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Friedenspolitik für die Welt des 21. Jahrhunderts.

ISW München - Mon, 23/09/2024 - 17:58


Das internationale System befindet sich in einem Umbruch von historischer Tragweite. Die Dominanz der USA geht zu Ende.
Eine neue Hegemonialmacht wird es auf absehbare Zeit nicht geben.
Es entsteht eine multipolare Weltordnung. Keine der heute lebenden Generationen kennt ein solches System aus eigener Erfahrung.
Ein Diskussionspapier der Initiative Nie wieder Krieg!

 

Das internationale System befindet sich in einem Umbruch von historischer Tragweite. Die Dominanz der USA geht zu Ende. Eine neue Hegemonialmacht wird es auf absehbare Zeit nicht geben. Es entsteht eine multipolare Weltordnung. Keine der heute lebenden Generationen kennt ein solches System aus eigener Erfahrung.

Der Umbruch wirft neue Fragen zu Krieg und Frieden auf. So zur Positionierung der Friedensbewegung in der Rivalität der Großmächte, zu Stabilitätsrisiken eines multipolaren Systems, zum Verhältnis von inter- nen Verhältnissen eines Landes und internationalem System sowie zum Zusammenhang von Krieg und Frieden mit den globalen Problemen von Klimawandel, Armut, technologischen Umwälzungen wie Digi- talisierung und künstliche Intelligenz. Wir haben es mit einer enorm gesteigerten Komplexität zu tun.

Aufgabe von Friedenspolitik auf der Höhe der Zeit ist es, Antworten auf die neuen Entwicklungen der Weltordnung zu finden und sie strategisch zu verarbeiten.

Der vorliegende Text will zur Diskussion über die Veränderungen der machtpolitischen Struktur und Dy- namik des internationalen Systems und die Konsequenzen daraus für Friedenspolitik anregen.1 Dabei haben wir nicht den Anspruch, die Thematik in all ihren Dimensionen behandelt zu haben. Kommentare, Kritik und Widerspruch sind willkommen. Wichtig ist, dass die Diskussion in Gang kommt.

 1.   Die Umbrüche im internationalen System verstehen

Die zentrale Determinante für Struktur und Dynamik des internationalen Systems ist auf absehbare Zu- kunft seine Transformation zu einem polyzentrischen System. Die Transformation ist unaufhaltsam. Die geopolitische Dominanz der USA und ihrer Verbündeten endet. Sie führt zur „Entwestlichung“ der inter- nationalen Machtverhältnisse. Das ist die eigentliche Zeitenwende. Es entsteht eine Pluralität von geo- politischen Machtzentren, die jedoch unterschiedliches Gewicht haben.

1.1.  Die USA bleiben Supermacht

Die USA bleiben dabei durchaus Supermacht. Sie haben bei allen wesentlichen Machtressourcen – Mili- tär, ökonomisches Potential, Technologie, politischer Einfluss und So: Power – nach wie vor eine Spit- zenstellung. Mit ihren Militärallianzen und über 800 ausländischen Militärstützpunkten, mit ihren Kon- zernen, dem Dollar als internationaler Währung, ihren Geheimdiensten, Medien, ihrer Kulturindustrie verfügen sie über eine einzigartige Präsenz auf der ganzen Welt. Ein machtpolitisch besonders wichtiges Instrument ist dabei die NATO. Sie wurde von den USA gegründet und steht unter ihrer Führung. Gegen den Willen Washingtons kann in der NATO keine wichtige Frage entschieden werden. Auch im Indo- Pazifik formiert Washington derzeit ein gegen China gerichtetes System von Militärbündnissen.

Die Verfügung über die ganze Bandbreite von Machtressourcen gibt Washington eine Vielfalt von Hand- lungsoptionen wie sonst keinem anderen Land, und konstituiert in allen Außenbeziehungen - zu Freund wie zu Feind - eine Asymmetrie. Das heißt auch, dass die USA ihre Interessen mehr als jeder andere durch Machtressourcen unterhalb der militärischen Schwelle durchsetzen können, u.a. durch Technolo- gie- und Wirtscha:ssanktionen und viele Formen politischen Drucks. Dabei können auch Wirtscha:s- sanktionen durchaus verheerende und tödliche Wirkungen haben. So starb z.B. nach UN-Angaben in- folge des Embargos gegen den Irak 1990-2003 mindestens eine halbe Million Menschen.2 Entwicklungs- länder sind besonders verletzlich. Neben ihren Lieblingsfeinden China, Russland, Iran, Kuba, Nicaragua, Nord-Korea, Venezuela stehen auch ca. 15 Low-Income-Countries auf Washingtons Sanktionsliste.3 Die Arroganz der Macht wird ganz besonders deutlich, wenn die Sanktionen extraterritorial, d.h. gegen Dritte verhängt werden, wenn diese sich Washington nicht unterwerfen wollen. Selbst die Bundesregie- rung hält dies für völkerrechtswidrig – zumindest tat sie das bis zur Sprengung von Nord-Stream II.

Die außerordentliche Machhülle prägt auch die US-Eliten mental. So wie es zum Wesen von Hegemonie gehört, dass jene, die ihrem Einfluss erliegen, sie als das Normale und quasi Naturgegebene wahrneh- men, so ist der globale Führungsanspruch für die politische Klasse in Washington eine Selbstverständ- lichkeit. Jede Infragestellung wird als Bedrohung aufgenommen. So meint z.B. Ex-Präsident Obama:

Amerika muss auf der Weltbühne immer führen“, … „ich glaube mit jeder Faser meines Wesens an die amerikanische Sonderstellung“ [exceptionalism].4

Die Verfügung über Machtressourcen konstituiert die Krä:everhältnisse im internationalen System und erklärt – zwar nicht ausschließlich, aber zum großen Teil – die Außenpolitik eines Landes.

1.2.  Supermacht China und die neue Rolle des Globalen Südens

Im Zentrum der Umbrüche steht der rasante Aufstieg von Ländern des Globalen Südens, vorneweg Chi- nas. Dessen atemberaubende Entwicklung vom Entwicklungsland zur Supermacht innerhalb zweier Ge- nerationen ist materiell, politisch wie psychologisch eine Provokation westlichen Überlegenheitsden- kens im Allgemeinen und des Dominanzanspruchs der USA im Besonderen.

Von den Machtressourcen her ist China den USA dicht auf den Fersen. Gemessen in Kauora:paritäten5 hat die chinesische Volkswirtscha: die USA sogar bereits überholt,6 auch wenn es beim Wohlstandsin- dikator ‚Pro-Kopf-Einkommen‘ erst das Niveau von Ländern wie Serbien oder Bulgarien erreicht hat. Mi- litärisch und technologisch ist China inzwischen eine Supermacht, und verfügt mit seinen beispiellosen Entwicklungserfolgen insbesondere im Globalen Süden über beträchtliche So:-Power.

Indien, inzwischen das bevölkerungsreichste Land der Welt, verfügt nach Kauora:parität schon jetzt über die drittgrößte Volkswirtscha:. Auch formuliert die indische Führung offen den Anspruch auf Groß- machtstatus. Allerdings ist die Differenz zwischen Anspruch und Wirklichkeit noch groß, und es dür:e einige Zeit dauern, bis das Land in die erste Reihe der Weltmächte aufrückt.

China und Indien stehen für die neue weltpolitische Bedeutung des Globalen Südens, wo auch Länder wie Indonesien, Brasilien, Südafrika, Saudi-Arabien oder das NATO-Mitglied Türkei eine geopolitisch ei- genständigere Rolle zu spielen versuchen. Weitaus mehr als die Bewegung der Blockfreien während des Kalten Kriegs 1.0. ist der Globale Süden heute zu einem machtpolitischen Faktor geworden. Das Schei- tern des Westens, ihn im Ukrainekrieg auf seine Seite zu ziehen, ist dafür ein Indikator von vielen. Pro- jekte wie die BRICS oder die Shanghai Cooperation Organization (SCO) wollen „eine demokratischere und gerechte multipolare Welt auf der Grundlage des Völkerrechts, der Gleichheit, des gegenseitigen Respekts, der Zusammenarbeit, des gemeinsamen Handelns und kollektiver Entscheidungen aller Staa- ten“.7 Demnach geht es also nicht darum, den einen Hegemon durch einen anderen zu ersetzen, sondern das Prinzip der Hegemonie selbst in Frage zu stellen.

D.h. die Selbstorganisation des Südens richtet sich objektiv in erster Linie gegen die Vorherrscha: der USA und deren Gefolge. Das ist das eigentlich Verbindende. Ansonsten ist der Globale Süden keine ho- mogene Interessengruppe. In einigen Fällen gab es sogar bewaffnete Konflikte untereinander, so zwi- schen China und Indien, zwischen Pakistan und Indien, oder Armenien und Aserbaidschan.

1.3.  Der Wiederaufstieg Russlands zur Großmacht

Russland war nach der Niederlage im Kalten Krieg 1.0. auch als Weltmacht am Ende. Die Versuche, sich nach 1991 dem Westen anzunähern - auch noch zu Beginn der Ära Putin - ohne sich zugleich der US- Hegemonie unterzuordnen, sind gescheitert. Die entscheidende Rolle spielte dabei, dass die USA von Anfang an die Entstehung einer engeren Bindung zwischen EU bzw. wichtigen Mitgliedsländern und Russland blockiert haben. Das wichtigste Instrument war dabei die NATO-Osterweiterung. Sie war zwar ein Bruch mit dem Prinzip der ungeteilten, gemeinsamen Sicherheit, entspricht aber einem Essential der außenpolitischen Doktrin Washingtons: „die Entstehung eines Hegemons in Eurasien“ unbedingt zu ver- hindern.8

In den 2000er Jahren begann nicht nur eine Konsolidierung im Inneren, sondern mit der Modernisierung der russischen Nuklearstreitkräfte auch der Wiederaufstieg als Großmacht. Auf dem Sektor der strategi- schen Atomwaffen hat das Land Supermachtstatus. D.h. es besteht ein strategisches Gleichgewicht (des Schreckens) mit den USA. Selbst bei einem nuklearen Erstangriff der USA, würde Moskau mit seiner Zweitschlagskapazität die USA noch in Schutt und Asche legen können.

Das ist für die US-Eliten nur schwer zu ertragen. Es gibt daher immer wieder Diskussionen, über einen Enthauptungsschlag, mit dem die russische Zweitschlagsfähigkeit ausgeschaltet werden könnte. Die Ost- erweiterung der NATO und insbesondere die potentielle Aufnahme der Ukraine wird von Moskau als Möglichkeit dazu wahrgenommen. Als Bedrohungsszenario ist dies Bestandteil der russischen Mili- tärdoktrin. Bereits ohne Krieg wäre die Enthauptungsfähigkeit ein gewaltiges Druckmittel, um Wohlver- halten zu erzwingen. Das meinte Putin in seiner Rede zur Rechtfertigung des Einmarschs in die Ukraine:

Tomahawk-Marschflugkörper bräuchten weniger als 35 Minuten, um Moskau zu erreichen, 7 bis 8 Mi- nuten für ballistische Raketen aus der Region Charkow und 4 bis 5 Minuten für Hyperschallraketen. Das nennt man, das Messer an der Kehle zu haben.“9

Bei allen anderen Machtressourcen, angefangen beim konventionellen Militär, ist Russland den USA weit unterlegen. Allerdings sollte daraus nicht die Unterschätzung folgen, wie sie in dem Spruch Helmut Schmidts vom „Burkina Faso mit Atomraketen“ zum Ausdruck kommt. In Kaufkraftparitäten liegt der russische Kapitalismus im globalen Ranking des IWF auf Platz sechs hinter Japan und Deutschland, und klar vor Großbritannien (Rang 9) und Frankreich (Rang 10). Es ist bezeichnend, dass in den großen Me- dien das Ranking nach KKP selten vorkommt. Aber selbst nach Wechselkursparität belegt Russland immerhin noch Platz 11 (2023) – Tendenz steigend. Auch die Fehleinschätzungen bei der Wirkung von Sanktionen ist typisches Beispiel für die notorische Unterschätzung Russlands. Die vollmundige Ankün- digung der deutschen Außenministerin, das Land zu ruinieren, erwiesen sich als dünkelha:e Illusion.

Inzwischen ist es zu einer weitgehenden wirtschaftlichen Abkopplung vom Westen gekommen. Moskau hat die Abwendung vom Westen zum strategischen Ziel seiner außenpolitischen Orientierung ge- macht.10 Sie begann schon vor dem Ukrainekrieg und hat sich seit 2022 enorm beschleunigt.

Mit China ist eine strategische Allianz auf der Grundlage komplementärer Interessen entstanden. Russ- land profitiert von der überlegenen Wirtschaftskraft und dem technologischen Know-how Chinas. Pe- king ist umgekehrt in der Konfrontation mit den USA daran interessiert, an der 4.000 km langen gemein- samen Grenze einen strategischen Partner, innenpolitisch stabilen Nachbarn und Lieferanten wichtiger Rohstoffe zu haben.

1.4.  Die EU in der neuen Weltordnung

Im Jahr 1900 stellte Europa fast ein Viertel der Weltbevölkerung. Gegenwärtig sind es für die EU noch 5,5%, die bis 2050 auf 4,5% sinken werden. Schon jetzt hat sich der Schwerpunkt der Weltwirtschaft vom transatlantischen Raum nach Ostasien verlagert. Für 2050 wird ein Schrumpfen des EU-Anteils am globalen BIP von derzeit 14% auf 9% prognostiziert.11 1980 waren es noch über 20%.

In einer multipolaren Weltordnung möchte die EU eigenständiger Pol sein, auf Augenhöhe mit den USA und China. Dazu sollen alle Politikfelder in den Dienst der geopolitischen Ambitionen gestellt werden: Klima, Energie- und Rohstoffe, Wirtschaft, Technologie, Medien etc.  In Worten des Strategischen Kompasses heißt es, „die volle Bandbreite der EU-Politik und ihre Hebel als Machtinstrumente zu nut- zen.“12 Auch die Erweiterungspolitik wird zum geopolitischen Machterwerb genutzt.

Bei der EU ist jedoch der Unterschied zwischen Wollen und Können besonders groß. Sie ist kein Staat, sondern ein Hybrid aus Staatenallianz und supranationalen Elementen von Staatlichkeit. Mit dieser kom- plizierten Konstruktion verfügt sie über deutlich weniger Handlungsfähigkeit als ein klassischer Staat. Akut setzen Wachstumsschwäche und Verluste bei Wettbewerbsfähigkeit und Spitzentechnologien die EU enorm unter Druck, während die internen Widersprüche und zentrifugalen Tendenzen zunehmen, wie u.a. die Wahlen zum EU-Parlament 2024 zeigten.

Hinzu kommt, dass die NATO einer geopolitischen Eigenständigkeit der EU enge Grenzen setzt. Das führt in den Essentials internationaler Politik zur Unterordnung unter die USA.

Von einigen Mitgliedsländern, vor allem im Osten, ist das so gewollt. Sie vertrauen den USA mehr als den EU-Führungsmächten Frankreich und Deutschland. Selbst mit Trump würde sich an der Unterord- nung unter die USA nichts grundsätzlich ändern. Er will vor allem NATO-Europa stärker an den Kosten für die Sicherung der US-Hegemonie beteiligen und die Lasten des Ukrainekriegs abwälzen. Solange die NATO existiert, dürfte der Wunsch der EU nach autonomem Weltmachtstatus unerfüllt bleiben.

