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Festung Deutschland

Mer, 28/08/2024 - 11:16

Die Forderung deutscher Politiker nach dauerhaften Grenzkontrollen zur Abwehr von Flüchtlingen stößt in mehreren Nachbarstaaten auf scharfen Protest und verschärft die Konflikte innerhalb der EU.

 

 

Polens Regierung protestiert, die Grenzkontrollen, die Deutschland schon seit dem Herbst 2023 durchführe, riefen beträchtliche „Schwierigkeiten beim Grenzverkehr“ hervor. Tschechiens Innenministerium wiederum warnt, es drohe ein „Dominoeffekt“; mit diesem stünde möglicherweise die Einführung von Kontrollen im gesamten Schengen-Raum bevor.
 
Mit großer Skepsis werden Grenzkontrollen vor allem in der Industrie beobachtet, die bei einer Verlangsamung grenzüberschreitender Lieferketten Milliardenverluste befürchtet.
Bei den Kontrollen, die einige wenige reiche EU-Staaten bereits heute durchführen, lassen sich Verluste noch begrenzen, da Warentransporte in der Regel ausgenommen sind.
Unklar ist jedoch, ob dringend benötigte Pendler aus Osteuropa weiterhin zur Arbeit in die Bundesrepublik fahren werden, sollten Dauerkontrollen ihre Anreise übermäßig erschweren.

Dauerhafte Grenzkontrollen brechen darüber hinaus EU-Recht und erschweren es Berlin, andere Staaten unter Berufung auf EU-Normen zu disziplinieren.

Aktuelle Grenzkontrollen

Kontrollen an den Schengen-Binnengrenzen werden zur Zeit von einer Minderheit reicher EU-Mitgliedstaaten durchgeführt – vor allem von Deutschland. Die Bundesregierung hat sie erstmals im Jahr 2015 in Gang gesetzt, um die Einreise von Flüchtlingen zu bremsen; an der Grenze zu Österreich hält sie seitdem an der Maßnahme fest.
Grenzkontrollen, die im Jahr 2020 während der Covid-19-Pandemie eingeführt wurden, wurden inzwischen wieder beendet. Auch die bundesweiten Grenzkontrollen während der Fußball-EM in Deutschland sind nicht mehr in Kraft, und diejenigen an der Grenze zu Frankreich, die zu Beginn der dortigen Olympischen Spiele eingeführt wurden, sollen nach dem Ende der Paralympischen Spiele aufgehoben werden.
Jedoch gilt eine Verlängerung der Kontrollen an den Grenzen zu Polen, zu Tschechien und zur Schweiz, die im Herbst vergangenen Jahres zur Flüchtlingsabwehr eingeführt wurden und die zumindest bis Dezember 2024 andauern sollen, als ohne weiteres vorstellbar. Grenzschließungen haben neben Deutschland auch Frankreich und Österreich verhängt; Österreich hat, in Reaktion auf die deutschen Grenzkontrollen, schon 2015 eigene Kontrollen an seiner Grenze zu Slowenien eingeführt. Kontrollen nehmen auch Dänemark, Schweden und das Nicht-EU-, aber Schengen-Mitglied Norwegen vor.

„Schurkenregierungen“

Dass Kontrollen an den Schengen-Binnengrenzen dauerhaft durchgeführt werden, ist eindeutig illegal. Grundsätzlich sind sie laut der im Frühjahr verabschiedeten Überarbeitung des Schengen-Kodex lediglich bei einer „ernsthaften Bedrohung der öffentlichen Ordnung oder der inneren Sicherheit“ zulässig; dazu zählen neben Terrorgefahr sowie internationalen Veranstaltungen „großen Umfangs oder mit hoher Öffentlichkeitswirkung“ nicht zuletzt sogenannte Migrationskrisen.[1]
Allerdings dürfen Kontrollen nur als „letztes Mittel“ zum Einsatz kommen; sie sind jeweils auf sechs Monate beschränkt und können auf bis zu zwei, in Sonderfällen auf bis zu drei Jahre [2] verlängert werden. Mehr ist auf legalem Weg nicht möglich.
Mit Blick auf Österreichs Kontrollen an der Grenze zu Slowenien urteilte im April 2022 der Europäische Gerichtshof (EuGH), die Kontrollen seien rechtswidrig; es sei daher legal, sich ihnen beim Grenzübertritt konsequent zu verweigern.[3]
Kritiker äußern sich mittlerweile recht scharf.
Eine kleine Gruppe von „Schurkenregierungen“ weigere sich, EU-Recht zu wahren, erklärte bereits im September 2023 Sergio Carrera vom Brüsseler Centre for European Policy Studies (CEPS); man müsse sie „vor Gericht ziehen“, und die EU-Kommission müsse ihrem Treiben umgehend ein Ende setzen.[4]

Milliardenverluste drohen

Klare Ablehnung gegenüber Grenzkontrollen an den Schengen-Binnengrenzen wird seit je aus Wirtschaftskreisen laut. Ursache ist, dass Kontrollen nicht nur den Export fertiger Waren bremsen, sondern vor allem auch grenzüberschreitende Lieferketten stören; dies kostet die Industrie, die sich die jeweiligen Standortvorteile der unterschiedlichen EU-Staaten zunutze macht, um ihre Profite zu optimieren, viel Geld.
Als mehrere EU-Staaten 2015 zum ersten Mal umfangreiche Kontrollen an den Schengen-Binnengrenzen einführten, wurden eine Reihe von Berechnungen über die dadurch entstehenden Schäden angestellt.
Eine Analyse etwa, die im Mai 2016 im Auftrag des Europaparlaments veröffentlicht wurde, kam zu dem Schluss, Grenzkontrollen in der kompletten Schengen-Zone würden binnen zwei Jahren Kosten in Höhe von bis zu 51 Milliarden Euro verursachen.[5] Zu den Ländern, die davon besonders stark getroffen würden, zähle Deutschland, hieß es. Aktuell bleibt der Protest aus der Wirtschaft über die neuen Vorstöße zur Ausweitung der Grenzkontrollen noch recht verhalten. Ursache ist, dass Warentransporte von den Kontrollen bisher ausgenommen sind; „wesentliche Störungen“ seien derzeitt „nicht feststellbar“, bestätigte erst vor kurzem der Bundesverband Spedition und Logistik (DSLV).[6]
Der Warentransport müsse aber kontrollfrei bleiben.

„Ressource für den deutschen Arbeitsmarkt“

Getroffen werden von Kontrollen an den Schengen-Binnengrenzen allerdings Grenzpendler. Deren Zahl ist seit der Einführung der sogenannten Arbeitnehmer-freizügigkeit für die neuen EU-Mitgliedstaaten in Ost- und Südosteuropa zum 1. Mai 2011 deutlich gestiegen. Lag sie im Jahr 2010 noch bei 66.487 Personen in West- und bei 2.087 Personen in Ostdeutschland, so waren es im Jahr 2023 bereits 144.057 im Westen und 73.193 im Osten der Bundesrepublik – 0,51 Prozent der Beschäftigten in West-, 1,15 Prozent der Beschäftigten in Ostdeutschland. Die meisten kamen aus Polen (94.173) und aus Tschechien (38.244). Sie seien „häufig in Engpassberufen“ tätig, stellten also „eine wichtige Ressource für den deutschen Arbeitsmarkt“, hieß es im April in einer Untersuchung aus dem Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung (IAB); man solle deshalb für Rahmenbedingungen „Sorge“ tragen, die ihre „Erwerbstätigkeit in Deutschland“ auch für die Zukunft sicherten.[7] Mit der Einführung umfassender Grenzkontrollen wäre das womöglich nicht mehr gewährleistet. Auch droht eine Art Kettenreaktion: Führt Deutschland dauerhafte Grenzkontrollen ein, werden Staaten wie etwa Tschechien oder die Slowakei, um nicht zum Auffangbecken für Flüchtlinge zu werden, mutmaßlich nachziehen. Das Schengen-System droht zu kollabieren.

Proteste

Haben nun deutsche Politiker wie etwa Oppositionschef Friedrich Merz (CDU) und der stellvertretende Vorsitzende der CDU/CSU-Bundestagsfraktion Jens Spahn in Reaktion auf das Attentat von Solingen die Einführung dauerhafter Grenzkontrollen gefordert [8], so werden in gleich mehreren Nachbarstaaten Proteste dagegen laut. Solche Kontrollen an den deutschen Außengrenzen seien „eine fundamentale Abkehr von ... dem Schengen-Prinzip“, erklärte eine Sprecherin des tschechischen Innenministeriums; sie würden „zweifellos zu einem Dominoeffekt von Kontrollen“ in der gesamten Schengen-Zone führen.[9] In Polen teilte das Innenministerium mit, schon jetzt riefen die Grenzkontrollen „Schwierigkeiten beim Grenzverkehr“ hervor; Berlin solle sie keinesfalls verlängern, sondern sie „frühzeitig abschaffen“. Unmut äußerte nicht zuletzt die belgische Regierung, die einen Sprecher erklären ließ, für ein Land wie Belgien, „das im Herzen Europas liegt und eine sehr offene Wirtschaft hat“, sei „das reibungslose Funktionieren der Schengen-Zone wesentlich“.[10]

Neue Spannungen

Geht die Bundesregierung tatsächlich zu dauerhaften Grenzkontrollen über, kommt zu den zahlreichen Streitpunkten in der EU, wie schon jetzt die Proteste aus Polen, Tschechien und Belgien zeigen, ein weiterer hinzu.
Darüber hinaus ist nicht ersichtlich, wieso Staaten wie Ungarn es sich weiterhin gefallen lassen sollten, wegen Verstößen gegen EU-Normen gemaßregelt zu werden, wenn die deutsche EU-Zentralmacht ihrerseits nach Belieben das Kernregelwerk des Schengen-Systems bricht. Damit verschärft bereits die Forderung, dauerhafte Kontrollen an den deutschen Außengrenzen einzuführen, die Spannungen in der EU.

 

[1] Thomas Gutschker, Mona Jaeger: Wie könnten die EM-Grenzkontrollen verlängert werden? faz.net 15.07.2024.

[2] EU erlaubt längere Grenzkontrollen im Schengen-Raum. rsw.beck.de 08.02.2024.

[3] Sigrid Melchior, Pascal Hansens, Nico Schmidt, Amund Trellevik, Ingeborg Eliassen: EU-Staaten brechen den Schengen-Vertrag. investigate-europe.eu 09.09.2022.

[4] Davide Basso, Nikolaus J. Kurmayer: Schengen: How Europe is ruining its ‘crown jewel’. euractiv.com 28.09.2023.

[5] Cost of non-Schengen: the impact of border controls within Schengen on the Single Market. European Parliamentary Research Service, May 2016.

[6] Dietmar Neuerer: Ampelpolitiker wollen Grenzkontrollen nach der EM beibehalten. handelsblatt.com 04.07.2024.

[7] Holger Seibert: Immer mehr Menschen pendeln aus Osteuropa nach Deutschland. iab-forum.de 15.04.2024.

[8] War der Täter von Solingen wirklich untergetaucht? faz.net 26.08.2024.

[9], [10] Oliver Noyan: German neighbours ring alarm bells over potential border controls. euractiv.com 26.08.2024.

 

 

 

Kursk und die Folgen

Ven, 23/08/2024 - 15:14

Nach der Ankündigung Berlins, die Finanzmittel für die Ukraine zu begrenzen, fordert Kiew direkten Zugriff auf russisches Auslandsvermögen.
Verhandlungsbemühungen sind durch den Angriff auf Kursk zunichte gemacht worden.

 

Die Bundesregierung hat vor kurzem mitgeteilt, über die bereits für Kiew verplanten Mittel hinaus keine neuen Ausgaben zur Unterstützung der Ukraine tätigen zu wollen; das Land soll nun auf Basis der Zinserträge aus den eingefrorenen Auslandsguthaben der russischen Zentralbank finanziert werden. Kiewer Regierungsangaben zufolge reicht das nicht aus; es sollen deshalb die Guthaben selbst beschlagnahmt werden.
Faktisch wäre das ein Präzedenzfall für den Diebstahl fremden Staatseigentums, der weltweit Folgen hätte – wohl auch für Auslandsvermögen westlicher Staaten.
Die Debatte spitzt sich auch deshalb zu, weil die Ukraine faktisch bankrott ist.

Weckten noch kürzlich Äußerungen von Präsident Wolodymyr Selenskyj und die Entsendung von Außenminister Dmytro Kuleba nach China Hoffnung auf Waffenstillstand und Wiederaufbaumaßnahmen, so sind diese nach dem Angriff der Ukraine auf das russische Gebiet Kursk zerstoben.
Der Angriff habe Verhandlungen unmöglich gemacht, werden Diplomaten zitiert.

Anlass zu Verhandlungen

Zur Aufnahme von Gesprächen mit Moskau hatte Kiew aus verschiedenen Gründen Anlass. Zum einen war sein Versuch, auf dem vorgeblichen Friedensgipfel Mitte Juni in der Schweiz eine Reihe einflussreicher Staaten des Globalen Südens auf seine Seite zu ziehen und damit Russland politisch zu isolieren, gescheitert; die Regierungen etwa Indiens, Brasiliens oder Südafrikas hatten sich Abschlusserklärung des Gipfels mit dem Hinweis verweigert, Friedensgespräche mit nur einer Konfliktpartei ergäben keinen Sinn.[1]

War zumindest das Vortäuschen von Verhandlungsbereitschaft also Voraussetzung für weitere Bemühungen, den Globalen Süden für die Ukraine zu gewinnen, so zeichnete sich zusehends auch materieller Druck ab. Die russischen Angriffe auf die ukrainische Energieinfrastruktur, die Kiew zum Einlenken nötigen sollten, haben der Washington Post zufolge mittlerweile neun der 18 Gigawatt vernichtet, die die Ukraine im kalten Winter zu Spitzenzeiten benötigt.[2]
Bereits jetzt ist die Bevölkerung der Ukraine mit schweren Stromausfällen konfrontiert; die ohnehin stark geschädigte Wirtschaft wird durch den Energiemangel zusätzlich beeinträchtigt. Die ukrainischen Angriffe auf Russlands Erdölindustrie dagegen fügen Moskau relativ geringere Schäden zu – und weil sie zeitweise den Ölpreis in die Höhe getrieben haben, stoßen sie in den westlichen Hauptstädten intern auf Unmut.

„Von der Tagesordnung genommen“

Laut der Washington Post ließ sich Kiew deshalb kurz nach dem Schweizer Ukraine-Gipfel auf einen Vorstoß Qatars ein, zu Verhandlungen mit Moskau überzugehen.[3]
Demnach sollte zunächst ein beidseitiger Verzicht auf Angriffe auf die Energie- bzw. die Ölinfrastruktur in Kraft treten – dies mit der Perspektive, zu einem umfassenderen Waffenstillstand ausgeweitet zu werden.
Qatar habe darüber fast zwei Monate lang mit beiden Seiten verhandelt, hieß es unter Berufung auf Diplomaten; die Regierung in Doha habe gehofft, in Kürze eine Einigung zu erzielen. Der ukrainische Angriff auf das Gebiet Kursk habe die Bemühungen jetzt aber umgehend zunichte gemacht. Der liberale russische Politiker Grigori Jawlinski etwa ließ sich von der New York Times mit der Aussage zitieren, in Moskau habe man Hoffnung gehegt, „die Kämpfe könnten dieses Jahr enden“.[4] Der Angriff auf das Gebiet Kursk habe nun aber die Chancen dafür nicht nur reduziert, sondern sie sogar „von der Tagesordnung genommen“. Zwei ehemalige russische Regierungsmitarbeiter schlossen sich gegenüber der US-Zeitung dieser Einschätzung an. Ausdrücklich bestätigte Juri Uschakow, außenpolitischer Berater des russischen Präsidenten Wladimir Putin, angesichts der jüngsten Kiewer „Eskapade“ werde man zumindest vorläufig „nicht verhandeln“.[5]

Vermittler düpiert

Hinzu kommt, dass Kiew mit seinem Vorgehen einmal mehr potenzielle Vermittler verprellt. Erst im Juli hatte China den ukrainischen Außenminister Dmytro Kuleba zu Gesprächen nicht zuletzt mit seinem Amtskollegen Wang Yi empfangen – in der Absicht, Wege zu einer Verhandlungslösung zu bahnen.[6]
Zudem hatte Indien mit der ukrainischen Regierung über einen Besuch von Ministerpräsident Narendra Modi verhandelt – sozusagen als Ausgleich für Modis Besuch im Juli in Moskau.
Während Kiew mit Beijing und New Delhi über Wege zu einer Konfliktlösung diskutierte, bereitete es hinter deren Rücken längst den Angriff auf Kursk vor. Modi trifft am heutigen Freitag düpiert in der ukrainischen Hauptstadt ein. Auch Qatars Regierung muss konstatieren, dass sie mit ukrainischen Gesprächspartnern über Wege aus dem Krieg verhandelte, während Kiew insgeheim bereits die Eröffnung eines neuen Schlachtfeldes auf russischem Territorium plante. Doha, gleichfalls düpiert, sagte die schon in Kürze geplanten Gespräche inzwischen ab.[7]

„Der Topf ist leer“

Gleichzeitig zeichnen sich neue Spannungen zwischen Kiew und Berlin ab. Wie bereits am vergangenen Wochenende berichtet wurde, will die Bundesregierung ab sofort keinerlei neue Mittel mehr für die Ukraine zur Verfügung stellen. Bereits fest verplant sind die knapp acht Milliarden Euro, die der Bundeshaushalt 2024 für die Unterstützung der Ukraine vorsieht. Im Bundeshaushalt 2025 sind weitere vier Milliarden Euro für Kiew enthalten; diese sind aber, wie es heißt, „offenbar schon überbucht“.[8] Für 2026 ist von drei, für 2027 und 2028 jeweils von einer halben Milliarde Euro die Rede. Weitere Mittel sollen – darauf beharren Kanzler Olaf Scholz und Finanzminister Christian Lindner – lediglich dann gewährt werden, wenn für die entsprechenden Vorhaben „eine Finanzierung gesichert“ sei. Hintergrund sind die Berliner Bestrebungen, die Staatsausgaben einzuschränken, um die Neuverschuldung zu begrenzen. Zwar würden bereits getätigte Zusagen noch realisiert, heißt es; doch wird ein Mitarbeiter der Bundesregierung mit der Feststellung zitiert: „Ende der Veranstaltung. Der Topf ist leer.“[9]

Präzedenzfall

Gedeckt werden soll Kiews Finanzbedarf nach dem Willen Berlins nicht mehr aus deutschen Mitteln, sondern stattdessen aus Zinserträgen, die die im Westen eingefrorenen Mittel der russischen Zentralbank einbringen – insgesamt gut 260 Milliarden Euro. Konkret werden zur Zeit die Zinsen der gut 173 Milliarden Euro ins Visier genommen, die der Finanzkonzern Euroclear mit Sitz in Brüssel verwaltet.
Die G7 haben beschlossen, die Zinsen zugunsten der Ukraine zu beschlagnahmen und Kiew auf ihrer Grundlage einen Kredit zu ermöglichen; jährlich könnten damit mehrere Milliarden Euro beschafft werden, heißt es.[10]
Allerdings sind noch diverse Fragen offen. So wird berichtet, Experten rechneten mit einer Laufzeit des Kredits von möglicherweise 20 Jahren. Das setze faktisch voraus, dass die russischen Gelder auch noch nach einem etwaigen Friedensschluss mit der Ukraine eingefroren blieben, sollte ein solcher zustande kommen.
Hinzu kommt das nach wie vor ungelöste Problem, dass ein westlicher bzw. ukrainischer Zugriff auf russisches Staatseigentum als klarer Präzedenzfall gewertet würde.

Westliche Staaten müßten damit rechnen, dass ihr Eigentum im Ausland im Konfliktfall gleichfalls enteignet werden könnte, nicht nur zur Entschädigung von Kriegs-, sondern auch von Kolonial- und insbesondere von NS-Verbrechen.

Finanzdesaster

Umso schwerer wiegt, dass Kiew jetzt, wie die stellvertretende Finanzministerin Olga Zykova aktuell auf einer Videokonferenz des Kiewer Centre for Economic Strategy erklärte, nicht nur die schnelle Freigabe der Kreditmittel auf Basis der Zinserträge des eingefrorenen russischen Staatsvermögens fordert, sondern den Zugriff auf das Staatsvermögen selbst. Das sei nötig, heißt es, um den ukrainischen Staatshaushalt zu stabilisieren, der zuletzt zu mehr als 50 Prozent aus auswärtigen Zuwendungen gespeist worden sei.[11]
Für das Jahr 2025 benötige man Hilfsgelder in Höhe von mindestens 35 Milliarden US-Dollar; 15 Milliarden US-Dollar fehlten noch.

Als einziger Ausweg aus dem zunehmenden Finanzierungsdesaster gilt ein Ende des Krieges und der Wiederaufbau des Landes; beides aber ist nach dem ukrainischen Angriff auf Kursk weniger in Sicht denn je.

 

[1] S. dazu Ziele klar verfehlt

[2] Isabelle Khurshudyan, Siobhán O’Grady, John Hudson, Catherine Belton: Ukraine’s offensive derails secret efforts for partial cease-fire with Russia, officials say. washingtonpost.com 17.08.2024.

[4], [5] Anton Troianovski, Andrew E. Kramer, Kim Barker, Adam Rasgon: Ukraine Says Its Incursion Will Bring Peace. Putin’s Plans May Differ. nytimes.com 19.08.2024.

[6] S. dazu Diplomatie statt Waffen

[7] Isabelle Khurshudyan, Siobhán O’Grady, John Hudson, Catherine Belton: Ukraine’s offensive derails secret efforts for partial cease-fire with Russia, officials say. washingtonpost.com 17.08.2024.

