Verbesserung der Arbeitsbedingungen zu entwickeln: 45 Unternehmen und Organisationen testen die Vier-Tage-Woche. Ein halbes Jahr lang wird die 100-80-100-Variante getestet: 100 Prozent Leistung in 80 Prozent der Zeit für 100 Prozent Lohn.
Initiiert wurde das Projekt von der Unternehmensberatung Intraprenör, die wiederum mit der Organisation „4 Day Week Global“ zusammenarbeitet. Mehr als die Hälfte der teilnehmenden Unternehmen hat zwischen zehn und 49 Beschäftigte. Am stärksten vertreten ist die IT-Branche (14 Prozent), aber auch Handwerk und Industrie (je sechs Prozent). https://www.telepolis.de/features/Die-Vier-Tage-Woche-Ein-neues-Modell-fuer-die-Zukunft-der-Arbeit-im-Test-9630436.html

Manche Unternehmen schaffen Fakten. Auf einen freien Freitag setzt unter anderem die Volksbank Kaiserslautern: Bereits im Sommer 2022 führte die Bank eine 34,5-Stunden-Woche ein und senkte die Arbeitszeit somit um 4,5 Stunden wöchentlich.
Der Lohn blieb gleich. Die Zahl der Bewerber auf freie Stellen stieg seitdem.

Die Entwicklung bietet Gewerkschaften Anknüpfungspunkte für Forderungen nach kollektiver Arbeitszeitverkürzung.

Von der Bundesregierung wird es dazu wohl keine Unterstützung geben.

Junge Welt: Warum steht diese Zeitung überhaupt im Verfassungsschutzbericht?

Di, 09/07/2024 - 10:05

Wenn legitime Kritik zum vermeintlichen Verfassungsfeind wird, stirbt ein Stück Pressefreiheit einen stillen Tod.
Die Presse- und Meinungsfreiheit ist ein hohes Gut – das betonte das Bundesverfassungsgericht im Jahr 2005.




Damals war die Frage: Darf die rechte Zeitung Junge Freiheit im Verfassungsschutzbericht des Landes Nordrhein-Westfalen auftauchen? Das Gericht urteilte: Nein, potenzielle Leser:innen könnten vom Kauf abgehalten und Inserent:innen zum Boykott verleitet werden. Deshalb schränke die Erwähnung der Zeitung im NRW-Bericht die Pressefreiheit unzulässig ein.

Dieses Grundsatzurteil gilt für alle Zeitungen, sollte man meinen. Scheinbar gilt es nicht für die linke Zeitung Junge Welt. Denn seit 2021 erscheint sie im Jahresbericht des deutschen Verfassungsschutzes.
https://www.bmi.bund.de/SharedDocs/pressemitteilungen/DE/2024/06/vsb2023.html


Der meint, Zeitung, Verlag und deren Genossenschaft seien „extremistische Personenzusammenschlüsse“, die „verfassungsfeindliche“ und umstürzlerische Absichten verfolgten. Deshalb sei das Ziel, der Zeitung den „weiteren Nährboden zu entziehen“, wie die Bundesregierung im Mai 2021 auf eine parlamentarische Anfrage schrieb.

Der Grund für diese Staatsgewalt: Die Junge Welt bekennt sich zum Marxismus. Das heißt, sie „stellt die Ökonomie ins Zentrum, fragt nach Interessen, Klassenwidersprüchen und der Veränderbarkeit sozialer Verhältnisse“. Kurz, die Zeitung betreibt Kapitalismuskritik und vertritt so oft andere Positionen als Mainstream-Medien. Sie ist gegen Waffenlieferungen an die Ukraine und für diplomatische Lösungen in Nahost. Diese Blattlinie vertritt sie erfolgreich. Ihre Abo-Zahlen steigen.

Der Verfassungsschutz beäugt diesen Erfolg kritisch. Die Zeitung baue „Gegenöffentlichkeit“ auf, meint er, mit dem Ziel, „die freiheitliche Demokratie durch eine sozialistische/kommunistische Gesellschaftsordnung zu ersetzen“. Ein scheinbarer Beweis für diese Umsturz-Absichten: die jährliche Durchführung der Rosa-Luxemburg-Konferenz. https://www.berliner-zeitung.de/topics/rosa-luxemburg
Tausende Menschen diskutieren über Themen wie soziale Ungleichheit. Nun ist die Frage: Ist das Gesellschaftsanalyse oder Anstiftung zur Revolution?

Immerhin gelten 16,8 Prozent der Deutschen (14,2 Millionen Menschen) als armutsgefährdet – sie verdienen weniger als 1168 Euro im Monat. Dagegen besitzen die fünf reichsten deutschen Unternehmensfamilien etwa 250 Milliarden Euro – also mehr als die ärmere Hälfte der Bevölkerung. Marxismus hin oder her, das klingt nach Zweiklassengesellschaft. Laut Bundesregierung verstößt aber schon die Klassen-Idee gegen die Menschenwürde, denn Menschen würden „zum ‚bloßen Objekt‘ degradiert“, schrieb sie im Mai 2021.

„Das ist alles komplett absurd“, sagt Verlagsgeschäftsführer Dietmar Koschmieder im Gespräch. „Wir wollen eine gute Zeitung machen, nicht mehr und nicht weniger.“ Die Nennung der Jungen Welt im Verfassungsschutzbericht mache das schwer, denn sie bringe „erhebliche Nachteile im Wettbewerb“. Werbetafeln könnten nicht angemietet und Werbespots nicht ausgestrahlt werden. Institutionen verweigerten Presseauskünfte.

Deshalb klagt die Junge Welt seit 2021. Die Zeitung wolle „eine faire Chance auf dem Pressemarkt“, sagt Koschmieder. Nach Revolution klingt das kaum. Die 100.000 Euro Prozesskosten beglichen bisher Spendengelder. Der nächste Gerichtstermin ist am 18. Juli. Man wünscht der Zeitung Erfolg. Denn wenn legitime Kritik zum vermeintlichen Verfassungsfeind wird, stirbt ein Stück Pressefreiheit einen stillen Tod.

 

Erstveröffentlichung berliner-zeitung

 

 

 

 

Grundzüge der Wirtschaftspolitik der neuen Labour-Regierung: Großbritanniens Securonomics

Di, 09/07/2024 - 08:28

Es gab Abenomics in Japan, Modinomics in Indien und Bidenomics in den USA.  Jetzt haben wir Securonomics in Großbritannien.  Dies ist eine elegante Bezeichnung für die Grundzüge der Wirtschaftspolitik der neuen Labour-Regierung des Vereinigten Königreichs, die von der neuen Finanzministerin, Rachel Reeves, einer ehemaligen Ökonomin der Bank of England, erläutert wurde.  

Als Rachel Reeves vor den jüngsten Wahlen im Vereinigten Königreich in Washington war, erklärte sie ihren Zuhörern, dass "die Globalisierung, wie wir sie einst kannten, tot ist".  Und sie hatte Recht.  Der große Boom des Welthandels seit den 1990er Jahren kam nach der Großen Rezession von 2008-9 zum Stillstand, und seitdem stagniert der Welthandel im Wesentlichen.  Und das hat sich auch im Vereinigten Königreich gezeigt, das nun das größte Handelsdefizit seiner Geschichte aufweist.  Und es geht nicht nur um den Handel.

Die Auslandsinvestitionen, auf die sich das britische Kapital seit den 1980er Jahren zunehmend verlassen hat, sind zurückgegangen.  Das Vereinigte Königreich erhält weniger produktive Investitionen ausländischer Unternehmen in seine Wirtschaft. Die Zahl der ausländischen Direktinvestitionsprojekte, die im Vereinigten Königreich ankommen, ist in den letzten zwei Jahren um 6 % gegenüber dem Vorjahr zurückgegangen und hat 2023 einen Tiefstand von 1.555 erreicht.  Dies entspricht einem deutlichen Rückgang von 16 % seit der Pandemie.

Die COVID-Pandemie war der letzte Strohhalm.  Die globalen Lieferketten brachen zusammen, Handel und Investitionen gingen zurück.  Das Weltwirtschaftswachstum verlangsamt sich - der IWF spricht von den "lauen Zwanzigern" und die Weltbank prognostiziert die schlechtesten Wachstumsraten seit 30 Jahren.  Reeves ist klar geworden, dass sich Großbritannien nicht länger auf die globale Expansion verlassen kann.  Das Land muss für sich selbst sorgen.

Daher haben wir die "Securonomics", d.h. einen nationalistischen Ansatz für die Wirtschaft.  Das Schlagwort vieler G7-Länder lautet "Industriestrategie".  Freie Märkte" sind out; jetzt müssen die Regierungen politische Maßnahmen ergreifen, die ihre eigenen kapitalistischen Sektoren anleiten und ermutigen, in den "richtigen Bereichen" zu investieren und zu produzieren, um das Wirtschaftswachstum anzukurbeln.  Während Abenomics, Modinomics und Bidenomics zumeist eine Mischung aus altmodischen keynesianischen Steuer- und Kreditanreizen zur Ankurbelung der "Gesamtnachfrage" und der Beschäftigung sowie neoliberalen Strukturmaßnahmen zur Schwächung der Arbeiterbewegung und zur Privatisierung von Staatsvermögen waren, behauptet Reeves, dass Securonomics anders ist.

In ihrer jüngsten Mais-Vorlesung (Mais ist eine Wirtschaftshochschule im Herzen der Londoner City), in der sie vor Vertretern des Großkapitals und der Finanzwelt sprach, vertrat Rachel Reeves eine andere Auffassung: dass ein "aktiver" Staat die Sicherheit von Unternehmen garantieren kann, um eine "Plattform" der Sicherheit zu schaffen, von der aus wir "nachhaltiges Wirtschaftswachstum vorantreiben können".  https://labour.org.uk/updates/press-releases/rachel-reeves-mais-lecture/


Wie sie es ausdrückte: "Nachhaltiges Wirtschaftswachstum ist der einzige Weg, um den Wohlstand unseres Landes und den Lebensstandard der arbeitenden Menschen zu verbessern. Deshalb ist dies die erste Aufgabe von Labour in der Regierung. Das bedeutet, dass wir wirtschafts- und arbeitnehmerfreundlich sind. Wir sind die Partei der Wohlstandsschaffung." Securonomics bedeutet, sich auf einen dynamischen und strategischen Staat zu verlassen.  Aber das "bedeutet nicht eine ständig wachsende Regierung, sondern eine aktivere, intelligentere Regierung, die in Partnerschaft mit der Wirtschaft, den Gewerkschaften, den lokalen Verantwortlichen und den dezentralen Regierungen arbeitet."

Die neue Labour-Regierung wird also nicht darauf warten, dass der kapitalistische Sektor investiert, Arbeitsplätze schafft und wächst, sondern sie wird eingreifen, um ihn in die richtige Richtung für die Wiederbelebung der britischen Industrie zu "ermutigen". 
Dies ist keine Übernahme von kapitalistischen Sektoren durch den Staat.  Es wird mehr öffentliche Investitionen geben, aber nur dort, "wo sie zusätzliche Investitionen des privaten Sektors freisetzen, Arbeitsplätze schaffen und eine Rendite für die Steuerzahler erbringen können." 
Die Industriestrategie der Labour-Partei wird "aufgabenorientiert und auf die Zukunft ausgerichtet sein. Wir werden partnerschaftlich mit der Industrie zusammenarbeiten, um Chancen zu ergreifen und Wachstumshemmnisse zu beseitigen."

Dies erinnert stark an die Wirtschaftsstrategie von Mariana Mazzucato, der italienisch-amerikanischen linken Wirtschaftswissenschaftlerin, die der Meinung ist, dass der moderne Kapitalismus eine "zweckorientierte" Partnerschaft zwischen dem öffentlichen und dem privaten Sektor braucht. 
https://thenextrecession.wordpress.com/2021/02/20/mission-impossible/

Mazzucato plädiert für eine öffentlich-private Partnerschaft, die "eine gemeinsame Vision für die Zivilgesellschaft, die Wirtschaft und die öffentlichen Institutionen einfangen kann". Regierungen und kapitalistische Unternehmen sollten sich die Risiken teilen und dann die Gewinne ausschütten: "Es geht nicht darum, Märkte zu reparieren, sondern Märkte zu schaffen".  Mazzucato bringt es auf den Punkt: "Die Missionsökonomie bietet einen Weg, den Staat zu verjüngen und damit den Kapitalismus zu reparieren, anstatt ihn zu beenden." Das ist auch das Ziel der Securonomics.

Aber kann die Securonomics das Humpty Dumpty eines zerbrochenen Großbritanniens wieder zusammensetzen? 
Der Schlüssel muss ein starker Anstieg der produktiven Investitionen sein, um das Wirtschaftswachstum wiederherzustellen, das mehr Einkommen für alle und mehr Einnahmen für die Regierung bringt, damit sie in die Erfüllung der sozialen Bedürfnisse in den Bereichen Gesundheit und Sozialfürsorge, Bildung, Verkehr, Kommunikation und Wohnungsbau investieren kann - alles Bereiche, die im kaputten Großbritannien straucheln und versagen.
https://thenextrecession.wordpress.com/2024/07/02/broken-britain/

Woher sollen die zusätzlichen Investitionen kommen?  Wie ich in meinem letzten Beitrag über Großbritannien gezeigt habe, ist das Verhältnis zwischen Investitionen und BIP im Vereinigten Königreich erbärmlich niedrig (etwa 17 % des BIP im Vergleich zum G7-Durchschnitt von 23 %), und die Investitionen der großen Unternehmen sind mit 10 % des BIP sogar noch niedriger.  Bei den öffentlichen Investitionen liegt die Quote sogar bei nur 2 % des britischen BIP.

In einer kürzlich erschienenen LSE-Studie wird eine Erhöhung der öffentlichen Investitionen um 1 % des BIP gefordert, was einem Anstieg von 26 Mrd. £ pro Jahr zu aktuellen Preisen entspricht.  https://www.lse.ac.uk/granthaminstitute/wp-content/uploads/2024/01/Boosting-growth-and-productivity-in-the-UK-through-investments-in-the-sustainable-economy.pdf

Doch was schlagen Rachel Reeves und Labour vor?  Sie planen lediglich 7,3 Milliarden Pfund "im Laufe des nächsten Parlaments" durch einen Nationalen Wohlstandsfonds, der "transformative Investitionen in allen Teilen des Landes" tätigen soll.  Die von Corbyn geführte Labour-Partei schlug 25 Milliarden Pfund vor, aber die Reeves-Starmer-Führung schlägt nur ein Viertel davon vor und einen Bruchteil von dem, was selbst die LSE-Ökonomen für nötig halten.  Für eine echte Umgestaltung der Industrie und des öffentlichen Dienstes sind in den nächsten fünf Jahren eher 60 Mrd. Pfund pro Jahr erforderlich, was einem Anstieg von mindestens 2-3 % des BIP pro Jahr entspricht.  Stattdessen sieht der Plan der Labour-Partei für uns einen Rückgang der öffentlichen Investitionen im Verhältnis zum BIP in diesem Parlament vor!

Natürlich hofft man, dass dieser winzige Anstieg der öffentlichen Investitionen "drei Pfund an privaten Investitionen für jedes Pfund an öffentlichen Investitionen anziehen und so im ganzen Land Arbeitsplätze schaffen wird".  Aber selbst wenn dies der Fall wäre (was zu bezweifeln ist), wäre die Gesamterhöhung immer noch weit, weit von dem entfernt, was nötig ist, um die britische Wirtschaft zu sanieren.

Warum sind die Labour-Führer so zögerlich, was die Erhöhung der öffentlichen Investitionen angeht? 
Der erste Grund ist, dass die Steuereinnahmen des Staates aufgrund der schwachen Wirtschaft des Vereinigten Königreichs zu niedrig sind, um höhere Investitionen zu finanzieren.  Die einzige Möglichkeit, dies zu tun, bestünde darin, dass die Regierung mehr Kredite aufnimmt, d.h. Staatsanleihen bei den Banken ausgibt usw.  Dadurch würde sich jedoch das Defizit im Staatshaushalt erhöhen und die Staatsverschuldung, die bereits ein Rekordniveau erreicht hat, steigen.

Ja, die Regierung könnte den fehlenden "fiskalischen Spielraum", wie er genannt wird, ignorieren und einfach viel mehr Kredite aufnehmen, in der Erwartung, dass die zusätzlichen Investitionen das Wachstum und die Einnahmen ankurbeln und sich so selbst auszahlen und eine steigende Schuldenlast vermeiden.  Genau das hat Sheila Graham, die linke Vorsitzende der größten britischen Gewerkschaft UNITE, Reeves vorgeschlagen.  https://www.theguardian.com/politics/article/2024/jul/07/unite-sharon-graham-rachel-reeves-fiscal-rules-growth-borrow-invest

Wenn man Anhänger der modernen Geldtheorie (MMT) ist, würde man sich gar nicht erst die Mühe machen, Anleihen auszugeben, sondern einfach "Geld drucken", d. h. die Bank of England dazu bringen, den Banken weitere Milliarden zu leihen.

Aber was würden ausländische Investoren und Anleihenbesitzer davon halten?  Im Oktober 2022 schlug die kurzzeitig ernannte Tory-Premierministerin Liz Truss in ihrem Streben nach "Wachstum" genau das vor.  Und was geschah? Die Bank of England tat das Gegenteil und erhöhte die Zinssätze, während die Inhaber ausländischer Anleihen in die Kapitalflucht gingen und das Pfund im Wert einbrach.  Die Labour-Führer haben Angst vor einem ähnlichen Investitionsstreik der Finanzmärkte, wenn sie "zu viel" leihen.  Stattdessen planen sie, zu wenig zu leihen.

Starmer-Reeves haben auch die Londoner City beschwichtigt, indem sie ankündigten, dass sie weder die Einkommenssteuersätze noch die Sozialversicherungssätze erhöhen werden (da die Steuereinnahmen im Verhältnis zum schwachen BIP einen Nachkriegshöchststand erreicht haben).  Sie haben sogar versprochen, die Körperschaftssteuer für Großunternehmen - mit 25 % bereits die niedrigste in der G7 - nicht zu erhöhen, um Investitionen nicht "abzuschrecken".  Sie sagen sogar, dass sie, wenn andere Länder ihre Steuersätze senken, dem Wettlauf nach unten folgen werden, indem sie sie weiter senken.  Und sie werden weiterhin 100%ige Steuervergünstigungen für Kapitalinvestitionen gewähren. 
Die Ironie dabei ist, dass Senkungen der Unternehmenssteuern und Steuerbefreiungen in den letzten zwei Jahrzehnten nirgendwo zu einer Steigerung der privaten Investitionen geführt haben.

Wo wird die Sicherheitspolitik ihre zaghafte Investitionsstrategie konzentrieren?  Die Antwort lautet: auf Finanzdienstleistungen, die Automobilindustrie (die sich vollständig in ausländischem Besitz befindet), Biowissenschaften und "kreative Sektoren" (Film, Design, Theater, Mode usw.).  Dies sind angeblich die Sektoren, in denen das Vereinigte Königreich einen Vorsprung hat.

Aber was ist mit den kaputten öffentlichen Diensten in Großbritannien?  Dem Nationalen Gesundheitsdienst (NHS) mangelt es an Geld und Personal. Während des Wahlkampfs versprach Reeves, die wichtigsten Steuersätze, die drei Viertel der gesamten Steuereinnahmen ausmachen, nicht zu erhöhen.  Stattdessen setzt sie ihre Hoffnungen auf ein höheres Wachstum in Verbindung mit einer engen Spanne von Einnahmeerhöhungen im Wert von rund 8 Mrd. £.  Nach den jüngsten optimistischen Schätzungen des britischen Wirtschaftswachstums bedeutet dies, dass Reeves nur etwa 10 Mrd. Pfund für die Verbesserung der öffentlichen Dienstleistungen zur Verfügung stehen, es sei denn, Labour bricht sein Versprechen, keine Steuern zu erhöhen oder mehr Kredite aufzunehmen. Das bedeutet, dass der brutale Sparkurs, den der NHS, die Kommunalverwaltungen, Schulen und Universitäten in den letzten zehn Jahren erlebt haben, weitergehen wird - zumindest bis das Wunder eines schnelleren Wachstums eintritt.

Der Nuffield Trust geht sogar davon aus, dass die aktuellen Ausgabenpläne der neuen Labour-Regierung für den NHS eine weitere Periode der Sparmaßnahmen bedeuten werden.  https://www.nuffieldtrust.org.uk/resource/how-much-spending-on-the-nhs-have-the-major-parties-committed-to-in-their-election-manifestos

Ein jährliches Wachstum der Gesamtausgaben für das Gesundheitswesen von 0,8 % würde dazu führen, dass die nächsten vier Jahre unter den Labour-Zusagen die knappsten in der Geschichte des NHS wären - knapper sogar als die "Spar"-Periode der früheren Tory-Koalitionsregierung, in der die Mittel zwischen 2010/11 und 2014/15 um real nur 1,4 % pro Jahr stiegen.

Was ist mit dem Wohnungsbau?  Die neue Labour-Regierung hat sich zum Ziel gesetzt, in den nächsten fünf Jahren jährlich 300.000 neue Wohnungen zu bauen.  Das klingt gut, auch wenn das weit weniger ist als nötig und weit weniger als die Labour-Regierungen in den 1950er und 1960er Jahren gebaut haben.  Aber wie soll das geschehen?

Es wird nicht durch eine Nationale Baugesellschaft geschehen, die Bauarbeiter, Architekten usw. direkt beschäftigt, um gute Häuser und Wohnungen zu bauen, die im Besitz des Gemeinderats sind, zu vernünftigen Mieten für die Mieter, um die riesigen Wartelisten abzubauen.  Nein, der gesamte Wohnungsbauplan wird davon abhängen, dass private Bauträger Wohnungen zum Verkauf bauen, wobei die "erschwinglichen Wohnungen" nur minimal überwacht werden.  Den Labour-Führern geht es vielmehr darum, die Planungsvorschriften in den Kommunen aufzuheben, damit private Bauträger bauen können, wo und wie sie wollen.  Und wer sind diese Bauträger?  Wie bereits erwähnt, handelt es sich um Unternehmen wie die amerikanische Investmentgesellschaft BlackRock, die bereits 260.000 britische Wohnungen besitzt, mit denen sie im letzten Jahr rund 1,4 Milliarden Pfund an Gebühren verdient hat.  BlackRock wird also die Nutznießer dieser Wohnungsexpansion sein.

Securonomics bedeutet, dass es keine öffentliche Übernahme der produktiven Sektoren der Wirtschaft, des Finanzsektors oder der großen Investmentfonds geben wird. 
Man denke nur an das Desaster und die Skandale bei der Royal Mail seit ihrer Privatisierung, die jetzt von ihren Private-Equity-Eigentümern an einen tschechischen Milliardär verkauft wird.  Was ist der Plan von Labour? "Royal Mail bleibt ein wichtiger Teil der britischen Infrastruktur. Die Labour-Partei wird sicherstellen, dass jede vorgeschlagene Übernahme gründlich geprüft wird und dass angemessene Garantien gegeben werden, die die Interessen der Beschäftigten, der Kunden und des Vereinigten Königreichs schützen, einschließlich der Notwendigkeit, eine umfassende Universaldienstverpflichtung aufrechtzuerhalten."  Es geht also um Regulierung, nicht um die Wiederherstellung des öffentlichen Eigentums an diesem "wichtigen Teil der britischen Infrastruktur".

Dann sind da noch die Energie- und Wasserversorgungsunternehmen.  Der Skandal dieser privatisierten Versorgungsunternehmen ist für alle sichtbar, wo die Aktionäre Milliarden an Dividenden erhalten haben, während die Schulden und Preise steigen. Der totale Zusammenbruch der Wasserinfrastruktur hat einen Punkt erreicht, an dem die Wasserversorgung, die Flüsse und die Strände des Vereinigten Königreichs nicht mehr sicher zum Trinken oder Anfassen sind.  Und dennoch hat Labour keinen Plan, diese Versorgungsunternehmen wieder in öffentliches Eigentum zu überführen.  Stattdessen will sie eine "bessere Regulierung".  Offensichtlich will sie weniger Regulierung im Wohnungswesen und mehr Regulierung bei Versorgungsunternehmen und der Post. 

Die Labour-Partei hat zugesagt, die Eisenbahn wieder in öffentliches Eigentum zu überführen, allerdings nur schrittweise, wenn die privaten Konzessionen (etwa zehn Jahre lang) auslaufen.  Die Labour-Partei unter Corbyn hat eine kostenlose Breitbandverbindung für alle als öffentliches Recht versprochen.  Dies wurde von der rechten Presse als "Kommunismus" bezeichnet.  Die Labour-Partei unter Starmer schlägt lediglich "einen erneuten Vorstoß vor, um das Ziel einer vollständigen Gigabit- und nationalen 5G-Abdeckung bis 2030 zu erreichen."

Securonomics bedeutet jedoch mehr Investitionen in einem Schlüsselsektor: Verteidigung.  Die neue Labour-Regierung hat sich verpflichtet, die Verteidigungsausgaben in dieser Legislaturperiode auf 2,5 % des BIP zu erhöhen, um das Land zu "sichern", angeblich vor einer drohenden Invasion durch Russland oder China - in Wirklichkeit aber, um die Forderungen der USA und der NATO zu erfüllen.  Die Verteidigungsausgaben des Vereinigten Königreichs belaufen sich bereits auf 2,3 % des BIP, aber es soll noch mehr ausgegeben werden, während der NHS im Sparmodus bleibt.

Securonomics ist in Wirklichkeit eine erneute Rückkehr zur Idee der "öffentlich-privaten Partnerschaft".  Das bedeutet, dass die Regierung etwas mehr Kredite aufnimmt oder Steuern erhebt, um etwas mehr zu investieren, hauptsächlich um den kapitalistischen Sektor zu ermutigen und zu subventionieren, mehr zu investieren, und ihm den Löwenanteil der zusätzlich erzielten Einnahmen zu überlassen. Die Investitionen des öffentlichen Sektors werden hauptsächlich dazu dienen, den kapitalistischen Sektor bei seinen Investitionen zu unterstützen, und nicht, ihn zu ersetzen.  Und das macht Sinn, wenn Ihre Grundüberzeugung darin besteht, den Kapitalismus besser funktionieren zu lassen.  Die kapitalistischen Investitionen im Vereinigten Königreich sind etwa fünfmal so hoch wie die öffentlichen Investitionen.  Es wäre eine andere Wirtschaft, wenn dieses Verhältnis andersherum wäre.  Aber das wird im Rahmen der Securonomics nicht passieren.

Das Problem ist, dass der kapitalistische Sektor in den letzten drei Jahrzehnten nicht genug investiert hat, und ein Großteil der Investitionen floss nicht in produktive Wirtschaftsbereiche, sondern in die Bereiche Finanzen, Immobilien, Verteidigung usw.  Der Grund dafür ist, dass es einfach nicht profitabel genug war, anderswo zu investieren.  Die Pläne von Labour deuten nicht auf eine Änderung dieses Trends hin.


Securonomics ist angeblich eine Strategie für das britische Kapital, mit Hilfe einer wirtschaftsfreundlichen Regierung die "Kontrolle" über seine Wirtschaft zu übernehmen und sich so in einer zunehmend stagnierenden und protektionistischen Weltwirtschaft zu behaupten. 
Aber die britische Wirtschaft ist schwach, und sie kann sich den Drehungen und Wendungen der globalen kapitalistischen Wirtschaft nicht entziehen und wird es auch nicht tun.  Es ist sehr wahrscheinlich, dass die Weltwirtschaft noch vor Ende dieses Jahrzehnts einen neuen Einbruch erleben wird.  Einbrüche treten alle 8-10 Jahre auf, und die letzten beiden waren die schlimmsten in der Geschichte des Kapitalismus.  Auch ohne einen Einbruch verlangsamt sich das weltweite Wachstum, und der Handel stagniert, ohne dass es Anzeichen für eine Verbesserung gibt.