Vor diesem Hintergrund ist die Kontroverse um ‚strategische Autonomie‘ und ‚Transatlantismus‘ Aus- druck von Abstiegsängsten: „Die nächsten Jahrzehnte werden diesen Kontinent grundlegend herausfor- dern, … ich fürchte wir werden außenpolitisch ein Zwerg bleiben, wenn wir nicht aus der Einstimmigkeit herauskommen“,13 so Manfred Weber, Fraktionschef der Konservativen EVP im EU-Parlament (EP). Nach 500 Jahren Kolonialismus, Imperialismus und Neokolonialismus Europas ist das eine schwere Kränkung für das Selbstwertgefühl der Funktionseliten und ihr Überlegenheitsdenken. So heißt es schon 2016 in einer Resolution des EU-Parlaments „dass die EU ihre Sicherheits- und Verteidigungsfähigkeiten stärken muss, da sie ihr volles Potenzial als Weltmacht nur nutzen kann, wenn sie ihre einzigartige ‚SoG Power‘ im Rahmen eines umfassenden EU-Ansatzes mit ‚Hard Power‘ kombiniert“.14

In solchen Formulierungen schimmert Panik vor dem Abstieg durch. Sie ist ein starker Treiber für die Militarisierung und den Bellizismus. Symptomatisch dafür ist die Resolution des neuen Europaparla- ments zur Ukraine vom Juli 2024, die vom Geist militaristischer Durchhalteparolen durchtränkt ist, wäh- rend das völkerrechtliche Gebot zu Diplomatie und Verhandlungen nicht vorkommen. 15 Dazu passt auch die Nominierung von Kaja Kallas, einer fanatischen Russenhasserin, als Außenbeauftragte.

1.5.  Die deutsche „Zeitenwende“

Abstiegsängste treiben auch die deutschen Funktionseliten um. So erklärte Bundespräsident Steinmeier „Selbstbehauptung“ zur Aufgabe unserer Zeit, denn es kämen „raue, härtere Jahre“.16

In der Tat ist Deutschland von Niedergangstendenzen auf verschiedenen Gebieten erfasst. Die Wirtschaft steht vor einschneidenden Strukturanpassungen, von denen nicht sicher ist, ob sie gelingen. Die Dekar- bonisierung, an sich sinnvoll und notwendig, aber ohne kohärentes Konzept, die Abkopplung von russi- schem Erdgas und damit von einem jahrzehntelangen Wettbewerbsvorteil, die Wettbewerbsstärke Chi- nas, Hinterherhinken bei Digitalisierung, Verfallserscheinungen bei der Infrastruktur, Inflation und sin- kende Reallöhne – all das bedroht die Zukunft des deutschen Wirtschaftss- und Sozialsystems.

Ökonomische Stärke war aber bisher das Fundament für Deutschlands Rolle in der EU und für eine ge- wisse Weltgeltung. Da dieses Fundament zu bröckeln beginnt, soll jetzt die Machtressource Militär her- angezogen werden, um dem geopolitischen Bedeutungsverlust zu entkommen.

Dabei geht es nicht nur um die militärische Hardware. Auch mental wird mit der Entmottung des alten Feindbildes von der Gefahr aus dem Osten und mit unverhohlener Geschichtsklitterung aufgerüstet. Die öffentlich-rechtlichen und andere große Medien sind dabei zu staatstragenden Echokammern des neuen Bellizismus geworden.

Zugleich wird damit implizit anerkannt, dass die EU als militärischer Faktor nur unzulänglich in Frage kommt. Deshalb setzt man jetzt parallel dazu auf die nationalstaatliche Karte. Das hat zudem den Vorteil, in der Rivalität um die Führung in der EU gegenüber Frankreich an Gewicht zu gewinnen.

Allerdings verfügt Paris mit der Atombombe und dem ständigen Sitz im UN-Sicherheitsrat über einen Trumpf, der für Berlin unerreichbar ist. Das versucht Macron zu nutzen, indem er die Force de frappe als Ersatz für die atomare Präsenz der USA offeriert. Das würde ein Stück strategischer Autonomie bieten, aber zugleich französische Hegemonie in der EU begründen. Das wollen weder Berlin noch die Mitglieds- staaten im Osten. Sie ziehen die transatlantische Option vor.

Damit verschiebt sich das machtpolitische Gravitationszentrum der EU von Westeuropa nach Osten. Polen und das Baltikum verstehen sich als Frontstaaten und leiten daraus den Anspruch auf mehr Ein- fluss ab. Die Position Deutschlands in der EU ist dank seiner geografischen Mittellage, seiner starken wirtschaftlichen Präsenz in den östlichen Mitgliedsländern und seiner „Zeitenwende“ gestärkt worden, während die deutsch-französische Achse an Bedeutung verliert. Prompt wird in Berlin offen ein Füh- rungsanspruch erhoben, so u.a. vom Ko-Vorsitzenden der SPD, Klingbeil: „Deutschland muss den An- spruch einer Führungsmacht haben. Nach knapp 80 Jahren der Zurückhaltung hat Deutschland heute eine neue Rolle im internationalen Koordinatensystem.“17 Dieser Führungsanspruch bezieht sich aller- dings nur auf die EU und stellt die Unterordnung unter die Hegemonie der USA nicht in Frage.

Das wird auch nach dem Ukrainekrieg so bleiben. Wie immer er ausgeht, die Konfrontation mit Russland wird für lange Zeit bleiben und einen neuen „Eisernen Vorhang“ durch den Kontinent ziehen.

Innenpolitisch heißt „Zeitenwende“, dass die unteren Klassen die Kosten tragen müssen. Schon jetzt kommt es zur Umverteilung vom Sozialen zum Militär, während die Profite der Rüstungsindustrie immer neue Höhen erreichen.

Und – wie immer in solchen Fällen – gehört auch die Demokratie zu den Verlierern. Gesinnungstreuer Konformismus wird eingefordert. Was früher der vaterlandslose Geselle oder Verräter war, ist heute der Putinversteher und Lumpenpazifist, während Heldenkitsch, Kriegsfähigkeit und der Kult des Kämpfers wieder hoffähig werden. Nach dem Vorbild der Unterstützung für Israel wird inzwischen auch das Be- kenntnis zu NATO und Aufrüstung de facto zur „Staatsraison“ erhoben. Wer dabei nicht mitmacht, ris- kiert aus dem zulässigen Diskurs ausgegrenzt zu werden.

2.   Der zentrale Konflikt auf dem Weg zur multipolaren Weltordnung

Eine multipolare Weltordnung ist ein Schritt zur Pluralisierung der internationalen Beziehungen und zu realem Multilateralismus. Sie erweitert für aufsteigende Länder die Teilhabe an Entscheidungen über die Entwicklung des internationalen Systems. Zugleich erhöht sich die Handlungsmacht mittlerer und kleinerer Länder. Es entstehen Spielräume, wenn gleichzeitige oder wechselnde Kooperationen mit ver- schiedenen Großmächten möglich werden. ‚Multivektorielle Außenpolitik‘ ist das Stichwort dafür.

Auf dem Papier existiert das zwar alles bereits in der UN-Charta, u.a. im Prinzip der souveränen Gleich- heit aller Staaten sowie dem Verbot der Einmischung in innere Angelegenheiten. Die machtpolitische Funktionsweise des internationalen Systems hat dies in der Praxis immer wieder ignoriert.

Der Umbruch birgt freilich auch beträchtliche Risiken. Historisch haben Änderungen der Hegemonial- ordnung oft zu Krieg geführt. Eine Harvard-Studie hat 16 solcher Fälle in der Weltgeschichte untersucht. In zwölf davon kam es zum Krieg, darunter die beiden Weltkriege.18

Aber auch ohne Krieg kann Multipolarität leicht zur Zunahme von Konkurrenz, Spannungen, Instabilität und Unberechenbarkeit führen. Kernproblem ist dabei, dass die etablierte Hegemonialmacht nicht be- reit ist, ihre Vormachtstellung aufzugeben und sich friedlich in die neue Ordnung einzufügen.

Anders als bei früheren Umbrüchen dieser Art ist neu, dass der geopolitische Wandel mit menschheits- geschichtlich einmaligen Risiken durch Klima- und andere Umweltprobleme zusammenfällt, deren Lö- sung globale Kooperation eigentlich zwingend erforderlich macht.

2.1.  Washington will weiterhin die Weltordnung dominieren

Die USA sind nicht bereit, ihre Vorherrschaft aufzugeben. So heißt es in der offiziellen Sicherheitsstra- tegie der Biden Administration: „Es gibt kein Land das besser geeignet wäre mit Stärke und Entschieden- heit zu führen als die Vereinigten Staaten von Amerika“.19 Das ist nicht nur Anspruch, sondern Washing- ton versucht dies Tag für Tag in Praxis umzusetzen. Und das nicht erst seit heute. Bereits 1992 wurde erklärt, zukünftig nie wieder einen Rivalen, wie es die Sowjetunion war, hochkommen zu lassen: „Unser erstes Ziel ist, das Wiederauftreten eines neuen Rivalen auf dem Territorium der ehemaligen Sowjet- union oder woanders zu verhindern,“ hieß es in der sog. Wolfowitz-Doktrin. 20 Und schon vor dem Ukra- inekrieg wurden in zahlreichen offiziellen Dokumenten die Hauptfeinde explizit markiert: „China und Russland sind die wichtigsten Bedrohungen für eine Ära von Frieden und Wohlstand in der Welt,“ heißt es z.B. in der Militärdoktrin der US-Kriegsmarine von 2020. 21

Man kann daher das internationale System nicht ohne das Agieren seines mächtigsten Akteurs verste- hen. Mit Anti-Amerikanismus hat das nichts zu tun.

Wenn China und Russland zu den Hauptfeinden erklärt werden, kann es nicht verwundern, dass die ihrerseits zur Lagerbildung gedrängt werden, wenngleich vor allem China versucht, einer Blockbildung durch plurale Netzwerke zu entgehen. Die massiven Sanktionen gegen China vor allem im Hightech- Bereich sollen ein Gleichziehen mit den USA oder gar Überholen verhindern. Die Spannungen um Taiwan eskalieren. Zugleich nutzen die USA ihr Potential zur Lagerbildung im Indo-Pazifik mit Japan, Australien, Südkorea und den Philippinen. Auch Indien soll ins US-Lager gezogen werden – auch wenn die Aussich- ten dafür eher gering sind.

Russland gegenüber wurde der Ukrainekrieg zum Stellvertreterkrieg transformiert. Kriegsziel ist dabei erklärtermaßen die maximale Schwächung Russlands, ökonomisch wie militärisch, verbunden mit der Hoffnung auf einen Regimewechsel in Moskau. Allerdings hindert die Fortsetzung dieses Krieges die USA daran, sich voll auf den Kampf gegen China zu konzentrieren.

Zur Durchsetzung seines Hegemonialanspruchs gegenüber Peking und Moskau greift Washington in
erster Linie auf den Einsatz seiner militärischen, technologischen und wirtschaftlichen Machtinstrumente zurück, während ein Interessenausgleich durch politische Konfliktlösung, Verhandlungen und Diplomatie ausgeschlossen bleiben.

2.2.  Atomarer Winter statt Klimaerwärmung?

Mit der Atombombe existiert zum ersten Mal in der Menschheitsgeschichte eine Waffe, mit der die Gat- tung des homo sapiens ausgerottet werden kann. Zwar gab es unter dem Schock der Kuba-Krise Verträge zur Rüstungskontrolle, die mit dem Gleichgewicht des Schreckens eine gewisse Stabilität und Entspan- nung ermöglichten. Doch inzwischen haben wir wieder eine brandgefährliche Situation: die Verträge sind gekündigt, beginnend bereits 2001 mit der Kündigung des ABM-Vertrages durch die Bush-Admini-
stration, und es gibt neue, völlig unregulierte Technologien, deren militärische Anwendung unkalkulier- bare Risiken erzeugen, darunter ein Kriegsausbruch aufgrund technischer Fehler.

Die Konfrontation findet nicht mehr nur zu Lande, zu Wasser und in der Lu: statt, sondern auch im Weltraum und im Cyberspace. Das erhöht zusätzlich das Misstrauen zwischen den Konfliktparteien und führt zu noch mehr Instabilität. Je weiter die Eskalation getrieben wird, umso wahrscheinlicher ist ir- gendwann ein Kontrollverlust. Die ukrainischen Angriffe auf das russische Atomwaffenradar zur Früher- kennung anfliegender Nuklearwaffen verweisen auf dieses Risiko.

Wenn es nicht bald zu Verhandlungen wenigstens über Rüstungskontrolle kommt, könnte der Welt statt der Klimaerwärmung ein atomarer Winter drohen.

Die heißen Kriege in der Ukraine und in Nahost absorbieren schon jetzt große materielle und politische Ressourcen und fesseln die Aufmerksamkeit der Öffentlichkeit. Dafür treten die Klima- und Umweltkrisen in den Hintergrund. Der Ukraine-Krieg verursachte in den zwölf Monaten 2023 einen CO2- Ausstoß von etwa 120 Millionen Tonnen, was etwa dem Ausstoß eines Landes wie Belgien entspricht.22 Die Treibhausgasemissionen durch das Militär werden weltweit auf mindestens 1.644 und bis zu 3.484 Millionen Tonnen im Jahr geschätzt. Das sind 3,3 bis 7,0 Prozent der globalen Emissionen.23 Und zwar im laufenden militärischen Betrieb, ohne die derzeitigen Kriege. Das ist in etwa der Ausstoß eines Landes wie Russland oder Indien. In die Zahlenwerke, die dem Kyoto-Protokoll 1997 und dem Pariser Abkom- men 2015 zugrunde liegen, wurden die militärischen Belastungen absichtlich nicht aufgenommen.

2.3.  Neue US-Atomwaffen gegen Russland auf deutschem Boden

Angesichts der vielen Zuspitzungen ist der Beschluss der USA, Marschflugkörper vom Typ Tomahawk, Mittelstreckenraketen SM-6 und die Hyperschallwaffe Dark Eagle ab 2026 auf deutschem Boden zu sta- tionieren, eine neue Qualität der Eskalation. Tomahawk und Dark Eagle sind sowohl konventionell als auch nuklear bestückbar und können Ziele im gesamten europäischen Teil Russlands angreifen, während die Vorwarnzeit im Vergleich zu den in Büchel dislozierten Kampfbombern der sog. atomaren Teilhabe drastisch schrumpft.

Einmal mehr handelt es sich hier um eine US-Maßnahme auf dem Territorium eines Drittstaates, die von Moskau nicht symmetrisch beantwortet werden kann, z.B. durch Raketenstationierungen vor der Haus- tür Washingtons, wie die Sowjetunion das 1962 in Kuba als Antwort auf US-Raketen in der Türkei tat. Die Stationierung verschiebt das strategische Gleichgewicht zugunsten der USA.