[8], [9] Peter Carstens, Konrad Schuller: Kein neues Geld mehr für die Ukraine. Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung 18.08.2024.

[10] Christian Schubert: Ein russischer Hebel gegen Putin. Frankfurter Allgemeine Zeitung 21.08.2024.

[11] Andreas Mihm: Kiew: Brauchen Milliarden schnell. Frankfurter Allgemeine Zeitung 22.08.2024.

 

Marxistische Selbstverständigung. Wege des Antifaschismus: marxistische Studienwoche

Gio, 22/08/2024 - 08:08

Marxistische Studienwoche erörterte in Frankfurt Ursachen und Kampf gegen Rechtsentwicklung in EU, BRD und Amerika

 



Hintergrund: Rechtsentwicklung

Der Faschismusforscher Reinhard Opitz schrieb in seinem Aufsatz »Was ist rechts? Was sind Rechtstendenzen?«, der 1980 im zweiten Heft der Marxistischen Blätter erschien, dass »linksgerichtete Bewegungen oder Kräfte« solche wären, die »zu ihrer Zeit auf den historisch objektiv möglichen nächsthöheren Verwirklichungsgrad von Demokratie hindrängen oder ihm punktuell vorarbeiten«.
Rechtsgerichtete Bewegungen oder Kräfte seien dagegen solche, die »hinter den zu ihrer Zeit jeweils schon erreichten relativen historischen Realisationsgrad von Demokratie oder auch nur Artikulationsspielraum der demokratischen (linken) Kräfte zurückdrängen«.

Auch für die hiesige Linke stellen sich akut zwei Fragen:
Was sind Ursachen der Rechtsentwicklung?
Und wie können Marxisten sie nicht nur analysieren, sondern bekämpfen?

Den Versuch, darauf adäquate Antworten zu finden, hat vom 12. bis 15. August in Frankfurt am Main die marxistische Studienwoche mit über 50 Teilnehmern unternommen. Seit 2008 wird die Tagung von der Zeitschrift Marxistische Erneuerung, der Heinz-Jung-Stiftung und dem Institut für sozialökologische Wirtschaftsforschung, isw,  organisiert. Den Auftakt machte am Montag vergangener Woche ein Podium, das die historischen Rechtsentwicklungen diskutierte.

Stefan Bollinger griff dazu mehr als 100 Jahre zurück und referierte über die Konterrevolution von 1848/49 bis Kaiser Wilhelm II. Frank Deppe betrachtete die Weimarer Republik und Silvia Gingold sprach über die Renazifizierung ab 1945 in der BRD sowie die Berufsverbote, von denen sie selbst betroffen war. So forderten Proteste und Solidaritätskomitees für Betroffene demokratische Rechte ein. Aber auch heute bestehe Gingold zufolge die Gefahr von Berufsverboten. Sie verwies dazu auf die anhaltende Repression gegen die Palästina-Solidarität und die Friedensbewegung sowie auf Pläne des Innenministeriums für Berufsverbote für »Extremisten« und »Verfassungsfeinde«. Der einzig wirksame Schutz der Verfassung, sagte Gingold, sei eine breite demokratische Öffentlichkeit.

Philipp Becher erkannte den Rechtsruck in Anlehnung an Faschismusforscher Reinhard Opitz als Ausdruck einer Integrationskrise der bürgerlichen Gesellschaft. Die Liaison von Kapitalismus und parlamentarischer Demokratie sei kein historischer Normalfall, die Klassenherrschaft der Bourgeoisie an keine Staatsform gebunden, erklärte er und erinnerte daran, dass demokratische Elemente der bürgerlichen Gesellschaft von der Arbeiterbewegung erkämpft und von ihr auch verwirklicht werden. Im Bündnis mit Sozialliberalen gelte es, »jeden Keim zu packen« – aber sich als Marxisten seine Unabhängigkeit zu bewahren.

Ein weiteres Podium setzte sich mit internationalen Rechtsentwicklungen auseinander.
So deutete Ingar Solty den Aufstieg des »Bonapartisten« Donald Trump als Folge einer Hegemoniekrise in den USA, die ihre ökonomische Grundlage in der Verarmung breiter Bevölkerungsteile seit dem Volcker-Schock 1978 habe. Trumps mögliche Wiederwahl würde einen verstärkten autoritären Staatsumbau bedeuten. Sabine Kebir wies auf die politische Flexibilität von Italiens Regierungschefin Giorgia Meloni hin, die innerhalb der EU klug laviere, allerdings auch strikt atlantisch gegen Russland und China ausgerichtet sei. Für ihre außenpolitische Treue ließen ihr EU und USA in Italien freien Spielraum gegen den Sozialstaat, Frauenrechte und Geflüchtete.

Andrés Musacchio erklärte den Aufstieg des argentinischen Präsidenten Javier Milei aus der Schwäche einer krisengeplagten, aber auch inkonsequenten peronistischen Linken und einer an Kapitalflucht und Ausverkauf interessierten wirtschaftlichen Elite. Milei zerstöre im Eiltempo soziale, wissenschaftliche und kulturelle Institutionen, während er das Militär und die Polizei ausbaue. Cornelia Hildebrandt gab einen Überblick zur Rechtsentwicklung in der EU.

Für die BRD erläuterte Gerd Wiegel Ursachen und Dimensionen der Rechtsentwicklung hierzulande.
Andreas Fisahn erörterte die Rolle des bürgerlichen Rechts im Kampf gegen Faschismus, konkret anhand der Debatte über ein AfD-Verbot und Rechtsmittel gegen deren Thüringer Landes- und Fraktionschef Björn Höcke. Arbeitsgruppen setzten sich unter anderem mit der politischen Bildung im Kampf gegen rechts, dem Kampf um eine humane Asylpolitik und der Frage nach einer neuen Volksfrontstrategie auseinander.

Ein Abschlussplenum mit Violetta Bock, Andrea Hornung und Wiegel erörterte aktuelle Wege antifaschistischer Politik.

Die marxistische Studienwoche wurde von den TeilnehmerInnen  als erkenntnisreich gelobt. Die Analyse antifeministischer Kräfte wäre eine gute Ergänzung gewesen, wie von den TeilnehmerInnen  angemerkt wurde. Zudem  seien die ökonomischen Ursachen genauer zu untersuchen. Die Vorstellung der nächsten Ausgabe der Zeitschrift Marxistischen Erneuerung am 29. September zum Thema »Zeitenwende: Autoritärer Kapitalismus – BRD-Wirtschaft unter dem Druck geopolitischer Umtriebe« wird daran anknüpfen.

Der Sozialistisch-demokratische Studierendenverband erinnerte  in seinem Vortrag an ein Zitat aus Bert Brechts »Leben des Galilei«:


»Wenn die Wahrheit zu schwach ist, um sich zu verteidigen, muss sie zum Angriff übergehen.«

 

Die Rückkehr der (Atom-) Raketen

Mar, 20/08/2024 - 10:33

Die Angst vor einem Atomkrieg in Europa wird wieder zunehmen. Millionen Menschen sind in den achtziger Jahren gegen die Stationierung atomarer Mittelstrecken-Raketen in Europa auf die Straße gegangen.
Ihr Protest hatte dazu beigetragen, dass am 8. Dezember 1987 die Sowjetunion und die USA den sog. INF-Vertrag unterzeichneten.


Im INF-Abkommen (Intermediate-Range Nuclear Forces) verpflichteten sich die beiden atomaren Supermächte auf Entwicklung, Besitz und die Stationierung landgestützter Atomraketen (damals Pershing II und cruise missiles „Tomahawk“) mit einer Reichweite von 500 bis 5.500 Kilometern zu verzichten. Der INF-Vertrag war bislang das einzige Abkommen, das zu einer realen Atom-Abrüstung geführt hat; insgesamt 2692 Raketen wurden verschrottet.
Die Atomkriegs-Gefahr in Europa schien weitgehend gebannt.

Der fast vierzigjährige „Atom-Friede“ ist nun gefährdet.
Der damalige US-Präsident Donald Trump kündigte am 20. Oktober 2018 einseitig den INF-Vertrag; zum 1. Februar 2019 stiegen die USA aus dem Vertragswerk aus. Russland zog nach. Damit konnten wieder Mittelstrecken in Europa stationiert werden.

Dies soll nun 2026 geschehen. Eher beiläufig gaben Kanzler Scholz und Präsident Biden am Rande der NATO-Jubiläumskonferenz im Juli 2024 in Washington bekannt, dass ab 2026 auf deutschem Boden wieder Mittelstrecken-Raketen aufgestellt werden, und zwar Cruise missiles vom Typ „Tomahawk“ mit einer Reichweite von etwa 2.500 – also bis tief nach Russland hinein. Dazu ist die Installation von SM 6-Flugabwehr-Raketen mit einer Reichweite von 370 KM und 3,5-facher Schallgeschwindigkeit plus neue Hyperschall-Raketen verabschiedet.
 Die Marschflugkörper können konventionelle wie atomare Sprengköpfe tragen. Angeblich werden sie nur konventionell bestückt, was ein Beschwichtigungsmanöver sein dürfte. Denn kein Militär schießt eine konventionelle Rakete 2500 KM weit, nur um ein Loch in einen Bunker zu sprengen. Zudem kann keine deutsche Behörde die Bestückung überprüfen, da die Raketen auf US-Militäreinrichtungs-Geländen in Deutschland stationiert werden, auf denen deutsches Hoheitsrecht endet.

Auf Deutschland fällt die erste Bombe

Wenn es noch eines Beweises für die enge Verzahnung des deutschen MIK mit dem Militär- und Kriegsgeflecht der USA bedurfte, hier ist er: Die neuen Mittelstrecken-Raketen werden in Europa diesmal allein in Deutschland stationiert.  Mit den neuen Raketen wird das Pulverfass Deutschland weiter hochexplosiv aufgeladen. Sie kommen zu den deutschen Atombombern mit US-Atombomben auf den Fliegerhorst Büchel dazu, zur Ramstein Air Base, der größten US-Luftwaffenbasis im Ausland, zur Kommandozentrale für US-Drohnen-Killer- und Kampfeinsätze insbesondere im Nahen Osten und in Afrika, zu diversen US-Hauptquartieren, Truppenübungsplätzen, usw.  usf.
Kein Land der Welt ist so intensiv und massiv mit US-Soldateska und -Militäreinrichtungen bestückt, wie Deutschland.
Wann immer es in Europa zu kriegerischen Auseinandersetzungen kommen sollte, wäre Deutschland im Fokus.
Kein Zweifel: Auf Deutschland fällt die erste Bombe!
Unser Land würde zum atomaren Schlachtfeld. Die USA aber würden dagegen von Mittelstrecken-Raketen nicht erreicht.

Die ganz große Raketenkoalition aus Ampel-Regierung und CDU/CSU-Opposition sieht darin kein Problem. Sie giert geradezu nach den neuen Waffen. Das SPD-Präsidium preist sie gar als Friedenstauben speziell für Kinder (s.u.). Der SPD-Vorsitzende Klingbeil ließ noch in der Sommerpause im Eilverfahren eine Zustimmungserklärung durch das SPD-Präsidium peitschen, um die Diskussion in der Partei im Keim zu ersticken. Ihm selbst wird Affinität zum MIK nachgesagt. Jahrelang war er in den Präsidien der Rüstungs-Lobbyorganisationen Deutsche Gesellschaft für Wehrtechnik und Förderkreis Deutsches Heer aktiv.

In dem SPD-Präsidiumsbeschluss heißt es u.a.

„Als SPD übernehmen wir Verantwortung dafür, dass kein Kind, das heute in Deutschland geboren wird, wieder Krieg erleben muss. Die Vereinbarung der SPD-geführten Bundesregierung mit der
 US-Administration, ab 2026 US-amerikanische Raketen mit größerer Reichweite in Deutschland zu stationieren, ist dafür ein wichtiger Baustein“.

 Erstschlag-Option

Weshalb sind die geplanten Mittelstrecken so gefährlich? Sie würden für Russland eine tödliche Bedrohung darstellen: aufgrund der geringen Vorwarnzeit und der Zielgenauigkeit dieser Systeme. Aufgrund der längeren Flugzeit gilt bei Interkontinentalraketen eine Vorwarnzeit von etwa 30 Minuten. Der Angegriffene ist in der Lage, seine Raketen aus den Silos abzuschießen und so den Gegenschlag zu führen. Dieses „Gleichgewicht des Schreckens“ wurde auf die Formel gebracht: „Wer als erster schießt, stirbt als zweiter“.
Kurze Vorwarnzeiten würden einen Atomkrieg aus Versehen wahrscheinlicher machen, könnten aber auch zum atomaren Überraschungsangriff verleiten.

Bei Mittelstrecken-Raketen verkürzt sich diese Vorwarnzeit auf wenige Minuten. Marschflugkörper haben zwar eine längere Flugzeit, da sie aber in geringer Höhe operieren, unterfliegen sie das gegnerische Abwehr-Radar. Dazu kommt die hohe Präzision bei modernen Raketen; sie können ihre Ziele fast punktgenau treffen.
Das kann zu neuen Szenarien des „fürbaren Atomkrieges“ verleiten, wie sie die USA nach dem Abwurf der Atombomben immer wieder anstrebten. Durch präventive „chirurgische Erstschläge“, so genannte Enthauptungsschläge, sollen militärische Kommandozentralen vernichtet und die gegnerischen Atomraketen noch am Boden bzw. noch in den Silos zerstört werden. Die wenigen übrigen Raketen, die vom Angegriffenen noch auf die Flugbahn gebracht werden können, sollen dann durch die Raketen-Abwehrsysteme abgefangen und unschädlich gemacht werden.
Die Raketenabwehr ist kein defensives System, sondern Teil einer atomaren Offensivstrategie.

„Fähigkeitslücke“ oder Gedächtnis-Lücke

Der Vorwand für den damaligen einseitigen Ausstieg der USA aus dem Vertrag (Russland hat lediglich nachgezogen): Russland habe gegen den Vertrag verstoßen, indem es neue Raketenstellungen installiert habe. Beweise? Keine!
An der Beweislage hat sich bis heute nichts geändert. Häufig werden die in Kaliningrad installierten Iskander-Raketen als „Beweise“ angeführt, auch von den „Militärexperten“ der Stiftung Wissenschaft und Politik (Claudia Major) und den Bundeswehr-Professoren (z.B. Carlo Masala) wird das immer wieder erzählt. Es ist schon peinlich, wenn so genannte und selbst ernannte „Militärexperten“ offensichtlich nicht zwischen Kurzstrecken-Raketen bis 500 KM – z.B. die in Kaliningrad installierte Iskander - und Mittelstrecken-Raketen unterscheiden können.

Zudem: Zu etwaigen Verstößen gab es im INF-Vertrag klare Verifizierungsmechanismen, die von den USA nicht genutzt wurden. So schreibt die NaturwissenschaftlerInnen-Initiative: „Wenn es Verletzungen des INF-Abkommens gegeben haben sollte, hatte das INF-Vertragswerk dazu klare Regelungen. Die entsprechende Kommission der beiden Unterzeichnerstaaten muss einberufen werden. Dieses ist seit 2017 nicht mehr geschehen. Propagandistische Anklagen helfen nicht weiter und lenken von den wahren Motiven ungehemmter Aufrüstung ab“. (natwiss.de, 22.10.18).

Und die regierungsnahe Stiftung Wissenschaft und Politik wies bereits im März 2018 darauf hin: „Um die gegenseitigen Vorwürfe auszuräumen, wären wechselseitige Informationen und Inspektionen notwendig. Dazu müsste das 2001 beendete INF-Inspektionsregime reaktiviert und modifiziert werden“ (SWP-aktuell, 15. März 2018).

2001 ist auch das Jahr, in dem die USA einseitig den ABM-Vertrag (Anti-Ballistic-Missile: Vertrag über die Begrenzung von Raketenabwehrsystemen) kündigten und in der Folgezeit mit der Errichtung von ABM-Stellungen in Europa begannen.
Die USA verweigerten jede Inspektion vor Ort.

Eine russische Vertragsverletzung wird einfach behauptet und daraus eine „Fähigkeitslücke“ (Scholz) der westlichen Raketenrüstung abgeleitet, die wieder einmal zur „Nachrüstung“ herhalten soll. Als Juso-Fuktionär und Nachrüstungsgegner in den 80er Jahren, wusste Scholz es besser, was von solchen behaupteten Waffen-„Lücken“ zu halten ist.
Schade, dass sich bei ihm da eine Gedächtnislücke auftut.

 

Ein „Mittleres Einkommen“ oder ist es die Rentabilitätsfalle?[1]

Dom, 18/08/2024 - 08:01

In einer jüngsten Veröffentlichung schlagen die brasilianischen marxistischen Ökonomen Adalmir Antonio Marquetti, Alessandro Miebach und Henrique Morrone ein Modell der wirtschaftlichen Entwicklung vor, das einerseits auf technischem Wandel, Profitrate und Kapitalakkumulation und andererseits auf institutionellem Wandel (d. h. Politik und Regierungen) beruht.

Die Realität ist, dass im 21. Jahrhundert fast alle Länder und Bevölkerungen des so genannten „Globalen Südens“, d. h. der armen Peripherie außerhalb der fortgeschrittenen kapitalistischen Volkswirtschaften des Globalen Nordens, nicht aufholen.
Diese Realität wird von Mainstream-Ökonomen und insbesondere von den Ökonomen der internationalen Organisationen wie dem IWF und der Weltbank oft geleugnet.

Daher war es überraschend, dass die Weltbank  in ihrem jüngsten Weltentwicklungsbericht,2024 einräumte,  dass die meisten Volkswirtschaften des Globalen Südens die Lücke beim Pro-Kopf-Einkommen oder der Arbeitsproduktivität gegenüber den fortgeschrittenen kapitalistischen Volkswirtschaften nicht schließen. In der Vergangenheit erkannte die Bank an, dass es viele sehr arme Länder wie die afrikanischen Länder südlich der Sahara gibt, die in verzweifelter Armut verharren. Die Ökonomen der Bank waren jedoch im Allgemeinen optimistischer für die so genannten „Volkswirtschaften mit mittlerem Einkommen“, d. h. die Länder mit einem jährlichen Pro-Kopf-Einkommen zwischen 1.136 und 13.845 Dollar (und das soll „mittel“, sein, wohl eher nicht).

In ihrem jüngsten Bericht schätzt die Weltbank die Zukunft der 108 Länder, die sie als Länder mit mittlerem Einkommen“ einstuft, pessimistischer ein. Auf sie entfallen fast 40 Prozent der weltweiten Wirtschaftstätigkeit, mehr als 60 Prozent der Menschen, die in extremer Armut leben, und mehr als 60 Prozent der weltweiten Kohlendioxidemissionen (CO2).

Die Weltbank drückt es so aus: "Die Länder mit mittlerem Einkommen befinden sich in einem Wettlauf mit der Zeit. Seit den 1990er Jahren haben viele von ihnen genug getan, um das Niveau der Niedrigeinkommen zu verlassen und die extreme Armut zu beseitigen, was zu der allgemeinen Auffassung geführt hat, dass die letzten drei Jahrzehnte für die Entwicklung großartig waren. Dies ist jedoch auf die abgrundtief niedrigen Erwartungen zurückzuführen - Überbleibsel aus einer Zeit, als mehr als zwei Drittel der Weltbevölkerung von weniger als einem Dollar pro Tag lebten. Die 108 Länder mit mittlerem Einkommen haben sich zum Ziel gesetzt, innerhalb der nächsten zwei oder drei Jahrzehnte den Status eines Landes mit hohem Einkommen zu erreichen. Gemessen an diesem Ziel ist die Bilanz düster: Die Gesamtbevölkerung der 34 Länder mit mittlerem Einkommen, die seit 1990 den Status eines Landes mit hohem Einkommen erreicht haben, beträgt weniger als 250 Millionen Menschen, was der Bevölkerung Pakistans entspricht. 

Das durchschnittliche jährliche Einkommenswachstum in diesen Ländern mit mittlerem Einkommen ist in den ersten beiden Jahrzehnten dieses Jahrhunderts um fast ein Drittel gesunken - von 5 Prozent in den 2000er Jahren auf 3,5 Prozent in den 2010er Jahren.

Und die Weltbank kommt zu dem Schluss, dass "eine baldige Trendwende nicht wahrscheinlich ist, weil die Länder mit mittlerem Einkommen mit immer stärkerem Gegenwind konfrontiert sind. Sie haben mit zunehmenden geopolitischen Spannungen und Protektionismus zu kämpfen, die die Verbreitung von Wissen in Ländern mit mittlerem Einkommen verlangsamen können, mit Schwierigkeiten bei der Bedienung von Schulden und mit den zusätzlichen wirtschaftlichen und finanziellen Kosten des Klimawandels und der Klimaschutzmaßnahmen“.