Die Pläne der Labour-Partei bieten keine "Sicherheit" gegen die Wechselfälle der kapitalistischen Akkumulation. 
Nach jedem vorangegangenen Einbruch wurde die amtierende Regierung abgesetzt (Labour 2010 nach dem Einbruch von 2008-9 und die Konservativen schließlich 2024 nach dem pandemischen Einbruch von 2020).  Dies könnte eine Labour-Regierung für eine Amtszeit sein.

Weltwirtschaftsforum - Das Jahresmeeting AMNC24 in China

Di, 02/07/2024 - 08:24

Das AMNC, Annual Meeting of the New Champions, ist das jährliche Treffen der New Champions, eine vom Weltwirtschaftsforum organisierte Veranstaltung. Das 15. Jahrestreffen fand im vom 25. – 27. Juni 2024 in Dalian, China statt. Der Hauptanlass des 15. Jahrestreffens der New Champions war darauf ausgerichtet, eine Wiederbelebung der Weltwirtschaft durch integratives, nachhaltiges Wachstum zu erörtern.
Das Forum wird  als das  Sommer-Davos bezeichnet.



Über  1.600 globale Führungskräfte aus über 80 Ländern kamen Ende Juni im nord-chinesischen  Dalian  zusammen, um Lösungsansätze und Herangehensweisen zur Bewältigung der die Weltwirtschaft derzeit prägenden Problemfelder  zu erörtern.  
Neben der dringlichen Vereinbarung zur Neugestaltung der globalen Wirtschaft waren weitere  Kernthemen die Wirtschaftstätigkeit im Zeitalter der künstlichen Intelligenz, neue absehbare Grenzen für Industrien, die Rolle Chinas in der Weltwirtschaft sowie Themen der Lebensgestaltung für die Menschen und die Verbindung von Klima, Natur und Energie.
https://www.weforum.org/agenda/2024/06/3-things-to-know-about-amnc/

Der gewählte Zeitpunkt für dieses Forum erfolgte in einer Zeit, in der globale Herausforderungen wie der Klimawandel und die Nahrungsmittel- und Energiesicherheit zunehmen, verbunden mit einer komplexen internationalen Situation und einer schwachen Erholung der Weltwirtschaft. Die weiteren Ausführungen  beziehen sich in erster Linie auf die Veranstaltung des AMNC24; eine umfassende Einschätzung der Weltwirtschaft und ihre „sanfte Landung“ ist dem Beitrag unter dem folgenden link zu entnehmen:
https://www.isw-muenchen.de/online-publikationen/texte-artikel/5260-eine-sanfte-landung-oder-ein-faules-ei-a-soft-landing-or-curates-egg

China als Ausrichter  und Veranstalter brachte zu Beginn des internationalen Meetings zum Ausdruck, dass es darum geht, sich auf die  Förderung neuer Wachstumsmotoren zu konzentrieren und dabei die regionale wirtschaftliche Zusammenarbeit zu verstärken. Und Es sei zudem auch wichtig, sich darüber auszutauschen, wie ein stabiles globales Entwicklungsumfeld sicherzustellen sei,   indem man die Auswirkungen der  aktuellen Kriege minimiere. China betonte einmal mehr seine Haltung zu offener Zusammenarbeit und gegenseitigem Nutzen insbesondere auch bei der Entwicklung neuer Bereiche wie neue Energien und künstliche Intelligenz.


Die Globalisierung ist "nicht länger eine westlich orientierte Geschichte"

Führende Politiker aus den Teilnehmerstaaten und Wirtschaftsexperten befassten sich in den eigens dafür konzipierten Foren mit der Situation der besonderen Beziehung der Wirtschaftsmächte USA und China. Dabei stand die Dringlichkeit einer Lösung der Handelsspannungen zwischen den beiden Ländern an oberster Stelle, um globales Wachstum zum Vorteil anderer beteiligter Staaten, vor allem des globalen Südens, zu erleichtern und zu verstärken. Experten legten dar, dass eine Verschiebung der bisherigen Machtkonstellationen durch eine Neuausrichtung der Handelsrouten, bei denen auch die Handelsblöcke wie der Afrikanischen Kontinentalen Freihandelszone (ACFTA) und der asiatischen ASEAN-Vereinigung (Association of South East Asian Nations) eine wichtige Rolle spielen.
Wirtschaftswissenschaftler wiesen darauf hin, dass die US-Präsidentschafts-Wahlen im November dieses Jahres  die Unsicherheit über die künftigen internationalen Beziehungen noch verstärken werden. Aber eine Entkopplung der beiden größten Volkswirtschaften sei rational nicht absehbar, nachdem der Austausch von Produktionsgütern zwischen den beiden Ländern zunehmend über den Aufbau von Produktionsstandorten in Drittländern und neuen Handelsrouten erhalten bliebe.

Der chinesische Premier Li Qiang wiese darauf hin,  dass der Rückgriff auf regressive Maßnahmen zur Entkopplung die Welt in eine zerstörerische Spirale ziehen könnte, in der der erbitterte Wettbewerb um ein größeres Stück des Kuchens letztlich in einer Verkleinerung ende.
„Die Realität ist, dass wir in einer viel stärker vernetzten Welt leben. Aber wegen dieser Spannungen wird diese Verbindung andere Formen annehmen."

Der Wirtschaftshistoriker und Analyst Adam Tooze brachte zum Ausdruck, dass die Globalisierung nicht länger eine westlich geprägte Geschichte sei, sondern etwas, das Regionen auf der ganzen Welt auf dramatische Weise beträfe.
Nach Auffassung des Wirtschaftsministers von Malaysia müssten die ASEAN-Länder enger zusammenarbeiten, um in wichtigen Bereichen wie Handel und Einsatz von Kapital und Technologie weiterhin erfolgreich zu sein:
"Wir sind klein, wir sind bündnisfrei, aber wir sind sehr offen. Es ist ein fester Bestandteil der aufstrebenden Volkswirtschaften, sich zusammenzutun, um sicherzustellen, dass wir nicht von allem, was passiert, gefangen werden."

Busi Mabuza, Vorsitzender der Industrial Development Corporation of South Africa, forderte die Länder auf, sich zum Wohle aller von kurzfristigem Denken zu lösen:

"Wir müssen die Autonomie der anderen respektieren und zusammenarbeiten... und [wir müssen] eine langfristige Perspektive einnehmen -  kurzfristiges Denken ist sehr kostspielig. Es ist sehr wichtig, dass wir uns alle dazu verpflichten, diese Welt viel besser zu verlassen, als wir sie vorgefunden haben."

Selbst der stellvertretende geschäftsführende Direktor des IWF, Bo Li, sah sich veranlaßt, darauf hinzuweisen, dass es wichtig sei,  die  Zusammenarbeit der Länder zur Lösung gemeinsamer Herausforderungen zu fördern.

China´s Momentum des Wachstums

Das Weltwirtschaftsforum des diesjährigen Sommers verdeutlichte die zentrale Bedeutung von China als zweitgrößte Volkswirtschaft der Welt und größter Schwellenmarkt für das künftige globale Wachstum. Das Land spiele in mehrfacher Hinsicht eine entscheidende Rolle bei der Förderung der weltweiten wirtschaftlichen Zusammenarbeit.
Seine robuste Wirtschaftsleistung mit einem BIP-Wachstum von 5,3 % im ersten Quartal 2024 macht das Land zu einem wichtigen Faktor für das globale Wirtschaftswachstum.
Im Jahr 2023 entfielen rund 30 % des weltweiten Wachstums auf China.
Das IWF hatte seine Prognose für das Wirtschaftswachstum Chinas für das Jahr 2024 von 4,6 Prozent im April auf 5 Prozent angehoben, was auf ein starkes BIP-Wachstum im ersten Quartal 2024 zurückzuführen war.
 Dennoch blieben die Ökonomen im Hinblick auf das Wachstum der Weltwirtschaft für das Jahr 2024 weiterhin vorsichtig optimistisch. So sind auch die Aussagen von IWF-Chefin Kristalina Georgieva, China stehe an einer "Weggabelung" und müsse sich für eine bewährte Politik entscheiden oder sich für ein "hochwertiges Wachstum" neu erfinden, als eine Aufforderung an China zu deuten, chinesische Wachstumsimpulse für die Weltwirtschaft zu initiieren.
Der chinesische Ministerpräsident Li Qiang verwies seinerseits auf die staatliche Planungsvereinbarung für das Jahr 2024, die ein Wirtschaftswachstum analog der Prognose des IWF  von 5,0% vorsieht:
 
"Generell befindet sich Chinas Wirtschaft im Aufschwung, aber das heißt nicht, dass sie ohne Probleme ist. Der Erholungsprozess steht noch nicht auf einem sehr soliden Fundament.“

 

Befürworter der Offenheit

China unterstreicht auf dem Weltwirtschaftsforum die Bedeutung der internationalen Zusammenarbeit und spricht sich mit klaren Worten gegen  Protektionismus aus. So betonte  Li Qiang auf dem Forum  die Notwendigkeit einer integrativen Denkweise und einer kollektiven Ausweitung der wirtschaftlichen Möglichkeiten.  Ganz im Sinne einer multipolaren Ausrichtung der chinesischen  Außenpolitik sei sein Land bereit, sich mit allen Ländern zusammenzutun, um das riesige Schiff der Weltwirtschaft zu manövrieren und eine noch bessere Zukunft für die Menschheit zu schaffen. Er benannte dabei eine Vielzahl von Sektoren - von KI bis zur Biomedizin - von denen erwartet wird, dass sie sich "zu Säulenindustrien mit einem Volumen von mehreren Billionen Dollar entwickeln werden".


Anspruch einer führenden Rolle bei Innovationen

Mit über 400.000 Hightech-Unternehmen und 100.000 spezialisierten KMU spielt China  auch eine zentrale Rolle bei der grünen Transformation, einem weiteren Wachstumssektor, insbesondere in der Elektrofahrzeugindustrie. Infolge seiner technologischen Fortschritte positioniert sich  China als Innovationsführer und weckt weltweites Interesse an einer Zusammenarbeit im Hightech-Sektor.

"China investiert in großem Umfang in Europa, indem es direkt Anlagen und Fabriken für Batterien und EV-Plattformen errichtet", sagte Jin Keyu, Professorin für Wirtschaftswissenschaften an der London School of Economics. Sie wies darauf hin, dass bis 2040 45 Millionen EV-Fahrzeuge benötigt würden. "Billionen von Dollar an Investitionen sind nötig: China wird dabei eine sehr wichtige Rolle spielen."
China unterstreicht sein Engagement für eine grüne Entwicklung und seine Führungsrolle beim Übergang zu einer kohlenstoffarmen Wirtschaft, die sich an den globalen Nachhaltigkeitszielen orientiert.
Es bleibt aber anzumerken, dass Chinas internationale Verpflichtung der Kohlenstoffneutralität einer raschen und tiefgreifende Umgestaltung des Energiesektors konsequent fortgeschrieben und umgesetzt werden sollte.  
Um den Höhepunkt der CO2-Emissionen Chinas vor 2030 zu erreichen, sind Fortschritte in drei Schlüsselbereichen erforderlich: Energieeffizienz, erneuerbare Energien und Reduzierung des Kohleverbrauchs. In der APS wächst Chinas Primärenergiebedarf bis 2030 wesentlich langsamer als die Gesamtwirtschaft. Dies ist hauptsächlich das Ergebnis von Effizienzsteigerungen und einer Verlagerung weg von der Schwerindustrie. Ein sich wandelnder Energiesektor führt zu einer raschen Verbesserung der Luftqualität. Die Solarenergie wird bis etwa 2045 zur größten Primärenergiequelle. Die Nachfrage nach Kohle sinkt bis 2060 um mehr als 80 %, die nach Öl um etwa 60 % und die nach Erdgas um mehr als 45 %. Bis 2060 wird fast ein Fünftel des Stroms zur Erzeugung von Wasserstoff verwendet. https://www.iea.org/reports/an-energy-sector-roadmap-to-carbon-neutrality-in-china/executive-summary

 

Es gibt keinen plausiblen Weg zur Begrenzung des globalen Temperaturanstiegs auf 1,5 °C ohne China.Im September 2020 kündigte Präsident Xi Jinping an, dass China "anstrebt, den Höhepunkt der CO2-Emissionen vor 2030 zu erreichen und vor 2060 kohlenstoffneutral zu werden". Diese neue Vision für Chinas Zukunft wurde 40 Jahre nach dem Beginn der bemerkenswerten Reise des Landes in Richtung wirtschaftlicher Modernisierung verkündet, und dies in einer Zeit, in der sich die wichtigsten Volkswirtschaften der Welt zunehmend darin einig sind, dass bis Mitte des Jahrhunderts weltweit Netto-Null-Emissionen erreicht werden müssen. Doch kein Versprechen ist so bedeutsam wie das Chinas: Das Land ist der weltweit größte Energieverbraucher und Kohlenstoffemittent, der für ein Drittel der globalen CO2-Emissionen verantwortlich ist. Das Tempo, mit dem China seine Emissionen in den kommenden Jahrzehnten reduziert, wird entscheidend dafür sein, ob es der Welt gelingt, eine Erderwärmung von mehr als 1,5 °C zu verhindern.
https://www.iea.org/reports/an-energy-sector-roadmap-to-carbon-neutrality-in-china/executive-summary

 

Der globale Süden und das globale Wachstum

In den Sitzungen des sommerlichen Wirtschaftsforums  wurde auch die zunehmende Bedeutung Chinas für das Wachstum im Globalen Süden und im Nahen Osten behandelt.

In der Sitzung China und der Nahe Osten  beschrieb  Jordaniens Minister für digitale Wirtschaft und Unternehmertum, China als einen geschickten "älteren Bruder":
 "Wann immer etwas gebraucht wird, sind sie sofort zur Stelle. Sie machen es sehr kostengünstig, sehr schnell. Und sie liefern es einfach."

Es sei jedoch an der Zeit, dass China den "anderen Brüdern und Schwestern die Chance gebe, ihre eigenen Fähigkeiten zu entwickeln". China werde weiterhin "die Rolle eines strategischen, wichtigen Handels- und Wirtschaftspartners für die arabischen Länder und die Region des Nahen Ostens spielen", fügte er hinzu.
Literaturhinweis: https://www.isw-muenchen.de/broschueren/spezials/216-spezial-38

 

 Das Klima ist der "wichtigste Bereich der Zusammenarbeit“

In den Gremien, die sich mit der Frage des fortschreitenden Klimawandels befassten, herrsche Einigkeit darüber, dass es ein erklärtes Ziel der Beteiligten sein sollte, das ein  Bemühen des Schaffens von  Wohlstand für alle   durch ein nachhaltiges Wirtschaften gefördert werden muss.  Der Global Chief Economist von S&P Global wiese  in diesem Zusammenhang darauf hin, dass "das Klima ein globales öffentliches Gut ist“  und genug Geld auf der Welt da sei, um die Energiewende zu finanzieren. "Wir müssen es nur freisetzen und den Ländern zukommen lassen, die es brauchen". Mit gleicher Botschaft  der Wichtigkeit des Klimas für die internationale Zusammenarbeit wandte sich Jin Keyu, Professor für Wirtschaftswissenschaften an der London School of Economics and Political Science, an die TeilnehmerInnen:
 
 "Seien wir ehrlich: In den Schwellen- und Entwicklungsländern klafft eine Lücke von 5 Billionen Dollar, die bis 2030 mit nachhaltigen und umweltfreundlichen Investitionen gefüllt werden muss, und bis dahin werden 45 Millionen Elektrofahrzeuge benötigt.
Lassen Sie uns also nicht über Überkapazitäten reden. In Afrika gibt es 600 Millionen Menschen ohne Strom... Hier spielt China eine Schlüsselrolle im Bereich der grünen Technologie, vor allem wenn es darum geht, Entwicklungsländern Zugang und Investitionen zu gewähren und den Übergang zu Elektroautos zu unterstützen.“

 Der Wirtschaftshistoriker Adam Tooze betont, dass es ein "Schnäppchen" beim Export chinesischer Elektroautos nach Europa zu machen gibt. "Die Europäer nehmen die Energiewende tatsächlich ernst. Und sie brauchen 10 Millionen [Elektro-]Fahrzeuge bis 2030. Und es ist unmöglich, dass sie diese zu erschwinglichen Preisen selbst herstellen können. Aber  China kann es."

 

KI und aufstrebende Technologien können das Spielfeld ausgleichen

Während des AMNC24 stellte das Forum seine jährlichen Top 10 der aufstrebenden Technologien 2024 vor, von denen sich viele auf die Bewältigung der Klimakrise konzentrieren. KI und neue Technologien könnten dazu beitragen, die Entwicklung und den Einsatz grüner Technologien zu beschleunigen und die Voraussetzungen für eine nachhaltige Entwicklung zu schaffen. Die Technologien müssten jedoch sorgfältig reguliert werden und der Mensch sei  in den Kreislauf mit einzubeziehen..

"Ich glaube, dass dies eine phänomenale Gelegenheit für die Entwicklungsländer ist, in die digitale Wirtschaft einzusteigen... Wo ihre physische Infrastruktur ebenfalls ein Defizit von Billionen von Dollar aufweist, könnten sie in der Lage sein, die traditionellen Industrien zu überspringen und in der Wertschöpfungskette nach oben zu klettern, denn eine der Bedrohungen für sie ist, dass sie ihren Weg aus der Armut immer noch selbst herstellen können."
Jin Keyu, Professor für Wirtschaftswissenschaften

KI-Assistenten haben das Potenzial, den Einfluss und die gerechte Entscheidungsfindung zu revolutionieren, so die Teilnehmer der Sitzung What can AI Assistants Do?

"Es besteht die enorme Möglichkeit, KI-Agenten und fortgeschrittenere Formen der KI, wie wir sie entwickeln, zu nutzen, um die Art und Weise, wie wir in unserer Gesellschaft Entscheidungen treffen, vollständig zu verändern, was zu gerechteren, effizienteren und besseren Gesellschaften führen wird", sagte Darko Matovski, Gründer und CEO von causaLens. https://iqcapital.vc/founder/darko-matovski/

 

Wirtschaftswachstum braucht "Investitionen in das Humankapital".


Innovationen im Bereich der grünen und aufstrebenden Technologien sind für das Wachstum notwendig, werden aber nur möglich sein, wenn  sichergestellt werden kann,  dass die Menschen Zugang zu den KI-gestützten Fähigkeiten erhielten,  so die Diskussionsteilnehmer. Erika Kraemer Mbula, Professorin für Wirtschaftswissenschaften an der Universität Johannesburg, wies darauf hin, dass der Zugang zur Technologie und die Lücken bei den digitalen Fähigkeiten eine Herausforderung für die Länder seien, die es zu überwinden gelte. Nach ihren Erkenntnissen habe die Verbreitung von Mobiltelefonen in den letzten zehn Jahren stark zugenommen, aber es bestünde immer noch eine digitale Kluft.
Der flächendeckende Zugang zum Internet und zur Elektrizität sei immer noch unzureichend. Diese digitale Kluft müsse unbedingt überwunden werden, sonst drohe, dass bei der KI-Bewegung viele zurückgelassen werden könnten.

Die teilnehmenden Länder des Sommer-Davos stimmten weitgehend darüber überein, dass die anhaltenden weltwirtschaftlichen Herausforderungen zu einer Zersplitterung der wirtschaftlichen Interdependenzen zwischen den Regionen und zur Verschärfung von Spannungen und Konflikten führen, wenn Eigeninteressen auf Kosten anderer verfolgt werden oder regressive Maßnahmen wie Abkopplung, Unterbrechung von Lieferketten und Errichtung isolationistischer Barrieren ergriffen werden. Das Sommer-Davos 2024 war ein wichtiger Indikator dafür, die Bedeutung der wirtschaftlichen Entwicklung Chinas in einer Zeit der massiven Anti-China-Rhetorik der wortführenden USA die Bereitschaft des Landes zur internationalen Zusammenarbeit zu verstehen. Die Erwartungshaltungen der Beteiligten richteten sich darauf, die weitere Entwicklung insbesondere von China und seine internationale Ausrichtung  als ein wesentliches Element zu verstehen, die bestehenden praktischen Wege der Zusammenarbeit auszubauen und für ein gemeinsames Wachstum unter den sich veränderten Anforderungen zu kooperieren.

 

Literaturhinweise

http://english.scio.gov.cn/in-depth/2024-06/26/content_117274280.htm

https://www.chinadaily.com.cn/a/202406/27/WS667d2620a31095c51c50b309.html

https://english.news.cn/20240626/edf4ca9771b04852a86594afa2066a4d/c.html

https://www.chinadaily.com.cn/a/202406/27/WS667d2620a31095c51c50b309.html

http://www.china.org.cn/world/Off_the_Wire/2024-06/26/content_117275377.htm

https://www.chinadaily.com.cn/a/202406/27/WS667d2620a31095c51c50b309.html

https://english.www.gov.cn/news/202406/26/content_WS667c180ac6d0868f4e8e8981.htm

https://www.worldbank.org/en/news/press-release/2022/10/12/china-s-transition-to-a-low-carbon-economy-and-climate-resilience-needs-shifts-in-resources-and-technologies

Ein Kurs der mangelnden Selbstachtung und Mutlosigkeit

Do, 27/06/2024 - 23:31

Marxistisch und sozialistisch denkende Menschen in der Linkspartei sollten erkennen, dass sie sich am 24.2.2022 von der bürgerlichen Klasse haben überrumpeln lassen.
Ein Plädoyer, in der neuen Blockkonfrontation als Widerstandskraft im Geist der historischen Arbeiterbewegung kraftvoll neu zu entstehen.

 

Ich habe nochmal etwas zur Krise der Linkspartei aufgeschrieben. Vielleicht ist es für irgendwen nützlich. Vieles davon habe ich schon kurz nach Beginn des Ukrainekrieges, ja schon zu Beginn der Coronakrise aufgeschrieben: in zwei Buchkapiteln, einer Themaseite der "jungen Welt", die damals viele provozierte, in Texten für "Jacobin" und in 2-3 Texten für den "Freitag". Vieles schrieb ich damals als Warnung oder Befürchtung.
Aus Befürchtungen sind, wenigstens nach meiner Einschätzung, heute Tatsachen geworden:

Die Haltung der Linkspartei zum Ukrainekrieg war von Anfang an sehr widersprüchlich. Die innerparteilichen Befürworter von Waffenlieferungen (und Sanktionen) in der Linkspartei hätten mit ihrer Haltung, prinzipentreu und nicht mit zweierlei Maß messend, zum Selbstverteidigungsrecht zu stehen, die Lieferung von Waffen in die halbe Welt fordern müssen.

Warum taten es signifikante Teile der Linken gerade hier und an dieser Stelle, wo es im Einklang mit "ihrer" Regierung, "ihrem" Staat und seiner Propaganda war? Und warum taten sie es woanders nicht, wo man genauso hätte argumentieren können, wo aber das exakte Gegenteil vom Einklang der Fall gewesen wäre: etwa zugunsten des irakischen und syrischen Staats zur Verteidigung ihrer jeweiligen territorialen Integrität gegen den kriegführenden NATO-Partner Erdogan? Oder in Bezug auf den Jemen oder in Bezug auf Palästina, das von der großen Mehrzahl der Staaten der Welt als Staat anerkannt wird und zugunsten der Selbstverteidigung gegen die israelische Okkupation?

Ich habe es schon vor zwei Jahren einmal so formuliert. Es kann nach meinem Dafürhalten auf diese Frage eben nur zwei Antworten geben:
Entweder waren Linke, die so argumentieren, rassistisch: Solidarität mit Ukrainern (weil sie christlich und weiß sind?), aber Doppelmoral und Aufkündigung der eigenen Prinzipienhaftigkeit in Bezug auf Muslime und Araber. Auch wenn ein solcher Rassismus in Deutschland seit 9/11 bei Antideutschen, Sarrazin und Co. tief verankert ist, will ich das nicht glauben und sähen sich auch viele Linke zurecht sehr ungern in dieses Licht gerückt.
Also kann es nur die zweite Antwort sein: Weil sich diese Kräfte in der Linken - wie schon in der Coronakrise - zum Anhängsel der Regierung und ihres neoliberalen Staates und seiner geopolitischen und imperialen Interessen gemacht haben.

Die Linke hatte sich über Jahre und Jahrzehnte unter den allergrößten intellektuellen, politischen und moralischen Anstrengungen gegen die brutale Hegemonie des Neoliberalismus und Imperialismus (Menschenrechtsbellizismus) der 1990er und frühen 2000er Jahre klare Positionen hart erarbeitet. Dazu gehörte: die NATO-Osterweiterung, der Ausschluss Russlands aus der östlichen Partnerschaft der EU usw. waren ein Fehler, das ost-westliche Zerren, wie Gysi es 2013/2014 nannte, an der Ukraine zerreißen das Land, es kann keinen Frieden und keine Sicherheit in Europa ohne eine kollektive Sicherheitsarchitektur unter Einschluss Russlands geben usw.

Nach dem 24.2.2022 hätte man also selbstbewusst sagen können: "Wir haben das immer gesagt, wir haben das vorhergesehen. Die von den Herrschenden bis hierhin betriebene Politik ist gescheitert." Und daraus seine konkreten Positionen begründen können. Stattdessen aber warf man das über Jahrzehnte hart politisch-intellektuell Erarbeitete quasi über Nacht über Bord. Stattdessen begab man sich auf das Terrain des politischen Gegners und der bürgerlichen Klasse, indem viele glaubten, noch jede Rede mit der richtigen Warnung vor Eskalation und der richtigen Forderung nach Diplomatie und Verhandlungen, anfangen zu müssen mit "Der durch nichts zu rechtfertigende, völkerrechtswidrige, verbrecherische Angriffskriegs Russlands...".

Mit anderen Worten: man setzte dem liberalen Narrativ nichts entgegen, um dann auf diesem vom Feind verminten Terrain und unter Dauerbeschuss seiner Propagandaapparate zu versuchen, noch bestimmte linke Positionen gegen Waffenlieferungen, gegen Eskalation, gegen Aufrüstung irgendwie zu halten, um Sorge zu tragen, dass bei der ganzen Militarisierung und inneren Zeitenwende die soziale Gerechtigkeit und Liberalität nicht vollends unter die Räder kommen.

Aber sich so ohne Not in die totale Defensive und auf das Terrain des Feindes zu begeben, musste scheitern: Wie soll irgendwer in der Bevölkerung verstehen, dass man verhandeln, auf Aufrüstung verzichten oder - Gott bewahre! - gar abrüsten will, wenn man der bürgerlichen Erzählung von "Wir die Guten" und drüben "Hitlermordor" nichts entgegensetzt? Das musste scheitern.

Das musste auch innerparteilich, wie man heute sieht, die Organisation zersetzen, weil natürlich die bürgerliche Propaganda in die Partei hineinwirkt, auf die Mitglieder und die Wähler.

Und nirgends zeigte sich das so deutlich, wie bei den Umfragen zu Waffenlieferungen oder dass 59% der Gesamtbevölkerung, aber nur 57% der Linken-Anhänger gegen die Lieferungen von Taurus-Raketen sind, die Moskau erreichen können und auf dem Weg dorthin 22 Atomsilos mit rund 90 Atomsprengköpfen passieren. Das war ein Symptom, eigentlich ein Offenbarungseid.

Und dieser Kurs der mangelnden Selbstachtung und Mutlosigkeit, den man am 22. Februar 2022 einschlug, musste m.E. bedeuten, dass man als Anhängsel der Regierung erscheint und aus dieser Defensive und Selbstblockade nicht mehr herauskommt.