Und sie wird in der Logik von Abschreckung und Gegenabschreckung zu russischen Maßnahmen führen, die Deutschland zum bevorzugten Ziel russischer Raketen machen. Mit der unterwürfigen Hinnahme der bereits seit 2021 geplanten Stationierung setzt die Bundesregierung das Land einer neuen atomarer Gefährdung aus - während Washington 8.000 km weit vom Schuss ist.

Offiziell begründet wird die Stationierung mit der Behauptung einer ‚Sicherheitslücke‘, da Russland seit 2018 Mittelstreckenraketen vom Typ Iskander in seiner Exklave Kaliningrad mit einer Reichweite über 500 km aufgestellt habe. Das sei ein Bruch des INF-Vertrages.24 Moskau behauptet, die Raketen hätten dagegen nur eine Reichweite von 480 km und wären damit vertragskonform.

In der Auseinandersetzung unterschlägt die Bundesregierung zum einen, dass die USA schon 2016 in Rumänien und 2018 in Polen das Raketenabwehrsystem AEGIS/SM-3 installierten. 25 Moskau betrachtet das als Beeinträchtigung des strategischen Gleichgewichts. Zum anderen ging Washington auf den rus- sischen Vorschlag einer gegenseitigen Verifikation von Iskander und AEGIS/SM-3 nicht ein.

An dem Verlauf der Schuldzuweisungen wird die Logik der Abschreckung kenntlich: die eigenen Ab-
sichten werden verschleiert, was mit dem hochtrabenden Begriff „strategische Ambiguität“ auch noch zu rationaler Politik deklariert wird, und der Gegner soll in Angst versetzt werden, während die eigene Aufrüstung als reine Verteidigungsmaßnahme etikettiert wird. Heraus kommen die Zunahme der Spannun- gen und Unsicherheit auf beiden Seiten.

2.4.  Demokratie versus Autokratie?

Ideologisch rechtfertigt der Westen die Konfrontationspolitik mit der Konstruktion „Demokratie versus Autokratie“. Mit der Anrufung von ‚Werten‘ soll eine post-heroisch eingestellte Bevölkerung wieder zu Kriegsbereitschaft motiviert werden. Notwendig ist dafür das seit ewigen Zeiten praktizierte Verfahren, die Gegenseite als das schlechthin Böse darzustellen. „Es geht um den Unterschied zwischen Gut und Böse“ so Nikki Haley, ehemalige UNO-Botschafterin der USA, stellvertretend für viele.26

Wenn man genauer hinschaut, entlarvt sich die scheinbar hochmoralische Einteilung der Welt in Gut und Böse jedoch als Doppelmoral. So heißt es in der o.g. US-Sicherheitsstrategie: „Die dringendste stra- tegische Herausforderung für unsere Vision geht von Mächten aus, die autoritäres Regieren mit einer revisionistischen Außenpolitik verbinden.“ Daneben wird eine andere Kategorie von Autokratien einge- führt: „Viele Nicht-Demokratien schließen sich den Demokratien der Welt an, um diesen [revisionisti- schen] Verhaltensweisen abzuschwören.“27 Es geht also nicht um Autokratie als solche, sondern um das, was Washington zum ‚Revisionismus‘ erklärt, d.h. die Ablehnung der US-Dominanz. Man kreiert zwei Sorten von Autokratie: die revisionistischen in Peking und Moskau und die nicht-revisionistischen, die als Partner akzeptiert werden. Auch Lars Klingbeil ist Anhänger solcher doppelten Standards: „Es ist klar, dass wir dabei auch mit Ländern zusammenarbeiten müssen, die nicht unsere Werte teilen oder sogar unsere Gesellschaftsordnung ablehnen.“28

Der zentrale Widerspruch im internationalen System ist keineswegs der zwischen Auto- und Demokratie, sondern der zwischen dem Eintreten für eine nicht-hegemoniale, multipolare Weltordnung auf der ei- nen, und dem Versuch der Aufrechterhaltung von US/westlicher Dominanz auf der anderen Seite.

Die politische Funktion des Narrativs vom Widerspruch zwischen Auto- und Demokratie besteht darin, das schon in der Antike verkündete Dogma „Wenn du den Frieden willst, bereite den Krieg vor!“ plausibel zu machen. Dabei wird aber dessen grundlegender Defekt unterschlagen, nämlich dass die Gegenseite genauso denkt, und die Konfliktspirale auf diese Weise immer wieder angetrieben wird. Das o.g. Beispiel der Mittelstreckenwaffen zeigt die praktischen Folgen.

Im Unterschied zu Interessenskonflikten kann es in moralischen Konflikten keine Kompromisse geben. Sie ähneln darin Glaubenskriegen. Es sei denn, man einigt sich – wie schon im Augsburger Religions-frieden 1555 - auf die friedliche Koexistenz unterschiedlicher Bekenntnisse. Ein ideologischer Konflikt zwischen Demokratie und Autoritarismus stimuliert eine Eskalationsspirale mit Konfrontation, Wettrüsten und Kaltem Krieg – bis es zum Kontrollverlust, dem heißen Krieg, kommt.

3.   Kontroversen in der Friedensbewegung bearbeiten

Das Narrativ von Auto- versus Demokratie besitzt bis in Teile der Friedensbewegung und der gesellschaft- lichen Linken hinein einige Attraktivität. Dem liegt eine ursprünglich emanzipatorische Intention zu- grunde: die Verdammten dieser Erde zu befreien. Schon die Gründung von „Schwesterrepubliken“ durch französische Revolutionstruppen im 18. Jahrhundert hatte dieses Motiv.29 Affinität zu diesem Verständ- nis von Internationalismus – z.B. in der Kommunistischen Internationale in ihren ersten Jahren und ihrem Ziel der Weltrevolution30 oder Che Guevaras Revolutionsversuch in Bolivien - ist unübersehbar. Aller- dings kann außenpolitischer Messianismus von links unter Bedingungen von Konflikt und Spannungen im internationalen System höchst gefährlich werden, insbesondere wenn er mit dem ‚liberalen Interna- tionalismus‘ konvergiert, mit dem der Westen gern eine aggressive Außenpolitik rechtfertigt.

3.1.  Demokratie, Menschenrechte und nationale Souveränität

Ohnehin ist ein Großbegriff wie Demokratie immer umstritten, auch innerhalb der Friedensbewegung. Und es ist fraglich, ob je ein Konsens darüber zu erreichen ist. Erst recht, wenn es sich um die internen Verhältnisse eines anderen Landes handelt. Das ist auch nicht notwendig, wenn man die UN-Charta zur Souveränität und Nichteinmischung in die inneren Verhältnisse (insbes. Art. I, Abs. 2, Art. II, Abs. 1 und Abs. 7) respektiert. Die Charta beruht ja gerade auf der Einsicht, dass angesichts unterschiedlicher Kul- turen, Wertesysteme und politischer Ordnungen heilloses Chaos und Zerstörung entstünde, wenn jedes Land seine eigenen Vorstellungen anderen aufdrängen oder gar mit Gewalt aufzwingen wollte.

Ähnliches gilt für Menschenrechte, wenn der Begriff als Kampfbegriff für geopolitische Interessen in Dienst genommen wird. Universalität der Menschenrechte bedeutet die Verpflichtung aller Mitglieds- staaten, die Menschenrechte im eigenen Land zu verwirklichen (UN-Charta Art. I, Abs.3). Dazu gehören auch die sozialen Menschenrechte, die auch vom Westen gern ausgeblendet werden. Sie ist aber keine Lizenz für Regime-Change von außen, oder gar für einen Angriffskrieg der NATO, wie z.B. 1999 gegen Jugoslawien, als der deutsche Außenminister meinte, man müsse „ein neues Auschwitz verhindern“. Auch Moskaus Rechtfertigung für den Einmarsch in die Ukraine, das Land vom Faschismus zu befreien, gehört in die Kategorie unilateraler Anmaßung zur Intervention in ein anderes Land.

Nur für extreme Fälle wie Völkermord sieht die UN-Charta (Art. VII) genau definierte Ausnahmen vor. Demnach kann nur der UN-Sicherheitsrat die Befugnis zur Gewaltanwendung gegen ein Land erteilen. Das betrifft auch die sog. Responsibility to Protect, die in den Nullerjahren, als die westliche Hegemonie noch ungebrochen schien, Konjunktur hatte.31 Die Hürden für Eingriffe sind sehr hoch, nicht zuletzt durch Blockaden im Sicherheitsrat. Das wird bei russischen Vetos immer lauthals beklagt. Anders dagegen bei US-Vetos, wenn es um Israel geht. Allerdings zeigt die Entscheidung für einen Waffenstillstand in Gaza vom 10. Juni 2024, dass es auch anders geht; auch wenn der Beschluss von Israel - mit westlicher Duldung - ebenso wenig umgesetzt wurde, wie die Resolutionen der Vollversammlung zu vielen anderen Konflikten.

In Deutschland gibt es politische Strömungen, die ein sehr distanziertes Verhältnis zu nationaler Souve- ränität und dem Gebot der Nichteinmischung haben. Sie berufen sich dabei auf die Erfahrungen mit dem exzessiven Nationalismus der deutschen Geschichte – und sind insofern typisch deutsch. Der hohe Stel- lenwert von Souveränität und Nichteinmischung im Völkerrecht ist aber Reaktion auf die lange Ge- schichte der Unterwerfung und Ausbeutung fremder Länder im Kolonialismus, Imperialismus und Neo- kolonialismus. Das vergisst man im Globalen Süden nicht.

Zudem reagiert gerade der Westen selbst extrem empfindlich, wenn er glaubt, andere Länder würden sich in seine inneren Verhältnisse einmischen. Allerdings ist bei der allfälligen Empörung über tatsächli- che oder angebliche Desinformation und Cyberattacken aus Russland und China o: schwer zwischen Fakt und Fake, zwischen Realität, Propaganda und Verschwörungstheorie zu unterscheiden.

3.2.  Widersprüche zwischen Frieden und Menschenrechten?

Die ideologische Aufladung zwischenstaatlicher Beziehungen mit unilateralen Wertorientierungen führt dazu, dass von fundamentalistischen Gegensätzen ausgegangen und nach Strategien gesucht wird, den jeweils anderen einzudämmen oder ganz auszuschalten.

Natürlich ist die Steinigung von Ehebrecherinnen in Saudi-Arabien, die Theokratie der Mullahs und der Taliban, die Diskriminierung religiöser, ethnischer, politischer u.a. Minderheiten in vielen Teilen der Welt

– darunter auch im Westen - schwer zu ertragen. Kritik und Protest aus der Zivilgesellschaft ist selbstver- ständlich legitim. Auch für die Friedensbewegung bleibt internationalistische Solidarität mit Pazifisten, Kriegsdienstverweigerern u.a. Kriegsgegnern, die Repressionen und Verfolgung ausgesetzt sind, auf der Tagesordnung. Allerdings muss sie sich dabei klar von geopolitischer Instrumentalisierung von Men- schenrechten durch Regierungen oder militaristischen Kräften abgrenzen.

Zudem ist Friedenspolitik per se auch Menschenrechtspolitik, denn die unmenschliche Brutalität des Krieges, die Toten, Verstümmelten, Traumatisierten, die Kriegsverbrechen sowie die sozialen und politi- schen Folgen von Zerstörung und Hass sind schwerste Verletzung der Menschenrechte.

 Oft sind Menschenrechtsfragen mit dem Recht auf Selbstbestimmung von Minderheiten verknüpft, vor allem, wenn die Minderheiten Diskriminierungen ausgesetzt sind. Wenn diese dann staatliche Unab-
hängigkeit anstreben, entstehen scharfe Konflikte, in denen das Recht auf Selbstbestimmung in Widerspruch zum Recht auf territoriale Integrität des Mehrheitsstaates gerät. Spektakuläre Beispiele sind Kurdistan, Kosovo, die Kriege zwischen Armenien und Aserbaidschan um Berg-Karabach, Nord-Zypern oder die Westsahara, aber auch Katalonien oder Schottland. Und natürlich die Taiwan- und die Palästinafrage. Auch in der Ukraine ist das Selbstbestimmungsrecht der Bewohner der Krim und des Donbass eine wichtige Komponente des Konflikts. Zusätzliche Brisanz gewinnen solche Konflikte, wenn sie Teil geopolitischer Einmischung von ausländischen Mächten und entsprechend instrumentalisiert werden.

3.3.  Instrumentalisierung von Menschenrechten provoziert Wagenburgverhalten

Die geopolitische Instrumentalisierung von Demokratie und Menschenrechten erzeugt permanent
Spannungen im internationalen System. Ein Klima der Konfrontation führt aber auch dazu, dass Autoritarismus und Repression in einem Land, das sich bedroht fühlt, entstehen, bzw. dort wo sie bereits existieren, sich weiter verstärken. Es tritt das Wagenburg-Phänomen ein, d.h. Abwehrhaltung nach außen führt auch immer zu Konformitätsdruck nach innen.

Das gilt für alle Seiten. Das Verbot russischer Sender und Zeitungen durch die EU und die Cancel Culture gegen alles Russische, oder auch die deutsche „Staatsraison“ im Gaza-Krieg haben zwar noch nicht das Ausmaß an Autoritarismus wie in der Ukraine und Russland erreicht, aber grundsätzlich grei: hier die gleiche Logik der Wagenburg.

Eine neue Dimension entsteht dabei durch das Internet und die Integration des Cyberspace in die Kon- frontation. Auch hier sind die USA führend. Ihr Geheimdienstsystem - 18 Institutionen mit über 800.000 Mitarbeitern - verfügte amtlichen Angaben zufolge 2023 über ein Budget von 99,6 Mrd. Dollar, wovon 27,9 Mrd. auf den militärischen Bereich enhielen.32 Zum Vergleich: die russischen Militärausgaben bei- trugen 2023, dem zweiten Kriegsjahr in der Ukraine, insgesamt 109 Mrd. Dollar.33

3.4.  Krieg, Moral und Rationalität

Eng verbunden mit dem Narrativ von Auto- versus Demokratie ist der Umgang mit Konvikt und Krieg in ausschließlich moralischen Kategorien. Das führt zu einer bequemen Reduktion einer komplexen Wirk- lichtet auf zwei Variablen: „gut“ und „böse“. Diese wiederum beruhen meist auf lange etablierten Feindbildern und archetypischen Klischees, wie der ‚Gefahr aus dem Osten‘ oder dem Bild von David & Goliath. Darin wird z.B. der ‚David Ukraine‘ Opfer von ‚Goliath Russland‘. Vor allem bei vielen jungen Leuten gibt es auch die Wahrnehmung: ‚Goliath Israel‘ gegen ‚David Palästina‘! Das sind Strategien, die eigene Identität aus den realen Widersprüchen herauszunehmen und sich der einen oder anderen Seite zu unterwerfen. Eine autonome Friedensbewegung wird damit unmöglich.

Moralisch begründete Parteinahme ist auch deshalb attraktiv, weil sie ein Überlegenheitsgefühl vermint- telt. Denn „Wir“ sind natürlich „die Guten“. Moral mutiert dann zu selbstgerechtem Moralisieren, wie es sehr typisch von der links-liberalen Avantgarde des Bellizismus, dem militaristischen Mainstream und ihrer Erzählung von der „wertegeleiteten Außenpolitik“ vertreten wird.