 In der Tat, so ist es. Aber wer ist daran schuld? Ganz klar sind es die  imperialistischen Länder des Nordens, die im letzten Jahrhundert Milliarden an Profiten, Zinsen, Mieten und Ressourcen aus dem Süden gezogen haben, die am meisten zur globalen Erwärmung beigetragen haben (siehe Tabelle oben) und die Kriege um die Kontrolle des Südens oder gegen jedes Land geführt haben, das sich ihren Interessen widersetzt.
Jüngste Arbeiten von marxistischen und sozialistischen Ökonomen haben das Ausmaß dieser imperialistischen Ausbeutung offengelegt.[2]

Dies wird von der Weltbank ignoriert. Die Erklärung für das Versäumnis, aufzuholen, liegt darin, dass die Länder mit mittlerem Einkommen nicht die richtige „Entwicklungsstrategie“ anwenden. Diese Länder haben sich nämlich zu lange darauf verlassen, nur den Kapitalstock aufzubauen, was allmählich „abnehmende Erträge“ erbringt. In der Sprache der neoklassischen Ökonomie meinen die Ökonomen der Weltbank, dass „Faktorakkumulation allein die Ergebnisse stetig verschlechtern wird - ein natürlicher Vorgang, da die Grenzproduktivität des Kapitals sinkt.“

Mit marxistischen Begriffen läßt sich dies deutlicher darstellen.  Adalmir Marquetti drückt es folgendermaßen aus:

 „Ja, die Ökonomen der Weltbank erkennen an, dass die Grenzproduktivität des Kapitals, die Profitrate in der neoklassischen Tradition, aufgrund der Kapitalakkumulation während des „Aufholprozesses“ sinkt. Aber es ist die sinkende Profitrate, die die Hauptursache für den Rückgang der Kapitalakkumulation und der Investitionen ist. Das Problem ist, dass sich die Profitrate viel schneller dem Niveau der Vereinigten Staaten annähert als die Arbeitsproduktivität. Im Wesentlichen ist die Falle der mittleren Einkommen eine „Profitratenfalle“.

Gulglielmo Carchedi und ich kommen zur gleichen Einschätzung:
In einer kapitalistischen Wirtschaft gerät eine geringere Rentabilität in Konflikt mit dem Produktivitätswachstum“. [3]


Marxistisch ausgedrückt: Wenn diese Länder versuchen, sich zu industrialisieren, wird das Verhältnis zwischen Kapital und Arbeit steigen[4] und damit auch die Produktivität der Arbeit. Wenn die Arbeitsproduktivität schneller wächst als in den „führenden Ländern“, dann wird ein Aufholprozess stattfinden. Allerdings wird die Rentabilität des Kapitals tendenziell schneller sinken, was schließlich den Anstieg der Arbeitsproduktivität verlangsamt.
Guglielmo Carchedimir und ich haben in einer gemeinsamen Arbeit unter Verwendung marxistischer Kategorien festgestellt, dass die Rentabilität der „beherrschten Länder“ aufgrund ihrer geringeren organischen Zusammensetzung des Kapitals zunächst höher ist als die der imperialistischen Länder, ABER „die Rentabilität der beherrschten Länder ist zwar dauerhaft höher als die der imperialistischen Länder, fällt aber stärker als die des imperialistischen Blocks.“[5]

Die Weltbank hat also die „Rentabilitätsfalle“ erkannt, aber im Format der neoklassischen Ökonomie schlägt sie eine Entwicklungslösung vor, bei der die Volkswirtschaften mit „mittlerem Einkommen“ bessere Technologie aus dem Globalen Norden „einfließen“ lassen und dann die „Innovation“ durch private Unternehmen erfolgt.
 "In der ersten Variante werden die Investitionen durch Infusionen ergänzt, so dass sich die Länder (vor allem die Länder mit niedrigem mittlerem Einkommen) auf die Nachahmung und Verbreitung moderner Technologien konzentrieren. Im zweiten Fall wird die Mischung aus Investitionen und Infusion durch Innovation ergänzt, so dass sich die Länder (vor allem die Länder mit mittlerem Einkommen) auf den Aufbau inländischer Fähigkeiten konzentrieren, um den globalen Technologien einen Mehrwert zu verleihen und letztlich selbst zu Innovatoren zu werden. Im Allgemeinen müssen Länder mit mittlerem Einkommen die Mischung der drei Triebkräfte des Wirtschaftswachstums - Investitionen, Infusionen und Innovationen - neu kalibrieren, wenn sie den Status eines Landes mit mittlerem Einkommen erreichen.

Aha, Marx hat sich geirrt: Diese Länder mit mittlerem Einkommen sind nicht zu ständiger Armut und Kontrolle durch imperialistische Volkswirtschaften verurteilt, oder „dass marktwirtschaftliche Volkswirtschaften von einer wachsenden Konzentration des Reichtums und von Krisen heimgesucht werden, bis der Kapitalismus durch den Kommunismus ersetzt wird.“
1942 zeigte der österreichische Wirtschaftswissenschaftler Joseph Schumpeter in seiner Abhandlung „Kapitalismus, Sozialismus und Demokratie“ den kapitalistischen Ausweg auf: durch „schöpferische Zerstörung“. Aus Krisen können Wiederherstellung und Wachstum entstehen.
Ja, die Krisen des Kapitalismus sind schmerzhaft, aber sie schaffen auch die Voraussetzungen für Wohlstand.
Die Ökonomen der Weltbank kommen in ihrer Weisheit zu dem Schluss, dass „fast ein Jahrhundert später viele von Schumpeters Erkenntnissen bestätigt zu sein scheinen“. Und worauf stützen sie diese Schlussfolgerung, nachdem sie gerade erklärt haben, dass die große Mehrheit der armen Länder (Entschuldigung: Länder mit mittlerem Einkommen) in relativer Armut gefangen ist?
Nun, sie wenden sich einigen Länderfallstudien zu, die offenbar den Weg weisen.

In Lateinamerika ist das Chile. Die Weltbank berichtet, dass Chile im Jahr 2012 als erstes lateinamerikanisches Land den Status eines Landes mit hohem Einkommen erreicht hat. "Chile hat seine Exporte seit den 1960er Jahren, als der Bergbau etwa vier Fünftel seiner Ausfuhren ausmachte, gesteigert und diversifiziert. Heute beträgt dieser Anteil etwa die Hälfte. Der Wissenstransfer aus den fortgeschrittenen Volkswirtschaften wurde sowohl von öffentlichen als auch von privaten Einrichtungen unterstützt." Tatsächlich wird dann auf öffentliche Investitionen als Hauptantrieb für bessere Technologie und diversifizierte Exporte verwiesen; durch die öffentliche chilenische Agentur für Exportförderung (ProChile) und die gemeinnützige Fundación Chile, die den Technologietransfer für inländische Unternehmen fördert.

Die Weltbank erwähnt nicht den schrecklichen Militärputsch in Chile durch Pinochet im Jahr 1973, der die sozialistische Allende-Regierung gewaltsam absetzte und Zehntausende von Menschen tötete und damit die Grundlage für eine verstärkte Ausbeutung der Arbeitskräfte legte. Ironischerweise lag die durchschnittliche reale BIP-Wachstumsrate in Chile von 1951 bis 1973 bei 4,3 % pro Jahr; nach Pinochet und den nachfolgenden pro-kapitalistischen Regierungen lag sie jedoch bei 4,1 % pro Jahr. Trotz der Unterdrückung der Arbeitseinkommen sank die Kapitalgewinnrate in Chile Anfang der 1980er Jahre auf einen Tiefstand, stieg dann (wie in vielen anderen Ländern) während der neoliberalen Erholungsphase an, ist aber seit dem globalen Finanzcrash und der Großen Rezession (wie auch anderswo) rückläufig.
Also eigentlich keine kapitalistische Erfolgsgeschichte.

In Asien verweist die Weltbank auf Korea als erfolgreiches Entwicklungsmodell. Die Ökonomen der Bank formulieren es folgendermaßen: "Während Brasilien im eigenen Land strauchelte, raste Korea um die Welt und machte die Infusion ausländischer Technologie zum Eckpfeiler der heimischen Innovation. Im Jahr 1980 lag die durchschnittliche Produktivität eines koreanischen Arbeiters bei nur 20 Prozent der Produktivität eines durchschnittlichen US-Arbeiters. Bis 2019 hatte sie sich auf mehr als 60 Prozent verdreifacht. Im Gegensatz dazu waren brasilianische Arbeiter, die 1980 40 Prozent so produktiv waren wie ihre US-Kollegen, 2018 nur noch 25 Prozent so produktiv." Der Erfolg Koreas ist offenbar auf eine „Infusion ausländischer Technologie“ zurückzuführen. Die Bank verweist nicht auf die massiven staatlichen Anstrengungen zur Industrialisierung in den 1980er Jahren oder die ausländischen Investitionen der USA zur Unterstützung einer kapitalistischen Wirtschaft als Bollwerk gegen die Sowjets und China nach dem Koreakrieg. Und dann war da noch die massive Ausbeutung der koreanischen Arbeiter durch ein Militärregime über Jahrzehnte hinweg. Dies erklärt in hohem Maße den Unterschied zwischen der Entwicklung Koreas und Brasiliens, dessen industrielle Strategie vom amerikanischen Kapital abgewürgt wurde.

Dann ist da noch Polen, die europäische Erfolgsgeschichte der Weltbank. Der Beitritt zur Europäischen Union mit massiven Subventionen für den Agrarsektor, riesige Kapitalinvestitionen der deutschen Industrie und eine umfangreiche Auswanderung von Arbeitslosen waren der Schlüssel zu Polens relativem Aufstieg. Die Weltbank drückt es bescheiden aus:
„Gebildete Polen setzten ihre Fähigkeiten (Fähigkeiten aus der Sowjet-Ära - MR) in der gesamten Europäischen Union ein und eröffneten damit einen weiteren Kanal, um globales Wissen in die polnische Wirtschaft einzubringen.“

Das ist die Gesamtheit der Erfolgsgeschichten der Weltbank, die auf dem „Schumpeter-Modell“ der Entwicklung basieren. Und die Ökonomen der Bank sind gezwungen zuzugeben, dass der Aufstieg dieser Länder in den Status eines Landes mit hohem Einkommen von Wirtschaftskrisen durchsetzt war... die Verschiebungen in definierten Phasen, von 1.  Investment zu  2.Investment plus Infusion und dann  zu 3.,  Strategien mit Investment plus Infusion plus Innovation keinesfalls glatt noch linear verlaufen."

 

Der „Elefant im Raum“ des Entwicklungsmodells der Weltbank wird nicht erwähnt: China.
Warum hat China, das in den 1950er Jahren zu den ärmsten Ländern der Welt gehörte, in den 1990er Jahren schnell den Status eines Landes mit mittlerem Einkommen erlangt und schließt im 21. Jahrhundert?. Warum sind Länder wie Vietnam und sogar Laos ebenfalls erfolgreich dem chinesischen Entwicklungsmodell gefolgt? Die Ökonomen der Weltbank sagen dazu nichts. Wie Marquetti hervorhebt: "Unser Buch enthält eine Zahl, die zeigt, dass China, Vietnam und Laos trotz sinkender Rentabilität ein hohes Investitionsniveau beibehalten haben. Dies ist eine Grundvoraussetzung für den Aufholprozess."

Die Weltbank ignoriert das chinesische Entwicklungsmodell der staatlich gelenkten Investitionen, der staatlichen Finanzierung von Infrastruktur und Technologie auf der Grundlage von nationalen Plänen mit Zielvorgaben, wo die „Rentabilitätsfalle“ der Volkswirtschaften mit mittlerem Einkommen nicht gilt.

In unserem Buch zeigen wir, dass es in China im Vergleich zu anderen Volkswirtschaften, insbesondere zu denen mit mittlerem Einkommen, nur eine minimale Korrelation zwischen Veränderungen der Rentabilität und dem realen BIP-Wachstum gab.
China hat keine Produktions- und Investitionskrisen aufgrund sinkender Rentabilität erlitten, wie dies bei den Favoriten der Weltbank der Fall war.

Die Ökonomen der Weltbank ignorieren die Rolle der staatlichen Investitionen und Planung. Stattdessen will die Bank „global anfechtbare Märkte schaffen, Faktor- und Produktmarktregulierungen abbauen, unproduktive Firmen entlassen, den Wettbewerb stärken, die Kapitalmärkte vertiefen“.

Doch welches Entwicklungsmodell hat Aussicht auf Erfolg?
Das von Schumpeter, das auf Krisen und Rentabilität basiert, oder das marxistische, das auf öffentlichem Eigentum und Planung beruht?


Wir können die Abbildung der Weltbank vom Anfang dieses Beitrags wiederholen, um China einzubeziehen und so die Fortschritte der beiden Modelle zu vergleichen, d. h. China und die Erfolgsgeschichten der Weltbank (deren drei, wie zuvor ausgeführt).

Wir stellen fest, dass Chiles Aufholprozess zum Stillstand gekommen ist: Das Verhältnis des Pro-Kopf-Einkommens zu den USA ist von 29,9 % im Jahr 2000 auf jetzt 28,6 % gefallen. In Korea hat sich das Verhältnis im letzten Jahrzehnt (auf hohem Niveau) eingependelt. Polen hatte am Ende der Sowjetära das höchste ratio im Vergleich zu den USA, fiel dann drastisch ab, stieg aber nach dem EU-Beitritt wieder an.

Polens Pro-Kopf-Verhältnis zu den USA ist seit 2000 um über 74 % gestiegen.
Im Vergleich dazu ist das Pro-Kopf-Einkommen Chinas im Verhältnis zu den USA um unglaubliche 314 % gestiegen.

Betrachtet man den globalen Süden als Ganzes, so holt er den globalen Norden nicht ein. Mit Ausnahme von China ist eher eine zunehmende Divergenz als eine Konvergenz zu beobachten.

Darüber hinaus wird die Ungleichheit von Vermögen und Einkommen innerhalb der Länder mit mittlerem Einkommen nicht erwähnt, die insbesondere seit den 1980er Jahren zugenommen hat (siehe dazu die World Inequality Database).[6]

Der Weltbankbericht endete mit der Bemerkung des neoklassischen Ökonomen Robert Lucas, der die Entwicklungsstrategie, die zu dem spektakulären Wirtschaftswachstum in Korea führte, mit einem „Wunder“ verglich.
Der Bericht schloss: "In Anbetracht der Veränderungen in der Weltwirtschaft seit der Zeit, in der Korea eine Volkswirtschaft mit mittlerem Einkommen war, wäre es ein Wunder, wenn die heutigen Volkswirtschaften mit mittlerem Einkommen in 50 Jahren das schaffen würden, was Korea in nur 25 Jahren geschafft hat. Es wäre sogar ein Wunder, wenn sie die beeindruckenden Erfolge anderer erfolgreicher Länder wie Chile und Polen wiederholen könnten."


Es wäre wohl ein Wunder.

 

 

 

[1] Eine "Profitability Trap" oder Rentabilitätsfalle beschreibt eine Situation, in der Unternehmen oder Investoren aufgrund einer zu starken Fokussierung auf kurzfristige Rentabilitätskennzahlen in die Irre geführt werden können. Dies kann zu Fehleinschätzungen und suboptimalen Entscheidungen führen.

[2] https://www.academia.edu/66353020/The_Economics_of_Modern_ImperialismRicci:  
     https://thenextrecession.wordpress.com/wp-content/uploads/2021/09/wp_ricci_unequal_exchange_and_global_inequality-1-1.pdf;
     Jason Hickel: https://www.nature.com/articles/s41467-024-49687-y?sfnsn=scwspmo

[3] https://www.plutobooks.com/9780745340883/capitalism-in-the-21st-century

[4] Das Verhältnis zwischen Kapital und Arbeit ist definiert als der gesamte Kapitalstock geteilt durch den gesamten Arbeitseinsatz, der in der Regel in Form von Arbeitsstunden oder der Zahl der Beschäftigten gemessen wird.

[5]https://www.academia.edu/66353020/The_Economics_of_Modern_Imperialism

[6] https://inequalitylab.world/en/

Ökonomie der Zeit – Eine linke Kontroverse um Arbeitszeitverkürzung

Mar, 13/08/2024 - 17:26

Arbeitszeitverkürzung ist im Kommen – immer mehr Unternehmen bieten die Vier-Tage-Woche an.
John Maynard Keynes prognostizierte für das Jahr 2030 die 15-Stunden-Woche, sie ist eine langjährige Forderung der Frauenbewegung.
Die 25-Stunden-Woche steht als Forderung im SPD-Programm und in vielen Ländern wird erfolgreich der 6-Stunden-Tag erprobt.
Es ist höchste Zeit für den nächsten Schritt, für die 28-Stunden-Woche bei vollem Lohnausgleich, für kurze Vollzeit für alle, für Arbeitszeiten, die zum sich verändernden Leben passen!



Ökonomie der Zeit, darin löst sich schließlich alle Ökonomie auf.

Die IG Metall setzt schon länger die Vier-Tage-Woche wieder auf die Tagesordnung1 und Wissenschaftler wie Heinz-J. Bontrup von der Arbeitsgruppe Alternative Wirtschaftspolitik (Memo-Gruppe) begründen die Überfälligkeit kollektiver Arbeitszeitverkürzung2.
Im VSA-Verlag ist im Frühjahr 2024 ein Buch zur neuen Aktualität von Arbeitszeitverkürzung3 mit Beiträgen von Margareta Steinrücke, Beate Zimpelmann, Philipp Frey, Sophie C. Jänicke, Steffen Liebig, Lia Becker, Andreas Ypsilanti, Nina Treu und anderen erschienen.
 In den Texten wird herausgearbeitet, warum Arbeitszeitverkürzung aktueller ist denn je.


Ohne Arbeitszeitverkürzung werden sich die drängenden Probleme der Menschen heute nicht lösen lassen, sei es die sozial gerechte Bewältigung der Klimakrise, die geschlechtergerechte Vereinbarkeit von Beruf und Privatleben oder die Angst vor Arbeitsplatzverlust und Abstieg, der die Menschen in die Arme der Rechten oder einfach in die Politikverdrossenheit führt.



Sophie Jänicke, Ressortleiterin im Funktionsbereich Traifpolitik beim Vorstand der IG Metall schreibt darin u.a.: „Dass die IG Metall eine Verkürzung der Wochenarbeitszeit fordert, ist Ausdruck einer arbeitszeitpolitischen Entwicklung, die die Organisation, ebenso wie andere Gewerkschaften, in den letzten Jahren vorangetrieben hat. … Die IG Metall hat in der Tarifbewegung 2023 für die deutsche Stahlindustrie den Vorstoß gemacht, die Vier-Tage-Woche auch in der Industrie umzusetzen. Denn die Vier-Tage-Woche als Chiffre für eine verkürzte Arbeitszeit, die mehr Work-Life-Balance verspricht, ist ein gutes Modell für die Arbeit der Zukunft in einer digitalisierten, klimaneutralen Industrie. … Die gesellschaftliche Resonanz, die die Vier-Tage-Woche und damit einhergehend die aktuelle Forderung nach Arbeitszeitverkürzung in der Stahl-Industrie findet, zeigt, dass Beschäftigungssicherung nicht das einzig gute Argument für kürzere Arbeitszeiten ist.“

In vielen Branchen haben Arbeiterinnen und Arbeiter in diversen Befragungen den Wunsch nach kürzerer Arbeitszeit zum Ausdruck gebracht. Mehr als 80 Prozent der Vollzeitbeschäftigten befürworten die Vier-Tage-Woche. Allerdings haben viele Angst vor Lohneinbußen. Darum ist klar: Arbeitszeitverkürzung nur bei vollem Lohnausgleich!

Wir sind viel zu bescheiden!

Im Programm der Partei Die Linke heißt es u.a.: „Die Linke steht für die Umverteilung von Arbeit durch Arbeitszeitverkürzung, für gleichen Lohn bei gleicher Arbeit und einen existenzsichernden, gesetzlichen Mindestlohn. Durch die Reform des Arbeitszeitgesetzes soll die höchstzulässige durchschnittliche Wochenarbeitszeit auf 40 Stunden begrenzt werden. Perspektivisch streben wir eine Obergrenze von 35 Stunden, längerfristig von 30 Stunden an. Wir wollen, dass dabei für die Beschäftigten ein voller Lohnausgleich gesichert wird. Die Mitbestimmungsrechte von Personal- und Betriebsräten sind vor allem im Hinblick auf Personal- und Stellenpläne zu erweitern. So ist zu erreichen, dass die Verkürzung der Wochenarbeitszeit zu mehr Beschäftigung führt und der Leistungsdruck abgebaut wird.“4 „Die Verkürzung der Arbeitszeit“, so Bernd Riexinger vor wenigen Jahren als Parteivorsitzender, „auf vier Tage oder 30 Stunden pro Woche trifft den Nerv der Zeit. Aus gutem Grund: Mit Arbeitszeitverkürzung können wir Arbeitsplätze retten, für mehr Lebensqualität sorgen, aber auch Menschen in unfreiwilliger Teilzeit ermöglichen, endlich wieder mehr zu arbeiten. Im Gegensatz zu den bisherigen Flexibilisierungen der Arbeitszeit, die immer zu Lasten der Beschäftigten gingen, ermöglicht die Verkürzung der Arbeitszeit eine Flexibilisierung, die den Beschäftigten nützt und sie sogar ein Stück weit vor Entlassungen schützt.“5 Bereits 2017 haben Lia Becker und Bernd Riexinger, weil das alte Normal erodiert, Vorschläge für ein neues Normalarbeitsverhältnis vorgelegt.6 Diese Vorschläge beruhen auf den fünf Säulen guter Lohn, Planbarkeit, Humanisierung, kurze Vollzeit und Demokratie, sie werden von den beiden Autor*innen als „Schicksalsfrage der Gewerkschaftsbewegung“ bezeichnet. Das scheint sich jetzt in der De-Industrialisierung und im Mitgliederschwund der Industriegewerkschaften zu bestätigen.