Tatsächlich ist die Linke mit demselben Kurs und derselben Mutlosigkeit schon während der Coronakrise gescheitert, als man das sich über Jahrzehnte gegen die Hegemonie des Neoliberalismus hart erarbeitete politisch-intellektuelle Kapital zur Kritik der neoliberalen Gesundheitspolitik (Fallpauschalen und Ökonomisierung, Krankenhausprivatisierungen, Schließungen von Kliniken in der Fläche, Kürzungen von Intensivstationsbetten, Kürzungen im öffentlichen Sektor einschließlich der Gesundheitsämter usw.) über Nacht vernichtete, als dieses Kind seiner neoliberalen Eltern in den Brunnen gefallen war und die Gesundheitsämter natürlich keine Infektionsketten mehr nachverfolgen konnten, es zu kapitalistisch-künstlicher Triage in Zwickau und anderswo kam.

Anstatt das, was man immer politisch kritisiert und sich theoretisch hart erarbeitet hatte, jetzt in der Krise - erinnert sich noch jemand daran, dass Sozialisten wie Marx Krisen sehnlichst erwarteten? - in Anschlag zu bringen und auf den Feind zu richten, anstatt mit linkspopulärem Kurs die Diskurshoheit zu gewinnen, den Gegen-Pol zu besetzen, "issue ownership" zu erlangen, mit der Wahlbevölkerung als Zeugen die Herrschenden vor sich herzutreiben, anstatt zu sagen: "Wir haben es Euch doch immer gesagt, dass sowas passieren würde, wenn Ihr den Staat auf Kante näht und Gesundheit dem Profitprinzip unterwerft usw. Aber die, die das verbockt haben, sitzen immer noch an der Macht, die müssen weg!", was machte man?

Stattdessen stellte man sich schon damals buchstäblich ans Krankenbett des Kapitalismus, machte sich zum Krankenpfleger, der hinter der bürgerlichen Klasse und dem Kapitalismus aufkehrt, machte man sich die Probleme des kapitalistischen Staates zu eigen und anstatt die Pseudoalternative "Lockerung oder Lockdown" zu thematisieren, zu zeigen, dass man immer Recht gehabt hat, meinte man nun, die Suppe auslöffeln zu müssen, die der Kapitalismus und seine bürgerliche Klasse sich eingebrockt haben, meinte man, sich bei dieser Pseudoalternative auf eine Seite schlagen zu müssen, zugunsten von Lockdown, obwohl keine Partei in dieser Frage innerlich so gespalten war, wie die Linke. Dass damit aber größere Teile zur Basis, zu den Nichtwählern und über die "Querdenker"-Demos zur AfD abwanderten, dass damit auch in dieser Krise die AfD wieder die "issue ownership", den Status der einzigen (Schein-)Opposition und (Schein-)Alternative zum Bestehenden erlangen und sich daran nähren würde, hätte man doch absehen müssen.

Es ist gut, dass Janis Ehling in seinem Rücktrittschreiben vom Parteivorstand der Linkspartei mittlerweile benennt, dass die Strategie, sich - aus Angst, Mitglieder zu verlieren - eng auf "soziale Gerechtigkeit" zu konzentrieren und damit die größten Gesellschaftsfragen Frieden (Deindustrialisierung, auch Migration usw.) zu dethematisieren, gescheitert ist. [1]
Das habe ich bislang so noch nicht gehört, sondern eher Aufgüsse der Agenda-SPD Rhetorik von 2004: "Haben alles richtig gemacht, müssen es nur besser kommunizieren." Oder Aufgüsse der Rhetorik von Keynesianern anno 1975 und Neoliberalen anno 2008: "Der Weg ist richtig, aber wir sind ihn bloß nicht schnell und radikal genug gegangen." Woraus dann führende Genossen den Schluss ziehen, man komme wieder über 5%, wenn man jetzt bloß klipp und klar ja zur NATO und/oder zur EU-Armee zu sagen, d.h. wenn man der soziale Gerechtigkeitszipfel in der kommenden Blockkonfrontation und der imperialistischen Zuspitzung wird, weil, wie es der Bewegungslinke-Theoretiker Thomas Goes es in seiner 15. These von seinen 21 Thesen [2] formuliert, es ja neue "Sicherheitsbedürfnisse in der Bevölkerung" gäbe, auf die man reagieren müsse, sprich Einreihung in die nur für mehr Unsicherheit und Kriegsgefahr produzierende alte Kalte-Krieg-Philosophie der Abschreckung, der unilateralen Suche des Westens nach "absoluter Sicherheit" usw. (was zwangsläufig, egal, wie man es dreht oder wendet, nicht nur Militarisierungskritik mit angezogener Handbremse, sondern am Ende des Tages auch widerspenstige Einreihung in Aufrüstungspolitik und Sozialabbau bedeuten muss).

Leider spricht aber auch Janis mit positivem Bezug auf die norwegische Linkspartei "Rodt" selbst von der "Anpassung an die Wirklichkeit" (der nahen Grenze von Norwegen zu Russland) als Weg zum Erfolg, als ob Norwegen von Russland ernsthaft eine Gefahr drohen würde und als ob Aufrüstung und ein interventionistisches Militärbündnis - die NATO ist kein System der kollektiven Sicherheit - für mehr Sicherheit sorgen würden oder es nur könnten.

Daneben gibt es noch die Riege von Bewegungslinken und Reformern, die jetzt, ganz und gar hilflos ohne Analyse und Zeitdiagnose des globalen Kapitalismus nach kurzfristigen Umfrageergebnissen und Fokusgruppen taktierend, die Linkspartei umgedreht finnlandisieren will, weil sie in der Unterordnung unter die Außen- und Geopolitikziele des Westens ihr Heil sucht. [3] Man berauscht sich kurzfristig am Wahlergebnis der finnischen Linken (deren Führung übrigens nicht zufällig im Tony Blair Institute steckt).

Dieser Weg aber kann nach meinem Dafürhalten nur in den Untergang führen, weil auch die Spielräume für und die Glaubwürdigkeit in Sachen soziale Gerechtigkeit vollkommen unter die Räder kommen müssen, ja es offensichtlich längst schon kamen, wenn es kein klares Nein zu Blockkonfrontation und Abschreckungsphilosophie, kein offensives Thematisieren des Zusammenhangs von Außen- und Innenpolitik, von Friedens- und Sozialpolitik gibt. Die Dethematisierung der Außenpolitik und Friedensfrage, über die gegenwärtig die Verarmung breiter Bevölkerungsteile läuft (Stichwort: Reallohnverluste bei den letzten Tarifrunden durch Deglobalisierung, Sanktionspolitik und kriegsbedingte Inflation, Stichwort auch Aufrüstung/Austerität, Stichwort neuer EU-Protektionismus bei gleichzeitiger Individualisierung des Klimaschutzes: CO2-Bepreisung, Heizungsgesetz usw.), macht auch in Sachen der Kernkompetenz "soziale Gerechtigkeit" dauerhaft unglaubwürdig.

Ein nachvollziehbarer und dennoch ängstlicher organisationspolitischer Struktur-konservatismus ist, auch wenn er alternativlos erscheinen mag, kein guter Ratgeber. Der Blick nach innen und die Angst, was man im Innern verlieren könnte, verstellt m.E. den Blick nach außen, auf das, was man mit Mut und Klarheit gewinnen könnte, was einen nicht überflüssig erscheinen lassen würde. Lesenswert ist da, wie Marx und Engels scharf August Bebel und Wilhelm Liebknecht kritisierten, als die sich nach 1871 ebenso nach innen richteten und innerparteiliche Kompromisse mit dem wiedererstarkten Lassalleanismus rund um Johann Baptist von Schweitzer machen wollten, anstatt den Blick nach außen zu richten auf die Erfordernisse der Zeit und auf die Millionen von Arbeiterinnen und Arbeiter, die von einer sozialistischen Partei klare ihre Klasseninteressen verteidigende Antworten in den Zeitfragen erwart(et)en.

Kurz, es ist gut, dass Janis Ehling, den ich an sich - intellektuell, menschlich, moralisch - sehr schätze, auch heute den Mut hat, unbequeme Wahrheiten zu benennen (und sogar Konsequenzen zu ziehen aus dem von ihm klar anerkannten Scheitern des Kurses der letzten Jahre, selbst wenn jemand mit seinem intellektuellen Format, bei aller Kritik, der Linken schmerzhaft fehlen wird). Es ist ein Fortschritt, dass Janis die ängstliche Strategie des "kleinsten gemeinsamen Nenners" benennt. Da ist er m.W. bislang der Erste.

Aber von jemandem, der, wie Janis, marxistisch denkt, erwarte ich ein Nachdenken darüber, ob es wirklich der richtige Weg einer Partei ist, die linkssozialistisch und internationalistisch sein will und sich wenigstens - zumindest an hohen Feiertagen - nominell noch auf den Boden der Klassiker der Arbeiterbewegung stellt, sich in der vom gesamten globalen Süden abgelehnten kommenden neuen Blockkonfrontation auf eine Seite, auf die Seite des eigenen Imperialismus stellt, und dann versucht, diesen etwas zu bremsen und irgendwie noch Sachwalter von sozialer Gerechtigkeit, Bürgerrechten, Zivilität und demokratischer Mitbestimmung zu sein, die hierbei unter die Räder kommen werden.
Das wird nicht durchzuhalten sein.

Marxistisch und sozialistisch denkende Menschen in der Linkspartei sollten erkennen, dass sie sich am 24.2.2022 haben von der bürgerlichen Klasse überrumpeln lassen, dass dies der beschleunigte Weg in den Niedergang war und dass erst dann, wenn dies erkannt wird, der Versuch gestartet werden könnte, in der neuen Blockkonfrontation als Widerstandskraft im Geist der historischen Arbeiterbewegung kraftvoll neu zu entstehen anstatt als linksbürgerliches Anhängsel zu überleben zu versuchen und dabei als bundespolitische Kraft überflüssig zu werden.

  

 

Anmerkungen

[1] Janis Ehling in Zeitschrift LUXUMBURG: Brutale Niederlage
https://zeitschrift-luxemburg.de/artikel/brutale-niederlage

[2] Thomas Goes "Stolpern, hinfallen und aufstehen", 21 Thesen zur Krise und Erneuerung der Linken
https://www.links-bewegt.de/de/article/875.stolpern-hinfallen-und-aufstehen.html

[3] siehe z.B. Netzwerk Progressive Linke: MUT STATT ANGST - FÜR EINE ERKENNBARE, DEMOKRATISCHE, MODERNE LINKE IN DEUTSCHLAND UND EUROPA!
https://progressive-linke.org/wp-content/uploads/2024/06/Netzwerk-Progressive-Linke-Brief-an-den-PV-250624.pdf

 

 

 

Forderung eines Inflationsausgleichs für Rentnerinnen und Rentner in der Höhe von 3.000 Euro

Do, 27/06/2024 - 19:57

Die Forderung, auch den Rentner*innen eine Inflationsausgleichszahlung zu gewähren - entsprechend der Inflationsausgleichszahlung für Beamte und Pensionäre - wurde zuerst von der Vorsitzenden des VdK Verena Bentele erhoben.
Inzwischen hat sich daraus insbesondere in Norddeutschland ein breites Bündnis aus Sozialverbänden und Gliederungen der Gewerkschaften, vor allem aus der IG Metall, gebildet. 
Unterschriftensammlungen erhielten bisher weit über 200.000 Zustimmungen. Das Bündnis hat Politiker*innen angeschrieben.
Sie werden aufgefordert, die Forderung zu unterstützen.

Die Krokodilstränen einer Nichtbetroffenen

Die Abgeordnete der SPD für den Wahlkreis Eutin, Bettina Hagedorn, hat auf das Schreiben der Senioreninitiative zur Forderung eines Inflationsausgleichs von 3.000 Euro für Rentnerinnen und Rentner ausführlich geantwortet.

Kern ihrer Stellungnahme: Die Forderung, mag sie auch noch so berechtigt sein, ist aufgrund der aktuellen Haushaltslage des Bundes absolut unerfüllbar.

Sie lobt die  Initiative nahezu überschwänglich:
 “Natürlich habe ich auch intensiv verfolgt, dass Ihre Forderung nach dem Inflationsausgleich vom Oktober 2023 inzwischen massiv von den Gewerkschaften des DGB und dem Sozialverband SoVD unterstützt und mit einer starken Petition vorangetrieben wird, und ich schätze es sehr, wie es Ihnen gelungen ist, dieses kraftvolle Bündnis zu „schmieden“ und damit die Öffentlichkeit für die Situation der Rentnerinnen und Rentner in unserem Land zu Recht zu sensibilisieren“.

Die SPD-Abgeordnete Hagedorn stellt die Forderung nicht infrage. Das wäre auch seltsam. Die Inflationsausgleichszahlungen in der Höhe von 3.000€ netto wurden ja vom Kanzler und damit von höchster Stelle den Tarifparteien empfohlen und dann als Ergebnis der Tarifabschlüsse für den Öffentlichen Dienst auf die Beamten und die Pensionäre übertragen. Das hat den Bundeshaushalt mit ca. 8 Milliarden Euro belastet. Dass dadurch der Haushalt des Bundes überstrapaziert würde, hat man nicht gehört.

Aber:  21 Millionen Rentner*innen sind zu viel. Und irgendjemand muss Opfer bringen.

Frau Hagedorn weiß, dass die große Mehrheit der Rentnerinnen und Rentner sozial weit schlechter gestellt ist als die Bezieher*innen  des Inflationsausgleichs von 3.000 Euro. Und sie weiß auch, dass die unteren Einkommensbezieher*innen stärker als der Durchschnitt von der Inflation betroffen sind, weil sie einen größeren Teil ihres Einkommens auf Nahrung und Energie verwenden müssen, die im Preis weit stärker gestiegen sind als der Durchschnitt der Waren.
Damit liegt auch ihre Inflationsrate über dem Durchschnitt und insofern kann man behaupten, dass, verglichen mit besser Verdienenden, die Forderung nach dem Inflationsausgleich von 3000 Euro für drei Jahre nicht unbescheiden ist.

Frau Hagedorn rühmt  ihre Partei, die mit Rentenanpassungen, Sonderzahlungen und Gesetzen zur Grundrente, zur verminderten Erwerbsfähigkeit und zum Wohngeld die Lage der Rentnerinnen und Rentner verbessert habe. Sie schreibt, die Standardrente habe sich im Westen von 2010 um 32 Prozent und im Osten um 47 Prozent erhöht.
Mit all dem will sie tröstend darauf hinweisen, dass für die Rentner doch so viel geschehen sei, dass sie nun auf den Inflationsausgleich verzichten könnten. Naiv dabei ist jedoch, dass sie die Erhöhung der Standardrente isoliert betrachtet, obwohl gleichzeitig auch die Nominalzahlen anderer Größen wie z.B. der Löhne und Pensionen ebenfalls erhöht haben.
Die Ungleichheit, die die Sonderzahlungen nur für einen Teil der Gesellschaft ausmacht, hebt sich dadurch nicht auf.

Aber auch unabhängig davon beschönigt Frau Hagedorn die Rentenzahlen. Sie nennt nur Nominalzahlen der Steigerung der Standardrenten.

Ein richtiges Bild ergibt sich aber nur, wenn man die Rente ins Verhältnis zur Preisentwicklung und zum Volkseinkommen setzt.

Wenn man die Entwicklung von 2000 bis 2022 betrachtet, hat sich in den alten Bundesländern die Standardrente nominal um 40,1Prozent erhöht.
Dem steht entgegen, dass das Preisniveau um 34,7 gestiegen ist.

Real ist die Standardrente also in 22 Jahren nur um 5,4 Prozent gestiegen.
Im gleichen Zeitraum ist aber das Volkseinkommen je Einwohner preisbereinigt um 45 Prozent gestiegen.[1]
 
Von einer angemessenen Beteiligung der Rentner*innen am gesellschaftlichen Gesamteinkommen kann keine Rede sein.

Deswegen die dürftige Zahl von 1007 Euro als durchschnittlicher Zahlbetrag aller Renten wegen Alters im Jahr 2022 in den alten Bundesländern (RiZr. S.191).
Im Verhältnis zum durchschnittlichen Nettolohn desselben Jahres von 2.244 Euro monatlich sind das 44,9 Prozent.

Da ca. 60 Prozent aller RentnerInnen eine Rente unterhalb der Standardrente beziehen, gehören sie zu der Bevölkerungsschicht, die Inflationsausgleichszahlungen am Nötigsten hätte.

Dass Frau Hagedorn den Betrachtungszeitraum erst ab 2010 beginnt, hat die Absicht, die Reformen der SPD/Grüne Koalition von 2004 und 2005 vergessen zu machen. Eine durchschaubare politische Trickserei.

„Alle Menschen sind vor dem Gesetz gleich“, sagt Artikel 3 des Grundgesetzes. Es versteht sich, warum die RentnerInnen sich ungleich behandelt fühlen. Was nützt die Gleichheit, wenn das Soziale keine Rolle spielt?
Aber die Ungleichbehandlung ist gesetzlich gewollt und juristisch abgesichert.
Die Logik der Inflationsausgleichszahlung ergibt sich aus dem Beamtenrecht.
Pension ist eine Gehaltsfortzahlung im Ruhestand,
Rente ist eine durch eigene Beiträge finanzierte Versicherungsleistung.
Die Gehaltsfortzahlung (Pension) läuft nach Tarifrecht, die Rente nach Versicherungsrecht mit staatlichen Eingriffen.
Beamte sind nicht einfach abhängig Beschäftigte, sondern haben hoheitliche Aufgaben und werden dafür alimentiert. Sie müssen keine Vorsorge für das Alter treffen.
Die Arbeit von Arbeitern/Angestellten und Beamten mag die Gleiche sein, aber der Status macht den Unterschied.
So schafft man systematisch Ungleichheit in der Gesellschaft und sichert „Eliten“ von der Masse ab.
Ärzte, Juristen, Beamte – sie alle schaffen sich ihre eigenen Systeme und sichern sich Privilegien.  Dass das zutiefst anachronistisch ist, interessiert nicht. „Teile und herrsche“ – das liegt der Sache zu Grunde. Juristisch ist gegen die Beschränkung der Ausgleichszahlung also nicht anzukommen. Politisch ist die richtige Antwort: Ein Rentenversicherungssystem muss geschaffen werden, das alle Berufe einschließt.

Mit dieser Frage beschäftigt sich Frau Hagedorn nicht. Sie ist Haushaltsexpertin. Der Zustand des Haushalts allein schließt für sie die Erfüllung der Inflationsausgleichsforderung aus. 60 Milliarden für RentnerInnen sind nicht zu mobilisieren. Aber auch für eine modifizierte Gestaltung der Forderung ist Frau Hagedorn nicht zu haben. Hier geht einfach nichts.

Für Rüstung und Krieg schmeißt der Bund gegenwärtig das Geld nur so raus.

Und auch in der Wirtschaftsförderung werden große Beträge mobilisiert.

Und das sagt uns:  Wirtschaftskrieg, Aufrüstung und offener militärischer Krieg gehen immer auf Kosten des Sozialen. Die Erwerbstätigen in Arbeit und Ruhestand, die Erwerbslosen, Behinderten und Kranken – sie alle zahlen die Zeche für Konkurrenzvorteil und Großmachtpläne.

Glossar

Nominalzahlen sind reine Nennwerte. Sie sagen nichts über die Kaufkraft des Geldes aus.

 

Standardrente ist die Rente einer Person die 45 Jahre lang in die Rentenversicherung eingezahlt hat und während des Arbeitslebens den Durchschnitt der rentenversicherungspflichtigen Löhne ( = 100 %) verdient hat.  Die Standardrente wird meist nominal als Bruttowert angegeben. Davon gehen die Beiträge zur Kranken- und Pflegeversicherung ab und dann noch Steuern. Die nominelle Brutto= Standardrente beträgt 1.692 Euro. Die Reale 1.490 Euro.

 

Die Durchschnittsrente liegt weit darunter, weil die Mehrheit der sozialversicherungspflichtig Beschäftigten unterdurchschnittlich verdienen und auch nicht 45 Jahre lang in die Rentenversicherung einzahlen konnten.
Die Durchschnittsrente wegen Alters beträgt deswegen in Deutschland nur 1.054 Euro.

 

Das Preisniveau gibt an, wie sich die Preise durchschnittlich über einen längeren Zeitraum entwickelt haben. Erst wenn man von der Steigerung der Nominalzahlen die Steigerung des Preisniveaus abzieht, kann man die Entwicklung der Kaufkraft beurteilen. Von 2000 bis2022 hat sich das Preisniveau um 134,7 Prozent verändert.

Die Kaufkraft der Standardrente ist damit um 5,58 gestiegen.
Die hohe Inflation der letzten Jahre hat das vollständig aufgezehrt. Die Kaufkraft der Standardrente 2024 liegt damit unter der Kaufkraft der Standardrente von 2000.

 

Volkseinkommen – ist die Summe aller privater Einkommen, Gehälter, Löhne, Renten und Transferzahlungen.
Es wird jährlich erfasst. Es ist von 2000 bis 2022 preisbereinigt um 143,85 Prozent gestiegen. Welchen Anteil daran Löhne und Renten haben, ist nicht ausgewiesen.

 

[1] Alle Daten aus: Rentenversicherung in Zeitreihen 2023, S.270 Verbrauchspreisindex; S. 283 Volkseinkommen je Einwohner S.283)

Die scheiternde Aufholjagd

Di, 25/06/2024 - 11:41

Die ambitionierten Pläne Berlins und Brüssels, die EU zu einem führenden Standort der Halbleiterfertigung auszubauen, geraten zunehmend ins Stocken. Die Aufholjagd Deutschlands und der EU in der Chipproduktion und der Batteriefertigung  könnte scheitern. Vorne liegen jeweils die USA bzw. China.



Laut aktuellen Berichten wird der US-Chipproduzent Wolfspeed eine mehrere Milliarden Euro schwere Investition im Saarland mindestens bis ins Jahr 2025 verzögern. Auch der US-Halbleiterhersteller Intel verschiebt den Beginn des Baus einer Chipfabrik bei Magdeburg – die teuerste Brancheninvestition in Deutschland – auf das kommende Jahr. Ursachen sind unter anderem Verzögerungen bei der Genehmigung staatlicher Subventionen durch die EU, aber auch, dass die aktuelle Schwäche auf dem Elektroautomarkt und eine womöglich verlangsamte Umstellung auf erneuerbare Energien die Chipnachfrage drastisch bremsen könnte. Hinzu kommt, dass die EU im transatlantischen Subventionswettlauf den Vereinigten Staaten immer häufiger unterliegt: Washington zahlt High-Tech-Konzernen für eine Ansiedlung im eigenen Land höhere Beträge als Berlin bzw. Brüssel. Auch auf dem zweiten High-Tech-Sektor, auf dem die EU rasch aufholen will – bei der Batteriefertigung –, zeichnen sich empfindliche Rückschläge ab, vor allem gegenüber China.

Ambitionierte Pläne

Mit seinem 2022 verabschiedeten European Chips Act wollte Brüssel in einem ambitionierten Vorhaben 43 Milliarden Euro an privaten Investitionen und an öffentlichen Subventionen mobilisieren, um in der EU eine global konkurrenzfähige Halbleiterfertigung aufzubauen und in dieser Schlüsseltechnologie – in Rivalität zu China, den USA und Japan – mit Blick auf die zunehmenden Spannungen in der Weltwirtschaft eigenständiger zu werden. Unternehmen wie Intel, TSMC, STMicroelectronics, GlobalFoundries und Infineon hatten prompt umfassende Investitionen angekündigt. Allerdings seien nach zwei Jahren nur „wenige Projekte im Bau“, heißt es nun in einem Bericht; „noch weniger“ hätten „die Genehmigung der Europäischen Kommission für staatliche Unterstützung“ erhalten, ohne die sie allerdings „finanziell nicht tragfähig“ seien.[1]

Hindernisse

Der Hintergrund: Die Subventionen werden im Rahmen des European Chips Acts zwar von den Mitgliedsstaaten zur Verfügung gestellt; sie müssen allerdings von Brüssel überprüft und genehmigt werden. Deutschland sei bei der Subventionsvergabe führend, heißt es; es habe Mittel für Großinvestitionen von Intel, TSMC, Infineon und Wolfspeed vergeben. Bislang habe aber noch keins dieser Projekte die erforderliche Zustimmung aus Brüssel erhalten.[2] Zudem befinde sich die Bundesrepublik in einer gravierenden Haushaltkrise; dies stelle – trotz gegenteiliger Beteuerungen der Bundesregierung – die Realisierung größerer Infrastrukturprojekte infrage. Es komme hinzu, dass die jüngsten Wahlerfolge der äußersten Rechten der Ansiedlung von High-Tech-Konzernen weitere Hindernisse in den Weg stellten. So könnten ultrarechte Parteien „die Unterstützung für regenerative Energieprojekte schwächen“, die eine wichtige Quelle für Aufträge an die Chiphersteller bildeten. Zugleich könne Rassismus die erforderliche Anwerbung ausländischer Fachkräfte erschweren.

80.000 Lastwagen Erde

Der Baubeginn der teuersten Halbleiterinvestition in Deutschland, der geplanten Intel-Fabrik bei Magdeburg, verzögert sich mindestens bis zum Jahr 2025.[3] Der Hintergrund: Am vorgesehenen Standort muss der landwirtschaftlich wertvolle Boden bis zu einer Tiefe von 40 Zentimetern – rund 80.000 Lastwagenladungen Erde – abgetragen und abtransportiert werden, wobei zusätzlich eine Fülle weiterer Einwände, etwa hinsichtlich der lokalen Wasserversorgung, ungeklärt im Raum steht. Zudem hat Intel angekündigt, am Standort Magdeburg keine Investitionen zu tätigen, solange die EU-Kommission die von Berlin zugesagten Subventionen von knapp 10 Milliarden Euro nicht freigegeben hat. Das Projekt soll sich insgesamt auf 30 Milliarden Euro summieren. Der Chipfertiger TSMC wiederum will rund 11 Milliarden Euro in einen Standort bei Dresden investieren, hat jedoch ebenfalls noch nicht mit dem Bau begonnen. Auch der US-Konzern Wolfspeed verschiebt die Realisierung seiner Pläne und will nun frühestens Mitte 2025 rund drei Milliarden Euro im Saarland investieren – sofern die Schwäche Elektroautomärkte in Europa und den USA nicht andauert. Bislang befindet sich nur das Infineon-Werk bei Dresden auf dem Weg zu fristgerechter Fertigstellung, die 2026 erfolgen soll. Der deutsche Halbleiterhersteller hat fünf Milliarden Euro investiert, ohne auf die Zustimmung aus Brüssel zu Subventionen zu warten.

Selbstversorgung „unrealistisch“

Angesichts der Verzögerungen geben sich inzwischen auch deutsche Medien und Experten hinsichtlich der ehrgeizigen Ziele des European Chips Acts skeptisch, der der EU bei der Halbleiterfertigung bis 2030 einen Weltmarktanteil von 20 Prozent sichern sollte. Das Ziel der „Selbstversorgung“ sei angesichts des hohen Vernetzungsgrades der Branche ohnehin „unrealistisch“, erklären deutsche Brancheninsider.[4] Um sie zu erreichen, müssten „700 bis 900 Milliarden Euro“ investiert werden; zudem werde die EU kaum die notwendige Zahl an Fachkräften mobilisieren können. Immerhin entstehe aber derzeit in Sachsen ein Cluster der Halbleiterindustrie, der zum „fünftgrößte[n] Produktionszentrum“ der Branche überhaupt aufsteigen könne. Das sei vor allem für die angeschlagene deutsche Autobranche von Belang, die in ihren Fahrzeugen immer mehr Halbleiter verbaue. Demnach seien in „einem VW Golf aus einer Generation im vergangenen Jahrzehnt“ nur „800 bis 1.000 Halbleiter“ zu finden; „in einem Porsche Taycan heutzutage“ würden aber bereits „8.000 bis 10.000" verbaut.