Allerdings ist Moral nur solange glaubwürdig, wie sie unteilbar ist. Wer selbst das Völkerrecht mit Füßen tritt, wie die NATO in Jugoslawien, oder die US-geführte „Koalition der Willigen“ im Irak 2003 – darunter die Ukraine mit dem sechstgrößten Truppenkontingent von 36 - praktiziert Doppelmoral.

Doppelmoral ist auch im Spiel, wenn es um das Recht auf Selbstbestimmung geht, z.B. des Kosovo oder Taiwans. Da gilt dessen Durchsetzung mit Krieg bzw. militärischen Drohungen durch den Westen als ge- rechtfertigt, während der gleiche Vorgang im Fall der Krim oder des Donbass‘ zu Separatismus erklärt und seine militärische Niederschlagung unterstützt wird.

Heuchlerische Doppelstandards gelten auch beim Thema Annexionen. So bleiben die Annexion von Nordzypern und Teilen des kurdisch besiedelten Nordsyriens durch das NATO-Mitglied Türkei oder die der Golanhöhen und Ostjerusalems durch Israel ohne praktische Konsequenzen seitens des Westens. Die Annexion der Westsahara durch Marokko wurde, entgegen klarer UN-Beschlüsse, durch die USA sogar formell anerkannt, und Frankreich ist dabei, sich dem anzuschließen.

Aus alledem folgt kein Plädoyer für Amoralität. Auch emanzipatorische Friedenspolitik braucht einen moralischen Kompass. Aber wenn Krieg verhindert oder beendet werden soll, helfen moralische Empö- rung oder gar moralisierender Hass nicht weiter. Im Gegenteil. Hass erzeugt Gegenhass und die Sehn- sucht nach Rache und treibt so die Spirale der Gewalt immer weiter. Stattdessen muss man die Ursachen von Konflikten rational begreifen. Wissen und rationale Erkenntnis sind die Vorbedingung für mündige moralische Entscheidungen.

4.   Anforderungen an Friedenspolitik auf der Höhe der Zeit

Erste Aufgabe einer zeitgemäßen Friedenspolitik ist es, die Komplexität der neuen Weltordnung zu ver- stehen und in Argumentation und Praxis einzubeziehen. Gefragt ist ein aufgeklärter Realismus, ein nüch- terner Umgang mit Geopolitik, allerdings auf Grundlage friedenspolitischer Wertorientierungen.

Dazu gehören die klare Haltung gegen Tod und Zerstörung durch Krieg und die Orientierung an der UN- Charta: Diplomatie und politische Konfliktlösung, Kooperation, ungeteilte, gemeinsame Sicherheit,
souveräne Gleichheit aller Staaten, friedliche Koexistenz, Rüstungskontrolle und Abrüstung.

Notwendig ist die qualifizierte Auseinandersetzung mit Bellizismus und Militarismus und deren schein- bar plausiblen Argumenten. Die Friedensbewegung und die gesellschaftliche und politische Linke sollten den Sirenengesängen einer ‚Burgfriedens-Politik‘, auf die die SPD sich im Ersten Weltkrieg einließ, nicht folgen.

Dabei gilt es, sich Diffamierungen wie ‚Putinversteher‘, Antiamerikanismus und dem Missbrauch des An- tisemitismusvorwurfs u.ä., die auf Denkverbote und die Unterdrückung freier Meinungsäußerung hin- auslaufen, selbstbewusst zu entziehen.

Friedenspolitik identifiziert sich nicht prinzipiell oder dauerhaft mit einem Land oder einem Lager. Das gilt auch für das eigene Land/Lager, d.h. Absage an Nationalismus, Euro-Nationalismus und die Identifi- kation mit irgendeiner Wagenburg, auch nicht mit der des Westens.

Das schließt nicht aus, im konkreten Fall Vorschläge einer Seite zu unterstützen, wenn sie friedenspoli- tisch sinnvoll sind. Das gilt auch für entsprechende Initiativen aus ‚Feindesland‘.

Nicht möglich ist in einer interdependenten Welt und unter Bedingungen der existenziellen Bedrohung durch Massenvernichtungsmittel die Haltung „Alles Imperialisten, aus deren Händel halten wir uns raus“.

Strategische Autonomie der EU, die darauf hinausläuft, klassische Großmacht zu werden, ist keine Frie- denspolitische Option. Gebraucht wird eine Autonomie, die mit einem anderen Politiktypus einhergeht, der auf Frieden, Koexistenz, Abrüstung, gemeinsamer Sicherheit und Kooperation beruht.

Schon in Vorkriegszeiten gehört die Kritik an ideologischen Feindbildern, die eine wesentliche Voraus- setzung für außenpolitische Aggressivität schaffen, zu den Aufgaben von Friedenspolitik. Dazu ist es auch notwendig, autonome Expertise über ‚die Feinde‘ zu entwickeln, um nicht von staatstragenden
Experten‘, selbsternannten Think Tanks und einschlägigen Instituten abhängig zu sein.

Eine andere Außenpolitik für Deutschland liegt in der Verantwortung der deutschen Friedenskräfte.
 Das kann ihnen niemand abnehmen und muss im Mittelpunkt ihrer Arbeit stehen. Ihre Aufgabe ist es, der Militarisierung  der  Gesellschaft,  der  Aufrüstung  und  den  Großmachtambitionen  des  herrschenden Blocks – sei es in deutscher, EU- oder NATO-Gestalt – entgegenzutreten.

Kontroversen innerhalb der Friedensbewegung sollten in sachlicher und solidarischer Form ausgetragen werden und nicht zu Konfrontation und gegenseitiger Ausgrenzung führen. Grenzen der Toleranz gibt es nur gegenüber rechtsextremistischen, nationalistischen, militaristischen u.ä. Kräften. 34

Die herrschende Politik führt zu Demokratieabbau und zu sozialen Belastungen vor allem der subalter- nen Klassen und Schichten. Das muss eine wichtige Rolle friedenspolitischer Argumentation sein, nicht zuletzt, weil hier äußerst wichtige Ansatzpunkte für Gegenmachtbildung liegen.

Auch ist es den Kalten Kriegern der Zeitenwende, trotz intensiver Gesinnungsmassage durch die staats- tragenden Medien, noch immer nicht gelungen, die Bevölkerung voll auf ihre Seite zu ziehen. Wie Um- fragen immer wieder bestätigen, gibt es weiterhin starke post-heroische Einstellungen und eine Ableh- nung weiter Teile der Bevölkerung, sich auf „Kriegstüchtigkeit“ trimmen zu lassen.

Das gibt Anlass zu der Zuversicht, dass die Friedensbewegung wieder stark und einflussreich werden kann.


Zur Veröffentlichung genehmigt von der Initiative Nie wieder Krieg!

 

Quellenangaben

1 An der Formulierung des Textes waren beteiligt: Michael Brie, Erhard Crome, Frank Deppe, Peter Wahl. Die Verantwortung für die Endfas- sung liegt allein bei der Initiative ‚Die Waffen nieder!‘

2 UN Economic and Social Council (2000): The adverse consequences of economic sanctions on the enjoyment of human rights.

E/CN.4/Sub.2/2000/33 21 June 2000

3 The Washington Post, 25.7.2024: How four U.S. Presidents Unleashed Economic Warfare across the Globe. https://www.washing- tonpost.com/business/interactive/2024/us-sanction-countries-work/

4 Rede an der Militärakademie Westpoint, 28.5.2014. https://obamawhitehouse.archives.gov/the-press-office/2014/05/28/remarks-presi- dent-united-states-military-academy-commencement-ceremony

5 Das Bruttoinlandsprodukt (BIP) wird von IWF, Weltbank u.a. Institutionen sowohl in Wechselkurs- als auch in Kauarabparität (KKP) angege- ben. Da die Produktionskosten für alle im jeweiligen Inland produzierten Güter und Dienstleistungen aufgrund von Unterschieden bei Arbeits- kosten, Zugang zu Rohstoffen, Skaleneffekte durch den Binnenmarkt etc. erheblich sein können und sich damit entsprechend auf die wirt- schabliche Leistungskrab auswirken, verzerrt die Rechnung nach Wechselkursparitäten ob das Bild. So kann eine Kursänderung einer Wäh- rung über Nacht ein größeres oder kleineres BIP erscheinen lassen, obwohl sich realwirtschablich nichts geändert hat.

6 International Monetary Fund (IMF), data. https://data.imf.org/?sk=388dfa60-1d26-4ade-b505-a05a558d9a42

7 Abschlusserklärung der BRICs-Gründungskonferenz, Jekaterinburg 2009.

8 Congressional Research Service. U.S. Role in the World: Background and Issues for Congress. Updated January 19, 2021. https://crsreports.congress.gov/product/pdf/R/R44891.

9 Putin, Rede an die Nation, 21.2.2022. https://www.anti-spiegel.ru/2022/praesident-putins-komplette-rede-an-die-nation-im-wortlaut/ 10 Ministry of Foreign Affairs of the Russian Federation (2023). The Concept of the Foreign Policy of the Russian Federation. https://mid.ru/en/foreign_policy/fundamental_documents/1860586/

11 Price Waterhouse Cooper (2017): The long view: how will the global economic order change by 2050. London

12 Rat der Europäischen Union (2022): Ein Strategischer Kompass für Sicherheit und Verteidigung. S.7

13 Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung. 2.6.2024; S. 2. Einstimmigkeit meint das Konsensprinzip in Außen- und Sicherheitspolitik.

14 Europäisches Parlament. Umsetzung der Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik. 14.12.2016. P8_TA-PROV(20216)0503

15 Die Notwendigkeit der anhaltenden Unterstützung der EU für die Ukraine. Entschließung des Europäischen Parlaments vom 17. Juli 2024 (2024/2721(RSP))

17 Klingbeil, Lars, Rede zur Zeitenwende. 22.6.2022. S. 5. In: IPG Journal. https://www.ipg-journal.de/rubriken/aussen-und-sicherheitspoli- tik/artikel/lars-klingbeil-rede-zur-zeitenwende-6010/?utm_campaign=de_40_20220622&utm_medium=email&utm_source=newsletter

18 Allison, Graham. Destined for War: Can America and China Escape Thucydides's Trap? Boston/New York. 2017, S. 42 ff.

19 The White House. National Security Strategy. October 2022. https://www.whitehouse.gov/wp-content/uploads/2022/10/Biden-Harris- Administrations-National-Security-Strategy-10.2022.pdf

20 New York Times, 7.3.1992. https://www.nytimes.com/1992/03/08/world/us-strategy-plan-calls-for-insuring-no-rivals-develop.html Wolfowitz war stellvertretender Verteidigungsminister. Sein Entwurf wurde von der New York Times geleakt, und musste daher aus Image- gründen überarbeitet werden. Unabhängig davon ist die sog. ‚no rival Strategie‘ Kern der US-Geo-Strategie (s. auch Fußnote 6).

21 Department of the Navy: Advantage at Sea. Prevailing with Integrated All-Domain Naval Power. December 2020.

22 20 years climate focus. Climate damage caused by Russia’s war in Ukraine (First and second interim assessments). https://climatefo- cus.com/publications/climate-damage-caused-by-russias-war-in-ukraine/

23 Auer, Martin (2023): Der CO2-Stiefelabdruck des Militärs. https://at.scientists4future.org/2023/05/15/co2-stiefelabdruck-des-militars/ 24 Vertrag von 1987 über das Verbot landgestützter Mittelstreckenraketen in Europa mit einer Reichweite von 500 – 5.500 km. Der Vertrag wurde von der Trump-Administration gekündigt.

25 Washington erklärte, die Systeme dienten dem Schutz der EU vor iranischen Raketen. Von der iranischen Grenze ist es 1.500 km bis Rumä- nien und 2.000 km bis Polen. Dagegen grenzt Polen direkt an das Gebiet der russischen Enklave Kaliningrad.

26 Zitiert nach: Telepolis, 24.8.2023. https://www.telepolis.de/features/Republikaner-Debatte-Blutbad-ueber-die-Ukraine-und-was-ist-mit- China-9283499.html

27 The White House. National Security Strategy, a.a.O. S. 8

28 Klingbeil, Lars; a.a.O. S. 4

29 Was auch schon damals umstritten war. So schrieb Robespierre: „Niemand liebt die bewaffneten Missionare; der erste Rat, den die Natur und die Klugheit geben, ist der, sie als Feinde zurückzuschlagen.“

30 Das wurde später aus gutem Grund zurückgenommen und die Organisation 1943 aufgelöst.

31 Resolution A/RES/60/1 der UN-Vollversammlung, 16.9.2005

32 Office of the Director of the National Intelligence. https://www.dni.gov/index.php

33 SIPRI. Trends in Military expenditure, 2023. https://www.sipri.org/sites/default/files/2024-04/2404_fs_milex_2023.pdf

 

 

 

 

 

 

 

Die „soziale Katastrophe“ des Klimakollaps

IMI Tübingen - Mon, 23/09/2024 - 14:10
———————————————————- AUSDRUCK – Das IMI-MagazinAusgabe September 2024Schwerpunkt: Ungewisse ZukunftGesamte Ausgabe hier herunterladen ———————————————————- In einem sind die großen Strategen, die die richtungsweisenden Strategiepapiere erstellen, sich einig: Sie machen einen schwierigen Job. Denn es ist gar nicht so einfach, die Zukunft (…)

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Der Aufstieg Mauretaniens

IMI Tübingen - Mon, 23/09/2024 - 13:57
———————————————————- AUSDRUCK – Das IMI-MagazinAusgabe September 2024Schwerpunkt: Ungewisse ZukunftGesamte Ausgabe hier herunterladen ———————————————————- Die aktuelle September-Ausgabe des IMI-Magazins AUSDRUCK hat das Thema „Ungewisse Zukunft“ zum Schwerpunkt. Darin haben wir auch Texte versammelt, die mit ihrem literarisch-fiktionalen Charakter etwas von unseren (…)

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Israelischer Pager-Angriff: Notwehr oder Terrorismus?

acTVism - Mon, 23/09/2024 - 10:38

Israelischer Pager-Angriff: Notwehr oder Terrorismus?.

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Zwei Jahre nach Teilmobilmachung: Weiter kein Asyl für russische Kriegsdienstverweiger*innen

Lebenshaus-Newsletter - Sat, 21/09/2024 - 19:16
Auch zwei Jahre nach der am 21. September 2022 von Präsident Putin erklärten Teilmobilmachung wird russischen Verweiger*innen des Ukrainekrieges in... Michael Schmid http://www.lebenshaus-alb.de

Mehr Aufrüstung, mehr Rüstungsexporte, weniger Zivilklauseln? Nein zur Nationalen Sicherheits- und Verteidigungsindustriestrategie!

Lebenshaus-Newsletter - Fri, 20/09/2024 - 19:30
Anlässlich des internationalen Weltfriedenstages am 21. September kritisiert die Kampagne "Aktion Aufschrei – Stoppt den Waffenhandel!" massiv die Pläne der... Michael Schmid http://www.lebenshaus-alb.de

Die Fed schwenkt endlich um

ISW München - Fri, 20/09/2024 - 19:06

Die Entscheidung des Geldpolitischen Ausschusses der US-Notenbank Mitte September dieses Jahres, den „Leitzins“ zu senken, war die erste seit 2020.  