Das Konzeptwerk Neue Ökonomie hat jüngst „Bausteine für Klimagerechtigkeit“ publiziert, darin der Baustein „Für die Vier-Tage-Woche und ein gutes Leben für alle“ mit Theorie, u.a. Frigga Haugs 4-in-1-Modell, und vielen praktischen Beispielen.7
Das Institut Solidarische Moderne (ISM) bereitet ein Papier zur Arbeitszeitverkürzung vor mit dem Ziel, unterschiedliche Akteure im Bereich Arbeitszeitverkürzung zu einem möglichst breit geteilten Verständnis von solidarischer und emanzipativer Arbeitszeitverkürzung zu artikulieren. Zum anderen soll das Papier als Aufhänger dienen, um den öffentlichen Diskurs aus progressiver Perspektive mit zu beeinflussen. Darin auch das Netzwerk Care-Revolution mit einer Perspektive der Geschlechtergerechtigkeit auf die bezahlte und unbezahlte gesellschaftlich notwendige Arbeitszeit. Ich will auf Andrè Gorz hinweisen, der im Zusammenhang mit einer Ökonomie der Gemeinschaftlichkeit auf folgendes hinweist: „Das Maß des Reichtums ist hier ebenso wenig der Tauschwert wie die Arbeitszeit.“8 Schließlich will ich den Vortrag von Ingrid Kurz-Scherf benennen, den sie anlässlich der Veranstaltung der attac AG ArbeitFairTeilen und der RLS zum 100. Jahrestag des 8-Stunden-Tages am 27. Oktober 2018 in Erfurt hielt: „Und es hat wenig Sinn, sich darüber hinwegzutäuschen, dass sich der Glanz des Achtstundentags aktuell nicht übersetzt in eine Euphorie in Bezug auf den Sechsstundentag. Ich bin da gar nicht festgelegt, wir können auch über eine 28-Stunden-Woche reden. Ich habe sogar gelesen, die Zeit sei reif für eine 15-Stunden-Woche. Vielleicht sind wir immer noch viel zu bescheiden.“9


Die Kontroverse

Eigentlich verwundert es, dass ausgerechnet Vertreter der sich selbst als gewerkschaftlich orientierte Strömung bezeichnenden Sozialistischen Linken (SL), die „an linkssozialistische, links-sozialdemokratische und reformkommunistische Traditionen“ behauptet anzuknüpfen, schon länger und jetzt wieder gegen kollektive Arbeitszeitverkürzung argumentiert. Einer ihrer Protagonisten schrieb (im Zusammenhang mit einer Argumentation zur Ablehnung des bedingungslosen Grundeinkommens bzw. eines Antrages zur Ablehnung des Mitgliederentscheides zum Grundeinkommen): „Arbeitszeitverkürzung ist dann sinnvoll, wenn Kapazitäten voll ausgelastet sind und Arbeitslosigkeit vorliegt, die durch andere Auslastung der Kapazitäten abgebaut werden kann. Dem ist aber heute nicht so, wir haben Fachkräftemangel in vielen Bereichen, ergo sind die die Kapazitäten gegenüber dem gesellschaftlichen Bedarf unter-ausgelastet und eine Arbeitszeitverkürzung die falsche Lösung. Deswegen ist auch die in unserer Partei leider ebenfalls ohne all zu viel Nachdenken vertretene Forderung nach einer Vier-Tage-Forderung blanker Unfug.“ Die Sozialistische Linke sagt selbst von sich: „Wichtige Grundlagen unserer Positionen bilden marxistische Gesellschaftsanalyse und Strategiediskussion sowie links-keynesianische Positionen alternativer Wirtschaftspolitik.“


Ganz kurz Marx dazu

„Gemeinschaftliche Produktion vorausgesetzt, bleibt die Zeitbestimmung natürlich wesentlich. Je weniger Zeit die Gesellschaft bedarf, um Weizen, Vieh etc. zu produzieren, desto mehr Zeit gewinnt sie zu andrer Produktion, materieller oder geistiger. Wie bei einem einzelnen Individuum hängt die Allseitigkeit ihrer Entwicklung, ihres Genusses und ihrer Tätigkeit von Zeitersparung ab.
Ökonomie der Zeit, darin löst sich schließlich alle Ökonomie auf.
Ebenso muß die Gesellschaft ihre Zeit zweckmäßig einteilen, um eine ihren Gesamtbedürfnissen gemäße Produktion zu erzielen; wie der einzelne seine Zeit richtig einteilen muß, um sich Kenntnisse in angemeßnen Proportionen zu erwerben oder um den verschiednen Anforderungen an seine Tätigkeit Genüge zu leisten. Ökonomie der Zeit sowohl wie planmäßige Verteilung der Arbeitszeit auf die verschiednen Zweige der Produktion bleibt also erstes ökonomisches Gesetz auf Grundlage der gemeinschaftlichen Produktion.“10

Dem Protagonisten von der SL ist zugestanden, dass es ein kurzer Einwurf in einer Debatte um die Position zum bGE war. Dennoch können bestimmte Aussagen so nicht stehen bleiben und sind schlicht unhaltbar. „Wir haben Fachkräftemangel in vielen Bereichen“ kann mensch nicht behaupten, wenn gleichzeitig zu wenig ausgebildet wird, wenn gleichzeitig gesellschaftlich unnützes oder gar schädliches produziert wird (ich verzichte hier auf Beispiele), wenn gleichzeitig die industrielle Produktivität signifikant steigt. Partieller Fachkräftemangel ist nicht zu belegen, wenn es drei Millionen Erwerbslose gibt, wenn viele Menschen unfreiwillig in Minijobs schuften und drei Millionen junge Menschen keinen Berufsabschluss haben. Der logische Schluss aus einer falschen Annahme muss natürlich falsch sein: Weil wegen des unterstellten Fachkräftemangels die Kapazitäten unausgelastet seien, sei Arbeitszeitverkürzung „die falsche Lösung … und die in der Linken vertretene Forderung nach einer Vier-Tage-Forderung ohne all zu viel Nachdenken blanker Unfug.“

Es ist also der Blickwinkel, der die aufgeworfene Frage unterschiedlich beantworten lässt: Erwerbsarbeit als ökonomische Größe im Kapitalismus ohne alle anderen Implikationen und Dimensionen einerseits – oder Arbeit im umfassenden, die Gesellschaft und den Menschen formenden Sinne11 unter Berücksichtigung von Arbeitsteilung und Geschlechtergerechtigkeit. Wenn menschliche Arbeit und der Zeitaufwand dafür nur ökonomische Kategorien wären, hätte der Genosse der SL auch nur zum Teil Recht wegen der oben genannten Widersprüche bezüglich „Fachkräftemangel“.
Aber Mensch, Arbeit und Zeit sind eben auch gesellschaftliche, politische, gesundheitliche, soziale Kategorien.
Der Kampf um Arbeitszeitverkürzung ist Kampf um Emanzipation, um Gesundheit, Recht auf Leben, Teilhabe und Demokratie.
Nach einem linken, marxistisches Verständnis der politischen Ökonomie ergibt sich das Primat der Gesellschaft und der Politik über die Ökonomie. Um diesen Kampf kann kein Bogen gemacht werden.
Wenn die Arbeiter*innenklasse den Kampf um Verkürzung der Arbeitszeit nicht führt, dann gewinnen die ökonomisch und politisch Herrschenden den Kampf um die Verlängerungen der Arbeitszeit. Deshalb hat der Genosse der SL nicht einmal zum Teil Recht mit der Behauptung, Arbeitszeitverkürzung sei „die falsche Lösung“.


Ein aktuelles Beispiel:
Die Kapazitäten in der Industrie, namentlich in der Autoindustrie, sind katastrophal unterausgelastet. Die Aufträge brechen weg, Autos werden auf Halde produziert, Zehntausende von Jobs werden gestrichen, ganze Fabriken werden geschlossen – bei Continental, Bosch, Opel, Ford und jetzt auch bei Volkswagen und Audi.
Bei den Arbeiterinnen und Arbeitern, aber auch bei den Managern auf Werksebene macht sich Panik breit, ist Verzweiflung angesagt, liegen die Nerven blitzeblank. Da kommen zwei Vorschläge aus Regierung und der Industrie:

  1. Rheinmetall bekommt Rüstungsaufträge in Milliardenhöhe und übernimmt Personal und leerstehende Fabriken.
  2. Das Aus vom Verbrenner-Aus wird propagiert von CDU/CSU, AfD, BSW und jetzt auch von der FDP. Damit wird die reaktionäre Hoffnung geschürt, es könnte alles so bleiben, wie es war. Dadurch werden Milliarden an Investitionen verbrannt und die umgebauten Fabriken sind samt der dort beschäftigten Arbeiterinnen und Arbeiter dem Untergang geweiht.

Zur Sozial-ökologischen Transformation gehören beide Komponenten: einerseits die soziale, materielle Absicherung von Wohnung, Bildung, Gesundheit, Teilhabe (Demokratie), Mobilität und guter Arbeit der Menschen auch durch Arbeitszeitverkürzung und andererseits die Nachhaltigkeit, die Dekarbonisierung von Produktion und Produkten – einschließlich des Verzichts auf unnütze und schädliche Produkte wie überdimensionierte Autos, teure Werbung und Rüstungsproduktion.

Bertolt Brecht
Wer zu Hause bleibt, wenn der Kampf beginnt.
Und lässt andere kämpfen für seine Sache
Der muss sich vorsehen: denn
Wer den Kampf nicht geteilt hat
Der wird teilen die Niederlage.
Nicht einmal den Kampf vermeidet
Wer den Kampf vermeiden will: denn
Es wird kämpfen für die Sache des Feinds
Wer für seine eigene Sache nicht gekämpft hat.

1Richard Detje und Otto König; SOZIALISMUS 9/2020, Seite 47

2Ebd. Seite 51

3https://www.vsa-verlag.de/nc/buecher/detail/artikel/weniger-arbeiten-mehr-leben/

4https://www.die-linke.de/partei/programm/

5https://www.die-linke.de/start/detail/die-4-tage-woche-konkret-machen/

6https://www.sozialismus.de/fileadmin/users/sozialismus/pdf/Supplements/Sozialismus_Supplement_2017_09_Riexinger_Becker_NAV.pdf

7https://www.oekom.de/buch/bausteine-fuer-klimagerechtigkeit-9783987260735

8https://rotpunktverlag.ch/buecher/auswege-aus-dem-kapitalismus

9https://stephankrull.info/2019/01/11/vielleicht-sind-wir-immer-noch-viel-zu-bescheiden/

10Karl Marx; Grundrisse, Das Kapitel vom Geld, MEW Bd. 42, S. 105

11Fridrich Engels; Der Anteil der Arbeit bei der Menschwerdung des Affen; MEW Bd. 20, Seite 444

 

Arbeitsschutz in der Defensive: Job-Crafting statt Zeiterfassung

Sab, 10/08/2024 - 07:43

Die Entscheidung des Bundesarbeitsgerichts aus dem Jahr  2022 ist eindeutig:
Unternehmen sind in der Pflicht, die Arbeitszeit der Beschäftigten zu dokumentieren.
Das ignoriert jedoch ein großer Teil der Unternehmen.




Die Umfrage von SD Worx unter 18.000 Beschäftigten und unter 5.118 Unternehmensvertretern in 18 europäischen Ländern ergibt, dass in Deutschland nur bei 41 Prozent der Beschäftigten Zeiterfassung erfolgt.

Die Hälfte der deutschen Befragten gibt in der Studie an, regelmäßig Überstunden zu machen.
Das ist deutlich mehr als der europäische Durchschnitt mit 40 Prozent. (1) Das Bundesarbeitsgericht sieht die Erfassung der Zeiten als wichtiges Instrument des Arbeitsschutzes.

Fehltage wegen psychischer Belastungen

Deshalb überraschen Meldungen über hohe Krankentage kaum: „Die Zahl der Fehltage wegen psychischer Krankheiten ist im ersten Halbjahr 2024 stark gestiegen“, meldet das Ärzteblatt. Im Vergleich zum Vorjahr gab es 14,3 Prozent mehr Arbeitsausfälle durch Depressionen oder Anpassungsstörungen (2). „Der weitere Anstieg der Fehltage aufgrund psychischer Erkrankungen ist besorgniserregend“, sagte DAK-Vorstandschef Andreas Storm. Er forderte Unternehmen dazu auf, sich verstärkt mit der psychischen Gesundheit ihrer Belegschaft zu beschäftigen (3).

 Job-Crafting als neues Modell

Um die Motivation zu erhöhen, wird zunehmend auf das Konzept des „Job Crafting“ verwiesen.
Der Begriff stammt aus dem Englischen und bedeutet sinngemäß „Arbeit gestalten“.
Beschäftigte sollen unternehmerisch denken und in die Lage versetzt werden, das Arbeitsumfeld und „die Abläufe im Job aktiv neu und für sie selbst möglichst optimal zu gestalten“, betont die Personalberatung Personio. „Job Crafting soll Mitarbeitenden weniger Frust und mehr Freude vermitteln“ (4).

Die ersten Methoden entwickelten die US-amerikanischen Organisationspsychologinnen Amy Wrzesniewski und Jane Dutton von der Yale University. Am Anfang steht dabei die Analyse der Aufgaben, der sozialen Beziehungen im Unternehmen und der eigenen Einstellung zum Job.

Job Crafting ist ein Konzept der positiven Organisationspsychologie. Bedeutsam ist „Cognitive Crafting“, das sich auf die Veränderung der Wahrnehmung der eigenen Arbeit bezieht.
„Individuellen Stärken und Vorstellungen stehen die Ziele auf Team- und Unternehmensebene gegenüber. Aufgabe des Unternehmens, der Führungskräfte oder der Präventionsberatung ist es, eine Balance zwischen diesen beiden Polen zu finden“, beschreibt iga, die „Initiative Gesundheit und Arbeit“ der gesetzlichen Unfallversicherung. (5).
Auch die Ludwig-Maximilians-Universität München berichtet von Job Crafting und beschreibt, wie Beschäftigten geholfen wird, „ihre Arbeit zu lieben“ (6).
Job Crafting sollte „unbedingt als methodischer Lösungsansatz“ genutzt werden, empfehlen die Berater von Personion. Dies fördere die Gesundheit, nach dem Motto: Mehr Freude an der Arbeit bedeutet bessere Gesundheit. Ein Vorgesetzter gab im Betrieb das Motto aus: „Man muss seine Arbeit aus dem Holz schnitzen, das man zur Verfügung hat“.

Arbeitsschutz wird vernachlässigt

Unberücksichtigt bleibt dabei, dass über Personalausstattung und Arbeitsmenge die Unternehmensleitung entscheidet. Dazu passen Untersuchungen der Gewerkschaften. Der Arbeits- und Gesundheitsschutz in den Betrieben des Dienstleistungssektors wird trotz hoher Belastungen der Beschäftigten sträflich vernachlässigt. Das zeigt etwa die Untersuchung „Arbeitsbelastung hoch, Arbeitsschutz mangelhaft" von Ver.di. Als „eine echte Katastrophe für die Arbeitswelt“ bezeichnet Ver.di-Vorstand Rebecca Liebig die Ergebnisse (7).

Nur knapp über die Hälfte der befragten Beschäftigten sagt, dass sie unter den derzeitigen Arbeitsbedingungen bis zur Rente durchhalte.
„Wir brauchen gerade im wachsenden Dienstleistungssektor dringend gut qualifizierte, motivierte und vor allem gesunde Fachkräfte, um die anstehenden Transformationsprozesse zu meistern“, so Liebig und ergänzt: „Wir fordern die Arbeitgeber auf, ihren gesetzlichen Arbeitsschutz-Pflichten endlich nachzukommen.“

Zentral für das Erreichen von gesunden und guten Arbeitsplätzen ist die Durchführung einer sogenannten Gefährdungsbeurteilung, betont Ver.di (8).
Dies  ist im Arbeitsschutzgesetz festgeschrieben und soll Gefahren aus Sicht der Beschäftigten ermitteln.

Der Betrieb muss  dabei aufzeigen, welche Gefahren für die Gesundheit der Beschäftigten bestehen. Und dann ist festzulegen, welche Maßnahmen zum Gesundheitsschutz erforderlich sind, also was gegen die Gefährdungen unternommen wird. Das kann auch Stress am Arbeitsplatz betreffen. Viele Unternehmen ignorieren diese Vorgabe.

 

 

Quellen:

(1) www.haufe.de/personal/hr-management/pflicht-zur-arbeitszeiterfassung-wird-nachlaessig-befolgt_80_628416.html

(2) www.aerzteblatt.de/nachrichten/153033/Fehltage-durch-psychische-Krankheiten-stark-gestiegen

(3) www.dak.de/presse/bundesthemen/gesundheitsreport/starker-anstieg-bei-psychischen-erkrankungen-im-ersten-halbjahr-2024-_76674

(4) www.personio.de/hr-lexikon/job-crafting

(5) www.iga-info.de/veroeffentlichungen/igawegweiser-co/wegweiser-job-crafting

(6) www.psy.lmu.de/evidenzbasiertesmanagement/dokumente/ebm_dossiers/ebm_27_job_crafting.pdf

(7) https://innovation-gute-arbeit.verdi.de/++co++7749254e-0215-11ef-b306-1b1aa92a88c1 (8) www.verdi-gefaehrdungsbeurteilung.de

 

 

WAPE 2024 - World Association of Political Economy

Gio, 08/08/2024 - 11:41

Am vergangenen Wochenende fand in Athen der 17. Kongress der World Association of Political Economy statt. 
Die WAPE ist eine von China geführte akademische Wirtschaftsorganisation, die sich weltweit mit marxistischen Ökonomen vernetzt.
"Auch wenn das wie eine Voreingenommenheit erscheinen mag, bieten die WAPE-Foren und -Zeitschriften ein wichtiges Forum, um alle Entwicklungen in der kapitalistischen Weltwirtschaft aus einer marxistischen Perspektive zu diskutieren.
Marxistische Ökonomen aus der ganzen Welt sind willkommen, dem WAPE beizutreten und an den WAPE-Foren teilzunehmen." (WAPE-Statement).

Anbei einige Anmerkungen zu den Referaten auf der WAPE 2024, auf die hier eingegangen werden soll, ohne dabei den Anspruch einer Vollständigkeit zu erheben.  Es ist eher als eine Anregung zur Vertiefung der Auseinandersetzung um die marxistische Theorie gedacht.

Technologie

Mike Nolan vom Rochester Institute of Technology hielt einen Vortrag über Revolutionary Technology: The Political Economy of Left-Wing Digital Infrastructure" vor.  Nolan argumentiert, dass die "dezentralisierte Natur" des Internets und der sozialen Online-Medien dazu tendiert, die Klassenpolitik zu brechen und zu schwächen.  Nötig sei eine "einheitliche digitale Infrastruktur", damit "linke Organisationen die Kosten für die Aufrechterhaltung der Infrastruktur teilen und gleichzeitig eine bessere Kontrolle über die Form dieser Infrastruktur ausüben können".  Klingt vernünftig, aber die Machbarkeit einer solchen "linken digitalen Infrastruktur" ist nicht klar.

João Romeiro Hermeto von der Freien Universität Berlin stellte sein Buch The Paradox of Intellectual Property in Capitalism vor, in dem er das Wesen des geistigen Eigentums unter der kapitalistischen Produktionsweise diskutiert.  Insbesondere versucht er zu erklären, was Wissen ist und wie es produziert wird.  Er betont, wie Wissen von Big Pharma und den Tech-Giganten in "geistiges Eigentum" verwandelt wird. Es geht um die Kontrolle über die Aneignung der gesellschaftlichen Mehrarbeit, die im Kapitalismus die spezifische Form des Mehrwerts annimmt.  Das ist zweifellos richtig, aber es blieb etwas unkeklärt, wohin uns das Buch dann führt.  Es bietet sich vielleicht an, Hermetos Analyse des Wissens in seinem Buch mit Guglielmo Carchedis Analyse des Wissens und der geistigen Arbeit mit dem Buch des Autors, Capitalism in the 21st Century, vergleichen (siehe Kapitel 5, S. 161-187) zu vergleichen.

Quantitative politische Ökonomie

Es gab einen sehr wichtigen Teil des WAPE-Programms, die quantitative politische Ökonomie.  Thanos Poulakis und Persefoni Tsaliki von der Universität Mazedonien stellten ihre scharfsinnige Analyse der Kaufkraftparität (KKP) vor, der wichtigsten Methode, mit der der IWF und die Weltbank das BIP in Volkswirtschaften messen.  Der Zweck des Kaufkraftparitäts-Wechselkurses besteht darin, die Landeswährung eines jeden Landes in eine gemeinsame Basiswährung - in der Regel den US-Dollar - umzurechnen. Auf diese Weise kann die Wirtschaftsleistung anhand einer einzigen gemeinsamen Währung verglichen werden und nicht anhand von Dutzenden von Landeswährungen, deren Marktwechselkurse sich schnell ändern können.

Poulakis und Tsaliki zeigen, dass die Wechselkurse tatsächlich durch die realen Arbeitskosten bestimmt werden, und wenn diese Stückkosten sorgfältig gemessen würden, könnte man genauere Schätzungen der KKP vornehmen und eine wirksamere Wechselkurspolitik entwickeln. Eine solche empirische Analyse ist nicht neu.  Siehe das Papier von Francisco Martinez. Poulakis und Tsaliki haben jedoch ihre früheren Arbeiten auf 163 Länder ausgeweitet.

Eine wichtige Schlussfolgerung daraus ist, dass Handelsüberschüsse und Handelsdefizite die direkte Folge der relativen Wettbewerbsposition der Länder in Bezug auf die realen Arbeitskosten sind. Wechselkursabwertungen haben also nur eine vorübergehende Wirkung auf die nationale Wettbewerbsfähigkeit, wenn die allgemeinen Produktionsbedingungen nicht verbessert werden.  Solange die am wenigsten wettbewerbsfähigen Volkswirtschaften auf internationaler Ebene ihre allgemeinen technischen Produktionsbedingungen nicht verbessern können, werden ihre nationalen Industrien strukturell nicht wettbewerbsfähig sein, und infolgedessen würden diese Länder permanente Handelsdefizite aufweisen.