Ins Hintertreffen

Schon zu Jahresbeginn hieß es zudem im „Handelsblatt“, die EU gerate im globalen Subventions- und Investitionswettlauf mit den Vereinigten Staaten immer stärker ins Hintertreffen.[5] Demnach habe die Halbleiterbranche in den USA Investitionen in neue Produktionsstätten im Umfang von 278 Milliarden US-Dollar angekündigt, während in der EU nur 86 Milliarden Dollar in neue Chipfabriken fließen sollten. Entsprechend werden in Deutschland Rufe nach einem zweiten European Chips Act laut, um die Wettbewerbssituation der EU zu verbessern.[6] Er möge Subventionen zwar nicht, erklärte der Chef des Bundesverbandes der Deutschen Industrie (BDI); doch seien Steuergeschenke an High-Tech-Konzerne „alternativlos“, da ansonsten „Deutschland diese Technologien verliere“.

„Mit China mithalten“

Ähnlich problematisch gestaltet sich das zweite große High-Tech-Projekt Brüssels und Berlins, mit dem die strategische Autonomie der EU gestärkt werden sollte: der Aufbau einer eigenen Batteriefertigung in der EU. Laut einer Studie des Fraunhofer-Instituts für System- und Innovationsforschung waren in der EU im Frühjahr 2024 zwar 80 Batterieprojekte geplant – ein Fortschritt gegenüber dem Vorjahr, in dem nur 70 verzeichnet wurden. Doch werden nach Einschätzung deutscher Wirtschaftskreise viele dieser Projekte nur mit großer Verzögerung „im Laufe des Jahrzehnts“ realisiert, sofern sie nicht gänzlich in der Planungsphase steckenbleiben.[7] Zudem sei die chinesische Konkurrenz dank niedrigerer Preise in der Lage, ihre Stellung auf dem europäischen Markt auszubauen. Laut einer Analyse der Großbank USB dürfte der „Marktanteil chinesischer Batteriefirmen in der EU von zuletzt 30 auf 50 Prozent im Jahr 2027“ wachsen. Die EU unternehme derzeit einen „mühsamen Versuch, bei Batterietechnik mit China mitzuhalten“ – denn inzwischen kämen „neun der zehn größten Batteriehersteller der Welt“ entweder aus China oder aus Südkorea. Laut EU-Plänen sollten bis 2030 eigentlich 90 Prozent aller in der EU benutzten E-Auto-Batterien auch in Europa gefertigt werden. Das ist nicht in Sicht.

Flaute bei Elektroautos

Überdies plagt die Branche die derzeitige Flaute bei Elektroautos, deren Absatz weit unter den Prognosen bleibt.[8] Laut Branchenkreisen tragen noch immer „drei Viertel aller neu in der EU zugelassenen Pkw einen Verbrenner unter der Haube“.[9] Offiziell hält Berlin dennoch Kurs auf Elektrofahrzeuge; so beteuerte etwa Bundeskanzler Scholz zu Jahresbeginn beim Baubeginn der Batteriefabrik des schwedischen Herstellers Northvolt in Schleswig-Holstein die strategische Bedeutung der Branche für „unser Land und Europa“. Das vier Milliarden Euro umfassende Northvolt-Projekt, das von der Bundesregierung mit 900 Millionen Euro bezuschusst wird, soll eine Kapazität von 60 Gigawatt erreichen. Die größte derzeit existierende Batteriefabrik in der EU betreibt der koreanische Hersteller LG in der Nähe der polnischen Stadt Wrocław; sie hat eine Kapazität von 65 Gigawatt.

Subventionswettlauf mit USA

Nicht nur, dass sich Chinas Batteriehersteller in der EU auf dem Vormarsch befinden; auch die Konkurrenz jenseits des Atlantiks ist besser aufgestellt. Schon im vergangenen Jahr klagten deutsche Medien über die großzügigen Subventionen für Batteriehersteller in den USA, die dazu führen dürften, dass zahlreiche strategische Investitionsprojekte westlich des Atlantiks getätigt werden.[10] Die US-Subventionen für Akkuproduzenten sind um ein Vielfaches höher als diejenigen, die Berlin und Brüssel zu zahlen gewillt sind. Demnach würde Northvolt bei einer vergleichbaren Investition in den USA bis zum Ende dieser Dekade umgerechnet etwa sieben Milliarden Euro erhalten. Ursprünglich wollte Berlin das Werk in Schleswig-Holstein nur mit 155,4 Millionen Euro bezuschussen. Die Subventionen mussten nach einer drohenden Abwanderung massiv auf 900 Millionen Euro aufgestockt werden. Europas Batteriebranche befinde sich im „Zangengriff des Inflation Reduction Act“, hieß es in Fachmedien angesichts der US-Dominanz im transatlantischen Subventionswettlauf.[11] Überdies werde von den in Europa bis 2030 geplanten Produktionskapazitäten von rund 1.000 Gigawatt ein Großteil, nämlich 750 Gigawatt, von außereuropäischen Konzernen realisiert.

 

[1], [2] Toby Sterling, Christoph Steitz, Hakan Ersen: Wolfspeed plant delayed as EU’s chipmaking plans flounder. uk.finance.yahoo.com 20.06.2024.

[3] Baustart für Magdeburger Intel-Fabrik auf 2025 verschoben. golem.de 29.05.2024.

[4] „Autarkie bei Halbleitern kann Europa wohl nie erreichen“. welt.de 19.01.2024.

[5] Amerika hängt Europa bei der Chipfertigung ab. handelsblatt.com 08.01.2024.

[6] Warum Subventionen für Europas Halbleiterindustrie so wichtig sind. mdr.de 18.06.2024.

[7] Europas mühsamer Versuch, bei Batterietechnik mit China mitzuhalten. handelsblatt.de 25.03.2024.

[8] S. dazu Auf dem Weg in Die Strafzollschlacht

[9] Scheitert Europa am E-Auto-Dilemma? auto-motor-und-sport.de 14.05.2024.

[10] Europa und die USA im Rennen um milliardenschweren Markt. handelsblatt.com 24.03.2024.

[11] Batterie: Europa im Zangengriff des Inflation Reduction Act. electrive.net 31.03.2024.

 

Eine sanfte Landung oder ein faules Ei –  a soft landing or curate´s egg?

Mo, 24/06/2024 - 13:07

Eine sanfte Landung oder ein faules Ei –  a soft landing or curate´s egg?

Vor kurzem hat die Weltbank ihre neuesten globalen Wirtschaftsaussichten veröffentlicht.  Die Ökonomen der Weltbank gehen davon aus, dass sich die Weltwirtschaft im Jahr 2024 zum ersten Mal seit drei Jahren "stabilisiert".  Die Weltwirtschaft hat die von vielen (auch vom Autor dieses Artikels, bis zu einem gewissen Grad) vorhergesagte Rezession im Jahr 2023 vermieden und setzt nun zu einer "sanften Landung" an. 


Das reale BIP-Wachstum wird 2024 weltweit 2,6 % betragen, genauso viel wie 2023, und im nächsten Jahr leicht auf 2,7 % ansteigen.

Der Begriff  'sanfte Landung' ist etwas seltsam.  Ich nehme an, er bedeutet, dass die Weltwirtschaft nicht auf die Landebahn geprallt ist, sondern sich sanft eingependelt hat.  Aber in Wirklichkeit hat es überhaupt keine Landung gegeben - wenn wir damit einen Einbruch oder eine Schrumpfung des realen BIP weltweit meinen. 
Wie auch immer, um einen anderen Aphorismus zu verwenden, die Weltwirtschaft ist in Wirklichkeit ein faules Ei (curate´s egg,[1]) ein altmodischer Begriff für etwas, das teilweise schlecht und teilweise gut ist, oder genauer gesagt für etwas, das offensichtlich und vollständig schlecht ist, aber aus Höflichkeit so beschrieben wird, als hätte es dennoch gute Eigenschaften, die es retten könnten.

Die Realität sieht so aus, dass, obwohl das reale BIP weltweit nicht schrumpft, mehrere große Volkswirtschaften bestenfalls stagnieren und das weltweite Wachstum deutlich unter der durchschnittlichen Rate von 3,1 % vor der Pandemie bleiben wird - auch wenn diese Zahl Indien, Indonesien und China mit einschließt, die schneller wachsen.
Wie die Weltbank es ausdrückt: "Länder, die zusammen mehr als 80 % der Weltbevölkerung und des globalen BIP ausmachen, würden immer noch langsamer wachsen als im Jahrzehnt vor COVID-19." 
Und schlimmer noch: "Es wird erwartet, dass eines von vier Entwicklungsländern 2019 ärmer sein wird als am Vorabend der Pandemie. Dieser Anteil ist für Länder in fragilen und konfliktbetroffenen Situationen doppelt so hoch". 

Die Ökonomen der Weltbank kommen zu dem Schluss, dass sich "die Einkommenskluft zwischen den Entwicklungsländern und den fortgeschrittenen Volkswirtschaften in fast der Hälfte der Entwicklungsländer im Zeitraum 2020-24 vergrößern wird."

Wenn wir uns die Wachstumsraten in den einzelnen großen Volkswirtschaften genauer ansehen, erscheint der Begriff "sanfte Landung" noch unpassender zu sein.  Nehmen wir die US-Wirtschaft, die leistungsstärkste der sieben größten kapitalistischen Volkswirtschaften (G7).  Nach dem "Zuckerrausch"-Jahr der Erholung im Jahr 2021, das auf den pandemischen Einbruch von 2020 folgte, gab es 2022 tatsächlich eine "technische Rezession" (d. h. zwei aufeinander folgende vierteljährliche Rückgänge des realen BIP).  Im Jahr 2023 war dann ein bescheidenes Wachstum zu verzeichnen, das sich in der zweiten Hälfte zu beschleunigen schien.  Im ersten Quartal dieses Jahres kam es jedoch zu einer deutlichen Abschwächung, und die US-Wirtschaft wuchs so langsam wie seit der Rezession Anfang 2022 nicht mehr.

 

 

Für das laufende Quartal (2. Quartal 2024) wird ein Quartalsanstieg von 0,4-0,5 % prognostiziert. 

Und das sind die USA.  In den anderen G7-Volkswirtschaften war die Leistung wesentlich schlechter. 
Die Eurozone als Ganzes war im Jahr 2023 ein Totalausfall. 

 

Was Japan betrifft, so wurde eine "sanfte Landung" eindeutig nicht erreicht.

 Chart Japan

 

Nicht zu vergessen ist Kanada, die kleinste G7-Wirtschaft.  Die Wirtschaft stagnierte in der letzten Hälfte des Jahres 2023.

 

Das Gleiche gilt für Australien, Schweden und die Niederlande. Die britische Wirtschaft ist die am schlechtesten abschneidende in der G7 und steht sogar in Konkurrenz zu Italien.

 

Sicher, einige der großen "Schwellenländer" stehen gut da.  Unter den so genannten BRICS wächst Indien mit 6 % pro Jahr (wenn man den offiziellen Zahlen glauben kann), China mit 5 % pro Jahr und die russische Kriegswirtschaft mit 3 % pro Jahr.  Aber Brasilien krabbelt mit deutlich unter 1 % dahin, während Südafrika einen Einbruch zu verzeichnen hat.  Und viele andere ärmere, kleinere Volkswirtschaften im so genannten globalen Süden sind in großer Bedrängnis.

Die jüngsten Daten zeigen, dass sich die großen Volkswirtschaften weiterhin in einer "langen Depression" befinden, d. h. nach jedem Einbruch oder jeder Schrumpfung (2008-9 und 2020) sinkt das reale BIP-Wachstum - der vorherige Trend wird nicht wieder erreicht.  Die Trendwachstumsrate vor dem globalen Finanzcrash (GFC) und der Großen Rezession wurde nicht wieder erreicht, und der Wachstumspfad ist nach dem Pandemieeinbruch von 2020 sogar noch weiter gesunken.  Kanada liegt immer noch 9 % unter dem Trend vor dem GFC, die Eurozone 15 %, das Vereinigte Königreich 17 % und selbst die USA liegen noch 9 % darunter.

Die Weltwirtschaft befindet sich jetzt in einem Zustand, den die IWF-Chefin Kristalina Georgieva als "laue Zwanziger" bezeichnet.  Die Ökonomen der Weltbank gehen davon aus, dass die Weltwirtschaft auf das "schlechteste halbe Jahrzehnt des Wachstums seit 30 Jahren" zusteuert.

Die Eurozone

Wenn wir die Eurozone unter die Lupe nehmen, erhalten wir ein umfassendes Bild vom Desaster der deutschen Wirtschaft, die früher das Kraftzentrum der europäischen Industrie war. 
Seit 2021 gab es fünf von 12 Quartalen mit Schrumpfung und nur ein Quartal mit mehr als 1 %.

 

 

Das ist eine schlechtere Leistung als das ständig stagnierende Japan.  Die Aktivität des verarbeitenden Gewerbes in Deutschland erreicht keine sanfte Landung - nicht einmal ein Spiegelei.  Es handelt sich um einen totalen Absturz, fast zurück zur Pandemie von 2020.

Kein Wunder, dass die Reallöhne der deutschen Arbeitnehmer in den letzten vier Jahren gesunken sind - um unglaubliche 6 % seit dem Ende der Pandemie im Jahr 2020, trotz einer bescheidenen Erholung in der letzten Hälfte des Jahres 2023. 
Und es ist kein Wunder, dass die Parteien der "harten Rechten" in Deutschland bei den jüngsten Wahlen zur EU-Versammlung so gut abgeschnitten haben.


Die Inflationsraten in den großen Volkswirtschaften scheinen derweil festzustehen.
  Seit dem Ende der Pandemie sind die Preise im Durchschnitt um 20 % gestiegen.  Dieser Anstieg hat sich bis 2023 verlangsamt.  Aber jetzt sinken die Raten nicht mehr, und in einigen Ländern ziehen sie wieder an.  Die Inflationsrate der Europäischen Union liegt immer noch über dem Zielwert der Europäischen Zentralbank (EZB) von 2 %. Tatsächlich stieg sie im Mai auf 2,6 % im Jahresvergleich.  Die Kerninflation (ohne Lebensmittel und Energie) stieg ebenfalls auf 2,9 % im Jahresvergleich.
Die EZB hat ihre Prognose für die jährliche Inflation für 2024 auf 2,5 % und für nächstes Jahr auf 2,2 % angehoben. Sie geht davon aus, dass ihr Inflationsziel von 2 % nicht vor 2026 erreicht wird! 
Anfang 2021 betrug die Inflation nur 0,9 % und erreichte im Oktober 2022 mit 10,6 % ihren Höchststand. Das heißt, selbst wenn sich die Prognosen der EZB als richtig erweisen sollten, wird das EZB-Ziel seit fast fünf Jahren verfehlt sein! So viel zur Wirksamkeit der Geldpolitik der Zentralbank.

In diesem Monat senkte die EZB ihren Zinssatz vorläufig um 25 Basispunkte auf 4,25 %, die erste Zinssenkung, seit die EZB im Juli 2022 begann, die Zinsen von 0,5 % anzuheben, um (angeblich) die Inflation einzudämmen.  Der Grund dafür ist die Sorge, dass die Wirtschaft der Eurozone keinen Aufschwung verkraften kann, solange die Kosten für die Aufnahme von Krediten für Investitionen und Ausgaben so hoch bleiben.  Im Gegensatz dazu hat die US-Notenbank ihren Leitzins auf ihrer letzten Sitzung unverändert gelassen. Er liegt nach wie vor auf einem 23-Jahres-Hoch von 5,5 %.  Entgegen den Hoffnungen der Fed ist die Verbraucherpreisinflation in den USA nicht mehr rückläufig.  Die Fed-Mitglieder gehen nun davon aus, dass die Inflation in der Nähe von 3 % bleiben wird und dass das Inflationsziel von 2 % ebenfalls nicht vor 2026 erreicht wird! 

Die niedrige Arbeitslosenquote und der Nettozuwachs an Arbeitsplätzen in den USA werden viel zitiert.  Offiziell hat die US-Wirtschaft im Mai 2024 272.000 neue Arbeitsplätze geschaffen, so viele wie seit fünf Monaten nicht mehr.  Aber die Arbeitslosenquote stieg im Mai auf 4 %.  Und der gesamte Nettozuwachs an Arbeitsplätzen stammt aus der Teilzeitarbeit. Die Zahl der Teilzeitstellen stieg im Mai um 286 000, während die Zahl der Vollzeitstellen um 625 000 zurückging. In den letzten 12 Monaten ist die Zahl der Vollzeitarbeitsplätze um 1,1 Millionen zurückgegangen, während die Zahl der Teilzeitarbeitsplätze um 1,5 Millionen gestiegen ist.  Unter Berücksichtigung der Inflation liegt der reale Wochenverdienst immer noch etwa 7 % unter dem Niveau von vor vier Jahren und ist im letzten Jahr unverändert geblieben. Infolgedessen stieg die Zahl der Amerikaner, die mehrere Jobs haben, im Mai auf 8,4 Millionen, was einem Anstieg von 3 Millionen seit 2020 entspricht. Es braucht zwei Jobs, um über die Runden zu kommen.  Die US-Wirtschaft ist also nicht so schnell, wie die Mainstream-Propheten behaupten. Die Wachstumsbeschleunigung im Jahr 2023 scheint vorbei zu sein.

Der Hauptgrund für die Verlangsamung des Wachstums in den USA im ersten Quartal dieses Jahres war eine Abschwächung des Wachstums beim Konsum von Gütern und bei den Unternehmensinvestitionen (der Boom beim Bau von Büros und Fabriken ist vorbei).  Und dafür gibt es zwei Gründe.  Erstens gab es einen absoluten Rückgang der Unternehmensgewinne, die im Nicht-Finanzsektor um 114 Mrd. Dollar sanken.  Der zweite Grund ist der hohe Zinssatz der Fed, der bedeutet, dass die Hypothekenzinsen für Haushalte und die Schuldendienstkosten für viele schwache, unrentable Unternehmen weiterhin hoch sind. Das ist ein Rezept für weitere Insolvenzen.

Wir alle haben von den riesigen Gewinnen der so genannten "Magnificent Seven" der sozialen Medien und Technologiegiganten gelesen. [3] Aber nur diesen Unternehmen geht es gut.  Die Marktkapitalisierung der 10 größten US-Aktien macht über 13 % des weltweiten Börsenwerts aus. Damit liegt sie weit über dem Höchststand der Dotcom-Blase von 9,9 % im März 2000. 

In einem beispiellosen Anstieg der Börsenkurse ist das KI-Chipunternehmen Nvidia zum höchstbewerteten Unternehmen der Welt geworden und hat Apple und Microsoft überholt.

 

 

Im Gegensatz dazu sind 42 % der US-amerikanischen Small-Cap-Unternehmen unrentabel, so viele wie seit der Pandemie von 2020 nicht mehr, als 53 % der Small-Caps Geld verloren. Small-Cap-Unternehmen haben zu kämpfen.

Der Welthandel dümpelt

Es gibt keinen Ausweg aus der stagnierenden Binnenwirtschaft durch verstärkten Handel.  Der Welthandel dümpelt seit Jahren vor sich hin und erlitt während des Pandemieeinbruchs einen starken Abschwung.  Im Jahr 2023 schrumpfte der Welthandel sogar.

Kein Wunder also, dass die USA und ihre Verbündeten Chinas Exporterfolge mit Zöllen und anderen Sanktionen gegen chinesische Waren angreifen.  Um dem entgegenzuwirken, ist China auf andere Märkte ausgewichen (gezwungen worden?), statt auf die USA und Europa.

 

Doch der große Zollkrieg hat kaum begonnen.[4]  Die jüngsten Maßnahmen von Biden werden 2025 "übertrumpft", wenn "the Donald" dieses Jahr wiedergewählt wird.  Trump plant, eine 10-prozentige Abgabe auf alle US-Einfuhren und eine 60-prozentige Steuer auf Waren aus China zu erheben. Mit den Zöllen will er seine Pläne finanzieren, eine Reihe von Steuersenkungen, die er während seiner Amtszeit als Präsident im Jahr 2017 eingeführt hat, über das Jahr 2025 hinaus zu verlängern.  Trump spricht sogar davon, so hohe Zölle zu erheben, dass er die Einkommensteuer ganz abschaffen kann!

Eine aktuelle Studie legt nahe, dass es sich bei Trumps Politik um "stark regressive steuerpolitische Änderungen handelt, die die Steuerlast weg von den Wohlhabenden und hin zu den einkommensschwächeren Mitgliedern der Gesellschaft verschieben".  Das Papier von Kim Clausing und Mary Lovely beziffert die Kosten der bestehenden Abgaben plus Trumps Zollpläne für seine zweite Amtszeit auf 1,8 Prozent des BIP. Sie warnen, dass diese Schätzung "weitere Schäden durch Vergeltungsmaßnahmen der amerikanischen Handelspartner und andere Nebeneffekte wie den Verlust der Wettbewerbsfähigkeit nicht berücksichtigt".

Diese Berechnung "impliziert, dass die Kosten, die durch Trumps vorgeschlagene neue Zölle entstehen, bis Ende 2019 fast fünfmal so hoch sein werden wie die Kosten, die durch die Trump-Zölle verursacht werden, was den Verbrauchern allein über diesen Kanal zusätzliche Kosten in Höhe von etwa 500 Milliarden Dollar pro Jahr verursacht", so das Papier.  Ein Haushalt mit mittlerem Einkommen wäre im Durchschnitt mit 1.700 Dollar pro Jahr betroffen. Die ärmsten 50 Prozent der Haushalte, die in der Regel einen größeren Teil ihres Einkommens ausgeben, müssen mit einem Rückgang ihres verfügbaren Einkommens um durchschnittlich 3,5 Prozent rechnen.

Die gängigen Wirtschaftswissenschaftler behaupten nach wie vor, die großen Volkswirtschaften hätten eine "sanfte Landung" vollzogen und die Lage sei jetzt ausgeglichen.  Eine kürzlich durchgeführte Umfrage ergab jedoch, dass 56 % der Amerikaner der Meinung waren, die USA befänden sich in einer Rezession, und 72 % glaubten, die Inflation steige. Ökonomen wie Paul Krugman sind der Meinung, dass die europäischen und amerikanischen Haushalte nicht mehr auf dem Laufenden zu sein scheinen.  Aber wer hat wirklich den Anschluss verloren? Die amerikanischen Haushalte oder die Wirtschaftsexperten?

 

[1] Ein curate´s egg ist ein englischer Ausdruck, der etwas beschreibt, das teilweise gut und teilweise schlecht ist.
Die moderne Bedeutung hat sich gewandelt und bezieht sich auf etwas, das tatächlich eine Mischung aus guten und schlechten Eigenschaften aufweist, oft mit einem Übergewicht an schlechten Qualitäten.

[3] https://thenextrecession.wordpress.com/2024/04/07/from-the-magnificent-seven-to-the-desperate-hundred/

[4] https://thenextrecession.wordpress.com/2024/05/20/tariffs-technology-and-industrial-policy/

Pseudo-Wissenschaft im reinen Kapitalinteresse

Mo, 24/06/2024 - 07:49

Da gibt es in der Schweiz, in Lausanne, eine private Hochschule: IMD = International Institute for Management Development. Als ihre Kernkompetenz betrachten sie es, jährlich eine Länderliste aufzustellen, in der die Länder der Welt (bzw. diejenigen, über die man entsprechende Details erfährt) nach ihrer internationalen Wettbewerbsfähigkeit angeordnet werden.

Vor einigen Tagen kam die neueste Länderliste des sogenannten  World Competitiveness Ranking  heraus und es herrscht Panik in den seriösen Medien, weil Deutschland auf Platz 24 von 67 erfassten Ländern abrutschte.
Wo Deutschland doch in die absolute Spitzengruppe gehört, und bis vor einigen Jahren dort auch war. Und jetzt? Totales Desaster? Deutschland geht bald unter? Die Ampel-Regierung versemmelt unseren Wohlstand und muss schleunigst abgelöst werden? So in etwa lauten landauf, landab die Kommentare seitens des Kapitals und der Kapitalfreunde.

Hier die Liste der 30 wettbewerbsfähigsten Länder – mit China auf Platz 14, also besser als Deutschland, aber weit von der absoluten Spitze entfernt.

1

Singapur

11

Katar

21

Bahrain

2

Schweiz

12

USA

22

Israel

3

Dänemark

13

Australien

23

Luxemburg

4

Irland

14

China

24

Deutschland

5

Hongkong

15

Finnland

25

Thailand

6

Schweden

16

Saudi-Arabien

26

Österreich

7

Verein. Arab. Emirate

17

Island

27

Indonesien

8

Taiwan

18

Belgien

28

Vereinigtes Königreich

9

Niederlande

19

Kanada

29

Tschechien

10

Norwegen

20

Südkorea

30

Litauen

Was lernen wir aus dieser Liste? Die Süddeutsche Zeitung schreibt dazu: "Die Länderliste versteht sich als Gradmesser, welche Volkswirtschaften es am besten schaffen, den heimischen Wohlstand zu steigern."

Schauen wir uns das mal an. Die folgende Grafik zeigt für jedes der 30 Länder

  • die durchschnittliche Veränderung des BIP pro Kopf (als einfachster Wohlstandsmesser in der kapitalistischen Statistik) in den 10 Jahren bis 2022 (blaue Linie),
  • desgleichen für die letzten 5 Jahre bis 2022 (rote Linie),
  • und zusätzlich, gepunktet, auch den jeweiligen welt-durchschnittlichen Anstieg des BIP pro Kopf.

 

Grafik: Durchschnittliche Wachstumsraten des realen BIP pro Kopf

Interessanterweise sehen wir, dass hinsichtlich der Wohlstandsteigerung die Mehrheit der 30 wettbewerbsstärksten Länder, vor allem auch die an der Spitze, unterhalb des Weltdurchschnittes rangieren: Beim 10-Jahres-Vergleich sind es nur 10 Länder, beim 5-Jahres-Vergleich gar nur 8 Länder, die besser als der Weltdurchschnitt abschneiden.

SZ: Wirtschaftsstandort fällt zurück, 18. 6. 2024

Spiegel: Deutschland rutscht im Ländervergleich ab, 18. 6. 2024

Welt: Deutschlands Wettbewerbsfähigkeit im freien Fall, 20. 6. 2024

Daraus ergibt  sich die Frage: Was sollen wir mit einer Länderliste, die die angeblich Wettbewerbsstarken aufführt, die sich aber hinsichtlich der Wohlstandssteigerung (gemessen als BIP pro Kopf) überwiegend als Versager herausstellen?
Eine solche Liste ist für rein gar nichts brauchbar außer als Begründung oder Anlass für das Kapital, wieder mal Forderungs-Schlagworte an die Regierungen zu richten: Bürokratie-Abbau! Billige Energie! Wirtschaftswende! Weniger Regeln! Mehr Subventionen in deutsche Standorte! Und für die digitale Transformation! ………..…

 

 

 

 

 

 

 

 

Schlechtes Klima

Di, 18/06/2024 - 19:34

Wirtschaftsvertreter warnen wegen hoher Energiepreise, fallender Produktivität und schrumpfender Auftragsbestände vor Deindustrialisierung.
Maßnahmen zum Klimaschutz sollen zurückgedrängt werden.

 

 

 Repräsentanten der deutschen Wirtschaft warnen vor einer voranschreitenden Deindustrialisierung und dringen auf Einschränkungen bei Maßnahmen zum Klimaschutz. Wie der Präsident des Arbeitgeberverbandes Gesamtmetall erklärt, seien wegen deutlich schrumpfender Nachfrage bis zu 50.000 Arbeitsplätze in der Industrie bedroht. Das Statistische Bundesamt meldet konstant zweistellige Wachstumsraten – bei den Firmenpleiten in Deutschland.
Das Institut der Deutschen Wirtschaft (IW) warnt, nicht nur der Export lahme; auch die Produktivität gehe weiter zurück, während die Energiepreise immer noch über ihrem Niveau vor der jüngsten Energiekrise lägen. Deutschland drohe „den Anschluss“ zu verlieren, urteilt das IW.
Der Bundesverband der Deutschen Industrie (BDI) fordert, „Europas Wettbewerbsfähigkeit“ müsse zur „Top-Priorität“ werden; daher müsse die künftige EU-Kommission Ökologie und „Wettbewerbsfähigkeit“ besser „ausbalanciere[n]“. Teile der deutschen Wirtschaft nehmen die desolate Wirtschaftsentwicklung zum Anlass, um die Bundesregierung von rechtsaußen zu attackieren und zu Widerstand aufzurufen; sie erhalten Beifall unter anderem von der AfD.