Die Fed scheint davon auszugehen, dass der „Krieg gegen die Inflation“ vorbei ist, aber der Umfang der Senkung fällt auffällig hoch aus.
In den letzten Jahren nach dem Ende des pandemiebedingten Einbruchs war der Leitzins sehr stark gestiegen, von fast null im Jahr 2021 auf 5,5 % im Jahr 2023.
Der Leitzins dient als Untergrenze für alle Zinssätze für die Kreditaufnahme von Haushalten für Hypotheken und Verbraucherkredite sowie für Unternehmen für Kredite und Anleihepreise in den USA.
Aber nicht nur in den USA. Die Unternehmen und Regierungen der Welt leihen sich Geld hauptsächlich in Dollar.
Der Leitzins der Fed wirkt sich also indirekt auf die Kreditzinsen in allen Ländern aus, insbesondere in den Ländern mit hohen Schulden im globalen Süden.  Der hoheZinssatz der Fed hat die Schuldenlast für die ärmsten Länder in die Höhe getrieben, von denen sich viele in einer "Schuldenkrise" befinden und einige sogar ihre Zahlung einstellen.

Der Fed-Ausschuss beschloss, den Leitzins um 50 Basispunkte (0,5 %) zu senken, nicht um 25 Basispunkte, wie es üblich ist. Dies impliziert zwei Dinge: eines ist rosig und eines nicht so rosig. Es deutet darauf hin, dass die Fed zuversichtlich ist, dass die Inflationsrate in den USA weiter in Richtung des politischen Ziels von 2 % pro Jahr sinken wird. Die Fed misst die Inflation anhand der Preisentwicklung bei den privaten Konsumausgaben (PCE), und die PCE-Rate ist jetzt auf 2,3 % gesunken. Die Fed geht davon aus, dass diese Rate bis 2026 (also noch etwa zwei Jahre entfernt) auf das Ziel von 2 % fallen wird.

Es deutet aber auch darauf hin, dass die US-Wirtschaft deutliche Anzeichen einer Verlangsamung aufweist. Das reale BIP-Wachstum lag im ersten Halbjahr 2024 bei durchschnittlich etwa 2,2 %. Diese Wachstumsrate wird sich jedoch voraussichtlich im gerade zu Ende gehenden dritten Quartal verlangsamen. Die Prognose der Federal Reserve von St. Louis liegt für dieses Quartal bei 1,6 %, während die Prognose der Federal Reserve von Atlanta mit 2,9 % höher ausfällt. Der US-amerikanische Fertigungssektor befindet sich trotz des Baubooms im Bereich der KI-Infrastruktur weiterhin in einer Flaute.
Die Arbeitslosenquote ist auf ein Niveau gestiegen, was einigen Indikatoren zufolge auf eine bevorstehende Rezession hindeutet.

Darüber hinaus wird die Inflation durch die Verwendung der PCE-Inflation stark unterschätzt. Der Hauptgrund für den Anstieg der Inflation seit 2022 ist der Anstieg der Energie- und Lebensmittelpreise, der durch die Unterbrechungen in den internationalen Lieferketten nach der Pandemie und das schlechte Produktivitätswachstum, d. h. den Angebotsfaktor, verursacht wurde. Er war nicht auf „übermäßige“ Staatsausgaben oder „übermäßige“ Lohnerhöhungen, d. h. auf Nachfragefaktoren, zurückzuführen.
Die Belege dafür aus vielen Studien sind überwältigend. überwältigend.

Der Rückgang der „Schlagzeilen“-Inflationsrate ist hauptsächlich auf einen Rückgang der steigenden Energie- und Lebensmittelpreise zurückzuführen. Dahinter ist die Kerninflation bei den Preisen nicht annähernd so stark zurückgegangen. Die Kerninflation bei den privaten Konsumausgaben liegt in den USA immer noch bei etwa 2,6 % pro Jahr. Und wenn verschiedene Komponenten der Haushaltsausgaben (Versicherungen, Hypotheken usw.) ordnungsgemäß in den Inflationskorb aufgenommen würden, würde dies ein anderes Bild ergeben und die Inflationsrate um mehrere Punkte höher ausfallen als bei der PCE-Messung.

Die geldpolitischen Maßnahmen der Fed haben den Anstieg der Inflation nicht aufgehalten und hatten wenig damit zu tun, dass sie anschließend gesunken ist.
Dennoch behauptet die Fed, dass die Inflation durch ihre Geldpolitik eingedämmt wurde und vor allem, ohne einen Einbruch der Wirtschaft zu verursachen. Die Prognosen des Fed-Ausschusses gehen von einem realen BIP-Wachstum von 2 % pro Jahr, einer Inflation von 2 % und einer Arbeitslosenquote von etwa 4,4 % aus – mit anderen Worten, eine perfekte „sanfte Landung“ für die Wirtschaft; ein „Goldilocks-Szenario“ einer Wirtschaft, die weder „zu heiß“ noch „zu kalt“ ist, sondern genau richtig. Dieses Szenario wird von allen großen Mainstream-Ökonomen der großen Investmentbanken bestätigt und wird daher von der Mehrheit der Finanzinvestoren akzeptiert.
Infolgedessen erreichten die US-Aktien- und Anleihemärkte nach der Zinssenkung der Fed neue Höchststände.

Die Art und Wahrscheinlichkeit dieser sogenannten "sanften Landung" ist in einem früheren Beitrag erörtert.

An dieser Stelle ist lediglich anzumerken, dass die US-Wirtschaft derzeit noch nicht in eine Rezession gerät. Die Unternehmensgewinne halten sich und bieten finanzielle Unterstützung für einige Investitionen,  obwohl die meisten dieser Gewinne von den Mega-Tech-Unternehmen Magnificent Seven erzielt werden und die meisten Investitionen von diesen Unternehmen in KI und Chip-Infrastruktur getätigt werden, die teilweise von der Biden-Regierung Subventionen erhalten.

Der Großteil des US-Unternehmenssektors hat mit Problemen zu kämpfen, insbesondere kleine Unternehmen, die unter hohen Zinssätzen, einer schwachen Nachfrage nach ihren Waren und Dienstleistungen und gestiegenen Kosten für Vorleistungen und Dienstleistungen leiden.

Rund 37 % der kleinen Unternehmen in den USA mussten in den letzten drei Monaten einen Gewinnrückgang hinnehmen, der höchste Anteil seit 14 Jahren. Dies ist sogar noch schwächer als die 35 %, die während der Pandemie im Jahr 2020 verzeichnet wurden.
Kleine Unternehmen haben mit Schwierigkeiten zu kämpfen, als befände sich die Wirtschaft in einer Rezession.

Auch hier muss man das richtige Augenmaß bewahren. Finanzinvestoren mögen sich über den Beginn einer Reihe von Zinssenkungen freuen, die es billiger machen, Kredite aufzunehmen und mit „fiktivem Kapital“ zu spekulieren, aber die US-amerikanische „Realwirtschaft“ kommt kaum in Schwung.
Die Fed prognostiziert für den Rest dieses Jahrzehnts nur 2 % reales BIP pro Jahr.
Diese Rate liegt deutlich unter der durchschnittlichen Wachstumsrate vor der Großen Rezession von 2008-09 und vor der Pandemie, bedeutet aber eine viel niedrigere Rate des realen BIP pro Person, da die Bevölkerung durch Einwanderung wächst.

Und die US-Wirtschaft ist die leistungsstärkste der sieben größten kapitalistischen Volkswirtschaften (G7). Deutschland befindet sich in einer Flaute, Großbritannien, Frankreich und Italien stagnieren; Kanada und Japan stagnieren. Nur die kleineren südeuropäischen Volkswirtschaften in Europa schneiden besser ab, und das von einem sehr niedrigen Niveau aus. Was die sogenannten „Schwellenländer“ des globalen Südens betrifft, so befindet sich Südafrika in einer Flaute, Brasilien kommt nur langsam voran und Russland wächst nur als „Kriegswirtschaft“, während auch in den schnell wachsenden Volkswirtschaften Chinas und Indiens Anzeichen einer Verlangsamung zu erkennen sind.
Die Zinssenkungen der Fed werden nichts an diesen Trends ändern.

 

 

(Loewenthal)

Lebenshaus-Newsletter - Fri, 20/09/2024 - 10:13
Michael Schmid http://www.lebenshaus-alb.de

Nord Stream Update, Israels Pager-Angriff & der Krieg in der Ukraine

acTVism - Fri, 20/09/2024 - 10:12

Nord Stream Update, Israels Pager-Angriff & der Krieg in der Ukraine-

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US-Präsidentschaftskandidatin Dr. Jill Stein über die US-Wahl, Israel-Gaza und die Ukraine

acTVism - Thu, 19/09/2024 - 09:15

US-Präsidentschaftskandidatin Dr. Jill Stein über die US-Wahl, Israel-Gaza und die Ukraine.

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Globales Landgrabbing deutscher Unternehmen - „Sozial nachhaltig“

ISW München - Thu, 19/09/2024 - 09:08

Deutsche Unternehmen sind weiterhin in erheblichem Umfang am globalen Landgrabbing beteiligt.
Botschaftsvertreter in Sambia lobt  Firmenengagement für vermeintliche „soziale Nachhaltigkeit“.





Deutsches Unternehmen betreibt in Sambia Landgrabbing im großen Stil und schädigt damit einheimische Kleinbauern schwer. Deutscher Botschaftsvertreter lobt die Firma für vermeintliche „soziale Nachhaltigkeit“. Dies zeigt aktuell das Beispiel der deutschen Firma Amatheon Agri, die auf dem afrikanischen Kontinent im großen Stil Agrarflächen aufkauft. In Sambia hat das Unternehmen inzwischen 40.000 Hektar erworben – eine Fläche annähernd von der Größe des Bodensees. Um die Nutzung für den Anbau von cash crops oder auch für die Viehzucht zwecks Fleischproduktion zu ermöglichen, wurden zahllose Kleinbauern zwangsweise umgesiedelt und ihrer Lebensgrundlage beraubt. Wie die Nichtregierungsorganisation FIAN berichtet, beraubt Amatheon Agri Kleinbauern außerdem des lebensnotwendigen Zugangs zu Wasser und sperrt Wege; behindert wird zuweilen sogar der Krankentransport. Ein Mitarbeiter der deutschen Botschaft in Sambia lobte Amatheon Agri kürzlich für angebliche „Errungenschaften in ökonomischer, sozialer und ökologischer Nachhaltigkeit“. Laut FIAN-Angaben sind auch weitere deutsche Unternehmen an Landgrabbing beteiligt. Die Bundesregierung, heißt es bei der Organisation, komme ihrer Pflicht, gegen die Verletzung legitimer Landrechte im Globalen Süden vorzugehen, nicht nach.

Amatheon Agri

Die Amatheon Agri Holding N.V. ist ein überwiegend auf dem afrikanischen Kontinent tätiges Agrar- und Lebensmittelunternehmen mit Hauptsitz in Berlin. Miteigentümer Lars Windhorst, ein deutscher Unternehmer, der einst von Bundeskanzler Helmut Kohl als „Wunderkind der deutschen Wirtschaft“ gefeiert wurde und heute für seine schillernde Karriere bekannt ist [1] – gegen ihn lag bis April ein Haftbefehl in Großbritannien vor [2] –, rief die Firma 2011 zusammen mit Carl Heinrich Bruhn ins Leben, einem ehemaligen Manager der Molkerei Müller. Amatheon Agri dehnt seine Tätigkeit vom Anbau von Agrargütern bzw. von der Viehzucht über die Verarbeitung bis zum Handel entlang der gesamten Wertschöpfungskette aus. Hauptprodukte sind sogenannte cash crops wie Mais und Soja sowie Fleisch. Dabei zielt das Unternehmen auf die Ausbeutung vermeintlich „ungenutzter Ressourcen“ in Afrika südlich der Sahara, wo es mit „europäische[m] Know-how“ allen Beteiligten eine „Win-Win-Situation“ verspricht.[3] Im Jahr 2012 begann Amatheon Agri Ländereien in Sambia zu erwerben, expandierte dann 2013 nach Uganda, 2014 nach Simbabwe und zuletzt 2022 in die Demokratische Republik Kongo. Eine größere Aufmerksamkeit in Deutschland erhalten immer wieder die Aktivitäten der Firma in Sambia.

Zwangsumsiedlungen für Monokulturen

In Sambia hat sich Amatheon Agri Agrarflächen von rund 40.000 Hektar angeeignet – eine Fläche, die, wie die Nichtregierungsorganisation FIAN (FoodFirst Informations- und Aktions-Netzwerk) konstatiert, ungefähr so groß ist wie der Bodensee.[4]
Um Platz für Monokulturen zu schaffen – vor allem Soja und Mais –, veranlasste das deutsche Unternehmen immer wieder Zwangsumsiedlungen der ursprünglich ansässigen Kleinbauern. Manche von deren Gemeinden sind mittlerweile durch Agrarflächen, die Amatheon Agri gehören, faktisch eingekesselt. Die Kleinbauern dürfen diese Flächen nicht betreten, weshalb immer wieder kilometerlange Umwege in die nächstgelegene Stadt genommen werden müssen.
Auch Krankentransporte werden behindert. Entlaufenes Vieh wird oft von Amatheon Agri eingefangen und den Kleinbauern nur gegen die Zahlung exzessiver Beträge zurückgegeben. Fälle, in denen die Firma der einheimischen Bevölkerung die traditionelle Nutzung von Flusswasser untersagte – als Trinkwasser oder auch zum Waschen –, sind bekannt.[5] Durch den Bau zweier Staudämme wiederum, die Amatheon Agri zur Bewässerung seiner Monokulturen benötigte, wurden Flussbetten trockengelegt; mehrere hundert Familien sollen besonders in der Trockenzeit von Wasserverknappung betroffen sein.