 

Terms of Trade[1]

Carlos Alberto Duque Garcia hielt einen Vortrag zum Thema "Terms of trade and the rate of profit: a suggested framework and evidence from Latin America".  Carlos Duque von der Autonomous Metropolitan University in Mexiko hat bereits eine hervorragende empirische Arbeit über Profitabilitätswellen in Kolumbien mit dem Titel Economic Cycles, Investment and Profits in Colombia, 1967-2019 vorgelegt.  In dieser Arbeit fand Duque Belege für die Marx'sche Hypothese, dass sowohl die Profitrate als auch die Masse der Profite die Investitionen bestimmen, während es im Gegenteil keine Belege dafür gab, dass die Investitionen entweder die Profitrate oder die Masse der Profite bestimmen.
Dies war eine weitere Bestätigung des Marx'schen Gesetzes der Rentabilität. 

 

 Messung der Profitrate

Dimitris Paitaridis und Lefteris Tsoulfidis gingen der Frage nach, ob eine genaue Messung des Bruttokapitalstocks für die Messung der Profitrate des Kapitals von Bedeutung ist.  Dies mag selbstverständlich erscheinen.  Aber es ist Gegenstand einer Debatte.  Einige argumentieren, dass der Kapitalstock nicht mit offiziellen Daten gemessen werden kann, weil er auf falschen neoklassischen Konzepten beruht.  Und es ist sicherlich richtig, dass die in offiziellen Datenbanken (z. B. AMECO der EU) verwendeten Kapitalstockmessungen fragwürdig sind.  Die Autoren haben jedoch eine Reihe hervorragender Arbeiten zur Messung des Kapitalstocks vorgelegt und belegen ausführlich den empirischen Zusammenhang zwischen einer zunehmenden organischen Zusammensetzung des Kapitals (der Kapitalstock wächst stärker als das variable Kapital) und einer sinkenden Gewinnrate auf den Kapitalstock.

Nikolaos Chatzarakis referierte ebenfalls über die Art der langen und kurzen Zyklen in der kapitalistischen Akkumulation.  Auch hier handelte es sich um eine weitere Arbeit über Zyklen, die der Autor und andere an der Universität von Mazedonien bereits durchgeführt haben. Ihr Zyklusmodell zeigte eine Periodizität, die durch die langfristige Entwicklung der Rentabilität und das dahinterstehende Wachstum der Mehrwertrate als regulierende Variable für die Zyklen bedingt ist. Der äußerst wertvolle Beitrag der marxistischen Wissenschaftler in Mazedonien und Griechenland insgesamt zur marxistischen Wirtschaftstheorie und zu empirischen Studien kann nicht unterschätzt werden.  Siehe meine Rezension des bahnbrechenden Buches von Tsoulfidis und Tsaliki. [2]

Apropos Theorie: Das Marx'sche Wertgesetz wurde in Fred Moseleys neuem Buch "Marx's Theory of Value in Chapter 1 of Capital: A Critique of Heinrich's Value Form Interpretation".[3]  Der Autor hat die Argumente in dem Buch im Anschluss an eine Debatte zwischen Moseley und dem deutschen Marxisten Michael Heinrich[4] auf der letztjährigen Konferenz zum Historischen Materialismus überprüft.

 

Fallende Profitrate

Christos Balomenos von der Nationalen und Kapodistrianischen Universität Athen stellte seine Doktorarbeit vor: "Eine theoretische und archivarische Untersuchung von Marx' Analyse des zinstragenden Kapitals und des Kredits im Manuskript von 1864-65 und dessen Bearbeitung durch Engels".  In dieser Arbeit untersuchte Balomenos Heinrichs Argumente für die Existenz einer entscheidenden theoretischen Verschiebung in Marx' Denken während der 1870er Jahre, die sich um seine angeblichen Zweifel an der Gültigkeit des Gesetzes der fallenden Profitrate drehte. In seiner Untersuchung kommt er zu dem Schluss, dass "die Manuskripte und Briefe, auf die sich Heinrich beruft, um seine Argumente zu stützen, weder eine Unsicherheit von Marx hinsichtlich der Gültigkeit des Gesetzes der fallenden Profitrate noch eine Veränderung seiner Meinung in den 1870er Jahren hin zu einer vorrangigen Rolle der kapitalistischen Zirkulation und insbesondere des Kredits bei der Erklärung der Wirtschaftskrise belegen."

Auf der WAPE 24 löste Fred Moseleys Interpretation der Marxschen Werttheorie jedoch einen kontroversen Disput aus.  Alan Freeman kritisierte Moseley für seine Behauptung, dass die Marktpreise um die langfristigen Produktionspreise oszillieren, die als Gravitationskraft wirken und die Preise mit den Arbeitswerten verbinden. Freeman argumentiert, dass die Outputpreise nicht mit den Inputpreisen übereinstimmen und sich ständig ändern, auch wenn sich die Produktivität nicht ändert.  Die Marktpreise oszillieren also nicht um die langfristigen Produktionspreise, die als Gravitationskraft wirken und die Preise an den Wert der Arbeit binden, wie Moseley argumentiert.
Freeman sieht darin eine Gleichgewichtstheorie des Mainstreams, die von Marx in seinem zeitlichen Ansatz abgelehnt wird.

 

Anmerkungen

[1] Terms of Trade (TOT) ist ein wirtschaftlicher Indikator, der das Verhältnis zwischen dem Preisniveau der Exporte und Importe eines Landes darstellt.

[2] Michael Roberts: Ricardo and/or Marx? A Review of Classical Political Economics and Modern Capitalism: Theories of Value, Competition and Trade by Lefteris Tsoulfidis and Persefoni Tsalik.
Er würdigt das Buch für seine überzeugende und solide theoretische Analyse des Kapitalismus. Er weist jedoch auf einen merkwürdigen Aspekt des Ansatzes der Autoren hin: Sie kategorisieren die Marxsche Ökonomie als einen Strang der klassischen politischen Ökonomie, anstatt sie als Kritik der klassischen Ökonomie anzuerkennen, wie es Marx selbst tat. Roberts findet die Entwicklung der Marxschen Theorie durch die Autoren besonders überzeugend, wenn man sie mit klassischen und neoklassischen Analysen vergleicht.

[3] Fred Moseley: "Marx's Theory of Value in Chapter 1 of Capital: A Critique of Heinrich's Value-Form Interpretation". Es handelt sich um eine  detaillierte Kritik  Michael Heinrichs Interpretation der Marx'schen Werttheorie, wie sie in Kapitel 1 des "Kapital" dargestellt wird. Moseley argumentiert gegen Heinrichs Wertforminterpretation, die die relationalen und sozialen Aspekte des Werts betont und suggeriert, dass der Austausch die Produktion bestimmt.
Stattdessen verteidigt Moseley ein produktionszentriertes Verständnis des Wertes und behauptet, dass der Wert durch die Produktion bestimmt wird und dass der Tausch daraus folgt.

[4] Michael Heinrichs Interpretation von Marx' Werk unterscheidet sich in mehreren wesentlichen Punkten von anderen Ansätzen:

  1. Kritik des Weltanschauungsmarxismus: Heinrich kritisiert den sogenannten "Weltanschauungsmarxismus", der durch einen simplen Materialismus und deterministischen Geschichtsverständnis geprägt ist. Er lehnt die Vorstellung ab, dass der Kapitalismus und die proletarische Revolution als naturgesetzliche Notwendigkeiten betrachtet werden können
  2. Fokus auf Fetischismus: Heinrich betont Marx' Rolle als Kritiker der durch den Wert vermittelten, fetischisierten Vergesellschaftung. Er sieht den Fetischismus als einen Verblendungszusammenhang, dem sowohl Kapitalisten als auch Arbeiter unterliegen, und lehnt die Vorstellung einer privilegierten Erkenntnisposition der Arbeiterklasse ab.
  3. Unvollständigkeit von Marx' Werk: Heinrich hebt hervor, dass Marx' Werk kein abgeschlossenes System darstellt, sondern aus vielen Fragmenten besteht. Er betont, dass die MEGA (Marx-Engels-Gesamtausgabe) zeigt, dass Marx' Kritik der politischen Ökonomie nicht vollständig fertiggestellt war, sondern dass es sich um ein gigantisches Forschungsprojekt handelt, von dem nur Fragmente realisiert wurden.

  4. Materialistische Betrachtung: Heinrich verfolgt einen materialistischen Ansatz, der nicht nur die theoretischen Inhalte von Marx' Texten untersucht, sondern auch die materiellen Bedingungen ihrer Entstehung. Er sieht Marx' Texte als politische Interventionen, die in spezifische Debatten und Konflikte eingreifen.
  5. Kritik an der monetären Werttheorie: Heinrich wird von Vertretern der Neuen Marx-Lektüre dafür kritisiert, dass er eine Zweiteilung der Ökonomie postuliert, die nicht über Marx hinausgeht, sondern hinter ihn zurückfällt.

Quellen dazu:
Marx, Leben und Werk, Z, Zeitschrift marxistische Erneuerung, 2017;

Michael Heinrich: Wie das Marxsche Kapital lesen? Hinweise zur Lektüre und Kommentar zum Anfang von »Das Kapital«, Stuttgart 2008.

Die Federal Reserve scheitert

Sab, 03/08/2024 - 06:37

Die US-Notenbank  (FED) verzichtete Ende Juli auf eine Senkung ihres Leitzinses von dem derzeitigen Höchststand von 5,25-5,5 %. 
Dies geschah, obwohl sie feststellte, dass sich die US-Wirtschaft abkühlte, die Arbeitslosigkeit zu steigen begann und die Wirtschaftstätigkeit sich abschwächte.



Das Problem für die Fed bestand wie immer darin, einerseits die Kreditkosten hochzuhalten, um die Inflation einzudämmen, und andererseits dem Risiko entgegenzuwirken, dass die hohen Kreditkosten dazu führen, dass die Haushalte ihre Ausgaben kürzen und die Unternehmen ihre Investitionen und die Beschäftigung zurückfahren.

Die Fed hat wie andere Zentralbanken in den großen Volkswirtschaften ein willkürliches (und ziemlich sinnloses) Inflationsziel von 2 % pro Jahr; im Gegensatz zu anderen Zentralbanken hat sie jedoch ein "doppeltes Mandat", nämlich zu versuchen, die Beschäftigung und das Wirtschaftswachstum zu erhalten und gleichzeitig die Inflation zu senken. 
Kann die Fed dieses doppelte Mandat erfüllen?
Die Fed behauptet gerne, dass sie es schaffen wird; auch unter den führenden Wirtschaftswissenschaftlern herrscht Einigkeit darüber, dass sie dieses "Goldlöckchen-Szenario" von niedriger Inflation und Arbeitslosigkeit bei gleichzeitig mäßig solidem Wirtschaftswachstum erreichen wird.

Aber wenn das doppelte Mandat erreicht wird, wird das nicht an der Zinspolitik der Fed liegen.  Wie ich bereits mehrfach dargelegt habe, steuert die Geldpolitik angeblich die "Gesamtnachfrage" in einer Volkswirtschaft, indem sie die Kreditaufnahme für Ausgaben (sei es für Konsum oder Investitionen) teurer oder billiger macht.  Doch die Erfahrung mit dem jüngsten Inflationsschub seit dem Ende der Pandemiekrise im Jahr 2020 ist eindeutig:

 Die Inflation stieg aufgrund der geschwächten und blockierten Lieferketten und der langsamen Erholung der verarbeitenden Industrie an, nicht aufgrund einer "übermäßigen Nachfrage", die entweder durch eine staatliche Ausgabenwut oder "übermäßige" Lohnerhöhungen oder beides verursacht wurde.
 
Und die Inflation begann zu sinken, sobald die Energie- und Nahrungsmittelknappheit und die Preise nachließen, die Blockaden in den globalen Lieferketten abgebaut wurden und die Produktion wieder anlief. 
Die Geldpolitik hatte mit diesen Bewegungen wenig zu tun.

Und entgegen den Hoffnungen und Erwartungen des Fed-Vorsitzenden Jay Powell und aller Mainstream-Ökonomen gibt es in der US-Wirtschaft Tendenzen, die darauf hindeuten, dass das doppelte Mandat wahrscheinlich nicht erreicht werden wird. 
Erstens bleibt die Inflation "hartnäckig", d. h. sie liegt deutlich über der angestrebten Jahresrate von 2 %.  Die Fed misst die US-Inflation gerne anhand des Preisindexes für die persönlichen Konsumausgaben (PCE).  Dabei handelt es sich um ein kompliziertes Maß, das die Produktionspreise sowie die Energie- und Lebensmittelpreise ausschließt - kaum ein genaues Maß für den Preisanstieg bei der Mehrheit der Amerikaner!
Dennoch liegt der PCE-Kernpreisindex derzeit bei 2,6 % und damit unter dem Höchstwert von 5,6 % im Jahr 2022, aber immer noch deutlich über 2 % und der Rate für 2019.

 

Die Gesamtinflationsrate der Verbraucherpreise ist viel höher als die Messung der Fed. 
Sie liegt derzeit bei 3,0 % und damit unter dem Höchstwert von 9 % im Jahr 2002, aber immer noch einen vollen Prozentpunkt über dem illusorischen Ziel der Fed und doppelt so hoch wie die Rate im Jahr 2019.

 

 

Und wie zu sehen ist, scheint der Verbraucherpreisindex bei 3 % zu verharren, ohne dass es trotz der optimistischen Äußerungen der Mainstream-Ökonomen Anzeichen für einen weiteren Rückgang gibt.  Die Gründe dafür liegen für mich auf der Hand.  Erstens ist die Inflation, wie ich schon früher und weiter oben dargelegt habe, nicht auf eine "übermäßige Nachfrage" zurückzuführen, sondern auf ein schwaches Angebot, d. h. ein geringes Produktivitätswachstum und hohe Rohstoffpreise.  Zweitens sind die Preise vieler Produkte in der US-Wirtschaft in den letzten zwei Jahren stark gestiegen, was sich anscheinend nicht in den offiziellen Preisangaben niederschlägt.

Dazu gehören insbesondere die stark gestiegenen Wohnkosten, Kranken- und Kfz-Versicherungen.  In einem kürzlich erschienenen FT-Artikel wird eingeräumt: "Beide sind zum Teil ein Produkt der pandemischen Angebotsschocks - verringerte Bautätigkeit und ein Mangel an Fahrzeugteilen -, die immer noch durch die Lieferkette sickern. In der Tat sind die teureren Kfz-Versicherungen jetzt ein Produkt des früheren Kostendrucks bei Fahrzeugen. Die Nachfrage ist nicht das zentrale Problem; hohe Tarife können nur wenig ausrichten."

 

Es gibt noch ein weiteres Maß für die Inflation in der US-Wirtschaft, den so genannten "Sticky Price Consumer Price Index" (SCPI), der auf der Grundlage einer Untergruppe von Waren und Dienstleistungen berechnet wird, die im VPI enthalten sind und deren Preise sich relativ selten ändern, so dass sie von Nachfrageänderungen kaum betroffen sind.  Dieser Index zeigt erneut eine viel höhere Inflationsrate an, die derzeit bei 4,2 % im Jahresvergleich liegt und damit dreimal so hoch ist wie Anfang 2021.

US-Inflation bei "hartnäckigen" Preisen

Dieses Maß deutet darauf hin, dass die Inflation in der Wirtschaft verankert ist und die Unternehmen jede Gelegenheit nutzen, um die Preise zu erhöhen, aber keine Gelegenheit, sie zu senken.  Vergessen Sie nicht, dass die amerikanischen Haushalte in den letzten drei Jahren einen durchschnittlichen Preisanstieg von 20 % bei den von ihnen gekauften Waren und Dienstleistungen hinnehmen mussten - die derzeitige Verlangsamung der Inflation bedeutet also nichts anderes, als dass die Preise zwar immer noch enorm steigen, aber nicht mehr so schnell. Diese Preisinflation hat die Realeinkommen der meisten Amerikaner in den letzten Jahren aufgefressen, so dass sich der Lebensstandard verschlechtert hat, auch wenn alle eine Arbeit haben (meist eine schlecht bezahlte im Dienstleistungsbereich).

Im Gegensatz zu dem, was die Fed sagt, ist der "Krieg gegen die Inflation" also noch nicht gewonnen.  Infolgedessen hat die Fed ihren Leitzins noch immer nicht gesenkt.  Der hohe Leitzins der Fed sorgt jedoch dafür, dass die Kreditzinsen hoch bleiben, was sich auf die Gewinne vor allem kleiner Unternehmen auswirkt, die häufig Kredite aufnehmen müssen, um zu investieren und Arbeitsplätze zu schaffen, sowie auf die Kreditkarten- und Hypothekenzinsen der Haushalte.

Dies wirft die Frage auf, ob die US-Wirtschaft wirklich vorankommt und somit einen Abschwung vermeiden kann, der durch den Druck auf die Gewinne aufgrund der hohen Zinssätze verursacht wird.  Die jüngste Vorausschätzung des realen BIP-Wachstums in den USA für das zweite Quartal dieses Jahres, das von 1,4 % im ersten Quartal auf 2,8 % im Jahresvergleich gestiegen ist, wurde viel beachtet.  Doch diese Schlagzeile hat viele Schwachstellen.

Erstens handelt es sich um eine "annualisierte" Rate, was bedeutet, dass der vierteljährliche Anstieg des realen BIP im zweiten Quartal in Wirklichkeit nur 0,7 % betrug.  Zweitens enthält die Gesamtrate wichtige Beiträge aus den folgenden Bereichen: Gesundheitsdienstleistungen (0,45 Prozentpunkte), Vorräte (0,82 Prozentpunkte) und Staatsausgaben (0,53 Prozentpunkte).  Die Gesundheitsdienstleistungen sind eigentlich ein Maß für die steigenden Kosten der Krankenversicherung und nicht für eine bessere Gesundheitsversorgung, und diese Kosten sind in den letzten drei Jahren in die Höhe geschnellt.  Unter Vorräten versteht man Bestände an unverkauften Waren, mit anderen Worten: Produktion ohne Verkauf; und die Staatsausgaben dienten hauptsächlich der Rüstungsproduktion, was kaum einen produktiven Beitrag darstellt.

Wenn man all diese Komponenten ausklammert und die so genannten "realen Endverkäufe an private inländische Käufer" betrachtet, ein besseres Maß für die US-Wirtschaftstätigkeit, dann gab es keine Verbesserung gegenüber dem schwachen ersten Quartal.  Tatsächlich lag das Wachstum der realen Endverkäufe in der ersten Hälfte dieses Jahres bei Null, verglichen mit rund 2 % im gesamten Jahr 2023.

Und die Verkäufe an die Verbraucher waren besser als das Wachstum des realen persönlichen Einkommens. 
Im Durchschnitt verzeichnen die amerikanischen Haushalte nach zwei Jahren des Rückgangs der Realeinkommen jetzt nur einen sehr geringen Anstieg.  Das real verfügbare persönliche Einkommen (das ist das Einkommen, das den Menschen nach Abzug von Inflation und Steuern zur Verfügung steht) stieg auf Jahresbasis nur um 1 % und damit langsamer als im ersten Quartal.

Kein Wunder, dass die Stimmung der US-Verbraucher auf den niedrigsten Stand seit acht Monaten gefallen ist. 
Der von der University of Michigan ermittelte Index der Verbraucherstimmung erreichte im Juli einen Wert von 66,4 und damit den niedrigsten Stand seit November. Die etablierten Wirtschaftswissenschaftler, die davon ausgehen, dass die Verbraucherausgaben und -einkommen boomen, sind darüber verwundert und sprechen von einer "Vibecession".  Die amerikanischen Haushalte scheinen nicht zu erkennen, dass es ihnen sehr gut geht!  Aber "die hohen Preise drücken weiterhin auf die Stimmung, vor allem bei denjenigen, die über ein geringeres Einkommen verfügen", so Joanne Hsu, die Leiterin der Umfrage in Michigan. Das ist die Verbraucherfront. 

An der Produktionsfront sieht es nicht viel besser aus.  Die Saison der Unternehmensgewinne in den USA hat begonnen, und es gab durchweg schlechte Nachrichten, insbesondere von den Mega-Tech- und Social-Media-Unternehmen, die den US-Aktienmarkt dominieren und den Großteil der Gewinne im Unternehmenssektor einfahren.

Vier der so genannten "Magnificent Seven", die in den letzten neun Monaten die US-Börsenrallye angetrieben haben, https://thenextrecession.wordpress.com/2024/04/07/from-the-magnificent-seven-to-the-desperate-hundred/

beendeten die Woche mit Kursverlusten von mehr als 10 Prozent gegenüber den jüngsten Höchstständen im "Korrekturbereich".  Zwei weitere - Microsoft und Amazon - stehen kurz vor den zweistelligen Kursverlusten, die eine Korrektur definieren.  Von den glorreichen Sieben zu den gebrochenen Fünf!

Big Tech hat sich voll auf die zu erwartenden riesigen Gewinne aus der KI festgelegt.  Sie haben Investitionen in noch nie dagewesenem Umfang getätigt und sind damit zum Haupttreiber der Unternehmensinvestitionen in der US-Wirtschaft geworden.  Microsoft hat erklärt, dass "wir in diesem Jahr einen erheblichen Anstieg der Investitionsausgaben erwarten" und dass "die kurzfristige KI-Nachfrage unsere verfügbaren Kapazitäten ein wenig übersteigt". Amazon sagt, die starke Nachfrage nach Cloud-Diensten und KI bedeute, dass das Unternehmen seine Investitionsausgaben "deutlich erhöhen" werde. Meta sagt, dass KI sowohl in diesem Jahr als auch bis 2025 zu höheren Investitionen führen wird. Allerdings werden Zweifel an der schnellen Realisierung höherer Gewinne durch KI laut, und wenn Big Tech beginnt, seine Ausgaben zu kürzen, wird sich dies auch auf die Wirtschaft der Unternehmen auswirken.  Es wird vermehrt von einem "Tail Risk" für den Aktienmarkt gesprochen.

Kommt noch mehr dazu?