Klimaschutz hat ausgedient

Die Europawahl hat vor dem Hintergrund einer hartnäckigen Wirtschaftsmisere die zunehmenden Differenzen und Spannungen innerhalb der deutschen Funktionseliten offengelegt. Kurz nach der Wahl preschte der Bundesverband der Deutschen Industrie (BDI) mit der Forderung vor, das neue EU-Parlament solle Ökologie und „Wettbewerbsfähigkeit“ besser „ausbalancier[en]“; „Europas Wettbewerbsfähigkeit“ müsse in der kommenden Legislaturperiode zur „Top-Priorität“ werden.[1] Zugleich zeigten sich Wirtschaftsvertreter besorgt ob des Zuwachses „rechtspopulistischer Abgeordneter“; dieser wurde als „besorgniserregendes Signal“ bezeichnet. Der Verband der chemischen Industrie forderte „eine klare Kurskorrektur bei den politischen Prioritäten, damit unsere Wirtschaft im internationalen Wettbewerb“ bestehen und zugleich „die grüne Transformation vorantreiben“ könne. Hierbei müsse der Fokus auf „günstige Energie“ und offene Märkte gelegt werden. Ähnlich argumentierte der Präsident des Instituts für Wirtschaftsforschung (ifo), laut dem insbesondere die Wahlerfolge der AfD und des BSW in Ostdeutschland die „wirtschaftlichen Aussichten“ dieser Regionen verdüsterten. Der Green Deal, der die EU auf eine ökologisch nachhaltige Energieversorgung umstellen sollte, wird laut dem ifo-Institut in der „bisherigen Form wohl nicht weitergeführt“. In der EU hätten „Klimaschutz und Regulierung ausgedient“, heißt es unter Bezug auf Wirtschaftskreise; es stehe ein Politikwechsel hin zu „Pragmatismus und Wettbewerbsfähigkeit“ an.[2]

Streit um „Sondervermögen“

Herrscht diesbezüglich weithin Einigkeit, so bestehen unterschiedliche Einschätzungen zur Konjunkturpolitik. Während das ifo-Institut vor dem Konfliktpotenzial in der EU wegen der hohen Schulden in Frankreich und Italien warnte, sprach sich der BDI für einen deutschen Investitionsplan in Höhe von 400 Milliarden Euro aus.[3]
Diesem Vorstoß erteilte wiederum Finanzminister Christian Lindner (FDP) eine Absage. Ein „Sondervermögen“ von 400 Milliarden Euro belaste „künftige Steuerzahler“, erklärte der Minister. Zudem gälten auch in diesem Fall die „europäischen Fiskalregeln“. Zustimmung erhielt der BDI hingegen von Politikern der Grünen. Deren Vizefraktionschef im Bundestag Andreas Audretsch erklärte, der Wirtschaftsverband stehe mit dieser Forderung „nicht allein“.[4]
In der Berliner Ampelkoalition schwelt der Konflikt um eine schuldenfinanzierte, aktive Konjunkturpolitik seit Langem, wobei sich Kanzler Olaf Scholz bislang auf die Seite seines Finanzministers schlug, der die Schuldenbremse trotz zunehmender Krisentendenzen aufrechterhalten will.[5]

Anschluss verloren

Dabei halten die stagnativen Tendenzen in der Wirtschaft des ehemaligen Exportweltmeisters an. Das unternehmernahe Institut der Deutschen Wirtschaft (IW) prognostiziert der Bundesrepublik für 2024 eine Stagnation von 0,0 Prozent, wodurch die führende Wirtschaftsmacht der Eurozone gegenüber ihren Konkurrenten zurückfallen werde:

„(Fast) alle wachsen, Deutschland nicht“, klagt das IW; nach der Rezession des vergangenen Jahres (minus 0,3 Prozent) sei die Bundesrepublik dabei, aufgrund fehlender Investitionen „den Anschluss“ zu verlieren.

China werde laut dem IW um 4,5 Prozent wachsen, die USA um 2,0 Prozent; sogar der Euroraum könne um 0,75 Prozent zulegen. Das IW macht für die Misere der exportfixierten deutschen Wirtschaft den stockenden Außenhandel verantwortlich, der „seit Herbst 2022 rückläufig“ sei und „zuletzt unter dem Niveau von 2019“ gelegen habe. Obwohl die Weltwirtschaft in diesem Jahr leicht um ein Prozent wachsen werde, werde hiervon in der Bundesrepublik wenig ankommen, da die globale Nachfrage nach Investitionsgütern aufgrund der weltpolitischen Spannungen schwach bleibe, prognostiziert das IW. Zudem seien die Energiepreise trotz einer deutlichen Stabilisierung „immer noch höher als vor der Energiekrise“. Auch die Arbeitskosten seien in den vergangenen beiden Jahren in Deutschland um fünf Prozent gestiegen, während die Arbeitsproduktivität um 0,1 Prozent pro Jahr zurückgegangen sei. Folglich trage derzeit vor allem der Binnenkonsum die Konjunktur, während die Investitionstätigkeit zurückgehe. Die Anlageinvestitionen der Unternehmen etwa sollen laut dem IW 2024 um 1,5 Prozent schrumpfen.

Deindustrialisierung

Medien warnen gar, die fallende Produktivität – die deutsche Wirtschaft konnte den Spitzenwert ihrer Produktivität aus dem Jahr 2017 bislang nicht mehr erreichen [6] – werde „den Wohlstand in Deutschland“ gefährden. Aufgrund sinkender Produktivität, der zunehmenden Konkurrenz und der anhaltenden protektionistischen Bestrebungen warnen Industrievertreter wie der Präsident des Arbeitgeberverbandes Gesamtmetall inzwischen vor einer Deindustrialisierung in Deutschland.[7]

Demnach seien bis zu 50.000 Arbeitsplätze in der Industrie aufgrund fehlender Nachfrage akut bedroht. Der Auftragsbestand der Industrie sei im März um 5,8 Prozent gegenüber dem Vorjahreszeitraum zurückgegangen, was vor allem auf die schlechte Lage in der Autoindustrie zurückzuführen sei. Die deutsche Industrie sehe ihre „Wettbewerbsfähigkeit gefährdet“, warnte das ifo-Institut bei der Präsentation einer entsprechenden Umfrage Ende Mai.[8] Demnach hätten nahezu alle Industriezweige berichtet, „ihre Wettbewerbsposition im ersten Quartal 2024“ habe sich „gegenüber dem vierten Quartal 2023 verschlechtert“.

Pleitewelle

Bei der Zahl der in der Industrie beschäftigten Lohnabhängigen scheint sich jüngsten Studien zufolge die Tendenz zur Deindustrialisierung allerdings erst leicht anzudeuten.[9] Demnach arbeiteten 2019 in der deutschen Industrie mit 7,5 Millionen genauso viele Lohnabhängige wie 1996. Allerdings seien seit 2019 zehntausende Arbeitsplätze abgebaut worden; die „Anzahl der Industriearbeitsplätze“ liege „noch immer unter dem Niveau vor der Coronapandemie“. Deutlich stärker spiegelt sich die Krise in der Pleitewelle, die die Bundesrepublik erfasst hat.[10] So mussten im ersten Quartal 2024 mehr als 5.200 Unternehmen Insolvenz anmelden; das kam einem Anstieg um 26,5 Prozent gegenüber dem Vorjahreszeitraum gleich. Seit Mitte 2023 würden bei Firmenpleiten „durchgängig zweistellige Zuwachsraten“ verzeichnet, teilt das Statistische Bundesamt mit.

Angriff von rechts

Vor dem Hintergrund der zunehmenden Wirtschaftsmisere nahm die Kritik von Wirtschaftsvertretern an der Bundesregierung gerade im Vorfeld der Europawahl zu, wobei der offizielle Konsens, die äußerste Rechte einzudämmen, innerhalb der deutschen Wirtschaftselite zunehmend bröckelte. Bislang wurde die mit Faschisten durchsetzte Alternative für Deutschland (AfD) vor allem vom Mittelstand und vom Kleinunternehmertum unterstützt, während die Export- und die Großindustrie sich entweder zurückhielten oder den Rassismus und den Nationalismus der AfD formell als wirtschaftsschädlich verurteilten. In Absetzung davon wurde kurz vor der EU-Wahl eine heftige Polemik des Vorstandsvorsitzenden der Deutschen Börse, Theodor Weimer, in den sozialen Medien lanciert, die als Angriff auf die Bundesregierung und sogar auf die bürgerliche Demokratie von weit rechts interpretiert und von der AfD aufgegriffen wurde.[11]

„Wir machen nicht mehr mit!“

Deutschlands Ansehen sei „schlecht wie nie“, erklärte Weimer, der auch die im Herbst 2023 massiv verschärfte Asyl- und Migrationspolitik der Bundesregierung – ganz auf AfD-Linie – als „Gutmenschentum“ kritisierte; das Industrieland Bundesrepublik verkomme zu einem „Ramschladen“ und sei auf dem „Weg zum Entwicklungsland“. Die Unternehmer müssten laut Weimer Berlin endlich klar mitteilen: „Wir machen nicht mehr mit“. Weimers Aufruf wurde kurz vor der Wahl von ultrarechten Kräften massiv in den sozialen Medien verbreitet. Die AfD-Politikerin Beatrix von Storch etwa erklärte, Weimer kenne die harte ökonomische Realität – „anders als der journalistische Teil des Ampel-Hofstaats“.

„Primat der Politik“

Vertreter der Großindustrie hingegen beeilten sich nach der Wahl, Weimers Äußerungen zu widersprechen. Deutschland sei kein Ramschladen, erklärte der Chef des Evonik-Konzerns, Christian Kullmann. Unternehmensvertreter, die anonym bleiben wollten, beteuerten gegenüber Medienvertretern, sie akzeptierten das „Primat der Politik“. Stefan Hartung, Chef des Bosch-Konzerns, beteuerte gegenüber dem Internationalen Club Frankfurter Wirtschaftsjournalisten, er habe Börsenchef Theodor Weimer lange nicht gesehen und wisse nicht, wie dieser zu seinen Aussagen komme. Er stehe, erklärte Hartung, „zum Standort Deutschland mit all seinen Stärken und Schwächen“.

 

[1] So reagiert die deutsche Wirtschaft auf die EU-Wahl. wiwo.de 11.06.2024.

[2] Deutsche Wirtschaft verlangt „klare Kurskorrektur“ von Brüssel. n-tv.de 10.06.2024.

[3] Industrie fordert Milliardentöpfe gegen Investitionsstau. spiegel.de 12.06.2024.

[4] Lindner lehnt BDI-Vorstoß ab. deutschlandfunk.de 12.06.2024.

[5] Scholz gibt Lindner Rückendeckung. tagesschau.de 14.05.2024.

[6] Die Welt wird immer leistungsfähiger – und Deutschland fällt zurück. welt.de 13.06.2024.

[7] „Beginnende Deindustrialisierung“: In fast allen Branchen verliert Deutschland den Anschluss. merkur.de 01.06.2024.

[8] Industrie in Deutschland sieht ihre Wettbewerbsfähigkeit gefährdet. ifo.de 21.05.2024.

[9] Industriejobs ade? Welche Branchen Stellen abbauen – und welche Mitarbeiter einstellen. wiwo.de 31.05.2024.

[10] Zahl der Firmenpleiten nimmt weiter zu. zeit.de 14.06.2024.

[11] Wie die Wutrede des Börsenchefs die Wirtschaft aufmischt. sueddeutsche.de 12.06.2024.

 

Ergänzende Literatur:

https://www.isw-muenchen.de/broschueren/wirtschaftsinfos/217-wirtschaftsinfo-64

 

 

Gendergerechte Sprache „unzulässig“: Der Anfang einer Verbotsspirale?

Sa, 15/06/2024 - 22:06

Es gehe um eine ideologiefreie, verständliche Sprache, heißt es. Aber gibt es überhaupt Sprache ohne ideologische Prägung?
Die Gefahr liegt woanders.

 



Gendersprache bleibt  ein Reizthema.[1] Außer in Bayern; dort wurde sie verboten.
Schon im März erklärte der Freistaat gendergerechte Sprache für „unzulässig“. Seitdem sind „mehrgeschlechtliche Schreibweisen durch Wortbinnenzeichen wie Genderstern, Doppelpunkt, Gender-Gap oder Mediopunkt“ an Behörden, Universitäten und Schulen tabu.

„Bayerns Staatsregierung führt Genderverbot ein“, titelte der Deutschlandfunk. „Gender-Gaga in Bayern“, schrieb das Sonntagsblatt und nannte Bayern die „Sprachpolizei der Nation“.

Diesen Hut wollte sich Staatskanzleichef Florian Herrmann nicht aufsetzen. „Sprache muss klar und verständlich sein“, unterstrich der CSU-Politiker. Denn Behördendeutsch ist bekanntlich ja gut zu verstehen. Begriffe wie „raumübergreifendes Großgrün“ (Baum), „einachsiger Dreiseitenkipper“ (Schubkarre) oder „Restmüllbeseitigungsbehälterentleerung“ (Müllabfuhr) verblassen im Angesicht des „Gender-Gagas“.

Beim Verbot gehe es auch darum, die „Diskursräume in einer liberalen Gesellschaft offenzuhalten“, argumentierte Herrmann weiter. Eine ideologisch geprägte Sprache, etwa beim Gendern, tue das Gegenteil. Die berechtigte Gegenfrage ist nun: Gibt es Sprache ohne ideologische Prägung? Genderstern hin oder her, Begriffe wie „Politik der Stärke“, „bildungsfern“ oder „Problemabfall“ werden in der Politik oft und gern genutzt. Letztlich stehen sie für „Aufrüstung“, „ungebildet“ und „Giftmüll“. Klingt weniger schön, beschreibt aber dasselbe. Das heißt, auch hier wird über Sprache beeinflusst, wie wir über bestimmte Dinge denken.

Im Journalismus gehört die Wahl von Begriffen deshalb zum Tagesgeschäft.[2]:
Schreibt eine Zeitung „Flüchtling“ oder „Migrant“, „Schutzwall“ oder „Grenzzaun“, „Terrorist“ oder „Freiheitskämpfer“?
Viele Redaktionen geben vor, welche Wörter für welche Situationen gelten sollen. Denn keiner der genannten Begriffe ist neutral; sie alle stehen für politische Perspektiven.
Ein scheinbares Gegenbeispiel liefert die Deutsche Bahn. Sie umschreibt den Tod eines Menschen auf Schienen mit „Personenschaden“. Das ist maximales Behördendeutsch für einen Tod, der am Ende oft „Selbstmord“ ist. Hier verschleiert ein Begriff also Blut, Schock und Trauma und lässt die Person hinter dem Schaden verschwinden.

Aber eignen sich Verbote überhaupt dazu, „Diskursräume offenzuhalten“? Beispiel USA: Dort nehmen die Verbotsspiralen kein Ende. In Florida werden Begriffe wie „Klimawandel“ aus Gesetzestexten gestrichen, Studiengänge zur afroamerikanischen Geschichte verboten und entsprechende Bücher zensiert. In Bayern ist man davon noch weit entfernt. Trotzdem betonte Herrmann, der Freistaat werde die Verbotsdurchsetzung „mit Augenmaß verfolgen“.

Gleichzeitig erklärt die CSU, Bayern sei „ein Freistaat und kein Verbotsstaat“. Rückhalt bekommt die Partei von der bayerischen AfD. Die will nicht nur die Gendersprache, sondern die ganze Forschung abschaffen. Das heißt, Frauenstudien? Weg damit! Wir Frauen wissen doch, wo wir hingehören: ins Heim, zur Familie, in die Ehe – natürlich nur mit Mann. Das nennt die AfD „Bekenntnis zur traditionellen Familie als Leitbild“.
Und da ist sie, die potenzielle Verbotsspirale: Erst kommt die Sprache, dann bestimmte Studiengänge und Bücher, dann Abtreibung und Frauenrechte. Klingt übertrieben?
In den USA ist das längst Realität.

Erstveröffentlichung berliner zeitung
https://www.berliner-zeitung.de/politik-gesellschaft/bayern-verbannt-das-gendern-der-anfang-einer-verbotsspirale-li.2223360

 

[1] https://www.berliner-zeitung.de/kultur-vergnuegen/gender-terror-die-erziehungsmassnahmen-der-sprachpolizisten-nerven-li.346021

 

[2] https://www.berliner-zeitung.de/politik-gesellschaft/in-kriegszeiten-braucht-es-vor-allem-einen-humanitaeren-journalismus-li.2210429

 

 

 

 

Autoindustrie: Die Lage wird jeden Tag dringlicher.

Sa, 15/06/2024 - 17:04

Während die Klimakatastrophe unübersehbar geworden ist (außer Markus Söder wussten alle, dass Starkregen zu Überschwemmungen führt), bahnt sich eine klimapolitische Rolle rückwärts an.
 

Nachdem in Deutschland und anderen Ländern der EU die Diskussion losgetreten wurde, das Verbrenner-Aus zu kippen, nährt nun auch der Betriebsratschef von Audi die Hoffnung, dass es so weitergehen kann wie bisher.
Die IG Metall steht zwar zu den Zielen des Pariser Klimaabkommens, ist dennoch– trotz guter gemeinsamer Positionen mit Umwelt- und Sozialverbänden – ziemlich ratlos in der Debatte und den Aktionen um die Verkehrswende.

„Ich glaube, dass die Gewerkschaften sich überlegen müssen, ob sie beim Thema Klimawandel vorneweg marschieren wollen oder das anderen überlassen. Ich wünsche mir, dass wir uns mehr mit außerparlamentarischen Bewegungen verbünden. Das betrifft nicht nur die Klimabewegung, sondern auch die Antikriegsbewegung. In Kassel gibt es Rheinmetall, wo abhängig Beschäftigte Rüstungsgüter herstellen. Es geht um Arbeit, klar. Aber dennoch muss man fragen, ob wir als Gewerkschaft akzeptieren wollen, dass in Kriegen Waffen eingesetzt werden, die aus Deutschland kommen. Immerhin setzt sich die IG Metall laut Satzung für Frieden ein. Ich finde, dass wir auch da die Speerspitze der Bewegung bilden sollten,“
so der VW-Betriebsrat Bilal Sahin im Interview mit dem nd1.

Die Schließung des Ford-Werkes in Saarlouis wurde ausgespielt gegen das Ford-Werk in Valencia. Eine internationalistische, europäische Strategie dagegen ist bei der IG Metall so wenig wirksam wie beim europäischen Betriebsrat. Die Konkurrenz zu akzeptieren kann nicht zum Erfolg führen – das ist das gewerkschaftliche Dilemma, auch im Fall Tesla.

Verzweiflung in Zwickau, Emden und Brüssel

In Zwickau, Emden und Brüssel werden in vergleichbaren Fabriken Autos gebaut, Elektroautos. Aber die Autos finden keinen Absatz, weil fast nur große und teure Autos gebaut werden und weil deren Förderung am 18. Dezember 2023 durch die Bundesregierung abrupt beendet wurde. Seit Beginn der Förderung vor sieben Jahren wurden 10 Milliarden Euro dafür ausgeschüttet – überwiegend für Unternehmen, die ihre Flotte von Geschäftsfahrzeugen erweitert haben. Die Steuerfreiheit von E-Autos, ca. 100 Mio. Euro pro Jahr gegenwärtig, bezahlt gleichermaßen der ärmere Teil der Bevölkerung.
Ein wichtiger Grund für den Absatzeinbruch sind die Behauptungen von CDU/CSU, FDP, BSW, AfD und von der Leyen, wir können so weitermachen wie bisher. Den Arbeiterinnen und Arbeitern in den Fabriken von VW und Audi, in denen hauptsächlich E-Autos gebaut werden, geht es schlecht, wenn sie an die Zukunft denken. Immer wieder wird tage- oder wochenweise die Produktion gestoppt, um nicht noch mehr Autos „auf Halde“ zu produzieren. Ford schließt seine Fabrik in Saarlouis, bei BMW und Mercedes sieht es wegen der reichen Luxus-Kunden weltweit etwas besser aus. In Zwickau, Emden und in Brüssel hoffen sie darauf, dass der Kelch der Werksschließung an ihnen vorübergeht, dass eher das jeweils andere Werk geschlossen wird. Der Ingolstädter Betriebsratsvorsitzende von Audi, Jörg Schlagbauer, fordert auf der jüngsten Betriebsversammlung einen Kurswechsel hin zu mehr Verbrenner-Autos über den bisherigen Zeithorizont (2033) hinaus, um aus dem aktuellen „Krisenmodus“ wieder herauszukommen. Die Herren von VW freuen sich über diese Wendungen und die konstruierte Spaltung – verschonen vielleicht die größeren Standorte und machen als erstes die Fabriken in Dresden, Osnabrück und Brüssel dicht.

Verfehlte Produktstrategie

Die eingebrochene Nachfrage nach Elektroautos lässt nun Zweifel an dem Ziel der Klimaneutralität aufkommen – nicht jedoch an der Produktionsstrategie der Autokonzerne. BMW-Boss Zipse hat kein Datum für ein Aus von Benzinern und Diesel gesetzt und will weiter in die Technik investieren. Der Plan von Mercedes, ab 2030 nur noch Elektroantriebe anzubieten, ist gestrichen. Der Klimawandel soll anderswo gestoppt werden, argumentiert das Handelsblatt (14.6.2024): „Aktuell könnte das in Indien der Fall sein, wo gut drei Viertel des Strombedarfs durch das Verbrennen von Kohle, Gas und Öl gedeckt werden. Würde der Westen Indien und andere Schwellenländer mit Geld und Technologie stärker als bisher dabei unterstützen, zügig von der Kohleverstromung wegzukommen – dann wäre das ein sehr effizienter Weg zu mehr Klimaschutz,“ – und die deutschen Autokonzerne könnten so weitermachen wie bisher.
Die Verkehrswende mit einem kräftigen Ausbau des ÖPNV könnte ebenso ausbleiben wie die Umstellung auf Wärmepumpen, kleine, sparsame und preiswerte E-Autos kämen aus China (falls die EU das durch den Handelskrieg nicht auch noch versaut). Der klimapolitische Backlash wäre vollkommen, die Klimakatastrophe nähme mit allen fürchterlichen Folgen ihren Lauf und die soziale Katastrophe wäre nur um kurze Zeit verschoben und in andere Weltregionen ausgelagert.

Schützt das VW-Gesetz?

Bei VW wird inzwischen offen über massenhaften Personalabbau und über Werksschließungen gesprochen. Tausende Leiharbeiter*innen in Hannover, Emden und Zwickau werden vor die Tür gesetzt, wie unter anderem der NDR berichtet2. Im Rahmen des aktuellen Sparprogramms sollen 20 Prozent Personalkosten im indirekten Bereich eingespart werden, die Arbeit also mit rund 10.000 Angestellten weniger geleistet werden. Mit der Debatte um Werksschließungen ist die Frage aufgeworfen, welche Möglichkeiten die besondere Mitbestimmung bei VW nach dem VW-Gesetz hat. Im VW-Gesetz heißt es u.a.: (§4.2) „Die Errichtung und die Verlegung von Produktionsstätten bedürfen der Zustimmung des Aufsichtsrats. Der Beschluss bedarf der Mehrheit von zwei Drittel der Mitglieder des Aufsichtsrats.“ Mit dem Anteil des Landes und den zwei Mitgliedern der Landesregierung sowie den 10 Vertreter*innen der Beschäftigten im Aufsichtsrat wäre die „Verlegung von Produktionsstätten“ zu verhindern – aber auch die Schließung? Es gibt da noch die Satzung der Volkswagen AG, in der es konkreter formuliert ist, in § 9.1: „Der Vorstand bedarf der vorherigen Zustimmung des Aufsichtsrats zur Vornahme folgender Geschäfte: 1. Errichtung und Aufhebung von Zweigniederlassungen; 2. Errichtung und Verlegung von Produktionsstätten.“

Wenn, wie Klaus Dörre bei dem Mobilitätsratschlag angeregt hat, die Aufgabe darin besteht, den Rückschritt hin zum Verbrenner zu verhindern, muss doch um den Umfang und die Funktion von Autos mit E-Antrieb gestritten werden.
Denn es geht am Ende um weniger privat genutzte Autos und um wesentlich mehr öffentlichen Verkehr – sowohl wegen des Klimas als auch wegen der weniger werdenden Erwerbsarbeit, wie an Personalabbau und Werksschließungen sichtbar ist.
Wir brauchen weniger Autos, andere Autos und viel mehr öffentlichen Verkehr.
Das Aus des Verbrenner-Aus ist eine Rolle rückwärts, die die getätigten Investitionen und die industriellen Cluster insbesondere in Ostdeutschland gefährden – das wäre eine soziale und politische Katastrophe.
In der aktuellen Auseinandersetzung muss Die Linke für den Green Deal und gegen das Aus des Verbrenner-Aus kämpfen.
Verzögerungen bei der Verkehrswende führen entweder zum Verfehlen der Klimaziele oder sind, soll Klimaneutralität trotzdem bis 2045 erreicht werden, mit höheren Kosten verbunden. Strukturbrüche und Entwertung von Investitionen sind dann unvermeidlich. Beginnt das Umsteuern der Klimapolitik im Verkehr erst 2030, drohen bis 2045 Mehrkosten von rund 500 Milliarden Euro3.

Elon Musk heizt die Konkurrenz an

Gegen Tesla und Elon Musk oder gegen E-Autos? Bei Tesla in Grünheide erzählen Arbeiter, weil das Unternehmen sich strikt weigert, mit der Gewerkschaft überhaupt zu reden, von der „Produktionshölle“, von mangelnder Arbeitssicherheit, von hohem Arbeitsdruck und ebensolchem Krankenstand, von willkürlichen Entscheidungen betrieblicher Vorgesetzter und kaum Möglichkeiten zusammenhängender Urlaubsentnahme.
Der Widerstand gegen Tesla im Klimacamp oder in der Waldbesetzung in Grünheide ist deshalb kein Kampf gegen das Elektroauto an sich, kein Blitzableiter, schon gar keine „Querfront“ mit den Apologeten des Verbrenner.Motors, wie Timo Daum und Andreas Knie befürchten und argumentieren4.
Es geht dabei um die Mobilitätswende insgesamt, um die geschaffenen Überkapazitäten, die angeheizte Konkurrenz zwischen den Arbeiter*innen der verschiedenen Standorte, für Umwelt- und Ressourcenschutz, Gewerkschaftsrechte und die Rechte der Arbeiterinnen und Arbeiter. Und es geht um Demokratie: Wenn der Gemeinderat von Grünheide sich über den Bürgerentscheid gegen die Erweiterung von Tesla hinwegsetzt, so ist das in höchstem Maße undemokratisch und führt zu weiterer Politikverdrossenheit.

Der Kampf bei Tesla wird für das Recht auf Tarifverträge in ganz Europa geführt! Arturo Vasquez Sandoval, Mitglied der schwedischen Linkspartei (Vänsterpartiet) und Sekretär der Gewerkschaft IF Metall in Stockholm, hat jüngst beim Mobilitätsratschlag in Kassel mit Kollegen von der IG Metall gesprochen, die ebenfalls Schwierigkeiten haben, Tesla zu Verhandlungen zu bewegen. Was verbindet die Kämpfe und wie kann die gegenseitige Unterstützung gestärkt werden?