„Sozial nachhaltig“

Die Kleinbauern setzen sich zuweilen, nicht zuletzt mit Unterstützung der NGO FIAN, zur Wehr. Kürzlich etwa gelang es ihnen, eine einstweilige Verfügung gegen Amatheon Agri zu erwirken, in der der Firma verboten wurde, bestimmte Gebiete zu betreten.[6] Kurz nach dem Inkrafttreten der Verfügung trafen, wie FIAN berichtet, Vertreter der deutschen Firma einen lokalen Chief; wenig später wurde die einstweilige Verfügung zurückgezogen. In der folgenden Nacht vom 21. auf den 22. August 2024 berichteten mehrere Kleinbauern FIAN telefonisch, ihre Dörfer seien soeben überfallen, ihre Häuser zerstört worden. FIAN hat mehrmals versucht, die deutsche Botschaft in Sambia dazu zu bewegen, auf Amatheon Agri einzuwirken – ohne Erfolg. Stattdessen lobte vor kurzem ein Mitarbeiter der Botschaft die Firma für ihre angeblichen „Errungenschaften in ökonomischer, sozialer und ökologischer Nachhaltigkeit“.[7]
Das Vorgehen des Unternehmens wiegt umso schwerer, als in Sambia zwei Drittel der Bevölkerung unter Armut leiden; bereits seit Monaten herrscht Dürre, inzwischen hungert laut Berichten rund die Hälfte aller Einwohner.[8]
Weiter erschwert wird die Lage dadurch, dass die westlichen Russland-Sanktionen die Preise für Düngemittel auch in Sambia in die Höhe schnellen ließen.[9]

Landgrabbing weltweit

Landgrabbing, wie es Amatheon Agri unter anderem in Sambia betreibt, hat sich in jüngerer Zeit weltweit zu einem boomenden Trend unter Investoren entwickelt. Bereits im Jahr 2018 wurde die Größe der landwirtschaftlich genutzten Fläche, die sich Investoren allein seit dem Jahr 2000 angeeignet hatten, auf ungefähr 26,7 Millionen Hektar Land geschätzt – mehr als zwei Drittel der Gesamtfläche der Bundesrepublik. Allein in Afrika seien Agrarflächen in einer Größe von zehn Millionen Hektar verkauft worden, hieß es. Dabei hätten nur neun Prozent der Akquisitionen weltweit die Nutzung zur Lebensmittelproduktion zum Ziel gehabt; 38 Prozent der Erwerbungen seien „für Pflanzen bestimmt“ gewesen, „die nicht der menschlichen Ernährung dienen“, sondern der Herstellung von Tierfutter oder auch von Biokraftstoffen.[10] Mittlerweile werden – so etwa durch das Unternehmen Blue Carbon mit Sitz in Dubai – auch riesige Waldflächen in Ländern Afrikas, Asiens und Lateinamerikas aufgekauft, um per Emissionshandel Geld zu verdienen und damit die Industrieländer, die sich nicht schnell genug dekarbonisieren, zu entlasten.[11] Wie schnell die Entwicklung voranschreitet, zeigt die Tatsache, dass nach einer aktuellen Analyse die seit 2000 von Landgrabbing betroffene Fläche mittlerweile auf 100 bis 213 Millionen Hektar geschätzt wird.[12]

Stillschweigende Zustimmung

Auch andere deutsche Unternehmen beteiligen sich an Landgrabbing in großem Stil – und zwar nicht nur Amatheon Agri. So investierte etwa die Deutsche Bank, wie Roman Herre, Agrarreferent von FIAN Deutschland, berichtet, im Jahr 2009 über ihr Tochterunternehmen DWS „mindestens 279 Millionen Euro in Firmen, die Agrarland kaufen oder pachten“. Diese Firmen hätten mehr als drei Millionen Hektar Land „in Südamerika, Afrika und Südostasien“ in ihren Besitz gebracht.[13] Laut Herre hat zudem die Ärzteversorgung Westfalen-Lippe „100 Millionen US-Dollar in einen globalen Landfonds“ investiert, der „allein in Brasilien 133.000 Hektar Land insbesondere für riesige Sojabohnenmonokulturen aufgekauft“ habe. Herre weist darauf hin, die Bundesregierung müsse der aktuellen „Rechtsauslegung der Vereinten Nationen zu Land- und Menschenrechten“ zufolge eigentlich einschreiten; sie müsse nicht nur sicherstellen, dass „ihr eigenes Handeln beispielsweise über Entwicklungsbanken nicht zur Verletzung legitimer Landrechte führt“, sondern auch, dass eine solche Rechtsverletzung „durch in Deutschland ansässige Unternehmen mittels Regulierung unterbunden“ werde.
In Wirklichkeit ist die Bundesregierung freilich – das zeigen nicht zuletzt die unterstützenden Worte aus der deutschen Botschaft in Sambia für Amatheon Agri – von jedem Einschreiten gegen Landgrabbing weit entfernt.

 

[1] David Nikolai Müller, Tobias Fuchs: Justiz-Krimi um Dessous-Firma von Finanzjongleur Lars Windhorst: Luxusmarke La Perla droht der Ausverkauf. businessinsider.de 19.01.2024.

[2] Olaf Storbeck, Robert Smith, Cynthia O’Murchu: Court suspends arrest warrant after Lars Windhorst agrees to attend hearing. ft.com 04.06.2024.

[3] „Globale Ernährungstrends mit Afrikas Potenzial kombinieren, das ist unsere Stärke“. Carl Heinrich Bruhn, Amatheon Agri Holding N.V. fixed-income.org 02.02.2021.

[4] Berliner Agrarinvestor Amatheon: Konflikte um Land und Wasser eskalieren. fian.de 03.09.2024.

[5] Kathrin Hartmann: Deutscher Agrarinvestor in Sambia: Amatheon Agri in der Kritik. rosalux.de 13.09.2024.

[6] Sambia – Amatheon. fian.de.

[7] Kathrin Hartmann: Deutscher Agrarinvestor in Sambia: Amatheon Agri in der Kritik. rosalux.de 13.09.2024.

[8] Kathrin Hartmann: Konflikte um Land und Wasser: Sambische Bauern gegen deutsche Firma. fr.de 03.09.2024.

[9] Zambia: Impacts of the Ukraine and Global Crises on Poverty and Food Security. International Food Policy Research Institute (IFPRI): Country Brief 15. 07.07.2022. S. auch Die Hungermacher (IV).

[10] Landgrabbing. weltagrarbericht.de.

[11] Land Grabs for Carbon. thebreakthrough.org 28.05.2024.

[12], [13] Roman Herre: Land Grabbing: Boden als Investitionsobjekt. boell.de 09.01.2024.

 

"Besuchen Sie Europa, solange es noch steht!" - oder: Das Pentagon lässt die Folgen eines Atomkriegs in Europa abklären

Lebenshaus-Newsletter - Thu, 19/09/2024 - 07:40
Mit dem obigen Slogan bewarben amerikanische Reisebüros Anfang der Achtzigerjahre Reisen nach Europa im Zuge der Diskussion um die Stationierung... Michael Schmid http://www.lebenshaus-alb.de

Nord Stream Update, Israel’s Pager attack & the war in Ukraine

acTVism - Wed, 18/09/2024 - 18:54

Nord Stream Update, Israel's Pager attack & the war in Ukraine

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EU-Kommissar für Rüstung und Krieg

IMI Tübingen - Wed, 18/09/2024 - 12:08
Sie wolle eine „geopolitische Kommission“ anführen, kündigte Ursula von der Leyen zu Beginn ihrer ersten Amtszeit als Chefin der Brüsseler Behörde an. Spätestens mit den gestern präsentierten Personalvorschlägen für ihre zweite Amtszeit wird klar, dass sie nun einer „Kriegs- und (…)

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Wie die Neocons seit den frühen 1990er Jahren die Hegemonie dem Frieden vorziehen

acTVism - Wed, 18/09/2024 - 10:05

Wie die Neocons seit den frühen 1990er Jahren die Hegemonie dem Frieden vorziehen.

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Hetze gegen "die jüdisch-internationale Weltfriedensidee" im Jahr 1894

Lebenshaus-Newsletter - Wed, 18/09/2024 - 06:48
Ein zentraler Aspekt des vom Lebenshaus Schwäbische Alb e.V. mitgetragenen Forschungsprojektes "Pazifisten und Antimilitaristen aus jüdischen Familien" wird die historische... Michael Schmid http://www.lebenshaus-alb.de

Deutsche Ökonomie in der Globalisierungsfalle? Die internationale Vernetzung der deutschen Wirtschaft

ISW München - Tue, 17/09/2024 - 22:46

Die deutsche Ökonomie ist gekennzeichnet durch intensive internationale Verflechtungen.
Ein Merkmal dieser besonderen außenwirtschaftlichen Beziehungen ist seit Jahren der Außenhandelsüberschuss.




Bei der Betrachtung des Offenheitsgrades (Summe von Exporten und Importen im Verhältnis zur Wirtschaftsleistung) weist Deutschland eine erheblich größere Offenheit aus als vergleichbare andere Industrieländer wie Frankreich, Vereinigtes Königreich, China oder die USA (vgl. hierzu Prognos 2024, 2). Dabei weist die Verflechtung weit über die in den Handelsstatistiken ablesbaren Größen hinaus. Es ist nicht übertrieben zu behaupten, der Aufstieg Deutschlands zu einer führenden Industrienation ist eng mit diesen internationalen Verflechtungen verbunden, ja wäre ohne sie kaum vorstellbar. Sie sind ein besonderes Charakteristikum der wirtschaftlichen Ausrichtung in diesem Land.

Ein Merkmal dieser besonderen außenwirtschaftlichen Beziehungen ist seit Jahren intensiv in der Debatte und in der Kritik: der Außenhandelsüberschuss (vgl. hierzu beispielhaft neben ganz vielen anderen Veröffentlichungen: Arbeitsgruppe Alternative Wirtschaftspolitik 2017). Deutschland produziert seit Jahr- zehnten mehr Waren, als es im Inland verbraucht. Dieser oft als »Exportorien- tierung« bezeichnete Tatbestand war lange Zeit der wichtigste Wachstumstreiber der deutschen Wirtschaft. Der Schwerpunkt der deutschen Warenausfuhren liegt dabei bei wenigen Industriebranchen. Die Autoindustrie, der Maschinenbau, die Chemische Industrie, DV-Geräte, Elektronik, Optik und die Elektrischen Ausrüs- tungen machten im Jahr 2023 55 Prozent der gesamten Ausfuhren aus.

Deutschland ist einer der wenigen klassischen Industrieländer, wo die Be- deutung der Industrie (Anteil an Bruttowertschöpfung und an der Beschäftigung) für die gesamte Wirtschaft seit langem stabil ist. Fast alle anderen Länder hat- ten mehr oder weniger ausgeprägte Deindustrialisierungen zu verkraften. Ohne erhebliche Exportquoten wäre diese Entwicklung in Deutschland nicht möglich gewesen. Einen so großen Bedarf an industriellen Produkten gibt es inländisch schlicht nicht.

Allerdings sind die Zeiten stark steigender Außenhandelsüberschüsse vorbei. Der Höhepunkt war bereits 2016 erreicht, als der Überschuss einen Wert von fast 250 Milliarden Euro erreichte. Seitdem war er bis 2022 kontinuierlich gesunken. Im letzten Jahr stieg er wieder an, blieb aber mit 225 Milliarden Euro deutlich unter den früheren Spitzenwerden. Zudem sind diese Daten aus der Handelssta- tistik nicht preisbereinigt. Real ist der Rückgang in den letzten Jahren damit noch viel größer gewesen.

Während die Exportorientierung immer Gegenstand intensiver Debatten war, ist ein anderes Merkmal der internationalen Verflechtungen lange Zeit unbeachtet geblieben: die Importorientierung. Erst in den Zeiten der Corona-Krise, als internationale Lieferketten gerissen sind und Produktion deshalb nicht mehr stattfinden konnte, rückte auch dieser Aspekt in den Blickpunkt. 2023 betrugen die Warenausführen knapp 1,6 Billionen Euro, die Einfuhren beliefen sich aber ebenfalls auf gigantische 1,4 Billionen Euro. Angesichts dieser Summen relati- viert sich sogar der enorme Außenhandelsüberschuss. Bis 2019 waren sowohl die Exporte als auch die Importe kontinuierlich angestiegen, mit Ausnahme der Krisenjahre 2009/10. Der Rückgang 2020 war ebenfalls krisenbedingt, durch die Maßnahmen zur Bekämpfung der Coronapandemie waren die Außenhandels- beziehungen stark eingeschränkt. Der starke Anstieg der Einfuhren 2022 beruht ausschließlich auf Preiseffekten, weil die Importpreise für Gas und Öl und auch einige andere Rohstoffe förmlich explodierten. Das hat sich im letzten Jahr wie- der normalisiert.

Von dem Muster, das Rohstoffe eingeführt und dann industrielle bearbeitet wer- den und diese Produkte dann ausgeführt werden, haben sich die deutschen Ein- fuhren schon lange entfernt. Natürlich werden auch weiterhin Rohstoffe impor- tiert, da Deutschland als rohstoffarmes Land darauf angewiesen ist. Das ist aber nur ein relativ kleiner Teil. Selbst wenn man davon ausgeht, dass Rohstoffe zu relativ niedrigen Preisen gehandelt werden und deshalb – in Werten ausgedrückt

– in der Handelsbilanz unterrepräsentiert sind, machen sie nur einen kleinen Teil der Importe aus. Die Struktur der Güter unterscheidet sich nicht wesentlich von der Struktur der Exportgüter. Gut die Hälfte der importierten Waren sind Produkte der wichtigen Industriebranchen DV-Geräte, elektrische und optische Erzeugnisse, Autoindustrie, elektrische Ausrüstungen, Maschinenbau und che- mische Erzeugnisse.

Auch von den Ländern unterscheiden sich die Warenein- und Ausfuhren nicht besonders stark. Wichtigster Handelspartner ist in jedem Fall die EU. 54 Prozent der Exporte gingen und 52 Prozent der Importe kamen 2023 aus der EU. Nach einzelnen Ländern sortiert gehen die Exporte vor allem in die USA, nach Frankreich, die Niederlande, China und Polen. China ist das einzige Land, bei dem sich die deutschen Handelsbeziehungen deutlich von den anderen unter- scheiden. Aus China beziehen wir viel mehr Waren, als wir dorthin verkaufen. So ist die Rangfolge der wichtigsten Importstaaten China, die Niederlande (das ist ein Sonderfall, weil ein großer Teil der Ölimporte der Niederlande zugerechnet wird), Polen und Italien.

Zu den Importen gehören neben Gas, Öl, Metallen und landwirtschaftlichen Er- zeugnissen auch Konsumgüter. Große Teile der heimischen Konsumgüterindus- trie wurden in den letzten Jahrzehnten von den Importeuren verdrängt. So gibt es beispielsweise praktisch keine Produktion von Unterhaltungselektronik oder von Textilien mehr in Deutschland. Diese Branchen haben dem Kostendruck mit Ländern, die mit erheblich geringerem Lohnniveau fertigen, nicht standgehalten. Auch viele gängige Medikamente kommen mittlerweile fast ausschließlich aus dem Ausland. Doch die Einfuhren spielen auch für die hiesige Produktion eine ganz wichtige Rolle. Es werden in großem Maße industrielle Vorprodukte ein- geführt, die in Deutschland weiterverarbeitet werden.

Mit der Osterweiterung der EU wurde die dortige Industrie zu einer verlän- gerten Werkbank der hiesigen Unternehmen entwickelt. Viele neue Fabriken entstanden auch auf der grünen Wiese. Teile der vorher in Deutschland statt- findenden Produktion wurde in diese Länder verlagert, was zu einer erheblichen Kostensenkung führte. Eine weitere wichtige Vorleistungsgruppe, die importiert wird, sind Güter, die in Deutschland nicht in ausreichender Menge und/oder in ausreichender Qualität zur Verfügung stehen. An erster Stelle sind hier die Halb- leiter zu nennen, die in vielen Branchen benötigt werden. Im Ergebnis ist in der deutschen Industrieproduktion ein bedeutender Teil ausländischer Wertschöp- fung enthalten.