 

Auch die Aktienkurse des Zustelldienstes UPS, der oft als Indikator für die Wirtschaft im Allgemeinen gilt, fielen um 12 %, nachdem UPS seine Prognosen für den Rest des Jahres zurückgenommen hatte.  Seit dem Ende der Pandemie gab es einen enormen Anstieg der Investitionen in Transportausrüstung, um den Anstieg der weltweiten Produktion zu bewältigen.  Diese Entwicklung scheint sich jedoch ihrem Ende zu nähern.

 

 

Zur Beschäftigung

Was die Beschäftigung anbelangt, so zeichnet sich auch hier das Gesamtbild eines schwächeren Beschäftigungswachstums und einer steigenden Arbeitslosigkeit ab.  Die ADP-Daten zeigen, dass die Zahl der Beschäftigten in kleinen Unternehmen mit 20 bis 49 Mitarbeitern im Jahresvergleich um 88.000 abgenommen hat. Und die Tendenz ist bei allen Unternehmen außer den sehr großen negativ.

Die Dynamik der Wirtschaftstätigkeit schwächt sich ab.

 

 

Tatsache ist, dass die US-Wirtschaft unter den führenden G7-Volkswirtschaften zwar am besten abschneidet, aber nicht in Fahrt kommt. https://www.isw-muenchen.de/online-publikationen/texte-artikel/5260-eine-sanfte-landung-oder-ein-faules-ei-a-soft-landing-or-curates-egg


Dennoch ist die Situation in Europa und Japan noch viel schlimmer - darauf werde ich in einem späteren Beitrag zurückkommen.  Im Vereinigten Königreich ist die Lage so schlecht, dass die Bank of England beschlossen hat, ihren Leitzins jetzt zu senken.  Die Gesamtinflation im Vereinigten Königreich ist drastisch auf 2 % gesunken, aber nur, weil die britische Wirtschaft stagniert.

 

Zusammenfassend bleibt festzuhalten: 
Die US-Notenbank wird mit ziemlicher Sicherheit auf ihrer September-Sitzung mit der Senkung ihres Leitzinses beginnen -  genau das hat sie angedeutet. 
Sie hat auch keine andere Wahl, wenn sie eine Stagnation oder gar Rezession in der Wirtschaft vermeiden will, wie es die Bank of England bereits tut.

Die Fed wird also damit leben müssen, dass sie ihr Inflationsziel von 2 % nicht erreicht. 

Und die amerikanischen Haushalte werden mit einer noch höheren Inflation in den Geschäften und bei wichtigen Dienstleistungen konfrontiert werden.

Diplomatie statt Waffen

Ven, 02/08/2024 - 08:36

Neue Bemühungen um Waffenstillstand in der Ukraine:
Selenskyj zieht „Diplomatie statt Waffen“ in Betracht;
Beijing verhandelt mit Kiew;
Finnlands Präsident wünscht Gespräche.
Berlin unternimmt zur Kriegsbeendigung nichts.



Ohne jegliches Zutun der Bundesregierung zeichnen sich vorsichtige Bemühungen um ein Ende des Krieges in der Ukraine und um eine mögliche Friedenslösung ab.

So hat etwa der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj in einem Interview mit französischen Medien erklärt, er bestehe nicht mehr darauf, die territoriale Integrität der Ukraine „mit Waffen“ zu erkämpfen; denkbar seien stattdessen auch diplomatische Schritte. Selenskyj wünscht zudem die Teilnahme russischer Delegierter an einem Friedensgipfel; auch eine Vermittlung durch China schließt er nicht aus.
Zugleich lädt Kiew nach mehrtägigen, als produktiv bezeichneten Gesprächen von Außenminister Dmytro Kuleba in der Volksrepublik nun Chinas Außenminister Wang Yi zu einer Fortsetzung der Verhandlungen in die ukrainische Hauptstadt ein.
Beijing hat sich bislang Gesprächen, die es lediglich zum Ziel hatten, Russland zu isolieren, anstatt nach einer Friedenslösung zu suchen – so etwa der Ukraine-Gipfel in der Schweiz –, konsequent verweigert.
Als erster Hardliner aus dem Westen hat sich auch Finnlands Präsident Alexander Stubb für Verhandlungen ausgesprochen. Hintergrund sind die für Kiew miserablen Kriegsperspektiven.

Frontlage: „Viele Probleme auf einmal“

Die Lage an der Front verschlechtert sich laut Berichten für die ukrainischen Streitkräfte zusehends. Demnach hat Russland in der vergangenen Woche in Donezk seine umfassendste Offensive in diesem Jahr gestartet, ist zuletzt vergleichsweise rasch vorgerückt und droht wichtige ukrainische Versorgungslinien abzuschneiden.

Für die ukrainischen Truppen, urteilt Gustav Gressel, Militärexperte des European Council on Foreign Relations (ECFR), „kommen jetzt viele Probleme auf einmal zusammen: abgekämpfte Einheiten, hohe Verluste von qualifiziertem Personal vor allem im Frühjahr, fehlende Munition, fehlendes Material (vor allem gepanzerte Fahrzeuge), Verwundbarkeit gegenüber russischen Gleitbombenangriffen, kaum Möglichkeiten, russische Aufklärungsdrohnen abzufangen“.[1] „Frisch mobilisierte Soldaten“ seien außerdem „in neue Brigaden“ abkommandiert und nicht in bestehende Brigaden integriert worden; für sie fehle es „am geeigneten Führungspersonal“. Ob die vielgepriesenen Kampfjets F-16 überhaupt „in der Nähe der Front“ operieren könnten, um Angriffe mit Gleitbomben zu verhindern, sei unter anderem wegen der geringen Reichweite ihres Radars ungewiss. Zu hierzulande so beliebten Berichten über „Schwächen der russischen Armee“ äußert Gressel, sie täuschten darüber hinweg, dass die Ukraine „ähnliche Probleme“ habe.

Zum Gebietsverzicht bereit

Gressel weist zudem darauf hin, dass der Krieg „auch abseits der Front ... zunehmend die Moral, Ressourcen und Infrastruktur der Ukraine“ strapaziert.[2]

In der Tat sprachen sich im Juli im Rahmen einer Umfrage in der ukrainischen Bevölkerung 44 Prozent dafür aus, in Friedensverhandlungen mit Russland einzutreten. 

Im Mai 2023 hatten dies kaum 23 Prozent getan.[3] Eine weitere Umfrage ergab, dass der Anteil derjenigen, die zum Erreichen von Frieden zur Preisgabe von Territorien bereit wären, von rund 9 Prozent im Februar 2023 auf nun 32 Prozent gestiegen war.
Der Anteil derjenigen, die jeglichen Gebietsverzicht dezidiert ablehnten, war von rund 74 Prozent im Dezember 2023 auf nur noch 55 Prozent gefallen.[4]
Hintergrund sind unter anderem die wachsenden Belastungen durch massive Zerstörungen der Infrastruktur. Auf politischer Ebene kommt starke Unklarheit darüber hinzu, wie ein etwaiger US-Präsident Donald Trump sich gegenüber Kiew verhielte.

Wie BRD und DDR

Vor diesem Hintergrund mehren sich die Zeichen, die Ukraine könne sich für Verhandlungen über einen Waffenstillstand und eine etwaige Friedenslösung öffnen.

Nachdem der Versuch gescheitert ist, auf einem vorgeblichen „Friedensgipfel“ in der Schweiz den Globalen Süden gegen Russland in Stellung zu bringen (german-foreign-policy.com berichtete [5]), hat Präsident Wolodymyr Selenskyj vor rund zehn Tagen mitgeteilt, er schließe Gespräche mit Russlands Präsident Wladimir Putin nicht mehr aus [6]. In einem am Mittwoch erschienenen Interview mit französischen Medien äußerte Selenskyj nun explizit, er wünsche eine Präsenz russischer Delegierter auf einem nächsten „Friedensgipfel“.[7]
Selenskyj teilte zudem mit, Kiew bestehe weiterhin auf der territorialen Integrität der Ukraine; diese müsse man aber nicht unbedingt „mit Waffen“ erkämpfen – denkbar seien auch diplomatische Schritte. Damit nähert sich Selenskyj der bereits im vergangenen Jahr diskutierten Option an, die Frontlinie einzufrieren und zu einem praktischen Nebeneinander mit Russland zu finden, ohne die Annexion ukrainischer Territorien in aller Form anzuerkennen.[8]
Man könne die Territorien vielleicht auf ähnliche Weise wiedergewinnen wie einst die BRD das Territorium der DDR, heißt es meistens dazu.

China als Vermittler

Selenskyj schließt zudem eine Vermittlung durch China nicht aus.

Zwar ziehe er es vor, wenn Beijing nicht zwischen Kiew und Moskau vermittle, sondern stattdessen seinen Einfluss auf Russland nutze, um es zur Beendigung des Krieges und zum Abzug seiner Streitkräfte zu zwingen, teilte Selenskyj mit. Eine offene Ablehnung chinesischer Bemühungen, den Krieg durch einen Abgleich zwischen den beiden Seiten zu beenden, unterließ er allerdings.[9]
Das ist deshalb von Bedeutung, weil einschlägige Gespräche kürzlich begonnen haben und jetzt möglicherweise fortgesetzt werden. In der vergangenen Woche hielt sich der ukrainische Außenminister Dmytro Kuleba zum ersten Mal seit Kriegsbeginn zu Gesprächen in Beijing auf, die sich insgesamt über einige Tage zogen und als durchaus produktiv eingestuft wurden. Kuleba bestand lediglich auf der Souveränität und auf der territorialen Integrität der Ukraine; diese freilich waren schon Bestandteil des chinesischen Zwölf-Punkte-Plans vom Februar 2023, den Kiew damals in ersten Reaktionen begrüßt hatte.[10]
 Am Dienstag teilte die ukrainische Regierung mit, sie habe Chinas Außenminister Wang Yi zu weiteren Gesprächen nach Kiew eingeladen; Wang habe sich offen dafür gezeigt.
Man schließe selbst ein Treffen zwischen Selenskyj und Chinas Präsident Xi Jinping nicht mehr aus.[11]

„Abzug keine Vorbedingung“

Selbst im Westen gibt es vorsichtige Hinweise auf ein Einlenken. Dies ergibt sich aus Äußerungen von Finnlands Präsident Alexander Stubb, der mit Blick auf den Ukraine-Krieg bisher eher als Hardliner auftrat. Im Mai hatte er noch erklärt, „der einzige Weg zum Frieden“ führe „über das Schlachtfeld“.[12] Am Wochenende urteilte er nun aber in einem Interview mit der französischen Abendzeitung Le Monde, man sei „an einem Punkt angekommen, an dem Verhandlungen beginnen müssen“.[13] Einen Abzug der russischen Streitkräfte, der auch in Berlin unablässig als Voraussetzung für Verhandlungen gefordert wird, könne man nicht „als Vorbedingung betrachten“, äußerte Stubb nun. Klar sei, dass Selenskyj bezüglich der von Russland annektierten Gebiete eine Entscheidung treffen müsse. Darüber hinaus seien Sicherheitsgarantien westlicher Staaten für die Ukraine erforderlich. Diese liegen mittlerweile zahlreich vor, haben jedoch aus Kiewer Sicht durchweg den Nachteil, dass sie für den Fall eines erneuten russischen Angriffs keine feste Verteidigungszusage geben, sondern lediglich versprechen, innerhalb kürzester Frist zu Gesprächen zusammenzukommen und Kiew auf ähnliche Weise zu unterstützen wie im aktuellen Krieg. Das gilt auch für die deutsche Sicherheitsgarantie (german-foreign-policy.com berichtete [14]). Selbstverständlich benötige die Ukraine auch Wiederaufbauhilfen, konstatierte Stubb. Man darf vermuten, dass Kuleba dies bei seinem Besuch in Beijing ebenfalls besprach.

Deutschland? Fehlanzeige.

Beobachter weisen darauf hin, dass die Gespräche über einen etwaigen Waffenstillstand sich allenfalls in einem frühen Stadium befinden und die Erfolgsaussichten völlig ungewiss sind. Zumindest indirekt sind inzwischen allerdings auch europäische Politiker involviert; so tauschte sich – nach dem kürzlichen Besuch von Ungarns Ministerpräsident Viktor Orbán in Beijing [15] – zu Wochenbeginn Italiens Ministerpräsidentin Giorgia Meloni im Gespräch mit Chinas Präsident Xi Jinping über den Ukraine-Krieg aus.
Sie sei der Auffassung, Beijing könne „ein Schlüsselakteur“ bei dem Versuch werden, „Elemente eines gerechten Friedens“ für die Ukraine zu identifizieren, teilte Meloni nach dem Gespräch mit.[16]
Von etwaigen Bemühungen deutscher Regierungspolitiker, Wege hin zu einem Waffenstillstand zu finden, ist nichts bekannt.

 

[1], [2] Tobias Mayer: Militärexperte über die Lage im Ukrainekrieg: „Friedensverhandlungen sind pure Spekulation von Biertischdiplomaten“. tagesspiegel.de 30.07.2024.

[3] Nate Ostiller: 44% of Ukrainians believe it’s time to start official peace talks with Russia, survey finds. kyivindependent.com 15.07.2024.

[4] Brendan Cole: Ukrainian Support for Ceding Territory Surges. newsweek.com 23.07.2024.

[5] S. dazu Ziele klar verfehlt

[6] Ella Strübbe: Kreml lobt Selenskyj. tagesspiegel.de 22.07.2024. S. auch Streit um Viktor Orban

[7] Thomas d’Istria: Volodymyr Zelensky : renoncer à des territoires ukrainiens est « une question très, très difficile ». lemonde.fr 31.07.2024.

[8] S. dazu Der Korea-Krieg als Modell und Der Übergang zur Diplomatie

[9] Thomas d’Istria: Volodymyr Zelensky : renoncer à des territoires ukrainiens est « une question très, très difficile ». lemonde.fr 31.07.2024.

[10] S. dazu Auf der SEite der Diplomatie (III)

[11] Dan Peleschuk: Kyiv hails dialogue with Beijing, hints at potential Zelenskiy-Xi meeting. reuters.com 30.07.2024.

[12] „Gerade führt der einzige Weg zum Frieden über das Schlachtfeld“. Frankfurter Allgemeine Zeitung 10.05.2024.

[13] Philippe Ricard: Alexander Stubb, president finlandais, à propos de la guerre en Ukraine : « Nous arrivons à un point où les négociations doivent commencer ». lemonde.fr 27.07.2024.

[14] S. dazu Die Dominanz im Mittel- und Osteuropa

[15] S. dazu Streit um Viktor Orban

[16] Riyaz ul Khaliq, Giada Zampano: China can become ‘key player’ to help identify peace in Ukraine, says Italian premier. aa.com.tr 30.07.2024.

 

Panzer und Subventionen für die Konzerne statt Kindergrundsicherung

Gio, 01/08/2024 - 08:21

Die Kindergrundsicherung war als größte Sozialreform der Ampelkoalition angekündigt.
Jetzt kam das Aus: Rüstung statt Kinder.
Subventionen für die Aktionäre der Konzerne: 10,7 Milliarden Euro im Jahr 2023 für die DAX-Konzerne.  Die Ampel-Regierung  zeigt wieder einmal, dass sie fest an der Seite der Konzerne und Reichen steht!

 

Die Kindergrundsicherung war als größte Sozialreform der Ampelkoalition angekündigt. Der Start der Kindergrundsicherung war für Januar 2025 geplant. Doch weder das Datum, noch das Geld oder die notwendigen Stellen konnte Bundesfamilienministerin Lisa Paus (Grüne) durchsetzen. Die Kindergrundsicherung - einst als das größte sozialpolitische Vorhaben der Grünen gestartet - ist auf fünf Euro mehr beim Kindergeld geschrumpft.

Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) erklärte bei der Sommer-Pressekonferenz am Mittwoch vergangener Woche (24.7.), dass die Kindergrundsicherung in dieser Legislatur nicht mehr umgesetzt werde. Gegenwärtig, sagte Scholz, diskutierten Regierung und Koalitionsparteien über erste Schritte zur Einführung: "Und dann auch darüber, wie man den Weg zum zweiten Schritt formuliert, der vermutlich dann nicht in dieser Legislaturperiode sich ereignen wird."

Da es aber voraussichtlich eine weitere Legislaturperiode dieser Koalition nicht mehr geben wird, wird auch die Kindergrundsicherung nicht mehr kommen.

Geplant war, verschiedene staatliche Leistungen wie Kindergeld oder Kinderzuschlag für einkommensschwache Familien sowie Sozialleistungen für Kinder zu bündeln. Die Grundsicherung sollte dann aus zwei Teilen bestehen: einem fixen Grundbetrag, dem Kindergarantiebetrag - heute das Kindergeld - und einem flexiblen Zusatzbetrag - dem Kinderzusatzbetrag -, der abhängig vom Einkommen der Eltern sein sollte. Dafür sollte der Antrag für die Familien einfacher, übersichtlicher und digitaler werden, damit am Ende mehr Kinder profitieren.

Doch jetzt bleibt es bei einer "ersten Stufe", mit einer geringfügigen Erhöhung beim Kinderzuschlag und Kindergeld um fünf Euro. Mit einem Kindergrundsicherungscheck sollen Familien leichter wissen, ob sie einen Anspruch auf staatliche Leistungen haben. Zusätzlich soll es ein weiteres Portal im Netz geben: Familien mit wenig Einkommen sollen darüber leichter Zuschläge für Musikschulen oder etwa Sportvereine bekommen. (Frage: Warum wird Sport und Musik nicht mehr im normalen Schulunterricht angeboten?) Dieser erste Schritt soll noch vor der nächsten Bundestagswahl kommen, hofft die grüne Familienministerin.

"Ein weiterer Schritt ist gegenwärtig nicht etatreif" blockte Bundesfinanzminister Christian Lindner (FDP) den "zweiten Schritt" ab. Es dürften "nicht immer neue Subventionen, neue Sozialausgaben, neue Standards dazukommen." Sonst sei die zur Sicherung der "Freiheit" des Westens nötige Erhöhung der Verteidigungsausgaben nicht möglich, so Lindner.

Stolz betonte Lindner im ARD-Sommerinterview, dass Deutschland die Rüstungsausgaben erhöht habe. "Deutschland erfüllt das NATO-Ziel von zwei Prozent der Wirtschaftsleistung für die äußere Sicherheit. Wann in den letzten Jahrzehnten hat es das gegeben? Wir tun mehr als Frankreich und Italien beispielsweise."

An die Adresse von Verteidigungsminister Boris Pistorius (SPD) gerichtet, der eine noch stärkere Steigerung der Rüstungsausgaben fordert, sagte er: "Herr Pistorius hat ein 100-Milliarden-Euro-Sonderprogramm für die Ertüchtigung der Streitkräfte, das hatte keiner seiner Vorgänger."

Deutschland hat der NATO für das laufende Jahr geschätzte Verteidigungsausgaben von 90,6 Milliarden Euro gemeldet (davon 51,95 Milliarden Euro aus dem regulären Verteidigungshaushalt) und erreicht damit derzeit klar das Zwei-Prozent-Ziel des Bündnisses.[1]

Für den Krieg um die Ukraine hat Deutschland der Ukraine inzwischen Militärhilfen in Höhe von etwa 28 Milliarden Euro zur Verfügung gestellt beziehungsweise für die kommenden Jahre bereitgestellt.[2]

Im Haushaltsentwurf für das Jahr 2025 Entwurf 2025 sind 53,25 Mrd. Euro (+2,5 Prozent) im regulären Verteidigungshaushalt (Einzelplan 14, Bundesministerium der Verteidigung) vorgesehen. Bis 2028 sollen die Ausgaben auf 80 Mrd. Euro steigen.

Bundesregierung: Kanonen statt Butter

"Kanonen und Butter, das ist Schlaraffenland", hatte ifo-Chef Clemens Fuest bei der Talk-Runde von Maybrit Illner am 22. Februar vorhergesagt und war damit auf heftigen Widerspruch von SPD und Grünen gestoßen. "Wir dürfen die Sicherheit nach außen nicht gegen soziale Sicherheit im Land ausspielen", hatte die Grünen-Vorsitzende Ricarda Lang entgegnet. (siehe kommunisten.de, 29.2.2024: "Kanonen statt Butter"

Doch jetzt bestätigen sich die Erfahrungen aus der Vergangenheit auf die Ifo-Chef Fuest hingewiesen hatte: "Wenn man mehr für das Militär ausgeben musste, dann blieb eben weniger für andere Dinge."

Dafür klingeln bei der Rüstungsindustrie die Kassen.

2023: 10,7 Milliarden Euro Subventionen für die Aktionäre der DAX-Konzerne

Genügend Geld gibt es aber auch für Subventionen an die großen Konzerne. Wie das Magazin Monitor unter Bezug auf eine Analyse des Flossbach von Storch Research Institute berichtete, sind in den letzten fünf Jahren sind nicht nur die Gewinne der 40 DAX-Konzerne gestiegen, sondern auch die staatliche Unterstützung hat heftig zugelegt. Allein 2023 flossen mindestens 10,7 Milliarden Euro an die deutschen DAX-Unternehmen. Fast doppelt so viel wie im Vorjahr.

Laut der Studie lagen die Subventionen bis 2018 bei jährlich rund zwei Milliarden Euro. Danach seien die staatlichen Unterstützungen jedes Jahr gestiegen. Insgesamt seien von 2016 bis 2023 rund 35 Milliarden Euro staatlicher Gelder an die größten Börsenkonzerne gegangen. Unabhängig davon, wie viel Gewinn sie gemacht haben.

RWE und E.ON hätten deswegen in der Nettobetrachtung in den vergangenen acht Jahren "keinen Beitrag zu den öffentlichen Kassen geleistet".