Arturo antwortet im Interview mit dem nd:

„Wir kämpfen nicht nur für das skandinavische Modell. Es ist ein Kampf für das Recht auf Tarifverträge für Arbeiter in ganz Europa. Falls wir verlieren, würde das ein Erdbeben für den Rest des Kontinents bedeuten. Glauben Sie, dass es für die IG Metall leichter wird, einen Tarifvertrag für das Berliner Werk zu unterzeichnen, wenn wir den Kampf in Schweden verlieren? Ein Vorschlag, den ich in Deutschland vorgebracht habe, ist, dass wir ein Netzwerk bilden müssen, damit wir direkt miteinander reden können. Wir müssen eine Verbindung zwischen den Beschäftigten in Berlin und in Schweden herstellen, damit sie sehen, dass sie ähnliche Probleme haben und anfangen können, einander zu unterstützen. Wir werden als Gewerkschaft dabei sein und helfen.“

Beteiligung der Arbeiterinnen und Arbeiter in Transformationsräten und Transformationsnetzwerken, wirtschaftliche Mitbestimmung über die Branche und darüber hinaus gehende Strukturpolitik sind notwendig in der Transformation, sonst kommen die Interessen der Beschäftigten unter die Räder. Wir brauchen öffentliche Investitionen, wenn privates Kapital wegen Konkurrenz und Wachstumszwang nicht richtig angelegt oder gar abgezogen wird. Die Schuldenbremse ist das Haupthindernis, entwickelt sich so zu einer Zukunftsbremse.

Beim Mobilitätsratschlag der RLS in Kassel wurde eine Erklärung dazu beraten, die auf der WebSite der Stiftung dokumentiert ist5:
 „Die Lage ist dringlich“. Und sie wird jeden Tag dringlicher!

 

Personenkraftwagen

Mai 2024

Veränderung 24/23 in %

Neuzulassungen in Deutschland

236.400

-4

davon

   

dt. Marken inkl. Konzernmarken

166.400

-6

ausl. Marken

70.000

0

darunter

   

Elektro

43.760

-23

BEV

29.710

-31

PHEV

14.040

2

Produktion in Deutschland

307.500

-18

darunter: Export

249.400


-16

Daten des VDA, https://www.vda.de/

1https://www.nd-aktuell.de/artikel/1182713.automobilindustrie-vw-betriebsrat-man-hat-die-entwicklung-verschlafen.html

2https://www.ndr.de/nachrichten/niedersachsen/hannover_weser-leinegebiet/Hannover-VW-Nutzfahrzeuge-laesst-rund-900-Zeitvertraege-auslaufen,vwn116.html

3https://www.agora-verkehrswende.de/veroeffentlichungen/verkehrswende-als-mehrwert/

4https://www.ipg-journal.de/rubriken/wirtschaft-und-oekologie/artikel/blitzableiter-7496/

5https://www.rosalux.de/dokumentation/id/52186/nach-links-abbiegen-spurwechsel-fuer-eine-gerechte-mobilitaetswende

 

EU-Wahl: Der rechte Wind über der Union. Linksfraktion stabil

Mi, 12/06/2024 - 08:28

Trotz der Erfolge ultrarechter und nationalistischer Parteien in vielen EU-Ländern, werden die drei Fraktionen der politischen Mitte - die christdemokratische EVP, die sozialdemokratische S&D und die liberale Renew - auch im neuen Europaparlament eine klare Mehrheit bilden können.

 

 

Im Wahlkampf hatte sich von der Leyen auch offen für eine Zusammenarbeit mit ultrarechten Parteien gezeigt hat, etwa mit den faschistischen Fratelli d’Italia von Italiens Regierungschefin Georgia Meloni. Das Kriterium war nur noch, eindeutig pro-NATO, pro Ukraine und gegen Russland zu sein. Die Zusammenarbeit mit der extremen Rechten in Europa ist kein Tabu mehr)


 

Die Europäische Volkspartei EVP, Familie der konservativen Parteien, bleibt mit 186 Mandaten stärkste Kraft und konnte Stimmen hinzugewinnen, vor allem aufgrund  der  Ergebnisse in Deutschland, Spanien und Polen.

Die Sozialdemokraten der S&D-Fraktion verlieren leicht und kommen auf 135 Sitze.

Für die Liberalen, Renew Europe, kommt aus Frankreich das Debakel der Macron'schen Liberalen, das dazu führt, dass die Renew-Fraktion rund 20 Abgeordnete - fast ein Fünftel ihrer Sitze - verliert: es ist das schlechteste Ergebnis in absoluten Zahlen,  

Die Grünen stürzen von über 70 auf 53 ab.

Die Ultrarechten in der Fraktion der "Konservativen und Reformisten" (ECR) haben dank Meloni und der polnischen Pis gut zugelegt, auch wenn der Zuwachs in der Straßburger Kammer kaum sichtbar ist: 73 Sitze (+4).

Die andere ultrarechte Fraktion, die Fraktion "Identität und Demokratie" (ID), legen um 10 auf 58 Sitze zu. Dabei ist zu berücksichtigen, dass die kürzlich ausgeschlossene AfD in der Fraktion fehlt. Der Erfolg von ID ist dem Rassemblement National von Le Pen zu verdanken.
Zusammen kommen die beiden Fraktionen der Nationalisten, Ultrarechten und Faschisten auf 131 Abgeordnete - mehr als ein Sechstel des Parlaments. Zum ultrarechten Lager müssen noch eine Reihe fraktionsloser Abgeordneter hinzugezählt werden: 16 der AfD, 11 der ungarischen Fidesz.

Die Linksfraktion The Left bleibt mit 36 Abgeordneten insgesamt stabil und wird durch italienische Abgeordnete der "Alleanza Verdi e Sinistra" (AVS) – ein Bündnis der Linkspartei Sinistra Italiana und der Partei der Grünen – gestärkt.

Nicht zu vergessen sind die 100 Abgeordneten der Fraktionslosen (darunter die ungarische Partei von Ministerpräsident Orbán, Fidesz, aber auch die 5-Sterne aus Italien, die noch auf der Suche nach einer europäischen Heimat sind) und die fraktionslosen Neulinge (z.B. die Partei von Sarah Wagenknecht).

Aus der Linksfraktion ist durchgesickert, dass es Interesse an Sahra Wagenknechts BSW gibt, der aus einer Abspaltung der Linken hervorgegangenen Partei, die sechs Abgeordnete ins Europäische Parlament gewählt schickt und nun eine politische Zugehörigkeit anstrebt. Aber auch die 5-Sterne-Bewegung umwerben das BSW.

Von der Leyen auf der Suche nach einer Mehrheit

Noch am Sonntagabend betonte von der Leyen die zentrale Bedeutung der Europäischen Volkspartei (EVP) und die Notwendigkeit, die bisher geleistete Arbeit mit den beiden anderen großen europäischen Parteifamilien fortzusetzen. Sie werde Sozialdemokraten und Liberale wegen einer möglichen Zusammenarbeit ansprechen, so von der Leyen. "Ich habe immer gesagt, dass ich eine breite Mehrheit für ein starkes Europa aufbauen möchte".

"Diese Wahlen haben uns zwei Botschaften vermittelt“, so die Kommissionspräsidentin. "Erstens: Es gibt weiterhin eine Mehrheit in der Mitte für ein starkes Europa“. Da aber "die Extreme, links und rechts, an Zustimmung gewonnen haben“, trage das Ergebnis gerade deshalb eine große Verantwortung für die pro-europäischen Parteien. "Wir mögen uns in einzelnen Punkten unterscheiden, aber wir haben alle ein Interesse an Stabilität und wir wollen alle ein starkes und leistungsfähiges Europa", schloss sie ihre Ausführungen.

Die drei Fraktionen – Europäische Volkspartei EP, Progressive Allianz der Sozialdemokraten S&D und die liberale Renew Europe Group - kommen auf mehr als 400 Sitze, das ist rein rechnerisch eine klare Mehrheit im neuen Parlament, dem 720 Abgeordnete angehören werden.

Die Grünen erwähnte von der Leyen am Wahlabend nicht als mögliche Partner für eine Zusammenarbeit.
Bereits im Wahlkampf hatte sie auf das, was jahrelang ihre "Herzensangelegenheit" gewesen war, verzichtet, den "Green Deal", was die Grünen nicht daran hindert, von der Leyen ihre Unterstützung anzubiedern.

Die stellvertretenden Vorsitzende der ultrarechten EKR-Fraktion, Assita Kanko, erklärte am Wahlabend: "Wir haben gut mit von der Leyen zusammengearbeitet, ich wüsste nicht, was uns daran hindern sollte, mit ihr weiter zusammenzuarbeiten.“

Wahlergebnisse in einigen ausgewählten Ländern

Deutschland

CDU/CSU kommen auf 30 Prozent und 29 Sitze (+-0). An zweiter Stelle liegt die AfD mit 15,9 Prozent und 15 Sitzen (+6). SPD 13,9 Prozent und 14 Sitze (-2); Grüne 11,9 Prozent und 12 Sitze (-9); BSW 6,2 Prozent und 6 Sitze; FDP 5,2 Prozent und 5 Sitze.

Die Partei Die Linke kommt noch auf 2,7 Prozent und 3 Sitze (-2). Damit muss Özlem Demirel aus dem EU-Parlament ausscheiden.

Die Tierschutzpartei kommt auf einen Abgeordneten, der Mitglied der Linksfraktion wird.

Welcher Fraktion sich die Abgeordneten des BSW anschließen werden, ist noch offen.

Weitere Ergebnisse:
Freie Wähler 3 Sitze (+1); Volt 3 Sitze (+2) Die PARTEI 2 Sitze (+1); FAMILIE 1 Sitz; ÖDP 1 Sitz; PdF 1 Sitz.

Belgien

Wahlsieger ist der ultrarechte flämische Vlaams Belang (VB) mit 14,5 Prozent, gefolgt von den flämischen Nationalisten Nieuw-Vlaamse Alliantie (N-VA) mit knapp 14 Prozent.

Die Abgeordneten des Vlaams Belang sind Mitglied der Fraktion "Identität und Demokratie" (ID), eine Fraktion von sieben nationalistischen und ultrarechten Parteien, zu der unter anderem auch die österreichische FPÖ, die italienische Lega, die französische Rassemblement National von Le Pen gehören. Die AfD wurde kürzlich ausgeschlossen.

Die Nieuw-Vlaamse Alliantie ist Mitglied in der Fraktion "Europäische Konservative und Reformer" (ECR), gemeinsam mit Parteien wie den italienischen Faschisten von Fratelli d’Italia, der polnischen PiS oder der spanischen, faschistischen Partei Vox.

Die linke Parti du Travail de Belgique / Partij van de Arbeid van België kommt auf 5,57 Prozent, im französischen Sprachraum erreicht sie 15,38 Prozent. Sie wird mit zwei Abgeordneten die Linksfraktion The Left stärken.

Dänemark: 

Überraschungssieger ist die Sozialistische Volkspartei Socialistisk Folkeparti (SF) mit 17,4 Prozent, vor den Sozialdemokraten, die auf 15,6 Prozent kommen. Die drei Mandate der Sozialistischen Volkspartei kommen im EU-Parlament jedoch nicht der Linksfraktion zugute, sondern der Fraktion der Grünen.

Die rot-grünen Einheitslisten erhalten sieben Prozent und schicken einen Abgeordneten in die Linksfraktion The Left.

Finnland: Linksallinaz erfolgreich

In Finnland liegen die Konservativen von der Nationalen Sammlungspartei mit 24,8 Prozent an erster Stelle.

Auf dem zweiten Platz liegt die Linksallianz Vasemmistoliitto mit 17,3 Prozent. Ihre drei Abgeordneten (+2) sind Teil der Linksfraktion The Left.

An dritter Stelle liegt die Sozialdemokratische Partei Finnlands mit 14,9 Prozent.

 

Erdbeben in Frankreich

Die ultrarechte Rassemblement National (RN) um Marine Le Pen hat die EU-Wahl in Frankreich mit 31,4 Prozent und 30 Sitzen (+12) klar gewonnen. RN ist nun in allen Departements außer in der Hauptstadtregion Île-de-France die stärke politische Kraft.

Besoin d'Europe, die Liste von Frankreichs Präsident Emmanuel Macron und Verbündeten landete wie erwartet mit 14,6 Prozent weit abgeschlagen dahinter.

An dritter Stelle liegt das Bündnis der Sozialistischen Partei, Réveiller l'Europe, mit 13,83 Prozent.

La France Insoumise LF erreicht 9,89 Prozent und schickt 9 Abgeordnete (+4) in die Linksfraktion des EU-Parlaments.

Das Wahlbündnis der Französischen Kommunistischen Partei, Coalition Gauche Unie, scheitert mit 2,36 Prozent an der Wahlhürde für den Einzug ins EU-Parlament.

Frankreich ´s  Parlamentswahl am 30. Juni und 7. Juli

Als Reaktion auf das Wahlergebnis und die Forderung des Rassemblement National (RN) nach Neuwahlen, kündigte Staatspräsident Emmanuel Macron noch am Wahlabend an, dass er Neuwahlen ausrufen würde.

Gewählt wird in zwei Runden am 30. Juni und 7. Juli. Der Vormarsch der Ultrarechten wird sich bis dahin nicht mehr umkehren lassen. Der RN könnte dann nicht nur stärkste Fraktion in der Nationalversammlung werden, sondern sogar eine absolute Mehrheit erringen. In diesem Fall wäre Macron gezwungen, einen Premierminister oder eine Premierministerin aus den Reihen des RN mit der Regierungsbildung zu beauftragen.

Francois Ruffin von La France Insoumise kommentierte die Entscheidung von Macron: "Wir haben einen Spinner an der Spitze des Staates. Das ist ein Pyromane. Macrons Partei wird sich eine zweite Klatsche einfangen. Das ist alles. Was bleibt, um den Rassemblement National zu stoppen, ist deshalb nur die Linke."

Griechenland

Zwar liegt die konservative Néa Dimokratía des griechischen Premierminister Kyriakos Mitsotakis mit 28,31 Prozent an erster Stelle. Aber Mitsotakis ist trotzdem unzufrieden. "Ich sage es ohne Umschweife: Unsere Partei hat das Ziel, das wir uns gesetzt hatten, nicht erreicht“, sagte Mitsotakis in einer ersten persönlichen Erklärung zum Wahlergebnis.

Hintergrund für Mitsotakis' Aussagen ist der Umstand, dass seine ND bei der EU-Wahl am Sonntag im Vergleich zu den jüngsten Parlamentswahlen Ende Juni vorigen Jahres sowie den letzten Europawahlen 2019 starke Stimmenverluste hat hinnehmen müssen. Bei den jüngsten Parlamentswahlen hatte regierende ND gut 40 Prozent der Stimmen erreicht, bei den letzten Europawahlen waren es 33 Prozent.

An zweiter Stelle liegt SYRIZA mit 14,92 Prozent. Die vier Abgeordneten (+2) schließen sich der Linksfraktion The Left an.

Es folgen die sozialdemokratische Pasok mit 12,79 Prozent der Stimmen, die nationalkonservative Griechische Lösung (9,30 Prozent), die Kommunistische Partei KKE (9,25 Prozent), die ultrareligiöse Partei Niki (der Sieg) mit 4,37 Prozent der Stimmen, die linksnationale Plefsi Eleftherias (Kurs der Freiheit) mit 3,40 Prozent der Stimmen sowie die nationalistische Stimme der Vernunft (Foni tis Logikis) mit 3,04 Prozent der Stimmen.

MERA25, die Partei von Yanis Varoufakis, kommt auf 2,54 Prozent und scheitert damit ebenso an der Drei-Prozent-Hürde wie die linke SYRIZA-Abspaltung Néa Aristerá/Neue Linke von Euclid Tsakalotos mit 2,45 Prozent.

Italien

Ministerpräsidentin Giorgia Meloni und ihre faschistische Partei Fratelli d'Italia (FdI) übertreffen mit 28,77 Prozent der Stimmen sogar das Resultat der Parlamentswahlen im Oktober 2022. Allerdings nur prozentual. Die Fratelli d'Italia haben etwa 10 Prozent ihrer Wähler verloren - ein Rückgang um 700.000 Stimmen von mehr als 7,4 Millionen auf 6,7 Millionen. Trotzdem belibt die FdI mit Abstand Italiens stärkste Einzelkraft. Auch koalitionsintern hat Meloni weiterhin allein das Sagen - denn die Koalitionspartner Lega und Forza Italia kommen nicht über 9 Prozent der Stimmen hinaus.

Die Kräfteverhältnisse innerhalb der Regierungskoalition in Rom haben sich seit der Europawahl vor fünf Jahren umgekehrt. 2019 hatte die Lega noch 34,3 Prozent der Stimmen erzielt und Fratelli d'Italia 6,44. Diesmal musste sich die Lega mit 8,98 Prozent der Stimmen begnügen – und liegt damit hinter der Forza Italia mit 9,6 Prozent.

Doch auch die Oppositionskräfte haben zugelegt, und zwar auf Kosten der pro-europäischen Zentrumsparteien. So schaffte es die Partito Democratico mit ihrer neuen Führung unter der populären Elly Schlein auf 24,1 Prozent - das sind vier Prozentpunkte mehr als bei den Parlamentswahlen. In absoluten Zahlen konnte sie ihre 5,6 Millionen Wähler halten. Sie bestätigte sich somit als stärkste Oppositionspartei.

Die Fünf-Sterne-Bewegung Movimento Cinque Stelle musste dagegen Stimmeneinbußen hinnehmen und sank von 16 Prozent auf 9,98 Prozent.

Spitzenkandidatin des links-grünen Bündnisses "Alleanza Verdi e Sinistra" in Ungarn in Haft

Eine Überraschung ist der Wahlerfolg des links-grünen Bündnisses "Alleanza Verdi e Sinistra" (Bündnis der Linken und der Grünen) AVS. Die Partei verdoppelte ihre Stimmen gegenüber den Parlamentswahlen 2022 auf 6,77 Prozent. In absoluten Stimmen konnte sie auf einen Schlag ihre Stimmenzahl um 50 Prozent von einer Million absoluter Stimmen im September 2022 auf anderthalb Millionen steigern.

Damit hat die Spitzenkandidatin der Partei, die in Budapest unter Hausarrest stehende Aktivistin Ilaria Salis, den Einzug ins EU-Parlament geschafft.

Salis, gegen die seit Januar in Budapest ein Prozess läuft, wird zur Last gelegt, mit anderen Beteiligten aus der linken Szene im Februar vergangenen Jahres in Budapest eine Gruppe von Rechtsextremen gewaltsam angegriffen zu haben, die bei einer Aktion der Waffen-SS und ungarischer Soldaten gedenken wollten. Dabei wurden nach Angaben der Behörden neun Menschen verletzt. Der Volksschullehrerin aus der Lombardei drohen bis zu elf Jahre Haft. Die AVS-Partei hofft nun, dass Salis dank ihrer Immunität als EU-Parlamentarierin freikommen kann.

Kompliziert ist auch die Zuordnung zu den Fraktionen im EU-Parlament.
Zwar steht fest, dass die Liste sechs Sitze im Plenarsaal erhalten wird, aber zwei Elemente sind derzeit noch ungewiss, nicht zuletzt wegen der komplexen Überschneidung zwischen dem Präferenzsystem und dem System der Mehrfachkandidaturen in den fünf Wahlkreisen, in die die Halbinsel unterteilt ist. Neben Ilaria Salis wird auch Mimmo Lucano voraussichtlich der Linksfraktion beitreten. Sowohl Ignazio Marino als auch Leoluca Orlando, sollte er gewählt werden, würden sich höchstwahrscheinlich den Grünen anschließen. Große Ungewissheit herrscht dagegen bei den beiden anderen Sitzen, die je nach Namen der einen oder der anderen Fraktion zugeschlagen oder zu gleichen Teilen auf beide aufgeteilt werden könnten.

Mimmo Lucano gewinnt und wird wieder Bürgermeister von Riace – und EU-Abgeordneter

Im kalabrischen Riace herrscht wieder Sonnenschein. Das Dorf kann wieder das Schild "Stadt der Gastfreundschaft“ anbringen, das vor einigen Jahren entfernt wurde, um das soziale Experiment, das in diesem Dorf durchgeführt wurde, abzubrechen. Auf Betreiben des faschistischen Innenministers Matteo Salvini wurde vor sechs Jahren der Bürgermeister des Ortes, Mimmi Lucano, seines Amtes enthoben. Jahrelange Prozess folgten. Mit konstruierten Anklagen versuchte Salvini, Lucano ins Gefängnis zu werfen.

Doch jetzt ist Lucano wieder da. Die Hartnäckigkeit, der Widerstand gegen die Verleumdungen und den Hass, der sich gegen eine Idee der Solidarität richtet, die noch vor seiner Person steht, hat gesiegt. Bei den gleichzeitig zur EU-Wahl stattfindenden Kommunalwahlen gewann er das Amt des Bürgermeisters zurück.

Und nicht nur das. Er wurde auch in das EU-Parlament gewählt. Eine Lawine von Stimmen, ermöglichte es dem links-grünen Bündnis Alleanza Verdi e Sinistra mit fast 40 Prozent der Stimmen die erste Partei bei den Europawahlen zu werden.

Die Friedensliste "Pace, terra e dignità", die von dem Journalisten und Ex-EU-Abgeordneten Michele Santoro zusammen mit Rifondazione Comunista und MERA25 ins Leben gerufen wurde, ist mit 2,21 Prozent weit von dem nationalen Quorum von 4 % entfernt.

"Offensichtlich ist das Nein zum Krieg nicht der ausschlaggebende Faktor, der die Wählerschaft polarisiert. Pace, terra e dignità geht als Verlierer aus einem gerechten Kampf hervor", kommentierte Rifondazione-Sekretär Maurizio Acerbo.

Niederlande

Das Bündnis zwischen der links-grünen Partei Groenlinks und der sozialdemokratischen PvdA hat bei den EU-Wahlen mit 21,6 Prozent den ersten Platz belegt und erhält acht Abgeordnete, einen weniger als 2019, aber zwei mehr als die rassistische Partei PVV von Geert Wilders. Wilders, der bei den Parlamentswahlen im November letzten Jahres den ersten Platz belegt hatte, wird sich mit 17,7 Prozent mit nur sechs Abgeordneten begnügen müssen.

Zuvor war nach Umfragen erwartet worden, dass die Wilders-Partei erstmals eine Europawahl gewinnen würde. Dennoch erzielte die PVV einen enormen Zugewinn: Bei der Wahl 2019 schaffte es die Partei erst gar nicht ins EU-Parlament - nach Änderungen durch den Brexit erhielt die PVV dann einen Sitz.

Während der Rechtspopulist Wilders zulegen konnte, haben seine Regierungspartner verloren. Die liberale VVD wird nur noch vier Abgeordnete (-1) in die Renew-Fraktion bringen. Die beiden anderen Kräfte der Regierungskoalition erhalten drei Sitze, einen für die zentristische NSC und zwei für die ländliche BBB.

Die Sozialistische Partei kommt nur noch auf zwei Prozent und geht damit leer aus.

Portugiesische Überraschung: Ultrarechte brechen ein, Sozialisten in Führung

Im März rollte die schwarze Welle über Portugal, als die ultrarechte Partei Chega bei den Parlamentswahlen 1.169.836 Stimmen erhalten hatte, was etwa 18 % der Wählerschaft entsprach.

Alles deutete darauf hin, dass der Stern des Chega-Führers André Ventura nur noch steigen würde, vor allem unter Ausnutzung der Position der Opposition. Entgegen den Erwartungen entpuppte sich die Wahlnacht vom Sonntag als Desaster für die Ultrarechte: An den Wahlurnen der Europawahlen erhielt sie nur 386.620 Stimmen (9,79 Prozent, 2 Mandate). Ein Nettoverlust von rund 70 Prozent der Wählerschaft in nur 90 Tagen.

Eine weitere große Überraschung ist der Erfolg der Partido Socialista (PS) mit 32,1 Prozent, die sich damit in geringem Abstand vor die regierende Mitte-Rechts-Koalition Aliança Democratica (AD) mit 31,12 Prozent setzte.

Der Linksblock Bloco de Esquerda (BE) kommt auf 4,25 Prozent und schickt nur noch eine Abgeordenete in die Linksfraktion des EU-Parlaments (-1).

Auch das Bündnis von Kommunisten und Grünen musste Verluste hinnehmen. Die CDU - Coligação Democrática Unitária (Partido Comunista Português, Partido Ecologista “Os Verdes”) kommt auf 4,12 Prozent und einem Abgeordneten (-1) für die Linksfraktion.

Schweden

In Schweden gewinnt die Sozialdemokratische Partei mit 24,80 Prozent (5 Sitze).

An zweiter Stelle liegen die konservativen Moderaten (in der EVP) mit 17,60 Prozent. Die Christdemokraten (in der EVP) sinken auf 6,1 Prozent, während die Liberalen (in Renew) mit 4,2 Prozent stabil bleiben.

Die drei Parteien regieren mit der externen Unterstützung der Schwedendemokraten, einer ultrarechten, rassistischen Formation in der ECR-Gruppe. Die SD kommen auf 13,2 % und 3 Sitze (+1).

Die Grünen erreichen 13,8 Prozent (3 Sitze).

Die Linkspartei gewinnt mit 11 Prozent einen Sitz dazu und schickt jetzt zwei Abgeordnete in die Linksfraktion.

Spanien: Fiasko für SUMAR

Mit fast sechs Millionen Stimmen (34,20 Prozent) kommt die rechts-konservative Volkspartei PP auf 22 Abgeordnete (+9) und den ersten Platz.

An zweiter Stelle, mit 4 Prozentpunkten Rückstand, liegt die Sozialistische Partei PSOE mit 30,18 Prozent. Ministerpräsident Pedro Sánchez konnte die erwartete Niederlage in Grenzen halten und verlor im Vergleich zu 2019 nur einen Abgeordneten.

An dritter Stelle liegt die faschistische VOX mit 9,62 Prozent. Sie kommt damit auf sechs Sitze, zwei mehr als 2019.

Auf den vierten Platz kommt "Ahora Repúblicas" - eine Gruppierung von mehreren regionalen Parteien: die katalanischen Linksrepublikaner von Esquerra Republicana, die baskische Linkspartei EH Bildu und die galizische BNG. Mit dieser Koalition haben diese Parteien, die lokal wichtig, aber national klein sind, eine Formel gefunden haben, um ihr Ergebnis zu maximieren: Sie erhielten mit 4,91 Prozent der Stimmen 3 Sitze (+1).

Knapp dahinter liegt das von Yolanda Díaz geführte Linksbündnis SUMAR mit 4,65 Prozent und drei Abgeordneten.

Vor fünf Jahren hatte Unidas Podemos doppelt so viele Sitze. Diesmal hat Podemos jedoch einen Alleingang unternommen, angeführt von der ehemaligen Ministerin Irene Montero: Sie erhielt 2 Sitze und 3,28 Prozent der Stimmen.

Auch wenn es ein schwacher Trost ist, Podemos überholt zu haben, stürzt das Wahlergebnis SUMAR und Yolanda Díaz, die drei statt der erhofften vier Sitze errungen haben, in eine tiefe Krise. Bei der Listenaufstellung war der Kampf zwischen den Koalitionsparteien um die Spitzenplätze sehr heftig. Yolanda Díaz hatte ziemlich autoritär und mit einigen kaum nachvollziehbaren Entscheidungen (wie der Vergabe des zweiten Platzes an die sehr kleine valencianische Partei Compromís oder an einen wenig bekannten Außenseiter) eingegriffen. Schließlich gab die Izquierda Unida IU zähneknirschend nach. Obwohl die Izquierda Unida die stärkste Partei in der Koalition ist, akzeptierte sie den Platz 4. Im Ergebnis muss der auf Platz 4 gesetzte derzeitige EU-Abgeordnete Manuel Pineda aus dem EU-Parlament ausscheiden. Für die IU das denkbar schlechteste Ergebnis. Schlecht auch für die Linksfraktion The Left: Die auf der Listen von SUMAR gewählten Abgeordneten werden sich der grünen Fraktion naschließen.