»Der überdurchschnittlich hohe Offenheitsgrad liegt unter anderem am ho- hen deutschen Importbedarf an Vorleistungsgütern für die weitere Verarbeitung in den industriellen Wertschöpfungsketten. Ein erster Überblick zeigt, dass ei- nige Branchen besonders viele Vorleistungsgüter aus dem Ausland beziehen, die dann in ihren jeweiligen Produktionsprozessen weitere Verwendung finden. An der Spitze steht hier der Kraftwagenbau mit Vorleistungsimporten im Wert von mehr als 60 Mrd. Euro.« (Prognos 2024, 2)

In den zentralen deutschen Industriebranchen wie Auto, Chemie oder Maschi- nenbau stammen 30–40 Prozent der Wertschöpfung aus dem Ausland. Das gilt in etwas abgeschwächter Form nicht nur für die Produktion, sondern auch für die deutschen Ausfuhren. »Etwa 30 Prozent der Exporte des Verarbeitenden Gewerbes enthalten importierte Vorleistungen und Rohstoffe. … In der Auto- mobilindustrie macht ausländische Wertschöpfung etwa 28 Prozent des Wertes der Exporte aus. Das liegt etwas unterhalb des Durschnitts des Verarbeitenden Gewerbes. Die Bedeutung globaler Wertschöpfungsketten hat über die Zeit zu- genommen« (SVR 2022, 375).

Damit wird der Umriss des deutschen »Geschäftsmodells« deutlich. Mit dem Import günstiger Konsumgüter und günstiger Energie wurde der Lebensstandard gesichert. Gleichzeitig haben niedrige Energie- und Rohstoffpreise sowie die Ein- fuhr von industriellen Vorleistungsgütern aus Staaten mit erheblich niedrigerem Lohnniveau die Wettbewerbsfähigkeit der Industrie gesteigert. Das hat zu den großen Exporterfolgen beigetragen und somit relativ gut bezahlte industrielle Ar- beitsplätze gesichert und den exportierenden Konzernen hervorragende Profite beschert. Doch dieses Modell stößt schon seit längerem an seine Grenzen. Die un- mittelbaren Wachstumseffekte aus den vielfältigen Außenhandelsverflechtungen lassen sich am Außenbeitrag ablesen. Diese Größe aus der Volkswirtschaftlichen Gesamtrechnung beschreibt den Anteil des Wachstums (oder des Schrumpfens), die sich aus den Exporten minus der Importe ergeben.

Zuletzt waren es die Jahre 2010 bis 2012, in denen es der deutschen Ökonomie gelungen war, einen nennenswerten Außenbeitrag zu erwirtschaften. Damals haben die Exporte wesentlich dazu beigetragen, die Wirtschafts- und Finanz- krise schnell zu überwinden, was als V-förmiger Krisenverlauf bezeichnet wur- de. Die Industrie hatte dabei stark von den weltweiten Konjunkturprogrammen profitiert, die zur Überwindung der Krise aufgelegt wurden. In den Jahren 2013 bis 2018, die von einem mäßigen konjunkturellen Aufschwung geprägt waren, traf das nicht mehr zu. Auf den gesamten Zeitraum betrachtet gab es überhaupt keinen positiven Außenbeitrag mehr. Die Außenhandelsverflechtungen hatten das Wachstum vermindert und keineswegs gepusht. Der Aufschwung war aus- schließlich binnenwirtschaftlich getragen. 2020 setzte dann eine Phase multipler Krisen mit vielfältigen Ursachen ein.

Die Phase der De-Globalisierung

Die große weltweite Finanz- und Wirtschaftskrise der Jahre 2008/09 war nicht nur für die deutschen Außenhandelsbeziehungen eine tiefgreifende Zäsur. Zu- mindest was den Welthandel betrifft brach der Prozess der fortschreitenden Globalisierung, bei dem der Welthandel schneller zunahm als die Wirtschafts- leistung, ab. Eine neue Phase der Wirtschaftsbeziehungen brach an, die viele als De-Globalisierung charakterisierten. Es waren aber nicht nur die realen Han- delsbeziehungen betroffen, auch die ideologischen Debatten verschoben sich. Wurden die »Schatten der Globalisierung« (Stiglitz) wie die Deregulierung der Finanzmärkte, die Folgen des Freihandels und die immer ungleichere Verteilung bisher von linker Seite intensiv kritisiert (was auch zur Gründung von ATTAC führte), so kam die Globalisierung jetzt von rechts, von nationalistischer Seite, immer stärker unter Beschuss.

»Der Trend geringerer Wachstumsraten und stagnierender Globalisierung ist Folge der Krisen der letzten Jahre sowie der zunehmenden Widerstände ge- gen eine voranschreitende Öffnung der Märkte. Seit vielen Jahrzehnten war die Grundhaltung neo-liberaler Ökonomen das herrschende Paradigma. Dazu gehör- te auch die auf Adam Smith und David Ricardo zurückgehende Überzeugung, dass der Handel und die Spezialisierung der Länder auf die Waren, die sie we- gen einer besseren Verfügbarkeit von Produktionsfaktoren zu (vergleichsweise) geringeren Kosten herzustellen vermögen, den Wohlstand mehren.« (Kurtzke/ Scheidt 2023, 3)

Dieses Paradigma wich immer stärker den Forderungen nach nationaler Ab- schottung. Politisch setzte sich dieser nationalistische Kurs mit der Wahl von Donald Trump (Amtszeit 2017–2021) vor allem in den USA durch. Der wirt- schaftliche Konflikt mit China wurde weiter zugespitzt, aber auch gegen andere Länder wie die EU wurden Strafzölle eingeführt. Die Verhandlungen über ein Freihandelsabkommen mit der EU (TTIP) wurden abgebrochen. Der nordameri- kanische Freihandelspakt NAFTA wurde ebenfalls ausgesetzt und durch das neue Abkommen United States-Mexico-Canada Agreement (USMCA) ersetzt, in dem es beispielsweise umfangreichere Local Content Bestimmungen gibt. Obwohl dieser neue Kurs die selbst gesteckten Ziele, wie eine Verringerung des US-Ame- rikanischen Leistungsbilanzdefizits, klar verfehlte (siehe hierzu Arbeitsgruppe Alternative Wirtschaftspolitik 2023, 85f), wurde die Zollpolitik unter Joe Biden praktisch unverändert fortgeführt, die Sanktionspolitik gegenüber China sogar verschärft. Die Politik der Abschottung ist offensichtlich in den USA zu populär um geändert zu werden.

Eine ganz neue Qualität der Störung internationaler Wirtschaftsverflechtun- gen entwickelte sich ab 2020. Zunächst brach im Frühjahr die Corona-Pandemie aus. Die Staaten versuchten, durch Abschottungen, Grenzschließungen, Betriebs- schließungen und vielen Einschränkungen für die Bevölkerung die Ausbreitung des Virus zu verhindern. Das hat die wirtschaftlichen Aktivitäten erheblich eingeschränkt. Die Welt geriet in eine schwere Wirtschaftskrise. Noch stärker waren die internationalen Beziehungen betroffen. Einzelne Länder wie China fuhren mit einer null-Covid-Strategie einen noch härteren Kurs. Ganze Städte (oder auch Häfen) wurden abgeriegelt, wenn einzelne Infektionsfälle auftragen. Die in- ternationalen Lieferketten brachen zeitweise zusammen. Deutschland war davon besonders stark betroffen, die ganz große Mehrheit der Unternehmen litten wie die Befragungen des ifo-Instituts ergaben unter Materiamangel. Die Produktion musste häufig eingeschränkt werden. Besonders prominent in der öffentlichen Wahrnehmung war der Mangel an Mikrochips in der Automobilindustrie, doch es fehlte an vielen Rohstoffen und Vorprodukten und das in praktisch allen Bran- chen.

»Bei näherer Betrachtung der großen europäischen Industrien fallen zwei Dinge ins Auge. Erstens kämpfte Frankreich historisch mit einer hohen Material- knappheit. Diese zeigte sich insbesondere Anfang der 1990er und 2000er Jahre. Die Werte für Deutschland, Spanien, Italien und Österreich lagen vor der Pande- mie im Schnitt bei 4,6 %. Zweitens litt besonders Deutschland unter den jüngs- ten Materialengpässen. Ende 2021 und Anfang 2022 berichteten in Deutschland mehr als 80 % der befragten Unternehmen von Engpässen. In Irland, Schweden und Dänemark – die neben Deutschland am stärksten betroffen waren – klagten 71 %, 67 % beziehungsweise 65 % der Unternehmen über einen Materialmangel« (Licht/Wohlrabe 2024, 60f).

Nachdem die wirtschaftlichen Folgen der Pandemie abklangen und die Lage sich beruhigte, begann der Krieg Russlands gegen die Ukraine. Die EU und viele westliche Staaten reagierten mit umfassenden Sanktionspaketen, mit denen die russische Ökonomie in die Knie gezwungen und damit Kriegsuntüchtig gemacht werden sollte. Vor allem für die weltweite Energieversorgung erwiesen sich der Krieg und die Sanktionen als verheerend. Aber auch bei einigen Metallen, bei Lebens- und Düngemitteln gab es Versorgungsengpässe, die zu stark steigenden Preisen führten. Die unmittelbaren Handelsverflechtungen Deutschlands mit Russland waren nicht sehr ausgeprägt, doch die explodierenden Energiepreise haben die deutsche Ökonomie stark beeinträchtigt. Auch wenn die Energiepreise inzwischen fast wieder das Vorkrisenniveau erreicht haben, die Zeiten der sehr billigen Energie ist wahrscheinlich endgültig vorbei. Und es ist der Arbeitsgrup- pe Alternative Wirtschaftspolitik unbedingt zuzustimmen, wenn sie in diesem Krieg einen Brandbeschleuniger für die Krise der internationalen Wirtschafts- beziehungen sieht.

»Der Krieg hat auch die geopolitische Spaltung der Welt vorangetrieben. Schon vorher entfaltete sich der Machtkampf um eine dominierende Stellung in der Welt zwischen den USA und China. Jetzt droht zunehmend eine Blockbil- dung, bei der China und Russland auf der einen Seite, Europa, die USA und Japan auf der anderen Seite stehen. Als Konsequenz werden in Deutschland die engen wirtschaftlichen Beziehungen zu China deutlich kritischer gesehen. Konzerne ge- raten in eine Zwickmühle zwischen der wirtschaftlichen Abhängigkeit von China und den Risiken ihres Engagements bei feiner Zuspitzung des Konflikts.« (Arbeitsgruppe Alternative Wirtschaftspolitik 2023, 85)

In der schwierigen geopolitischen Situation, in der wir uns gegenwärtig be- finden, gibt es mit dem notwendigen ökologischen Umbau und der fortschrei- tenden Digitalisierung zwei weitere Mega-Themen, die auch das internationale Wirtschaftsgeflecht massiv verändert. Die Umstellung auf erneuerbare Energien ist langfristig nicht nur aus ökologischen Gründen vorteilhaft. Zwar fallen enor- me Investitionsaufwendungen an, aber für die laufende Stromproduktion gibt es keine zusätzlichen Rohstoffkosten. Auch die Abhängigkeiten von Energieimpor- ten nehmen ab. Zwar wird Deutschland auch mit erneuerbaren Energien nicht Energieautark und wird weiter auf Einfuhren angewiesen sein. Die Anteile der inländischen Erzeugung fallen bei Wind und Sonne deutlich höher aus als bei fossilen Brennstoffen. Zudem können die Importe leichter diversifiziert werden, weil relativ viele Länder klimatisch gute Voraussetzungen für erneuerbare Ener- gien aufwarten.

Auf dem Weg dorthin gibt es aber neue internationale Abhängigkeiten. Das fängt aktuell bei den Solarpanels an, die nicht mehr in Deutschland produziert werden. Sie werden ausschließlich aus China importiert. Auch bei den Elemen- ten für Windkraftanlagen wachsen die Anteile, die von ausländischen Zulieferern kommen. Wenn man nicht nur die Energieversorgung anschaut, sondern den gesamten ökologischen und digitalen Umbau, dann verändert sich der Bedarf an Rohstoffen. Nach der Definition der EU sind kritische Rohstoffe solche, die eine hohe geographische Konzentration und häufige Verwendung in Zukunftstechno- logien aufweisen. Unter letzterem werden 3D-Druck, Drohnen, Digitale Techno- logien, Li-Ionen Batterien, Robotik, Photovoltaik, E-Motoren und Windenergie gesehen.

Kritische Rohstoffe sind Cobalt, Bor, Silicium, Graphit, Magnesium, Lithium, Niob, Seltene Erden und Titan (siehe hierzu Flach u. a. 2022). Bei einigen dieser Rohstoffe wird in den kommenden Jahren ein gewaltig steigender Bedarf prog- nostiziert. Bei vielen ist China derzeit ein wichtiger Lieferant für den Weltmarkt. Mangelnde Investition in Förderstätten, sich zuspitzende Konflikte und Handels- kriege können schnell zu Lieferproblemen und/oder stark steigenden Preisen führen.

Ein heikler Punkt in den internationalen Wirtschaftsbeziehungen sind Sub- ventionen. Nach den Regeln der Welthandelsorganisation WTO sind sie norma- lerweise verboten, um international faire Wettbewerbsbedingungen zu garantie- ren. Es gab immer wieder Vorwürfe, Verdächtigungen und auch Verfahren vor den WTO-Schiedsgerichten wegen unerlaubter Subventionierung. Ein bekann- ter Fall, der sich seit vielen Jahren hinzieht sind die gegenseitigen Vorwürfe zwi- schen Boing und Airbus. Jetzt sind viele Staaten ganz offen dazu übergegangen, die WTO-Regeln nicht mehr zu beachten und mit massiven Subventionen um die Ansiedlung von Kapital zu buhlen. Ziel ist es, internationale Abhängigkeiten zu verringern, Arbeitsplätze im eigenen Land zu sichern und die industrielle Füh- rerschaft in wichtigen Branchen zu erzielen.

China arbeitet mit einem vielfältigen Förderinstrumentarium daran, bis 2049 zur weltweiten führenden Industrienation aufzusteigen. Zwischenschritte dahin waren der fünf-Jahres-Plan 2021–2025 und die Made in China 2025 Strategie.

»Das Handlungsmuster, wie in der ‚Made in China 2025‘ Strategie vorgegangen wird, ist bei den unterschiedlichen Technologien ähnlich. Zuerst werden aus- ländische Investoren angeworben, Technologien übernommen und Nachfrage geschaffen. Danach entwickelt man sich selber Schritt für Schritt zum globalen Technologieführer.« (Kurtzke/Scheidt 2023, 16)

In den USA hat die Biden-Administration zur Ankurbelung der Wirtschaft einen »Built Back Better Plan« aufgelegt. Neben einem Programm für mehr In- frastrukturinvestitionen »Infrastructure Investment and Jobs Act« gehören dazu zwei große Förderprogramme zur Subventionierung der Industrie. Das ist der

»Chips and Science Act« (Volumen 280 Milliarden US-Dollar) und der »Infla tion Reduction Act” (Volumen 550 Milliarden Euro) (Vgl. ausführlicher Kurtzke/ Scheidt 2023, 10ff). Die Finanzvolumina sind nur erste Ansätze. Da die Förder- mittel nicht gedeckelt sind, können die Beträge noch erheblich ansteigen.