Besonders davon profitiert hat der Energiekonzern E.ON mit 9,3 Milliarden Euro seit 2016. Die Gesellschaft erhielt aufgrund des Strompreisbremsegesetz und Erdgas-Wärme-Preisbremsengesetz besonders viele Gelder. Darüber hinaus erhielten sie Investitionszuschüsse.

Auf Platz 2 folgt Volkswagen mit 6,4 Milliarden Euro Subventionen seit 2016. Diese gingen auf Steuervergünstigungen und Förderungen für Forschungen in der Antriebs- und Digitaltechnik. BMW erhielt 2,3 Milliarden, unter anderem für den Bau von neuen Standorten.

Im Vergleich zum Vor-Pandemie-Jahr 2019 stieg die Ausschüttungssumme der DAX-Konzerne im Jahr 2023 um 54 Prozent.

Für das Jahr 2024 erwarten die Experten der DekaBank, dass die DAX-Konzerne 54,6 Milliarden Euro an Dividende ausschütten. Das sind 1,6 Milliarden Euro mehr als 2023 und ein neuer Höchstwert. Bezuschußt mit Steuermilliarden.

Der Ampel geht es mehr um den Wohlstand der großen Unternehmen und seiner Aktionäre als um den Wohlstand der Bevölkerung. Sie subventioniert die maßlosen Gehälter der Konzernvorstände – VW-Vorstandschef Oliver Blume erhält ein Jahresgehalt von zehn Millionen, Bjorn Gulden (Adidas) 9,2 Millionen Euro, Christian Sewing (Deutsche Bank) 9,0 Millionen Euro, Christian Klein (SAP) 8,8 Millionen, Roland Busch (Siemens) 8,5 Millionen Euro -, hat aber kein Geld für die Kindergrundsicherung mit veranschlagten Kosten von 5 Milliarden Euro.

Die Ampel zeigt wieder einmal, dass sie fest an der Seite der Konzerne und Reichen steht!

 

 

 

[1] Tagesschau, 18.6.2024: NATO-Verteidigungsausgaben deutlich gestiegen
https://www.tagesschau.de/ausland/europa/nato-verteidigungsausgaben-106.html

[2] Bundesregierung, 29.7.2024: Diese Waffen und militärische Ausrüstung liefert Deutschland an die Ukraine
https://www.bundesregierung.de/breg-de/schwerpunkte/krieg-in-der-ukraine/lieferungen-ukraine-2054514

 

Waldliebe als Geschäftsmodell. Gelüftet: Das Geheimnis von Wohllebens Baum-Geheimnis

Gio, 25/07/2024 - 16:29

In den Ausführungen „Das Geheime Leben der Bäume“ schreibt Deutschlands bekanntester Förster, Peter Wohlleben, beliebt bei vielen Umwelt- und Naturschutzverbänden, Bäumen menschliche Eigenschaften zu. Da stillen Mutterbäume ihren Nachwuchs, sie kuscheln miteinander, und der Wald soll wieder zu Urwald werden und nur nachrangig zur Holzerzeugung dienen. Kritische Kommentare über diese Denkweise richten sich gegen neue ideologische Begründungen gegen die Wald-Erzeugung von Holz.

Peter Wohlleben ist Deutschlands bekanntester Förster und Autor, weit über Deutschland hinaus seit Erscheinen seines Buches „Das Geheime Leben der Bäume“. Seine Bücher verkauften sich bisher millionenfach und in mehr als vierzig Sprachen übersetzt. Er ist bekannt und beliebt in Talkshows und Medien und hat einen großen Kreis um sich geschart in den Umwelt- und Naturschutzverbänden. Da werden Bäumen menschliche Eigenschaften zugeschrieben, dass Mutterbäume ihren Nachwuchs stillen, dass sie miteinander kuscheln, der Wald wieder zu Urwald oder mindestens zu einem weitgehend dem natürlichen Urwald ähnlicher Naturwald werde und nur nachrangig zur Holzerzeugung dienen soll.


Nun hat sich Wilhelm Bode zu Wort gemeldet, streitbarer Jurist und Forstakademiker, einst Leiter der saarländischen Forstverwaltung und der Obersten
Naturschutzbehörde. Denn „hier werde mit neuer ideologischer Begründung gegen die Wald-Erzeugung von Holz mobilisiert“. Wilhelm Bode ist engagierter Verfechter des auf Stetigkeit von Waldökosystemen in Raum und Zeit aufbauenden Dauerwald-Konzepts von Alfred Möller.
Der hatte das Konzept bereits in den ersten beiden Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts ausgearbeitet und stieß damit auf harten, anhaltenden Widerstand konservativer Forstwirtschaft.
Dennoch wird nach dem Konzept erfolgreich gewirtschaftet, zumeist von Privatwaldbetrieben. Bemerkenswert ist, dass Peter Wohlleben (gemeinsam mit Pierre Ibisch) zwar sein neuestes Buch „Waldwissen“ Möller gewidmet hat, aber das Konzept nur bruchstückhaft aufgreift und kein Wort verliert zu damit erfolgreich arbeitenden Betrieben.
Das sei aber an dieser Stelle nur erwähnt.
Zurück zu Bode´s Kritik. In seinem Essay geht es hart zur Sache. Mit Blick auf die Geschäftstätigkeit Wohllebens merkt er an, dass dieser sich hier für „waldliebende Bürger sowie kommunale Waldbesitzer – und gerne auch für die produzierende Wirtschaft – zu saftigen Preisen eine gänzlich neue Marktnische eröffnet habe“.
 Auf den Spuren für den Markterfolg des Bestsellers kommt Bode zu dem Ergebnis, dass es hier „eher unwahrscheinlich ist, dass es sich dabei um einen Zufallserfolg handelte“,
sondern um einen, der „marktstrategisch gezielt konstruiert und angegangen wurde“.
Dafür wird „die romantische Waldliebe der Deutschen angesprochen, indem er den Bäumen Sprache und Gefühle andichtet“.
Diese Zuschreibung menschlicher Eigenschaften gegenüber Bäumen, Tieren oder Naturgewalten, der sogenannte Anthropomorphismus, ist – so auch Bode - weltweit Bestandteil aller großen Religionen und hat breiten Eingang in die Alltagskulturen aller Völker gefunden.

Das dürfte das große Echo auf sein Buch erklären. Mit solchen Zuschreibungen setzt sich eine jüngst veröffentlichte Literaturstudie von 35 führenden europäischen und nordamerikanischen Ökologie- und Waldbauwissenschaftlern auseinander. Deren Ergebnisse teilt Wilhelm Bode und verweist Wohllebens menschliche
Verhaltenszuschreibungen von Bäumen ins Reich von „Fake-News“, Fabeln und Märchen. Die Studie befasst sich mit der Frage, „inwieweit über die Mykorrhizanetzwerke (das
Wurzelnetzwerk der Bäume, der Verf.) ein erheblicher Kohlenstofftransfer („Nahrungstransfer“, der Verf.) von „Mutterbäumen“ auf ihre Nachkommen und nahe
gelegene Sämlinge stattfindet“. Diese Behauptung wurde verneint.
 "Jüngste Übersichten zeigen, dass die Beweise für das „Mutterbaumkonzept“ nicht schlüssig oder gar nicht vorhanden sind“. Trotz dieser Ergebnisse werden aber, da ist sich der Rezensent sicher, die Diskussionen zur Lebensgemeinschaft der Waldbäume und möglichen Interaktionen von gleichen Baumarten untereinander und zwischen unterschiedlichen Baumarten weitergehen.
Pflanzen reagieren auf Änderungen ihrer biotischen und abiotischen Umwelt mit mannigfaltigen physiologischen und morphologischen Anpassungen.
Insgesamt geht es letztlich darum, nüchtern und sachlich – frei von Esoterik - zu erforschen, wie sich Pflanzen im Rahmen von Arterhalt und Konkurrenz behaupten und weiterentwickeln können.
Schlussendlich kommt Wilhelm Bode zu einem harten Urteil über Peter Wohlleben: „Er macht die begründete Kritik an der realexistierenden Forstwirtschaft, die natürlich primär der Holzerzeugung dient und auch in Zukunft dienen muss, in Deutschland unglaubwürdig, ja unmoralisch.
Er hilft mit seinem Vorgehen eher den Gegnern einer, im bestehenden Klimawandel dringend gebotenen, Waldreform.….

Der Einsatz gilt für nutzbare Wälder, die dauerhaft dem Klimawandel standhalten und biologisch effizient das Nutzholz der Zukunft zu erzeugen, da es der beste erneuerbare Rohstoff ist, den wir haben, und der sich biologisch nachhaltig in Dauerwäldern erzeugen lässt“.

 

Literaturhinweis

Wilhelm Bode: Waldliebe als Geschäftsmodell: Gelüftet: Das Geheimnis von Wohllebens Baum-Geheimnis,  Juli, 2024

NATO-Jubiläumsgipfel – stramm auf Kriegskurs

Gio, 25/07/2024 - 07:12

Grund zum Jubeln hatten auf dem diesjährigen NATO-Jubiläumsgipfel nur Rüstungskonzerne und Kriegsstrategen.
Schon im Vorfeld erteilte die NATO der ukrainischen Regierung die Erlaubnis, mit westlichen Waffen Ziele in Russland anzugreifen; offensichtlich inclusive russische Frühwarnsysteme.
Ohne jede öffentliche Diskussion hat der deutsche Bundeskanzler Olaf Scholz dann beim NATO-Gipfel zugestimmt, US-Mittelstreckenraketen in Deutschland zu stationieren, die auch Moskau erreichen können.
Der Weg der Ukraine in die NATO sei unumkehrbar, wurde im Schlussstatement festgehalten.

 

Nicht nur weitere zig Milliarden wurden der Ukraine zugesagt, auch F16 Kampfflugzeuge und weitreichende Waffensysteme.
Zur Koordinierung des Waffeneinsatzes soll ein neues 700-köpfiges NATO-Kommando in Wiesbaden eingerichtet werden.
Damit werden weitere Eskalationsschritte gemacht, die uns einem Atomkrieg näherbringen.


Keine Mittelstreckenraketen! Eskalationsspirale jetzt beenden und abrüsten!

So lautet die Forderung der Naturwissenschaftlerinnen Initiative (NATWIS Verantwortung für Frieden und Zukunftsfähigkeit) in einer Erklärung:

„Bei ihrem 75. Geburtstag in Washington beschwor die NATO den Geist des Kalten Krieges. Um ihre Existenz zu rechtfertigen und die westliche Hegemonie unter Führung der USA gewaltsam aufrecht zu erhalten, riskieren sie einen Aufrüstungskurs, der die Welt an den Rand des Atomkriegs bringt.

Dazu passt die beim Gipfel von Bundeskanzler Olaf Scholz unterstützte Erklärung vom 10. Juli 2024, ab 2026 in Deutschland Mittelstrecken der USA zu stationieren, die Ziele in Russland treffen können“.

INF-Vertrag wurde entsorgt

Der INF-Vertrag von 1987 enthielt das Verbot, Mittelstreckenraketen mit einer Reichweite von 500 bis 5500 km und Abschussvorrichtungen in Europa zu stationieren.
Dieser Vertrag wurde 2019 durch den früheren US-Präsidenten Donald Trump aufgekündigt. Der INF-Vertrag war für die US-Regierung ohnehin ein Hindernis für die Entwicklung und Stationierung eigener Mittelstreckenraketen in verschiedenen Regionen, insbesondere in der Pazifikregion gegen China und in Europa gegen Russland gerichtet.

In einer Analyse der Informationsstelle Militarisierung (IMI) aus Tübingen weist auf das Bedrohungspotential dieser Waffen hin:

„…Drastisch beschrieb Wladimir Putin seine Sichtweise auf diese Waffensysteme in einer Rede zur Anerkennung der sogenannten Volksrepubliken Donezk und Lugansk am 21. Februar 2022 mit den Worten:
„Nachdem die Vereinigten Staaten den Vertrag über Kurz- und Mittelstreckenraketen gebrochen haben, entwickelt das Pentagon bereits offen eine Reihe von bodengestützten Angriffswaffen, darunter ballistische Raketen, die Ziele in einer Entfernung von bis zu 5.500 Kilometern erreichen können. Wenn solche Systeme in der Ukraine eingesetzt werden, können sie Ziele im gesamten europäischen Gebiet Russlands sowie jenseits des Urals treffen. Tomahawk-Marschflugkörper bräuchten weniger als 35 Minuten, um Moskau zu erreichen, 7 bis 8 Minuten für ballistische Raketen aus der Region Charkow und 4 bis 5 Minuten für Hyperschallraketen. Das nennt man, das Messer an der Kehle zu haben. Und ich habe keinen Zweifel daran, dass sie diese Pläne genauso umsetzen werden, wie sie es in den vergangenen Jahren immer wieder getan haben, indem sie die NATO nach Osten ausdehnen und militärische Infrastruktur und Ausrüstung an die russischen Grenzen verlagern, wobei sie unsere Bedenken, Proteste und Warnungen völlig ignorieren. Nach dem Motto: Entschuldigen Sie, die sind uns wurscht und wir tun, was immer wir wollen, was immer wir für richtig halten…“

Das entschuldigt den russischen Angriff in keiner Weise, aber es zeigt, welcher Stellenwert diesen Waffen in Moskau beigemessen wird. Ob die Systeme nun in der Ukraine oder in Deutschland stationiert werden, dürfte für Russland dabei kaum einen Unterschied machen: Bei Überschallgeschwindigkeit (Wikipedia spricht von bis zu Mach 17, also von rund 21.000km/h) und einer Reichweite von 2.700 bis 3.000 Kilometern wäre die Dark Eagle locker in der Lage, Ziele in Moskau in kurzer Zeit zu erreichen …“

Die Politik der Nato bringt die Welt an den Abgrund eines atomaren Krieges und Deutschland wird, wie schon im Kalten Krieg, zur möglichen Abschussrampe, Zielscheibe und Schlachtfeld eines drohenden Atomkriegs.
Das verantwortungslose Gerede über die Notwendigkeit, Deutschland kriegstüchtig zu machen, ist Teil einer ideologischen Kriegsvorbereitung.

Deutschland muss nicht kriegstüchtig, sondern friedenstauglich werden.

Die Friedensbewegung muss sich lautstark zu Wort melden.

Bei den Aktionen am 6 August, dem Jahrestag des Bombenabwurfes auf Hiroshima und Nagasaki.

Und bei den Aktionen und Demonstrationen rund um den Antikriegstag, dem 1. September.

 

Die innere Zeitenwende. Wie die Liberalen schon heute das Geschäft der AfD betreiben.

Mar, 23/07/2024 - 13:41

In einem facettenreichen "Sittengemälde" zeigt der Autor auf,  wie der Rechtsruck aus der Mitte von Gesellschaft und Politik kommt, und wie unter der Maske von Liberalität und "Doppel"Moral über alle Lebensbereiche ein neuer Totalitarismus implementiert wird. Militarisierung treibt die Entdemokratisierung voran, vergiftet die gesellschaftliche Debatte, begründet Macht und Einfluss des militärisch-industriellen Komplexes und bereitet den Boden für rechte bis rechtsextreme Machtoptionen.

 

"Ob SPD oder Grüne: Die Gesellschaft wird rhetorisch derart nach rechts geschoben, dass die AfD nur frohlocken kann."

Wer mit der ultra-rechten Nethanyahu-Regierung paktiert und zum Völkermord an den Palästinenser:innen schweigt, ist in seiner Doppelmoral unglaubwürdig in Bezug auf den Krieg um die Ukraine und den Protest gegen die AfD.
"Alternative gegen Deutschland" titelte jüngst der Spiegel, mit Bezug auf mutmaßliche Zahlungen, die der AfD-Europa-Spitzenkandidat Maximilian Krah aus China erhalten haben soll. Ein Mitarbeiter Krahs wurde wegen Spionageverdacht für die Volksrepublik verhaftet. Der Spiegel erhob den Vorwurf des "Landesverrats". Mal abgesehen davon, dass ganz allgemein auch Deutschland – nicht zuletzt über seine zahlreichen parteinahen Stiftungen – ausgiebig Akteure im Ausland finanziert und dass seine Geheimdienste selbstverständlich spionieren: Wer als liberaler Antifaschist glaubt, es sei ein besonders cleverer Schachzug, heute den Begriff des "Landesverrats" gegen eine rechtsautoritäre Partei zu wenden, die behauptet, nationale Interessen zu verfolgen, der wird sich morgen wundern, dass er damit diese illiberale und nationalistische Rhetorik wieder in der politischen Kultur der Bundesrepublik etabliert haben wird.

Linke können ohnehin die Uhr danach stellen, wann sich Strafverfolgung mit Landes- oder gar Hochverratsvorwürfen auch und vor allem wieder gegen sie wenden wird. Schon in den kommenden Jahren dürfte jeden dieser Bannstrahl treffen, der auch nur leise Zweifel anmeldet und eine offene demokratische Diskussion darüber einfordert, ob Hochrüstung, Deutschlands Nuklearbewaffnung, die einst allein von postfaschistischen Haudegen wie Franz Josef Strauss, heute aber mit einem frisch, fromm, fröhlich, freien "Ja zur Atombombe" von Ulrike Herrmann bis Joschka Fischer gefordert wird, tatsächlich gute Ideen sind und ob eine neue Blockkonfrontation gegen China und die Entsendung der Fregatten "Bayern" und "Württemberg" ins Südchinesische Meer, damit sie dort – wie einst die Kreuzerdivision vor Kiautschou – "Flagge zeigen" für "unsere Werte und Interessen", wirklich dazu beitragen, den Frieden in der Welt zu sichern und globale Menschheitsprobleme wie die soziale Ungleichheit und die Klimakatastrophe zu bewältigen.

Die am Februar 2022 ohne vorherige parlamentarische, geschweige denn breite gesellschaftliche Debatte von Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) verkündete "Zeitenwende" – schon der Form nach ein demokratiepolitischer Skandal – ist in der Tat eine Zeitenwende auch dem Inhalt nach. Sie wendet die Zeit, aber nicht in eine goldene Zukunft; sie dreht die Uhr zurück in die düstere deutsche Vergangenheit.

 

Zeitenwende – zurück in die Vergangenheit

Bei der inneren Zeitenwende geht es zurück in eine Zeit der Soldatendenkmäler, damit eine"glückssüchtige Gesellschaft" (Joachim Gauck, damals Bundespräsident) wieder lerne, die im Kampf fürs Vaterland am Hindukusch Gefallenen als Helden zu verehren. Es geht zurück in die Zeit der "Pflichtjahre", mit der dieselben Leute, die im Rahmen der "Agenda 2010" und der Hartz-Gesetze einst Sprengsätze am sozialen Zusammenhalt der Gesellschaft legten, heute wieder "Gemeinsinn stärken" wollen und vergessen, dass es das "Pflichtjahr" in der deutschen Geschichte schon einmal gab und wann und zu welchem Zweck, nämlich demselben: ideologisch zu kitten, was wirtschafts- und sozialpolitisch zerbrochen wurde.

 

Neue Soldaten braucht das Land

Bei der inneren Zeitenwende geht es weiter um den Wiedereinbruch des Militärischen in die Schulen, wo die Kinder nach Ansicht von Bundesbildungsministerin Bettina Stark-Watzinger (FDP) im Sinne eines "unverkrampften Verhältnisses zur Bundeswehr" und für "unsere Widerstandsfähigkeit" zusammen mit Soldaten der Armee den Kriegsfall üben sollen und wo Jugendoffiziere der Bundeswehr als "Karriereberaterinnen und Karriereberater" auf die Schüler losgelassen werden, um mit den aktuellen Rekordzahlen an Minderjährigen im Kriegsdienst die allgemeinen Rekrutierungsprobleme der Truppe zu lösen.

Aber klar, in Zeiten angespannter Arbeitsmärkte reicht die reine Wehrpflicht aus ökonomischen Gründen, die die Amerikaner "economic draft" nennen, und die an die Stelle der "Bürger in Uniform" die "Prekarier in Uniform" und eine "Unterschichtenarmee" (Michael Wolffsohn) setzte, in der Ostdeutschland zwar keine Generäle, aber nach dem Motto "Arbeitslos oder Afghanistan" fast zwei Drittel der Soldaten im Kriegseinsatz stellte, nicht mehr aus, um bis 2031 das erklärte Ziel eines 203.000 Soldaten starken Heeres zu erreichen.

 Auch die angeworbenen EU-Ausländer sind bislang ausgeblieben, weil die südeuropäische Jugendarbeitslosigkeit eben nicht mehr 50 Prozent oder mehr beträgt wie noch zu Eurokrisenzeiten. Hinzu kommt die Abbrecherquote bei der Grundausbildung. Sie ist eklatant hoch, weil die Realität beim Kommiss nun einmal herzlich wenig mit dem Bild zu tun hat, das die jährlich 35 Millionen verschlingende Armeewerbung an Straßenbahnen, Bushaltestellen und auf YouTube verspricht: Kameradschaft, Rumschrauben an geilen PS-strotzenden Karren, Krieg als Gaming (bloß ohne Resetknopf), Weltreisen, Weltrettung, Lebenssinn.

Neue Soldaten jedoch braucht das Land angesichts der Rekordzahlen nachträglicher Verweigerungen bei Reservisten, deren Lust, sich fürs Vaterland zusammenschießen zu lassen, offenkundig gering ist – untertroffen nur noch von den Anhängern der Grünen, die Umfrage auf Umfrage zwar stabil Waffen und Kriegsdienst für Ukrainer und andere fordern, aber von denen nach einer Forsa-Umfrage nur 9 Prozent bereit wären, Deutschland auch persönlich mit der Waffe zu verteidigen.

Nach Ansicht von Bundesbildungsministerin Bettina Stark-Watzinger (FDP) sollen Schulkinder im Sinne eines "unverkrampften Verhältnisses zur Bundeswehr" und für "unsere Widerstandsfähigkeit" zusammen mit Soldaten der Armee den Kriegsfall üben.