Zusammen haben die beiden Parteien – SUMAR und Podemos - am Sonntag weniger Stimmen erhalten als die IU allein im Jahr 2014, die mehr als anderthalb Millionen Stimmen erhielt.

Existenzielle Krise von SUMAR

Am Montagnachmittag erklärte Yolanda Díaz, Vorsitzende und Gründerin von SUMAR, dass sie die Führung der Partei aufgibt, ohne jedoch die wirklich wichtigen Ämter aufzugeben, nämlich das der Arbeitsministerin und der Vizepräsidentin der Regierung Sánchez.

Nun beginnt eine Zeit enormer Ungewissheit für die Parteien links der PSOE und auch für die PSOE selbst, die ihre politische Zukunft aufgrund der Schwäche von SUMAR in Gefahr sieht. Der vielleicht bissigste Kommentar stammt vom ehemaligen Vorsitzenden der Izquierda Unida, Alberto Garzón, der wenige Stunden vor dem Rücktritt von Díaz in einem Tweet schrieb: „Ich würde damit beginnen, zu bedenken, dass das Interesse, jemand anderen oder eine andere Person zur Kasse zu bitten, umgekehrt proportional zu dem Wunsch ist, Probleme wirklich zu lösen“. Dies kann als Kritik sowohl an Podemos als auch an SUMAR verstanden werden.

Der kürzlich neu ins Amt gewählte Vorsitzende der Izquierda Unida, Antonio Maíllo, hält die Phase, in der SUMAR die einigende Kraft der Linken war, für beendet und hat sich für ein horizontaleres Modell entschieden.

"SUMAR tritt in eine neue Phase ein. Yolanda hat dieses Projekt inspiriert, und wir treten in eine neue Phase ein, in der die Organisationen die Hauptrolle spielen werden. Ihre Persönlichkeit hat das Projekt geprägt und sie hat erkannt, dass es Dinge gibt, die verbessert werden können. Eines davon ist die Notwendigkeit, ein horizontaleres Projekt und mehr Gleichheit zwischen den Akteuren zu schaffen", sagte er in einem Interview, in dem er sogar davon sprach, die Einheit der Linken wieder auf Podemos auszuweiten. "Wir müssen eine ehrliche Debatte und eine Reflexion aller linken Parteien führen“, sagte er.

Genauso beunruhigend wie das desaströse Abschneiden von SUMAR und Podemos sind die 4,59 Prozent bzw. drei Sitze, die eine junge, von einem rechtsextremen Influencer und Verbreiter unzähliger Fake News gegründete Partei namens Se acabó la fiesta (Das Fest ist vorbei) errungen hat. Eine Partei, die in den traditionellen Medien nicht wahrgenommen wurde und es nur schaffte, ihre unqualifizierten Botschaften über soziale Netzwerke und Telegram zu verbreiten.

Tschechien

Aus Tschechien werden zwei Abgeordnete in die Linksfraktion kommen. Das von der Kommunistischen Partei initiierte Wahlbündnis Stačilo! kommt auf 9,56 Prozent.

Zypern

In Zypern liegt die konservative DISY mit 24,78 Prozent vorne.

Die kommunistische AKEL liegt mit 21,49 Prozent an zweiter Stelle. Sie wird damit einen Abgeordneten (-1) in die Linksfraktion nach Brüssel/Straßburg entsenden.

 

Die nächste Zeitenwende

Mo, 10/06/2024 - 11:54

Deutschland und Europa stehen vor einer zweiten „Zeitenwende“.
Dies sagt die Berliner Stiftung Wissenschaft und Politik (SWP) in einer aktuellen Studie voraus. Demnach ist nach der US-Präsidentenwahl am 5. November nicht nur dann mit einer deutlichen Reduzierung der US-Militäraktivitäten in Europa zu rechnen, wenn Donald Trump den Urnengang gewinnt, sondern auch dann, wenn Joe Biden als Sieger hervorgeht.



Auch Joe Biden werde „im Zweifelsfall“ einem etwaigen Krieg gegen China um Taiwan Vorrang vor einer fortgesetzten Unterstützung der Ukraine in deren Krieg gegen Russland einräumen, urteilt die SWP. Es werde daher „die Hauptaufgabe“ der deutschen Außen- und Militärpolitik sein, die EU bzw. die NATO-Staaten Europas künftig gegen Russland „zu sichern“. „An diesem Ziel“ müssten sich „alle Aspekte“ der Aufrüstung ausrichten. Von kleineren Militäreinsätzen in aller Welt müsse man daher jetzt „Abstand nehmen“. Dies entspricht nicht zuletzt Überlegungen in den USA, man werde das drohende Szenario dreier gleichzeitig zu führender Kriege – gegen Russland, in Nah- und Mittelost, gegen China – nur mit massiv hochgerüsteten Verbündeten gewinnen können.

Zwei Kandidaten, eine Richtung

Nach der Präsidentenwahl in den USA am 5. November dieses Jahres werden die Staaten Europas „mit einer weiteren Zeitenwende konfrontiert sein“, sagt die SWP in einer aktuellen Studie voraus.[1]

Zwar stünden sich mit Joe Biden und Donald Trump „zwei Denkschulen gegenüber“, die „die Rolle der USA mit Blick auf die amerikanische Politik in und gegenüber Europa sehr unterschiedlich definieren“. 

Trumps Absicht, die militärischen Aktivitäten der Vereinigten Staaten auf dem europäischen Kontinent zu reduzieren, sei bekannt.

Doch könne das nicht darüber hinwegtäuschen, dass auch der „geopolitische[...] Fokus“ der Biden-Administration „auf dem indopazifischen Raum“ liege; „das gegenwärtige Engagement in Europa“ sei auch für sie lediglich eine „Ausnahme“. „Die gesellschaftlichen Strömungen und Bindekräfte“ in den USA drängten „die außenpolitische Programmatik beider Kandidaten in dieselbe Richtung“, konstatiert die SWP.

Trump und die Restrainer

Donald Trump schreibt die Berliner Denkfabrik eine – trotz Abstrichen – deutliche Nähe zu einer außenpolitischen Fraktion zu, deren Anhänger zuweilen als „Restrainer“ bezeichnet werden. Diese plädierten „für ein selektives Engagement Washingtons in der internationalen Politik“, das sich exklusiv „an den nationalen Interessen der USA orientieren“ solle, heißt es in der SWP-Studie. Restrainer seien der Auffassung, die Vereinigten Staaten seien „in der Vergangenheit ... zu viele sicherheitspolitische Verpflichtungen eingegangen“ und sollten sie nun „reduzieren“. Der Ukraine-Krieg gelte ihnen als ein „periphere[r] Krieg in den östlichen Ausläufern Europas“, der „die strategischen Kerninteressen Amerikas nicht beeinträchtige“ und deshalb keine herausragenden US-Aktivitäten rechtfertige. Die Restrainer forderten eine massive „Lastenverlagerung ... weg von den USA, hin zu Europa“. Dies könne „zu einer europäisierten Nato führen“, in der die Vereinigten Staaten als eine Art „Logistikdienstleister letzter Instanz“ und „Garant für freie Seewege und Handelsrouten“ fungierten.

 

Biden und die Primacists

Joe Biden wiederum ordnet die SWP als der Denkschule der „Primacists“ nahestehend ein. Dieser zufolge müssten die Vereinigten Staaten in der internationalen Politik danach streben, „ihre geopolitische Vormachtstellung aufrechtzuerhalten“; die „Grundlage“ ihrer „globalen Vorherrschaft“ sei dabei „die konkurrenzlose militärische Überlegenheit des Landes“. Allerdings sei sich die Biden-Administration bewusst, dass die USA „nicht zwei Kriege – denjenigen Russlands gegen die Ukraine und einen potentiellen zwischen China und Taiwan – gleichzeitig bewältigen“ könnten.
Es sei klar, dass sie „im Zweifelsfall ... einem Konflikt in der Straße von Taiwan Priorität einräumen“ würden.
Eine „Biden-Administration 2.0“ werde daher „auf eine deutlich stärkere Lastenteilung hinwirken“, sagt die SWP voraus.
Diese werde – ebenso wie die von einer neuen Trump-Administration erwartete Lastenverlagerung – einen deutlich verstärkten „europäischen Pfeiler der Nato“ erforderlich machen.

Alles auf ein Ziel

In beiden Szenarien werde es „die Hauptaufgabe“ der deutschen Außen- und Militärpolitik sein, die EU bzw. die europäischen NATO-Mitglieder „gegen ein aggressiv-revisionistisches Russland zu sichern“, schreibt die SWP. „An diesem Ziel“ hätten sich ab sofort „alle Aspekte der Planungen für die Bundeswehr auszurichten – Finanz-, Personal-, Rüstungs- und Streitkräfteplanung“. Der Bundeswehrhaushalt müsse dabei von 2028 an zumindest 75 bis 80 Milliarden Euro im Jahr erreichen. Die SWP erinnert daran, dass der Wehretat etwa im Jahr 1963 sogar bei 4,9 Prozent des Bruttoinlandsprodukts gelegen habe; dies lasse sich heute aber „wohl nur als Reaktion auf einen außenpolitischen Schock noch einmal erreichen“. Die erforderliche militärische Fokussierung auf den Machtkampf gegen Russland verlange, dass Deutschland künftig „vom internationalen Krisenmanagement“ – Militäreinsätze in aller Welt – „Abstand nehmen“ müsse. Die SWP lehnt darüber hinaus die Teilnahme der Bundeswehr an Manövern in der Asien-Pazifik-Region ab: „Vereinzelte Versuche, die Bundeswehr ... zu einem Anbieter von Sicherheit“ im Indischen und Pazifischen Ozean „zu stilisieren“, könnten „kein Ausdruck einer ernsthaften Orientierung der deutschen Sicherheitspolitik sein“.


„900.000 Reservisten aktivieren“

An der Maxime, alle verfügbaren Ressourcen auf die Vorbereitung eines möglichen Kriegs gegen Russland zu fokussieren, orientiert sich die Bundesregierung in der Tat und greift dabei derzeit noch stärker aus als bisher. So fordert Verteidigungsminister Boris Pistorius aktuell, „wir“ müssten „bis 2029 kriegstüchtig sein“.[2]
Um „durchhaltefähig und aufwuchsfähig“ zu sein, brauche man „junge Frauen und Männer“ in größerer Zahl als bisher; deshalb sei eine neue Form des Wehrdienstes unumgänglich. Anfang vergangener Woche war zudem die Forderung laut geworden, den mobilisierenden Zugriff auf ehemalige Bundeswehrsoldaten zu erleichtern. Notwendig sei es etwa, „die Meldedaten wieder zu erfassen und dann auch den Gesundheitszustand zu überprüfen“, forderte der Vorsitzende des Reservistenverbandes der Bundeswehr, Patrick Sensburg (CDU).[3] Die scheidende Vorsitzende des Verteidigungsausschusses im Bundestag, Marie-Agnes Strack-Zimmermann (FDP), verlangte die Aktivierung der „ungefähr 900.000“ früheren Soldaten, „die wir in Deutschland haben“; man müsse „so schnell wie möglich verteidigungsfähig werden“.[4]

Drei Kriege gleichzeitig

Die Mobilisierung größtmöglicher Ressourcen für einen etwaigen Krieg gegen Russland kommt Überlegungen von US-Strategen zugute, die nicht ausschließen, Washington könne in absehbarer Zeit nicht nur in zwei, sondern sogar in drei Kriegen gleichzeitig kämpfen. Schon jetzt seien die Vereinigten Staaten in zwei Kriege involviert – in den Ukraine- und in den Gaza-Krieg –, während sich am Horizont bereits „ein dritter“ abzeichne – gegen China um Taiwan [5], heißt es in einem aktuellen Onlinebeitrag in der führenden außenpolitischen US-Zeitschrift, Foreign Affairs. Es erweise sich jetzt als nachteilig, dass Washington während der Amtszeit von Präsident Barack Obama offiziell erklärt habe, mit Blick auf seine trotz immenser Stärke doch begrenzten militärischen Kapazitäten in Zukunft nicht mehr zwei große Kriege zugleich führen zu können, heißt es in dem Text weiter; die Bestrebungen der vergangenen Jahre, Europa zu entpriorisieren und sich zudem aus Mittelost zurückzuziehen, um alle Kräfte gegen China in Stellung bringen zu können, hätten die Stellung der USA geschwächt. Im Hinblick darauf, dass man womöglich in absehbarer Zeit sogar drei Kriege zugleich führen werde, sei es dringend erforderlich, verbündete Staaten stärker einzuspannen. Eine vollumfängliche Fokussierung aller Ressourcen in Deutschland und Europa auf einen etwaigen Krieg gegen Russland hält den USA den Rücken für einen Krieg gegen China sowie eine Fortdauer ihrer Militärpräsenz im Nahen und Mittleren Osten frei: Sie ermöglicht damit im Wortsinne einen Dritten Weltkrieg.

 

[1] Zitate hier und im Folgenden aus: Markus Kaim, Ronja Kempin: Die Neuvermessung der amerikanisch-europäischen Sicherheitsbeziehungen. Von Zeitenwende zu Zeitenwende. SWP-Studie 2024/S 15. Berlin, 21.05.2024.

[2] Boris Pistorius: Wir müssen bis 2029 kriegstüchtig sein. bundestag.de 05.06.2024.

[3] Reservisten sollen auf Einsetzbarkeit geprüft werden. mdr.de 03.06.2024.

[4] Strack-Zimmermann fordert Aktivierung von 900.000 Reservisten in Deutschland. spiegel.de 01.06.2024.

[5] Thomas G. Mahnken: A Three-Theater Defense Strategy. foreignaffairs.com 05.06.2024.

 

KI und Arbeitsproduktivität

Sa, 08/06/2024 - 07:38

Künstliche Intelligenz (KI) und die Auswirkungen der neuen Sprachlernmodelle mit verallgemeinerter Intelligenz ist nicht nur medial sondern vor allem auch aus wirtschaftlicher Perspektive ein intensiv betrachtetes Thema.
Von besonderem Interesse sind dabei die Auswirkungen von KI-Sprachlernmodulen auf die Arbeitsplätze von Arbeitnehmern und die Arbeitsproduktivität.


Die Standardprognose zur KI stammt von den Ökonomen der großen Investmentbank Goldman Sachs.  Sie prognostizierten schon vor langem, dass die Technologie, wenn sie hält, was sie verspricht, zu einer "erheblichen Störung" des Arbeitsmarktes führen würde, indem sie 300 Millionen Vollzeitbeschäftigte in den großen Volkswirtschaften der Automatisierung der Arbeitsplätze aussetzt. Juristen und Verwaltungsangestellte würden zu denjenigen gehören, die am stärksten von Entlassungen bedroht wären.
Auf der Grundlage von Daten über die Aufgaben, die in Tausenden von Berufen typischerweise ausgeführt werden, errechneten die Forscher, dass etwa zwei Drittel der Arbeitsplätze in den USA und in Europa zu einem gewissen Grad durch KI-Automatisierung bedroht wären.
Für die meisten Menschen würde weniger als die Hälfte ihres Arbeitspensums automatisiert werden, würden ihren Job wahrscheinlich weiter ausüben können, wobei ein Teil ihrer Zeit für produktivere Tätigkeiten zur Verfügung stünde.
In den USA würde dies nach den Berechnungen 63 % der Beschäftigten betreffen. Weitere 30 %, die in körperlichen Tätigkeiten oder im Freien arbeiten, wären davon nicht betroffen, obwohl ihre Arbeit für andere Formen der Automatisierung anfällig sein könnte.

 

Pro und Contra:  KI-ausgelöste Produktivitäts-Steigerung

Die Ökonomen von Goldman Sachs waren sehr optimistisch und euphorisch in Bezug auf die Produktivitätssteigerungen, die durch KI erzielt werden könnten und
die kapitalistischen Volkswirtschaften möglicherweise aus der relativen Stagnation der letzten 15-20 Jahre - der langen Depression - herausführen könnten. 
Die Annahme lautete, dass "generative" KI-Systeme wie beispielsweise ChatGPT einen Produktivitätsboom auslösen könnten, der das jährliche globale BIP innerhalb eines Jahrzehnts um 7 % steigern würde.  Wenn die Unternehmensinvestitionen in KI weiterhin ähnlich schnell wachsen wie die Software-Investitionen in den 1990er Jahren, könnten allein die KI-Investitionen in den USA bis 2030 1 % des US-BIP erreichen.

Der US-amerikanische Technologie-Ökonom Daren Acemoglu hingegen war damals skeptisch.  Er argumentierte, dass nicht alle Automatisierungstechnologien die Arbeitsproduktivität tatsächlich erhöhen. Das läge daran, dass die Unternehmen die Automatisierung hauptsächlich in Bereichen einführen, die zwar die Rentabilität steigern, wie Marketing, Buchhaltung oder Technologie für fossile Brennstoffe, aber nicht die Produktivität der Wirtschaft als Ganzes erhöhen oder soziale Bedürfnisse erfüllen.
In einem aktuellen Papier schüttet Acemoglu nun eine gehörige Portion kaltes Wasser auf den Optimismus, der von Unternehmen wie GS verbreitet wird. 

Im Gegensatz zu GS ist nach Aussage des Technologie-Ökonomen damit zu rechnen, dass die Produktivitätseffekte von KI-Fortschritten in den nächsten 10 Jahren "bescheiden sein werden".  Der höchste von ihm prognostizierte Gewinn wäre ein Anstieg der totalen Faktorproduktivität (TFP) um insgesamt 0,66 %, was dem gängigen Maß für die Auswirkungen von Innovationen entspricht, oder ein winziger Anstieg des jährlichen TFP-Wachstums um 0,064 %.

Er könnte sogar noch geringer ausfallen, da die KI einige schwierigere Aufgaben, die Menschen erledigen, nicht bewältigen kann.  Dann könnte der Anstieg nur 0,53 % betragen.  Selbst wenn die Einführung von KI die Gesamtinvestitionen erhöhen würde, würde der Anstieg des BIP in den USA insgesamt nur 0,93-1,56 % betragen, je nach Umfang des Investitionsbooms.

Darüber hinaus rechnet Acemoglu damit, dass die KI die Kluft zwischen Kapital- und Arbeitseinkommen vergrößern wird: "Frauen mit niedrigem Bildungsstand könnten Lohneinbußen erleiden, die Ungleichheit zwischen den Gruppen könnte insgesamt leicht zunehmen und die Kluft zwischen Kapital- und Arbeitseinkommen wird sich wahrscheinlich weiter vergrößern".
Tatsächlich kann die KI dem menschlichen Wohlergehen sogar schaden, indem sie irreführende soziale Medien, digitale Werbung und die Ausgaben für IT-Verteidigungsmaßnahmen ausweitet.
 KI-Investitionen könnten also das BIP erhöhen, aber das menschliche Wohlergehen um bis zu 0,72 % des BIP verringern.

Und es gibt noch weitere Gefahren für die Arbeit.  Owen David weist darauf hin, dass KI bereits eingesetzt wird, um Arbeitnehmer am Arbeitsplatz zu überwachen, Bewerber zu rekrutieren und zu prüfen, das Lohnniveau festzulegen, die Aufgaben der Arbeitnehmer zu bestimmen, ihre Leistungen zu bewerten, Schichten zu planen usw. "In dem Maße, in dem KI die Aufgaben des Managements übernimmt und die Managementfähigkeiten erweitert, kann sie die Macht auf die Arbeitgeber verlagern.
Vergleiche hierzu
Es erinnert an die Beobachtungen von Harry Braverman in seinem berühmten Buch von 1974 über die Degradierung der Arbeit und die Zerstörung von Fähigkeiten durch die Automatisierung. Der Technologie-Ökonom Daren Acemoglu räumt ein, dass die generative KI Vorteile bietet, "aber diese Vorteile werden schwer zu erreichen sein, wenn es nicht zu einer grundlegenden Neuausrichtung der Branche kommt, einschließlich einer grundlegenden Änderung der Architektur der gängigsten generativen KI-Modelle."  Insbesondere sagt Acemoglu, dass "es eine offene Frage bleibt, ob wir Modelle brauchen, die unmenschliche Unterhaltungen führen und Shakespeare-Sonette schreiben, wenn wir wirklich verlässliche Informationen brauchen, die für Pädagogen, Mediziner, Elektriker, Klempner und andere Handwerker nützlich sind."

Da es die Manager und nicht die Arbeitnehmer als Ganzes sind, die KI einführen, um menschliche Arbeitskraft zu ersetzen, verdrängen sie bereits jetzt qualifizierte Arbeitnehmer von Tätigkeiten, die sie gut ausüben, ohne notwendigerweise die Effizienz und das Wohlbefinden aller zu verbessern.  Wie ein Kommentator es ausdrückte: "Ich möchte, dass KI meine Wäsche und mein Geschirr wäscht, damit ich Kunst machen und schreiben kann, und nicht, dass KI meine Kunst und mein Schreiben macht, damit ich meine Wäsche und mein Geschirr waschen kann."  Manager führen KI ein, um "Managementprobleme zu vereinfachen, auf Kosten der Dinge, von denen viele Leute denken, dass KI nicht dafür eingesetzt werden sollte, wie z. B. kreative Arbeit..... Wenn KI funktionieren soll, muss sie von unten nach oben kommen, oder KI wird für die große Mehrheit der Menschen am Arbeitsplatz nutzlos sein".

Wird die KI die großen Volkswirtschaften retten, indem sie einen großen Produktivitätssprung bewirkt?

Das hängt ganz davon ab, wo und wie KI eingesetzt wird. Eine PwC-Studie hat ergeben, dass das Produktivitätswachstum in den Teilen der Wirtschaft, in denen die KI-Durchdringung am höchsten ist, fast fünfmal so hoch ist wie in weniger exponierten Sektoren.  Barret Kupelian, Chefökonom bei PwC UK, sagte dazu: "Unsere Ergebnisse zeigen, dass KI das Potenzial hat, neue Branchen zu schaffen, den Arbeitsmarkt zu verändern und das Produktivitätswachstum potenziell zu steigern.
Was die wirtschaftlichen Auswirkungen angeht, so sehen wir erst die Spitze des Eisbergs - derzeit deuten unsere Ergebnisse darauf hin, dass sich der Einsatz von KI auf einige wenige Wirtschaftszweige konzentriert, aber sobald sich die Technologie verbessert und in anderen Wirtschaftszweigen verbreitet, könnte das künftige Potenzial transformativ sein."

Die Ökonomen der OECD sind sich nicht sicher, ob das richtig ist.  In einem Papier stellen sie das Problem: "Wie lange wird die Anwendung von KI in den Wirtschaftssektoren dauern? 
Der Einsatz von KI ist immer noch sehr gering, weniger als 5 % der Unternehmen in den USA geben an, diese Technologie zu nutzen (Census Bureau 2024). Vergleicht man dies mit dem Weg der Einführung früherer Allzwecktechnologien (z. B. Computer und Elektrizität), die bis zu 20 Jahre brauchten, um sich vollständig zu verbreiten, so hat KI noch einen langen Weg vor sich, bevor sie die hohen Einführungsraten erreicht, die notwendig sind, um makroökonomische Vorteile zu erkennen."

"Die Ergebnisse auf der Mikro- oder Branchenebene erfassen hauptsächlich die Auswirkungen auf frühe Anwender und sehr spezifische Aufgaben und deuten wahrscheinlich auf kurzfristige Effekte hin. Die langfristigen Auswirkungen der KI auf das Produktivitätswachstum auf Makroebene werden vom Umfang ihrer Nutzung und der erfolgreichen Integration in Geschäftsprozesse abhängen." 

Die OECD-Ökonomen weisen darauf hin, dass es 20 Jahre gedauert hat, bis bahnbrechende Technologien wie Elektrizität oder PCs so weit "verbreitet" waren, dass sie etwas bewirken konnten.  Für die KI würde das die 2040er Jahre bedeuten.

Darüber hinaus könnte die KI, indem sie Arbeitskräfte in produktiveren, wissensintensiven Sektoren ersetzt, "einen möglichen Rückgang der Beschäftigungsanteile dieser Sektoren (bewirken), der sich negativ auf das gesamte Produktivitätswachstum auswirken würde".

In Anlehnung an die Argumente von Acemoglu weisen die OECD-Ökonomen darauf hin, dass "die KI erhebliche Gefahren für den Wettbewerb und die Ungleichheit auf dem Markt birgt, die ihren potenziellen Nutzen entweder direkt oder indirekt schmälern könnten, indem sie präventive politische Maßnahmen zur Begrenzung ihrer Entwicklung und Einführung veranlassen".

Und dann sind da noch die Kosten für Investitionen.  Allein der Zugang zur physischen Infrastruktur, die für KI in großem Maßstab benötigt wird, kann eine Herausforderung sein. Die Art von Computersystemen, die benötigt wird, um eine KI für die Krebsforschung zu betreiben, erfordert in der Regel zwischen zwei- und dreitausend der neuesten Computerchips. Allein die Kosten für diese Computerhardware könnten sich leicht auf über 60 Mio. $ belaufen, selbst wenn man die Kosten für andere wichtige Dinge wie Datenspeicherung und Vernetzung noch nicht berücksichtigt. Eine große Bank, ein Pharmakonzern oder ein Hersteller hat vielleicht die Mittel, um die Technologie zu kaufen, die erforderlich ist, um von der neuesten KI zu profitieren, aber was ist mit einem kleineren Unternehmen?

Im Gegensatz zur herkömmlichen Auffassung und im Einklang mit der marxistischen Theorie wird die Einführung von KI-Investitionen also nicht zu einer Verbilligung des Anlagevermögens (des konstanten Kapitals im marxistischen Sinne) und damit zu einem Rückgang des Verhältnisses von Anlagekosten zu Arbeitskosten führen, sondern zum Gegenteil (d. h. zu einer steigenden organischen Zusammensetzung des Kapitals).
Und das bedeutet einen weiteren Abwärtsdruck auf die durchschnittliche Rentabilität in den großen Volkswirtschaften.

Hinzu kommen noch die Auswirkungen auf die globale Erwärmung und den Energieverbrauch:
Großsprachige Modelle wie ChatGPT gehören zu den Technologien, die am meisten Energie verbrauchen.  Untersuchungen haben ergeben, dass etwa 700.000 Liter Wasser für die Kühlung der Maschinen verwendet wurden, die ChatGPT-3 in den Datenzentren von Microsoft trainierten.
Das Training von KI-Modellen verbraucht 6.000 mal mehr Energie als eine europäische Stadt. 
Darüber hinaus werden Mineralien wie Lithium und Kobalt zwar meist mit Batterien im Automobilsektor in Verbindung gebracht, sie sind aber auch für die in Rechenzentren verwendeten Batterien von entscheidender Bedeutung.
Bei der Gewinnung wird oft viel Wasser verbraucht, was zu Umweltverschmutzung führen kann und die Wassersicherheit untergräbt.

Das Beratungsunternehmen Grid Strategies prognostiziert für die nächsten fünf Jahre einen Anstieg der Stromnachfrage in den USA um 4,7 Prozent und damit fast eine Verdopplung der Prognose aus dem Vorjahr.
Eine Studie des Electric Power Research Institute ergab, dass Rechenzentren bis 2030 9 Prozent des US-Strombedarfs ausmachen werden, mehr als das Doppelte des heutigen Niveaus.

Schon jetzt führt diese Aussicht zu einer Verlangsamung der Pläne zur Stilllegung von Kohlekraftwerken, da die Stromnachfrage durch KI stark ansteigt.