Auch in der EU gibt es eine Vielzahl an industriepolitischen Initiativen und Förderprogrammen, um den ökologischen Umbau, die Digitalisierung und stra- tegische industrielle Ziele finanziell zu unterstützen. Sie werden im »Green Deal Industrial Plan« gebündelt. Die möglichen Fördervolumina unterscheiden sich wahrscheinlich gar nicht so viel von den US-amerikanischen und den chinesi- schen Programmen. Doch die EU hat hier einen strukturellen Nachteil: Es dauert in der Regel sehr lange, bis entsprechende Initiativen das europäische Gesetzge- bungsverfahren durchlaufen haben. Dann müssen diese Richtlinien noch in na- tionales Recht überführt werden. Am Ende müssen die konkreten Fördermittel wieder von der EU genehmigt werden. Auch wird normalerweise nur die Erlaub- nis zur Förderung erteilt, die Geldmittel kommen von den Nationalstaaten. Vie- le können sich entsprechende Förderungen gar nicht leisten. Deutschland hätte damit zwar grundsätzlich kein Problem, es schränkt sich aber selber durch die Schuldenbremse und keine ausreichende Besteuerung von Unternehmen, hohen Einkommen und großen Vermögen ein.

Grundsätzlich ist es zwar richtig, wenn Regierungen die wirtschaftliche Ent- wicklung nicht dem freien Markt überlassen, sondern selbst für die strategische Ausrichtung eingreift. Die Förderung ökologischer Produktion, die sich über Marktpreise noch nicht rechnet, kann auch sehr sinnvoll sein. Doch faktisch ha- ben die vielen nationalen Initiativen zu einem Subventionswettlauf geführt, der sehr teuer ist und bei dem alle verlieren. Krätke beschreibt diese Entwicklung spe- ziell für die Halbleiterbranche. Weil sie als strategisch sehr wichtig eingeschätzt wird, werden Investitionen praktisch überall gefördert. »Damit erleben wir den Beginn eines weltweiten industriepolitischen Wettlaufs, der die heutige interna- tionale Arbeitsteilung zwangsläufig verändern muss. Denn alle wollen sich aus der Abhängigkeit von Zulieferern aus dem Ausland lösen.« (Krätke 2022, 101) Das ist in diesem Fall besonders ärgerlich, weil es sich um eine hochprofitable Branche handelt, die überhaupt keiner Förderung bedarf.

Die weltweite Aufstellung des deutschen Kapitals

Nicht erst, seit es für die Ansiedlung von bestimmten Industrien hohe staatliche Subventionen gibt, ist die Anlage des Kapitals im Ausland für deutsche Unterneh- men ein Thema. Es ist ein langfristiger Trend und ein weiterer Faktor der inter- nationalen Verflechtung der deutschen Ökonomie. »Deutsche Unternehmen par- tizipierten ebenfalls an der Globalisierung in Form von Direktinvestitionen. So schraubten hiesige Firmen ihren konsolidierten Bestand an Direktinvestitionen im Ausland von gut 120 Mrd € Ende des Jahres 1990 auf knapp 1½ Billionen € Ende 2019 hoch.« (Deutsche Bundesbank 2021, 18)

Die Motive für Direktinvestitionen sind vielfältig. Saldenmechanisch sind sie eine Gegenbuchung zu den Leistungsbilanzüberschüssen. Allerdings stellt der Be- stand an Direktinvestitionen auch Vermögen dar, aus denen wieder Renditen er- wirtschaftet werden. Wenn diese nicht vollständig wieder in dem Land investiert werden, steigern diese Einnahmen wiederum den Leistungsbilanzüberschuss.

»Die Primäreinkommensbilanz wies im Berichtsjahr einen massiven, praktisch unveränderten Aktivsaldo von 144 Mrd. € aus. Der Überschuss war nur etwa 2 Mrd. € höher als 2022, nachdem er in den beiden Jahren zuvor kräftig angestie- gen war. Somit entsprachen allein die Nettoerträge der Primäreinkommen etwa 3 ½ % des BIP.« (Deutsche Bundesbank 2024, 96) Zum Vergleich: der gesamte Überschuss in der Leistungsbilanz betrug 2023 243,1 Milliarden Euro. Aus den internationalen Vermögenseinkommen speist sich also ein erheblicher Teil des gesamten Leistungsbilanzüberschusses.

Den größten Bestand an deutschen Direktinvestitionen im Ausland hatte 2021 mit 489 Milliarden Euro die EU, knapp dahinter lagen die USA mit 409 Mil- liarden Euro. Der Bestand an deutschen Direktinvestitionen in China war mit 103 Milliarden Euro deutlich kleiner, wenn auch schnell zunehmend. Insgesamt sind die ausländischen Direktinvestitionen in Deutschland erheblich geringer. Der Be- stand an Direktinvestitionen aus der EU lag bei 380 Milliarden Euro. Aus den USA war der Bestand mit 67 Milliarden Euro relativ klein, aus China gab es gar nur einen Bestand von 4,6 Milliarden Euro (alle Zahlen Deutsche Bundesbank). Das in Deutschland manchmal der Eindruck vermittelt wird, es gebe einen Aus- verkauf der deutschen Wirtschaft an das Ausland oder gar nach China, erscheint nach den Zahlen relativ absurd. Generell gibt es aber auf der Kapitalseite eine große internationale Verflechtung.

Aus der Sicht des einzelnen Unternehmens kann eine Direktinvestition eine reine Finanzanlage sein. Oft werden Beteiligungen aber auch aus strategischen Gründen getätigt. Kooperationen zu anderen Unternehmen im Ausland werden so aufgebaut. Mit der Mehrheitsübernahme anderer Unternehmen oder dem Aufbau von Produktionsstätten auf der grünen Wiese können aber auch die eigenen Produktionskapazitäten erweitert werden. Damit können Exporte ergänzt oder ersetzt werden.

Das die Direktinvestitionen auch in den Aufbau von Produktionskapazitäten geflossen sind, zeigt sehr deutlich die deutsche Automobilproduktion. 2023 pro- duzierten die deutschen Autokonzerne im Inland 4,1 Millionen PKW (von denen 75,7 Prozent exportiert wurden), aber an ausländischen Fertigungsstätten 10,1 Millionen PKW. Die ausländischen Produktionskapazitäten sind also längst viel größer als diejenigen in Deutschland. An erster Stelle steht dabei China, wo die deutschen Konzerne (hier nur Zahlen für 2021) 4,36 Millionen PKW fertigten. Danach folgen die ausländischen Standorte in Europa mit 3,18 Millionen PKW und in Amerika mit 1,98 Millionen PKW. Der Anteil der inländischen Fertigung an der Gesamtproduktion hat gegenüber 2018 weiter abgenommen.

Als Motiv für die Produktion im Ausland gilt häufig die größere Marktnähe. In gewissem Maße können dann Direktinvestitionen im Ausland die heimische Produktion sogar stärken. Unternehmen die investieren tun dies häufig im In- land und im Ausland. Allerdings kann es auch zur Verlagerung der inländischen Produktion kommen, dann werden Exporte durch Auslandsproduktion ersetzt. Es spricht viel dafür, dass wir dieses gerade in China erleben. Die Exporte bre- chen ein, die Direktinvestitionen steigen weiter. »Der sprunghafte Anstieg der grenzüberschreitenden Primäreinkommen aus China sowie die reinvestierten Gewinne deutscher Unternehmen deuten darauf hin, dass deutsche Unterneh- men zunehmend nicht mehr nach China exportieren, sondern direkt dort produ- zieren. Darüber hinaus erhöht China seinen heimischen Wertschöpfungsanteil an konsumierten, investierten und produzierten Waren, sodass die Importquote

Chinas um etwa die Hälfte im Beobachtungszeitraum gesunken ist. Hierfür ist nicht zuletzt Chinas technischer Fortschritt verantwortlich.« (Stamer 2023, 11)

Was bedeutet es aus deutscher Perspektive, wenn Exportproduktion substi- tuiert wird? Hier muss man klar unterscheiden zwischen der Perspektive der Be- schäftigten und des Kapital. Aus der Sicht der Beschäftigten gehen Arbeitsplätze verloren. Wenn diese nicht durch zusätzliche inländische Nachfrage ersetzt wer- den können, ist damit klar ein Wohlstandverlust verbunden. Allerdings ist damit für die – in diesem Fall chinesischen – Beschäftigten eine Zunahme an Arbeits- plätzen und damit an Wohlstand verbunden. Der Außenhandelsüberschuss geht zurück. Aus der Sicht des Kapitals kommt es nur auf die Renditen an. Da diese bei der chinesischen Produktion mindestens so hoch sind wie in Deutschland (siehe hierzu Bertelsmann Stiftung 2023), haben Vorteile. Denn sie können Ein- fuhrzölle oder Local Content Regelungen umgehen. Bei relativ offenen Handels- beziehungen, wie etwa in der EU, erwächst ihnen ein weiterer großer Vorteil: Ausländische Standorte sind eine gute Möglichkeit, Belegschaften gegeneinander auszuspielen. Die internationale Solidarität ist meist geringer als die innerhalb eines Staates. Neue Aufträge bekommen die Standorte, die günstiger produzieren können. Es gibt die Gefahr eines Unterbietungswettlaufs.

Fazit: Strukturelle Krise des deutschen Wachstumsmodels

Deutschland steckt in der Stagnationsfalle. Ein Teil davon ist rein konjunkturell und wird auch wieder überwunden werden. Ein Teil ist aber auch strukturell: Das deutsche Geschäftsmodell, das auf einer großen internationalen Verflechtung bei Importen, Exporten und Direktinvestitionen angewiesen ist, stößt an seine Grenzen in einer Welt der Deglobalisierung. Die jüngsten Beispiele betreffen den Handel mit China: die Einführung von Einfuhrzöllen auf chinesische Elektro- autos und das Verbot von chinesischen Komponenten bei der 5G Technik in den Telekommunikationsnetzen. Es ist relativ unerheblich, ob die Vorwürfe, die zu diesen Regelungen geführt haben, berechtigt sind oder nicht. Sie werden auf je- den Fall Gegenreaktionen der chinesischen Seite hervorrufen, die wiederum den Handelsbeziehungen schaden werden.

Diejenigen, die eigentlich mit den Zöllen geschützt werden sollen, lehnen sie deshalb auch entschieden ab. »Grundsätzlich gilt: Ausgleichszölle für aus China importierte E-Pkw sind nicht geeignet, die Wettbewerbsfähigkeit der europäi- schen Automobilindustrie zu stärken. Die deutsche Automobilindustrie setzt sich für freien und fairen Handel ein. Jede protektionistische Maßnahme, dazu zählen zusätzliche Zölle genauso wie ungerechtfertigte und marktverzerrende Subven- tionen, schränkt freien Handel ein und birgt das Risiko von Handelskonflikten, die sich letztlich zum Nachteil aller Seiten auswirken.« (VDA-Präsidentin Hilde- gard Müller in einer Presserklärung vom 04.07.2024)

Die geopolitischen Spannungen fallen zudem in eine Zeit des notwendigen ökologischen Umbaus. Es ist völlig unklar, ob die deutsche Industrie ihre Wettbewerbsstärke auch bei einem Umstieg auf ökologische Produkte halten kann. Die derzeitige Situation bei E-Autos lässt daran zumindest Zweifel aufkommen.

Ein letzter Stabilitätsanker ist die EU, mit der die intensivsten Wirtschafts- beziehungen bestehen. Hier gibt es stabile Rechtsbeziehungen. Doch auch an der Stelle wachsen die Risiken: der Brexit war eine erste Warnung und der Aufstieg rechtsradikaler Parteien verheißt nichts Gutes.

Klar ist nur: die Abhängigkeiten von Deutschland sind so groß, dass ein kurz- fristigesDecoubling verheerende Konsequenzen hätte. Deutschland braucht langfristig einen neuen Entwicklungspfad. Vielleicht bietet der ökologische Um- bau dabei sogar Chancen, weil alle Strukturen umgebaut werden müssen.


Literatur

Arbeitsgruppe Alternative Wirtschaftspolitik (2017): Statt »Germany first«: Alternativen für ein solidarisches Europa, MEMORANDUM 2017, Köln.

Arbeitsgruppe Alternative Wirtschaftspolitik (2023): Globalisierung am Ende – Zeit für Alter- nativen, MEMORANDUM 2023, Köln.

Bertelsmann Stiftung (2023): Gewinne deutscher Investoren in China – eine erste empirische Bestandsaufnahme, zusammen mit IW Köln, MERICS gGmbH, BDI.

Deutsche Bundesbank (2021): Grenzüberschreitende Unternehmensübernahmen: Auswirkun- gen der Internationalisierung auf Unternehmen in Deutschland, in: Monatsbericht Juli 2021.

Deutsche Bundesbank (2024): Die deutsche Zahlungsbilanz für das Jahr 2023, in: Monatsbe- richt März 2024.

Flach, L. u. a. (2022): Wie abhängig ist Deutschland von Rohstoffimporten? Eine Analyse für die Produktion von Schlüsseltechnologien, Studie des ifo-Zentrum für Außenwirtschaft für die IHK München und Oberbayern und den DIHK.

Krätke, Michael R., (2022): Chips: Wettlauf um die Schlüsselindustrie des 21. Jahrhunderts, in: Blätter für deutsche und internationale Politik 10/2022.

Kurtzke, W./Scheidt, B. (2023): Krise der Globalisierung, Ursachen und Folgen für die deut- sche Industrie, in: Wirtschaftspolitische Informationen der IG Metall, Juni 2023.

Licht, T, Wohlrabe, K. (2024): Materialengpässe in der Industrie: Ein Blick zurück, Status quo und ein europäischer Vergleicht, in: ifo Schnelldienst 3/2024.

Prognos AG (2024): Resilienz der deutschen und bayerischen Wirtschaft, Studie im Auftrag des vbw, Juli 2024.

Sachverständigenrat (SVR) (2022): Jahresgutachten 2022/23.

Stamer, Vincent (2023): Deutsche Exporte ausgebremst: China ersetzt »Made in Germany«, in: Kiel Policy Brief, September 2023.

 

Erstveröffentlichung Zeitschrift marxistische Erneuerung, Nr. 139, September 2024

Yanis Varoufakis über die sich verändernde Weltwirtschaft

acTVism - Tue, 17/09/2024 - 10:10

Yanis Varoufakis über die sich verändernde Weltwirtschaft.

Der Beitrag Yanis Varoufakis über die sich verändernde Weltwirtschaft erschien zuerst auf acTVism.

Vision einer postextraktivistischen Zukunft

IMI Tübingen - Mon, 16/09/2024 - 15:24
———————————————————- AUSDRUCK – Das IMI-Magazin Ausgabe September 2024 Schwerpunkt: Ungewisse Zukunft Gesamte Ausgabe hier herunterladen ———————————————————- Die aktuelle September-Ausgabe des IMI-Magazins AUSDRUCK hat das Thema „Ungewisse Zukunft“ zum Schwerpunkt. Darin haben wir auch Texte versammelt, die mit ihrem literarisch-fiktionalen Charakter (…)

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Tagebucheinträge des Verdachtsfalls Ibrahim Tepeci

IMI Tübingen - Mon, 16/09/2024 - 15:19
———————————————————- AUSDRUCK – Das IMI-Magazin Ausgabe September 2024 Schwerpunkt: Ungewisse Zukunft Gesamte Ausgabe hier herunterladen ———————————————————- Die aktuelle September-Ausgabe des IMI-Magazins AUSDRUCK hat das Thema „Ungewisse Zukunft“ zum Schwerpunkt. Darin haben wir auch Texte versammelt, die mit ihrem literarisch-fiktionalen Charakter (…)

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