Vielleicht können diese Investitions- und Energiekosten durch neue KI-Entwicklungen gesenkt werden.  Das Schweizer Technologieunternehmen Final Spark hat die Neuroplattform ins Leben gerufen, die weltweit erste Bioprozessplattform, auf der menschliche Hirnorganoide (im Labor gezüchtete, miniaturisierte Versionen von Organen) anstelle von Siliziumchips Rechenaufgaben übernehmen. Die erste derartige Anlage beherbergt die Rechenleistung von 16 Hirnorganoiden, die nach Angaben des Unternehmens eine Million Mal weniger Strom verbrauchen als ihre Silizium-Gegenstücke. 
Diese Entwicklung ist in gewisser Weise beängstigend: menschliche Gehirne!  Aber zum Glück ist sie noch weit von der Umsetzung entfernt.  Im Gegensatz zu Siliziumchips, die Jahre, wenn nicht Jahrzehnte halten können, halten die "Organoide" nur 100 Tage, bevor sie "sterben".

Im Gegensatz zu den GS-Ökonomen sind diejenigen, die an der Spitze der KI-Entwicklung stehen, weit weniger zuversichtlich, was die Auswirkungen angeht. 
Demis Hassabis, Leiter der KI-Forschungsabteilung von Google, sagt dazu:

"Das größte Versprechen der KI ist genau das - ein Versprechen. Zwei grundlegende Probleme bleiben ungelöst. Das eine besteht darin, KI-Modelle zu entwickeln, die auf der Grundlage historischer Daten trainiert werden, jede neue Situation verstehen und angemessen darauf reagieren. "KI muss in der Lage sein, "unsere komplexe und dynamische Welt zu verstehen und darauf zu reagieren, so wie wir es tun".

Aber kann KI das leisten?  In meinem letzten Beitrag über KI habe ich argumentiert, dass KI die menschliche Intelligenz nicht wirklich ersetzen kann.  Und Yann LeCun, leitender KI-Wissenschaftler bei Meta, dem Social-Media-Riesen, zu dem Facebook und Instagram gehören, stimmt dem zu. 
Er sagte, dass LLMs "ein sehr begrenztes Verständnis von Logik haben ... die physikalische Welt nicht verstehen, kein dauerhaftes Gedächtnis haben, in keiner vernünftigen Definition des Begriffs logisch denken können und nicht planen können, hierarchisch planen".

LLMs (Large Language Models bilden die algorithmische Grundlage für Generative-AI-Tools wie ChatGP)  waren bisher Modelle, die nur lernen, wenn menschliche Ingenieure eingreifen, um sie auf diese Informationen zu trainieren, anstatt dass die KI wie Menschen organisch zu einer Schlussfolgerung kommt.
"Für die meisten Menschen erscheint es sicherlich als logisches Denken - aber in den meisten Fällen handelt es sich um die Nutzung von angesammeltem Wissen aus einer Vielzahl von Trainingsdaten." 
Aron Culotta, außerordentlicher Professor für Informatik an der Tulane University, drückt es anders aus.  "Der gesunde Menschenverstand war der KI lange Zeit ein Dorn im Auge", und es sei schwierig, Modellen Kausalität beizubringen, was sie "anfällig für unerwartete Fehler" mache.

Noam Chomsky brachte die Grenzen der KI im Vergleich zur menschlichen Intelligenz auf den Punkt:

 "Der menschliche Verstand ist nicht wie ChatGPT und Konsorten, eine schwerfällige statistische Maschine für den Musterabgleich, die Hunderte von Terabyte an Daten verschlingt und die wahrscheinlichste Gesprächsantwort oder die wahrscheinlichste Antwort auf eine wissenschaftliche Frage extrapoliert.  Im Gegenteil, der menschliche Verstand ist ein überraschend effizientes und sogar elegantes System, das mit kleinen Informationsmengen arbeitet; es versucht nicht, grobe Korrelationen zwischen Datenpunkten abzuleiten, sondern Erklärungen zu schaffen.  Wir sollten aufhören, sie künstliche Intelligenz zu nennen, und sie als das bezeichnen, was sie ist: 'Plagiatssoftware', denn sie schafft nichts, sondern kopiert bestehende Werke, von Künstlern, und verändert sie so weit, dass sie den Urheberrechtsgesetzen entgeht."

Das bringt mich zu dem, was ich das Altman-Syndrom nennen würde.  KI im Kapitalismus ist keine Innovation, die darauf abzielt, das menschliche Wissen zu erweitern und die Menschheit von der Arbeit zu befreien.  Für kapitalistische Innovatoren wie Sam Altman ist sie eine Innovation zur Erzielung von Profiten.  Sam Altman, der Gründer von OpenAI, wurde letztes Jahr von der Kontrolle über sein Unternehmen entbunden, weil andere Vorstandsmitglieder der Meinung waren, er wolle OpenAI in eine riesige, vom Großkapital unterstützte Geldmacherei verwandeln (Microsoft ist der derzeitige Geldgeber), während der Rest des Vorstands OpenAI weiterhin als ein gemeinnütziges Unternehmen ansah, das die Vorteile der KI allen zugänglich machen wollte, mit angemessenen Garantien für Datenschutz, Überwachung und Kontrolle.  Altman hatte einen "gewinnorientierten" Geschäftszweig entwickelt, der es dem Unternehmen ermöglichte, Investitionen von außen anzuziehen und seine Dienste zu vermarkten.  Altman hatte bald wieder die Kontrolle, als Microsoft und andere Investoren den Stab über den Rest des Vorstands schwangen.
 OpenAI ist nicht mehr offen.

Maschinen können nicht über potenzielle und qualitative Veränderungen nachdenken.  Neues Wissen entsteht durch solche Veränderungen (Menschen), nicht durch die Erweiterung von bestehendem Wissen (Maschinen). 
Nur menschliche Intelligenz ist sozial und kann das Potenzial für Veränderungen erkennen, insbesondere für soziale Veränderungen, die zu einem besseren Leben für Mensch und Natur führen. Anstatt KI zu entwickeln, um Profite zu machen und Arbeitsplätze und den Lebensunterhalt von Menschen abzubauen, könnte KI unter gemeinsamer Verantwortung und Planung die menschliche Arbeitszeit für alle reduzieren und Menschen von der Arbeit befreien, damit sie sich auf kreative Arbeit konzentrieren können, die nur menschliche Intelligenz leisten kann.

Künstliche Intelligenz KI : EU-Verordnung mit gewollten Lücken

Di, 04/06/2024 - 15:56

Kritiker monieren, die verabschiedete KI-Verordnung der EU lasse Konzernen und Repressionsapparaten große Schlupflöcher, erlaube ortsbezogenes „Protective Policing“ und KI-gesteuerte Echtzeitüberwachung.  

Scharfe Kritik begleitet die Verabschiedung der neuen KI-Verordnung der Europäischen Union. Das Gesetzespaket ist vergangene Woche vom Rat der EU endgültig abgesegnet worden. Vorausgegangen waren jahrelange intensive Verhandlungen, bei denen nicht zuletzt IT-Riesen wie Google oder Microsoft ihre Interessen durchzusetzen suchten.

Beobachter monierten eine der „größten Lobbyschlachten“ in der Geschichte der EU.

Entgegen der Behauptung, Brüssel habe sich vor allem um den Schutz der Bürger bemüht, sicherten die Mitgliedstaaten ihren Repressionsapparaten recht ausgedehnte Möglichkeiten zur Nutzung von KI, vor allem zu Zwecken der Strafverfolgung oder der Flüchtlingsabwehr. So darf etwa ortsbezogenes „Predictive Policing“ weiter betrieben werden, obwohl es Kritikern zufolge vor allem dazu führt, Stadtteile und Regionen, in denen finanzschwache Minderheiten leben, verschärfter Überwachung und Kontolle zu unterwerfen.
Sogar KI-gesteuerte Überwachung in Echtzeit darf bei bloßer Annahme einer Gefahrenlage genehmigt und praktiziert werden.
Kritiker urteilen, vor allem Deutschland und Frankreich hätten diverse Schlupflöcher und Leerstellen in der Regulierung durchgesetzt.

„Gelungene Balance”

Im Mai d. J.  hat die EU ein umfassendes Gesetzespaket verabschiedet, das den rasch expandierenden Technologiekomplex der Künstlichen Intelligenz (KI) regeln soll.
Deutsche Minister hatten schon im Februar die europäische KI-Verordnung nach ihrer einstimmigen Verabschiedung im Ausschuss der Ständigen Vertreter (AStV) des Rates der Europäischen Union einhellig begrüßt.[1] Der Bundesminister für Wirtschaft und Klimaschutz, Robert Habeck (Bündnis 90/Die Grünen), sprach von einer „gelungenen Balance“ zwischen der Hebung des „Potenzials der KI“ und der  Begrenzung der Risiken dieser Technologie, die durch ihre „Innovationsfreudigkeit“ dafür sorgen werde, dass sich Europa zu einem „starken KI-Standort“ entwickle. Laut Marco Buschmann (FDP), Bundesminister für Justiz, habe die KI-Verordnung den legislativen Weg für „einen sicheren Rechtsrahmen“ geebnet, der „Innovation fördert und gleichzeitig Risiken in der Anwendung angemessen adressiert“. International sei dieser Rechtsrahmen ein „Novum“, erklärte Buschmann. Die Vorordnung stelle sicher, dass die „Grundrechte und die Sicherheit der Bürgerinnen und Bürger der EU respektiert“ würden, hieß es in der Stellungnahme der Bundesregierung, die hinsichtlich der KI-Verordnung von einer „Produktregulierung“ sprach, die sich „nicht auf Forschungs- und Entwicklungsaktivitäten“ beziehe.
Die ab Frühjahr 2026 geltenden Regeln sehen etwa eine Kennzeichnungspflicht für KI-generiertes Material (Texte, Bilder, Töne, Videos) vor.[2]

„Predictive Policing“

In offenem Widerspruch zum Lob der Bundesregierung mehren sich längst kritische Stimmen, die vor den Gefahren, Ausnaheregelungen und Leerstellen in der Verordnung warnen.
Ende Mai 2024 etwa wies das Portal netzpolitik.org darauf hin, Polizeibehörden in der EU könnten mithilfe Künstlicher Intelligenz versucht sein, sogenanntes Predictive Policing zu praktizieren.[3]
Dabei werden riesige Datenmengen aus der Kriminalitätsstatistik von KI-Systemen ausgewertet, um Wahrscheinlichkeiten für künftige Gesetzesbrüche zu ermitteln. Hierdurch soll theoretisch die „präventive“ Polizeitätigkeit perfektioniert werden. In der Praxis haben solche Ansätze – etwa in den USA – vor allem zur systemischen Diskriminierung von Minderheiten in sozialen Brennpunkten geführt, da statistische Rückkopplungseffekte zu einer Fokussierung der Polizeikräfte auf solche „Hot-Spots“ führen. Die europäische KI-Verordnung solle diesen Formen diskriminierender KI-Anwendung durch die Polizei, die mit dem Aufbau von „intransparenten und womöglich ungerechten Strukturen“ einhergingen, eigentlich entgegenwirken, heißt es in dem Beitrag; in Wirklichkeit aber weise sie eine „bedrohliche Leerstelle“ auf.

Finanzschwache Minderheiten im Visier

Denn von regierungsnahen deutschen Medien verbreitete Behauptungen, wonach die KI-Verordnung die Anwendung von „Predictive Policing“ verbiete [4], seien nicht voll zutreffend, warnt netzpolitik.org.
So sei der Begriff „Predictive Policing“ in der KI-Verordnung ausgeklammert worden; stattdessen finde sich eine Passage, die faktisch personenbezogenes „Predictive Policing“ verbiete. Dabei erstellen KI-Systeme – etwa das amerikanische COMPAS-System – einen kriminalistischen „Risikoindex“ von Einzelpersonen, die dann verschärfter Überwachung oder Repression ausgesetzt sein können.
In der EU-Verordnung gänzlich ausgeklammert wird aber das ortsbezogene „Predictive Policing“, bei dem KI-Systeme Risikoanalysen von „Kriminalitätsschwerpunkten“ erstellen sollen.
Dabei werden wiederum vor allem Stadtteile und Regionen, in denen finanzschwache Minderheiten leben, zum Ziel verschärfter Überwachung und Kontrolle. Gerade in der Bundesrepublik sei die Anwendung solcher ortsgebundener KI-Systeme, die aus kriminologischen Statistiken künftige Kriminalitätswahrscheinlichkeiten ableiten sollten, „nicht einheitlich geregelt“, heißt es.
 In etlichen Bundesländern befinde sich das ortsbezogene „Predictive Policing“ bereits im „Regelbetrieb“; woanders sei es noch in der „Testphase“. KI-Software zur präventiven Polizeiarbeit werde entweder von „Privatunternehmen erworben“ oder von den Behörden eigenständig entwickelt.

„Große Schlupflöcher“

Schon im März 2024 hieß es in einem kritischen Hintergrundbericht [5], die KI-Verordnung weise „große Schlupflöcher für Behörden und Unternehmen“ auf.
Der drei Jahre andauernde Formungsprozess des Gesetzespakets sei in einer der „größten Lobbyschlachten“ in der legislativen Geschichte der EU kulminiert, in die nicht zuletzt IT-Giganten wie Google und Microsoft Millionensummen investiert hätten.

Bestimmte besonders umstrittene Praktiken konnten tatsächlich verboten werden, etwa das „Social Scoring“, bei dem KI-Systeme das Verhalten von Bürgern auswerten und auf unerwünschte Abweichungen untersuchen. Doch in vielen Fällen seien Schlupflöcher und Leerstellen geblieben, was vor allem auf die Blockadehaltung Deutschlands und Frankreichs zurückzuführen sei, heißt es – etwa bei großen Sprachmodellen wie GTP-4, die anhand großer Datenmengen flexibel für verschiedene Anwendungen „trainiert“ werden könnten.[6]
Der Grund für die deutsch-französische Blockade: In beiden Ländern arbeiten Start-ups an diesen Formen der KI, um den Rückstand zu der US-Konkurrenz aufzuholen.

Biometrische Überwachung in Echtzeit

Hinzu kommen lockere Regelungen zur automatisierten Entscheidungsfindung mittels Künstlicher Intelligenz (etwa bei Behörden) sowie zum Einsatz von KI-Systemen zwecks Kontrolle und Überwachung. Die EU-Verordnung bringe „kein Verbot, nicht einmal besonders strenge Regeln für den Einsatz biometrischer Überwachung“, heißt es bei netzpolitik.org; von den „einst starken Forderungen des Parlaments“ zum Schutz vor Überwachung sei kaum etwas übriggeblieben. Die EU-Staaten dürften künftig also Menschen „aus vielen Gründen“ anhand ihrer körperlichen Merkmale mittels KI identifizieren und überwachen. Hierzu können die bereits überall installierten Überwachungskameras benutzt werden – selbst in Echtzeit. Zur Begründung genügen die bloße Annahme einer Gefahrenlage („Terrorismus“, „Menschenhandel“) und eine entsprechende richterliche Anordnung.[7] Die wenigen Einschränkungen bei KI-gestützter Gesichtserkennung gelten nicht für Grenzkontrollen; Flüchtlinge profitieren also von der KI-Verordnung nicht. Auch umstrittene Technologien wie die automatisierte Emotionserkennung und Lügendetektoren können in der EU künftig zur Anwendung gelangen – etwa an Grenzübergängen. Bei „Strafverfolgung, Migration, Grenzkontrolle und Asyl“ gelten nicht einmal die Transparenzverpflichtungen zum Einsatz von KI-Systemen.

„Innovationsfreundlich nachsteuern“

Trotz der zahlreichen Ausnahmen zeigten sich deutsche Branchenverbände skeptisch. Der Digitalverband Bitkom etwa monierte Mitte März, die KI-Verordnung lasse „viele Fragen offen“; Deutschland benötige eine „innovationsfreundliche Umsetzung“.[8] Die Bundesregierung dürfe das „nationale Regulierungskorsett“ nicht „so eng schnüren, dass den Unternehmen der Freiraum für Innovationen“ fehle. Vor allem gelte es für Berlin, nach der nationalen Implementierung der KI-Verordnung sich rasch „pro-aktiv in die Gestaltung des EU AI Board“ einzubringen, das weitere einheitliche europaweite KI-Regeln gestalten soll. Hierdurch solle verhindert werden, dass in Europa ein „Flickenteppich an nationalstaatlichen Einzelregelungen“ entstehe. Bundesdigitalminister Volker Wissing (FDP) versprach, die Bundesregierung werde in dieser Hinsicht aktiv bleiben.[9]
Man könne nicht erwarten, dass eine sich dermaßen rasch entwickelnde Technologie eine abschließende Regulierung gefunden habe. Berlin werde „den Mut haben, kontinuierlich nachzusteuern“, erklärte Wissing, wobei man die Innovationsfreundlichkeit der Regeln immer im Blick haben werde. In der Tat ist etwa die Ausklammerung von Allzweck-KI wie ChatGTP aus den strengeren EU-Regelungen für Hochrisiko-KI-Anwendungen insbesondere auf Betreiben Berlins erfolgt.

 

[1] Rahmen für Künstliche Intelligenz in der EU steht: KI-Verordnung einstimmig gebilligt. bmwk.de 02.02.2024.

[2] KI-Gesetz ist endgültig beschlossen. tagesschau.de 21.05.2024.

[3] Gefährliche Lücke in der KI-Verordnung. netzpolitik.org 27.05.2024.

[4] European Parliament gives final approval to landmark AI law. dw.com 13.03.2024.

[5] EU-Parlament macht Weg frei für KI-Verordnung. netzpolitik.org 13.03.2024.

[6] Deutschland will Basis-Modelle wie ChatGPT nicht regulieren. netzpolitik.org 21.11.2023.

[7] KI-Gesetz ist endgültig beschlossen. tagesschau.de 21.05.2024.

[8] Beim AI Act sind noch viele Fragen offen. bitkom-consult.de 13.03.2024.

[9] KI-Gesetz ist endgültig beschlossen. tagesschau.de 21.05.2024.

 

Big Data im Betrieb – Daten als Rohstoff des 21. Jahrhundert

Di, 04/06/2024 - 06:46

Daten werden als Rohstoff des 21. Jahrhunderts bezeichnet. Jede Produktionshalle kann als „Drehscheibe“ gesehen werden: Lieferungen kommen an, wandern durch die Stationen, werden bearbeitet, Produkte verlassen das Unternehmen. Diese Abläufe sind heute in der Regel miteinander vernetzt, die Drehscheiben-Funktion zeigt sich auch in der Digitalisierung.
Jeder Prozess in der analogen Halle erzeugt mittlerweile digitale Daten.
Vernetzte Produktion erleichtert die Überwachung der Belegschaft.
 

 

Daten werden als Rohstoff des 21. Jahrhunderts bezeichnet. Jede Produktionshalle kann als „Drehscheibe“ gesehen werden: Lieferungen kommen an, wandern durch die Stationen, werden bearbeitet, Produkte verlassen das Unternehmen.
Diese Abläufe sind heute in der Regel miteinander vernetzt, die Drehscheiben-Funktion zeigt sich auch in der Digitalisierung: Jeder Prozess in der analogen Halle erzeugt mittlerweile digitale Daten.
Jeder Produktionsschritt kann als Datensatz gesehen werden.  

In den ersten Überlegungen zum „Industrie 4.0“-Konzept spielte der „gemeinsame Datenraum“ eine große Rolle. Daten zu Prozessen, die sich in vielen Betrieben wiederholen, sollten gemeinsam dokumentiert und allen beteiligten Firmen zur Verfügung gestellt werden. Dabei können sich wichtige Daten ergeben aus Logistikprozessen, dem autonomen Stapler oder den Abläufen in der Produktion. Die Sorge von Managern, hier Betriebsgeheimnisse bekannt zu geben, ist groß, so dass der Betriebsegoismus zum Start erster 4.0-Ideen übergreifende Projekte verhinderte.

Das Data-Sharing bleibt aber ein wichtiges Thema. „Manufacturing-X“ ist eine aktuelle Initiative für einen übergreifenden Datenraum. „Mit Manufacturing-X haben Wirtschaft, Politik und Wissenschaft eine gemeinsame Initiative gestartet. Unternehmen sollen Daten über die gesamte Fertigungs- und Lieferkette souverän und gemeinsam nutzen können“, meldet die Bundesregierung, die diese Initiative finanziell fördert. Versprochen wird der „Aufbau eines kollaborativen und dezentralen Datenökosystems“ www.bmwk.de/Redaktion/DE/Dossier/manufacturing-x.html

Der Anspruch ist hoch: „Anders als die analoge Halle befindet sich dieser nicht an einem Ort, sondern ist überall verfügbar, wo es Internet gibt. So können viele Unternehmen – vom KMU bis zum Konzern – in einem offenen und dezentralen Datenraum sicher und“ vertrauensvoll“ Daten entlang von Wertschöpfungsketten austauschen, ohne die Kontrolle aus der Hand zu geben (
https://digitalstrategie-deutschland.de/manufacturing-x

Daten sind die „Treiber des digitalen Zeitalters. Daten durchdringen das ganze Unternehmen“, erklärt Dr. Jacob Gorenflos Lopez, Referent Industrie 4.0 & Technische Regulierung bei Bitkom e.V.
Um die Chancen eines „digitalen Geschäftsmodells zu nutzen, muss ein Betrieb in der Lage sein, Daten mit Partnern zu teilen – und zwar ohne die Kontrolle und die Schnittstelle über die eigenen, sensiblen und gewinnbringenden Daten zu verlieren“, fordert Bitkom, der Branchenverband der deutschen Informations- und Telekommunikationsbranche.
www.bitkom.org/Bitkom/Publikationen/Manufacturing-X-selbstbestimmtes-Datenoekosystem-Industrie-40


Gemeinsamer Datenraum scheitert am Betriebsegoismus
 

Das gestaltet sich in der Praxis nicht so einfach, denn Skepsis überwiegt. Nur ein Drittel der Industrie ist bisher offen dafür, bei Manufacturing X mitzuwirken. Dies zeigt eine Befragung von Bitkom anlässlich der Hannover-Messe in diesem Jahr. www.produktion.de/technik/digitalisierung/manufacturing-x-industrie-ist-offen-aber-zurueckhaltend-568.html

„Eine intelligente Vernetzung kann nicht nur dazu führen, dass die Produktivität deutlich steigt. Lieferungen können schneller erfolgen, Engpässe durch zeitnahen Datenaustausch vermieden werden“, beschreibt Sylvia Meier, Unternehmensberaterin, die Chancen recht positiv bei Lieferkettenmanagement.

www.haufe.de/controlling/controllerpraxis/mit-manufacturing-x-kann-controlling-neue-potenziale-nutzen_112_621906.html

 Industrieunternehmen arbeiten mit Lieferanten, Logistikunternehmen und zahlreichen weiteren Partnern zusammen.
Bitkom-Hauptgeschäftsführer Dr. Bernhard Rohleder sieht zunächst Vorteile durch Manufacturing-X:
„Bislang können Daten in einzelnen Unternehmen Abläufe transparent machen und zu einer effizienteren und nachhaltigeren Steuerung genutzt werden. Noch mehr kann aber gewonnen werden, wenn ein Datenaustausch zwischen Unternehmen ermöglicht wird und so Prozesse entlang der gesamten Wertschöpfungskette detailliert aufeinander abgestimmt werden“.

People Analytics als Kontrollinstrument in Produktion und Verwaltung

Betriebsintern wird mit Daten offensiv umgegangen. Fallen Daten in Arbeitsprozessen an vernetzten Maschinen oder in der Verwaltung im Online-Kontakt mit Kunden an, werden sie dokumentiert.   

People Analytics lautet der neue Trend: „In einer zentralen Datenbank werden Informationen zur Demografie, zu Fachkenntnissen, zu Soft Skills, zur Gehaltsstruktur, zur Zufriedenheit, zu Weiterbildungsmaßnahmen und auch zu historischen Entwicklungspfaden eines jeden einzelnen Mitarbeitenden festgehalten“, schildert Marie Kanellopulos, Geschäftsführerin der Personalberatung „Done! Berlin“.
Diese könnten bei Stellenbesetzungen genutzt werden, Personalabteilungen können über Data Analytics geeignete Kandidaten im eigenen Haus finden, die „heute schon in der Lage sind, ad hoc Führungspositionen zu übernehmen“
www.springerprofessional.de/talentmanagement/unternehmensfuehrung/die-nachfolgeplanung-muss-agiler-werden/26665528.
m dieses interne Recruiting weiter auszubauen, werden Instrumente wie People Analytics benötigt, so die Beraterin.

People Analytics kann aber weitgehende Auswirkungen auf die Beschäftigten haben. Das zeigt die Untersuchung eines Forscherteams des „Alexander von Humboldt Instituts für Internet und Gesellschaft“ in Berlin, der Hochschule für Technik und Wirtschaft in Berlin und des FZI Forschungszentrums Informatik in Karlsruhe. www.boeckler.de/de/boeckler-impuls-glaserne-beschaftigte-58542.htm

Wurden bisher in erster Linie Arbeiter in der Produktion regelmäßig kontrolliert, werden die Möglichkeiten auf typische Angestelltentätigkeiten ausgeweitet. Der Geschäftsprozess beginnt mit der Kundenanfrage und reicht bis zur Feststellung der Kundenzufriedenheit. Gemessen werden etwa die Bearbeitungsdauer, Gesprächsdauer, Wartezeiten oder Antwortzeiten. Auf dieser Basis werden die Prozesse ständig gemessen, standardisiert und die Beschäftigten durch Zeitvorgaben kontrolliert. Per Software soll der Arbeitsanfall und das Kundenverhalten prognostiziert und stundentaktgenaue Vorgaben des Arbeitsvolumens ermittelt werden, um Personalkapazitäten und die Verteilung der Arbeitszeiten bis hin zur Lage der Pausen vorschreiben zu können.

Die Folgen sind offensichtlich: Quantifizierung und Leistungsmessung im Betrieb führe zu Konkurrenzdenken und weniger kollegialem Verhalten in der Belegschaft, so das Forscherteam.


Vernetzte Produktion erleichtert die Überwachung der Belegschaft

Dabei ist klar: Wenn die Produktion der Industrie als großes Netzwerk organisiert wird, wirkt das direkt auf die Beschäftigten. Die Vernetzung der IT-Systeme ermöglicht den Unternehmen eine dauernde Überwachung des Verhaltens der Beschäftigten. Die Folge kann eine automatisierte Arbeitsverteilung sein.
 In Bereichen mit Kundenkontakt haben die Arbeitenden oft keinen Einfluss mehr auf die Entscheidung, welche Arbeitsvorgänge sie übernehmen. Stattdessen wird die eingehende Arbeit automatisiert durch Workflowsysteme in persönliche Arbeitskörbe verteilt und gesteuert.  

Die Geschäftsprozessoptimierung gefährdet wiederum Arbeitsplätze.
Der Geschäftsprozess beginnt mit der Kundenanfrage und reicht bis zur Feststellung der Kundenzufriedenheit. Gemessen werden etwa die Bearbeitungsdauer, Gesprächsdauer, Wartezeiten, Antwortzeiten, Prozessdurchlaufzeiten oder Service Level.
Auf dieser Basis werden die Prozesse ständig gemessen, standardisiert und durch Zeitvorgaben kontrolliert.

Eine permanente Kontrolle setzt die Beschäftigten unter Druck. Die psychischen Belastungen steigen, die Krankenzahlen nehmen zu, wie aktuelle Zahlen der Krankenkassen zeigen.
 „Erneuter Höchststand bei psychisch bedingten Fehltagen im Job“, meldet die DAK im „Psychreport 2024“.
 Im Zehnjahresvergleich zeigen die Auswertungen einen Anstieg der Krankheitstage wegen psychischer Erkrankungen um 52 Prozent.
 Aufgeteilt nach Diagnosen verursachten Depressionen und Reaktionen auf schwere Belastungen sowie Anpassungsstörungen die meisten Ausfalltage, beschreibt die Krankenkasse die Folgen der Arbeitsbedingungen.  www.dak.de/dak/unternehmen/reporte-forschung/psychreport-2024_57364

 

 

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