Die innere Zeitenwende bringt indes das Militärische nicht nur in die Schulen zurück, sondern auch an die Universitäten, wo Regierung und konservative Opposition unter dem Jubel linksliberaler Medien gegen das verpflichtende Friedensgebot im Grundgesetz verstoßen und die Zivilklauseln aushebeln wollen, die es als Lehre aus dem Zweiten Weltkrieg bislang verboten haben, Forschung und Wissenschaft in den Dienst der Rüstungskonzerne zu stellen. In Nordrhein-Westfalen ist das mit den Stimmen von CDU und FDP längst geschehen.

Innere Zeitenwende meint auch die Rückkehr der Unterscheidung von "Gut" (wir, na klar!) und "Böse" (die anderen, was sonst?), von (westlicher) "Zivilisation" und (östlicher) "Barbarei", bloß das die Grenze vom "Ostproblem" (Walther Harich) weiter nach Osten verschoben wurde und die Barbarei nicht schon an der Grenze zu Polen beginnt. Es ist die Rückkehr der "Erbfeinde" (einst Frankreich, heute Russland und China) und die Rückkehr der "Bürde des weißen Mannes" (Rudyard Kipling) zur Zivilisierung der Barbaren, die wieder am deutschen Wesen genesen sollen und sich – so jüngst Reinhard Bütikofer, außenpolitischer Sprecher der Grünen im Europaparlament, auf PHOENIX – sich "einfach von uns so verwandeln lassen" müssen, "dass am Ende dann etwas rauskommt, was einfach den Vorstellungen entspricht, die man von uns über das Land und darüber" gehabt hat, "wie die Welt insgesamt organisiert sein soll."

 

Die innere Zeitenwende ist, wenn ein autoritärer Liberalismus, anstatt den Dialog zu suchen, seine Kritiker pauschal unter Verfassungsfeindverdacht stellt.

Die innere Zeitenwende ist auch die Rückkehr des ostentativen Unwillens, in geschichtlichen Kontexten und Kausalzusammenhängen zu denken und dabei auch die Perspektive de "Feinde" einzunehmen (um, wenn schon nicht Völkerverständigung zu befördern, wenigstens der Kriegseskalation vorzubeugen); ja, es ist die Rückkehr der medialen Ächtung bis hin zur Unterstrafestellung des bloßen Versuchs, es zu tun.

Innere Zeitenwende bedeutet die Rückkehr der "vaterlandslosen Gesellen", die schon heute wieder als "fünfte Kolonne" des Feindes bezeichnet und vom Recht auf Versammlungs- und Meinungsfreiheit mit illiberaler Justiz und Polizeigewalt abgehalten werden, während für die Feinde von außen autoritäre Einreise- und Sprechverbote erteilt werden, so wie dies jüngst der renommierten Philosophin Nancy Fraser und dem früheren griechischen Finanzminister Yanis Varoufakis widerfuhr.

Innere Zeitenwende ist, wenn eine Wissenschaftsministerin, sich auf einen Schmähartikel aus der Bild-Zeitung beziehend, massivste Polizeigewalt gegen friedlich protestierende Studentinnen und Studenten rechtfertigt. Und wenn ein autoritärer Liberalismus, anstatt den Dialog zu suchen, seine Kritiker und die, die bloß ihre Bürgerrechte wahrnehmen, pauschal unter Verfassungsfeindverdacht stellt.

Innere Zeitenwende ist, wenn der Bundestag, wie vor zwei Jahren im Rahmen der Verschärfung von Paragraf 130 StGB und der "Holodomor"- Resolution geschehen, über Nacht Gesetze erlässt, die in erheblichem Maße die Freiheit und den Fortschritt der wissenschaftlichen Forschung einschränken und durch Kriminalisierung Gesinnungskonformismus produzieren, wo einst Historiker ergebnisoffen debattierten.

Längst gelten wieder Berufsverbote für die "inneren Feinde", die man durch Gesinnungsprüfungen vom öffentlichen Dienst fernhält, wie beim neuen "Radikalenerlass" in Brandenburg.

 

Die Empörung über die "Remigrations"-Träume der AfD wurde umso unglaubwürdiger dadurch, dass nur wenige Wochen zuvor die Ampelkoalition das europäische Asylrecht geschliffen hat.

Migranten sollen, sofern sie sich nicht zur "freiheitlich-demokratischen Grundordnung" und Staatsräson einer bedingungslosen Unterstützung des israelischen Staates bekennen, egal, welche rechtsextremen Kräfte ihn gerade regieren und welche KI-gesteuerten Kriegsverbrechen er gerade begeht, nicht nur keine Staatsbürgerschaft erhalten, wie dies der Bundestag Anfang des Jahres mit den Stimmen der Ampel beschlossen hat, sondern man will sie ihnen sogar bis zu zehn Jahre rückwirkend entziehen. Dies forderten u.a. Bundesjustizminister Marco Buschmann (FDP) und die Sozialdemokraten gegenüber Menschen mit doppelter Staatsbürgerschaft.

Dass dieselben Akteure dann wenig später – nach Bekanntwerden der sogenannten "Wannseekonferenz 2.0" der AfD und des rechtsextremen Identitären-Chefs Martin Sellner – vor den Vertreibungsplänen von Rechtsaußen warnten und skandalisierten, dass der AfD-Bundestagsabgeordnete Gerrit Huy auf dem Treffen für die doppelte Staatsbürgerschaft plädierte, um so Menschen mit Migrationshintergrund den deutschen Pass leichter entziehen zu können, bekam dadurch ein Geschmäckle.

Jedenfalls ergaben sich Glaubwürdigkeitsprobleme, wenn dieselben, die diese Pläne als rote Haltelinie bezeichnen, weil der Entzug der Staatsbürgerschaft schließlich das Mittel der Nazis gewesen sei, ihre Gegner zu vertreiben, nun selber damit liebäugeln. Und die Empörung über die "Remigrations"-Träume der AfD, die schon bei Björn Höckes Buch – ohne Frage – "Terror mit Ankündigung" gewesen sind, wurde umso unglaubwürdiger dadurch, dass nur wenige Wochen zuvor die Ampelkoalition das europäische Asylrecht geschliffen und Scholz im Rahmen der vom Spiegel begrüßten "neuen Härte in der Flüchtlingspolitik" "Abschiebungen im großen Stil" gefordert hatte. (siehe kommunisten.de, 21.12.2023: EU einig zum Abbau der Menschenrechte von Geflüchteten)

 

Rückkehr einer Agitation und Propaganda in staatlichen und privaten Medien, die Feindbilder, Siegesgewissheit und Durchhalteparolen verbreiten

Die innere Zeitenwende beinhaltet weiter, auch weil die Bevölkerung ihren Eliten über weite Strecken der Nachkriegsgeschichte nicht in Aufrüstung und Kriegseinsätze zu folgen bereit war, die Rückkehr einer Agitation und Propaganda in staatlichen und privaten Medien, die – Feindbilder, Siegesgewissheit und Durchhalteparolen verbreitend – wenig mit vierter Gewalt und viel mit Volkserziehung zu tun hat.

Dazu gehört die Schaffung eines inneren Kollektivs mit nationalen Mythen und einer "Leitkultur", die ein in sozialer Ungleichheit auseinanderlaufendes Land zusammenhalten sollen, eine allgemeine Renationalisierung und Militarisierung der Sprache und Beförderung emotionaler Verhärtung.

Innere Zeitenwende ist, wenn etwa die auflagenstärkste Zeitung in Deutschland den größten deutschen Rüstungskonzern Rheinmetall – Aktienkurssteigerung seit dem Ukrainekrieg: +523 % – die Rückkehr zur Wehrpflicht fordern lässt, weil "die Zeitenwende (…) eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe" sei und "freiheitliche Gesellschaften (…) in der Lage dazu sein" müssten, "für ihre Werte einzustehen".

Bleibt es bei diesem Tempo, dürfte im Rahmen von Initiativen, wie dem von CDU und CSU geforderten "Bundesprogramms für Patriotismus" unweigerlich auch der "Sedan-Tag" fröhliche Urständ feiern, mit dem man im Kaiserreich den Sieg über den damaligen Erbfeind feierte. Schon jetzt dürften in manchen Planstellen Überlegungen angestellt werden, wie ein – an sich nie wahrscheinlicher und heute immer unwahrscheinlicher gewordener – militärischer Sieg über Russland angemessen in der kollektiven Erinnerung verankert werden könnte.

 

Begriffe, Sprache, Politikstile und Mittel der nationalistischen und autoritären Rechten des späten 19. und frühen 20. Jahrhunderts kehren in Worten und Taten des "liberalen" Bürgertums zurück, dafür braucht es gar keine Nazis.

Die vielen Artikel aus bürgerlich-liberalen Schreibstuben, die im Geiste eines "ohnmächtigen" und "hilflosen Antifaschismus" vor der AfD warnen oder gegen die rechtsautoritären Nationalisten den Vorwurf des "Landesverrats" erheben, merken dabei augenscheinlich nicht, dass jeder ihrer mit dem moralisch erhobenen Zeigefinger geschriebene Artikel den Rechtsextremen mindestens ein paar Hundert neue Wähler zutreibt, weil deren sich ohnmächtig fühlenden Wähler die Angst der Herrschenden spüren und zum Glauben verleitet sind, durch ein Kreuz bei der AfD sich selbst zu ermächtigen und den verhassten Eliten eins auszuwischen.

Aber während sie verkennen, dass sie – mit Brecht gesprochen – doch eigentlich nur wie die Kälber sind, die der Trommel hinterhertrotten, für die sie das Fell selber liefern, verkennen die Liberalen vor allem eines: Es braucht für die Rückkehr der Gespenster der dunklen Vergangenheit keine Weidels und Höckes. Sie selbst, die Liberalen, sind es, die sie beschwören.

 

Die "innere Zeitwende" rehabilitiert in einer Weise Begriffe, Sprache, Politikstile und Mittel der nationalistischen und autoritären Rechten des späten 19. und frühen 20. Jahrhunderts, dass es dafür einer AfD gar nicht bedarf.

Zurück ist die "nationale Sicherheit", in deren Namen internationales (Investitions- und Handels-)Recht und das Völkerrecht, auf das man sich sonst gelegentlich beruft, gebrochen wird. Wieder da sind "Staatsräson", "Autarkie", die heute "De- Risking" heißt, Hochrüstung und die Aufforderung zur "Kriegstüchtigkeit", denn sonst steht, na klar, "in fünf bis acht Jahren" der Russe bei dir im Keller. Wieder wird vor "Kriegsmüdigkeit" im Volk gewarnt, finden öffentliche Gelöbnisse und Militärparaden vor Landesparlamenten statt und markiert eine "neue Lust auf Helden" die Rückkehr des "heroischen Denkens", das über den – an Verdun und den Ersten Weltkrieg gemahnenden und nicht zu gewinnenden – Stellungs- und Abnutzungskrieg in der Ukraine sagt: "das Gemetzel ist notwendig".

Entstanden ist ein neuer Gewaltkult, der – vollkommen geschichtsvergessen – nach innen nie zuvor gesehene Ausmaße der Gewalt von Jugendlichen mit Silvesterböllern beklagt, während er nach außen selbst nur noch die Sprache der Gewalt vorlebt und ausschließlich die Logik des Militärischen kennt.

Auf einmal wieder da ist eine politische Kultur des "Wer nicht hören will, muss fühlen", deren Losung "Waffen, Waffen und nochmals Waffen" ist und in der liberale Journalisten und ein grüner Wirtschaftsminister wie einst die Pimpfe vom Deutschen Jungvolk für die technischen Daten der allerneuesten Waffen-Systeme der Rüstungskonzerne schwärmen, um dann anschließend wie Ego Shooter vor der Mattscheibe Kill Counts gegen die als "Orks" entmenschlichten Feindsoldaten zu feiern und sich am Töten von Russen aus Weltrekordentfernung zu weiden. Kurz: das alles kehrt in Worten und Taten des "liberalen" Bürgertums zurück, dafür braucht es gar keine Nazis.

 

Es bedurfte keiner Faschisten für den beispiellosen Geschichtsrevisionismus

Es braucht sie nicht, um "Veteranentag" und Heldendenkmäler für Gefallene einzuführen oder für die Forderung nach "Wehrkunde im Schulunterricht". Es braucht sie nicht, um Holocaust-Mittäter wie Stepan Bandera zu Freiheitskämpfern umzudeklarieren.

Und es bedurfte auch keiner Faschisten mit Trademark und Copyright für den beispiellosen Geschichtsrevisionismus und die monströse Holocaustrelativierung, die Wladimir Putin mit Hitler gleichsetzt und den völkerrechtswidrigen Krieg Russlands in der Ukraine mit Hitlerdeutschlands Vernichtungskrieg im Osten, dessen Ziel im Rahmen des "Generalplan Ost" bekanntlich die Versklavung der Ostvölker und Vernichtung ihrer gesamten gesellschaftlichen Elite – wenigstens 30 Millionen Menschen – durch systematische Massaker an Unbewaffneten ("Kommissarbefehl") und systematisches Verhungernlassen (wie während der Leningrad-Blockade mit mehr als einer Million Ziviltoten) war und aus dem sich auch der Plan zur systematischen Ermordung des europäischen Judentums ergab.

Während Liberale es lieben, auf X (ehemals Twitter) vom "Putler" zu sprechen, war es mit Berthold Kohler ein FAZ-Herausgeber, der sogar noch vor Bekanntwerden des russischen Kriegsverbrechens von Butscha den Begriff "Vernichtungskrieg" für den Ukrainekrieg nutzte, selbstverständlich in vollem Bewusstsein, dass er damit Russlands Krieg gegen die Ukraine, den nach UN-Angaben in mehr als zwei Jahren mindestens 10.810 Zivilisten mit dem Leben bezahlt haben, gleichsetzt mit dem "Russlandfeldzug" der Nazis, die in unter vier Jahren 27 Millionen Sowjetbürgerinnen und Sowjetbürger aus der Ukraine, Belarus und Russland töteten, etwa die Hälfte davon Zivilistinnen und Zivilisten.

Dabei war es das Europäische Parlament, das vor vier Jahren mit den Stimmen der Liberalen und im Geist der NPD und des Geschichtsrevisionismus von Ernst Nolte der Sowjetunion die (Mit-)Schuld für den Zweiten Weltkrieg gab, während die taz und die "Grüne Jugend" Höckes "erinnerungspolitische Wende um 180 Grad" gleich in Eigenregie vollzogen, als die Berliner Tageszeitung unter dem Titel "Putin ist der neue Stalin" ihrer grünalternativen Leserschaft erklärte, "die tatsächliche Geschichte des Zweiten Weltkrieges" sei, "dass Stalin diesen Krieg geplant hatte (…), lange bevor Hitler an die Macht kam", und die "Grüne Jugend" gleich noch das "Unternehmen Barbarossa" zum Höhepunkt der "Siedlungseroberung" eines russischen "Kolonialstaats" erklärte und damit den Nazis und ihrer für sich reklamierten "europäischen Sendung" zur Befreiung der "Ostvölker" die rückwirkende Legitimation erteilte.

 

Es sind Liberale, die jetzt schon für die Zeit nach dem Ukrainekrieg rüsten und fordern, der "Pazifismus darf nicht wieder auferstehen".

Im Übrigen bedarf es auch für einen antifeministischen Rollback keiner rechtsextremen Incel- und "Männerbewegung". Als Björn Höcke vor sieben Jahren bei Pegida in Dresden eine unverweichlichte "Männlichkeit" als Voraussetzung von "Wehrhaftigkeit" forderte, wurde er als ewiggestrig gescholten.

Im Zuge der "inneren Zeitenwende" kommen dieselben Forderungen aus der sogenannten bürgerlichen Mitte, wenn zum Beispiel der Literaturwissenschaftler, SZ-Redakteur und Theodor-Wolff-Preisträger Tobias Haberl ("Der gekränkte Mann") im Spiegel aufklärte, der "deutsche Großstadtmann", der "kochen kann", sei mit seinen "gepunkteten Socken" "zu weich für die neue Wirklichkeit", weswegen ein Zurück zur "nötigen Härte" und der "Streitkultur seiner Väter" fällig sei, denen – aber ja nur zu unserem Besten! – regelmäßig die Hand ausrutschte, weil sie eben noch wussten, dass sich "nicht jedes Problem wegdiskutieren lässt".

Es sind Liberale, für die es zur neuen Normalität gehört, ihre Gegner wie Kritiker von (einseitigen) Waffenlieferungen als "Lumpenpazifisten", "gewissenlose" "Unterwerfungspazifisten", "Friedensschwurbler", "Putins willige Helfer" oder gleich als "Totengräberinnen der Ukraine" und "Secondhand-Kriegsverbrecher" zu bezeichnen.

Es sind Liberale, die jetzt schon für die Zeit nach dem Ukrainekrieg rüsten und fordern, der "Pazifismus darf nicht wieder auferstehen".

Es war die liberale Zeit, die am 80. Jahrestag der "Wollt ihr den totalen Krieg?"-Rede von Joseph Goebbels das Interview einer linken Liberalen, Eva Illouz, betitelte mit: "Ich wünsche mir einen totalen Sieg", um diese dann unter dem Jubel des tagaus tagein die Trommel rührenden Perlentauchers, ausführen zu lassen, dass sie sich diesen "totalen und vernichtenden Sieg für die Ukraine" wünsche, "weil die Russen täglich Verbrechen gegen die Menschlichkeit verüben, die nicht ungesühnt bleiben dürfen" und "weil Putin die ideellen Werte Europas bedroht."

Kurz, für all das braucht es keine extreme Rechte. Dieselben Leute, die heute die Konservativen davor warnen, als Lehre aus der Geschichte von 1933 ja nicht die "Brandmauer" einzureißen, während sie, wie Ursula von der Leyen, in Europa die "Post-Faschistin" Meloni küssen, wo sie sie treffen, bemerken gar nicht den Flammenwerfer in der eigenen Hand, mit dem sie das Land längst angezündet haben.

 

Insbesondere der "linke" Flügel des Bürgertums legt sich in Sachen innere Zeitenwende besonders ins Zeug

Dabei muss auffallen, dass es eben nicht nur ewiggestrige Konservative von der "Stahlhelm-Fraktion" sind, sondern gerade der "linke" Flügel des Bürgertums, der sich in Sachen innere Zeitenwende besonders ins Zeug legt.

Sicher, es war der CDU/CSU-Außenminister im Wartestand, Roderich Kiesewetter, der vor wenigen Wochen forderte, dass der "Krieg nach Russland getragen werden" müsse und man "alles tun" sollte, dort nicht nur "russische Militäreinrichtungen und Hauptquartiere" oder "Ölraffinerien", sondern auch "Ministerien" "zu zerstören". Aber der liberale Extremismus, der sich dadurch auszeichnet, dass er keine Rücksicht auf reale Gegebenheiten, Risiken und realistische Ziele nimmt, sondern in seinem auf selbstgerechtem Moralismus fußenden Fanatismus gegen den "Totalitarismus" selber totalitäre Züge an den Tag legt und keine Mittelbeschränkung zur Erreichung seiner Ziele erkennen lässt, hat seine Ursprünge letztlich in einem bis heute ungebrochenen Avantgardismus der Ex-Maoisten in der Partei Die Grünen.

 "Kriegstüchtigkeit" wiederum forderte ein sozialdemokratischer "Verteidigungsminister". Bei den Forderungen nach pauschal weiteren 100, 200, 300 Milliarden Euro für die Bundeswehr bei gleichzeitigen Sozialkürzungen, versteht sich, war Roderich Kiesewetter bloß das Echo der SPD-Politiker Scholz, Eva Högl, Wehrbeauftragte des Deutschen Bundestags, und Pistorius.

Vor "Kriegsmüdigkeit" wiederum warnte eine grüne Außenministerin, die sich zu Karneval gerne als "Leopard"-Panzer verkleidet hätte und sich im Ergebnis eines tief blicken lassenden Freud’schen Versprechers längst "im Krieg mit Russland" sieht.

Es war der grüne Wirtschaftsminister, der bei Maybrit Illner über die Panzerhaubitze 2000 ins Schwärmen geriet: "Die kann richtig was!".

Es war die Vorsitzende des Verteidigungsausschusses Marie- Agnes Strack-Zimmermann (FDP), die auf die Frage der "heute-Show", ob sie denn gedient habe, antwortete, sie sei "gut für den Volkssturm".

 

Das linksliberale Bürgertum korrigiert heute öffentlichkeitswirksam seine Geisteshaltung

Und die Forderung nach "Waffen, Waffen und nochmals Waffen" wiederum stammte ebenfalls von einem grünen Bundespolitiker, in diesem Fall Anton Hofreiter, der auch systematisches Aushungern wieder zum Prinzip deutscher Machtpolitik machen will. Als Beispiel für die von ihm markig geforderte Außenpolitik, die – im Geist von "Blut und Eisen" und "Macht ist das größte Aphrodisiakum" – endlich wieder "mit dem Colt auf dem Tisch verhandel(t)", schlug er im Dezember 2022 im Interview mit der "Berliner Zeitung" vor, mit der Kornkammer Ukraine am Wickel zukünftig 1,4 Milliarden Chinesen – denn womöglich "wagt" es mal wieder einer von ihnen, uns Deutsche "scheel anzusehen"! – offen den Hungertod anzudrohen: "Wenn uns ein Land Seltene Erden vorenthalten würde, könnten wir entgegnen: 'Was wollt ihr eigentlich essen?‘"

 

Es sollte also auch nicht verwundern, dass es das linksliberale Bürgertum ist, das heute öffentlichkeitswirksam seine Geisteshaltung korrigiert und durch symbolische Gelübde seine Loyalität zum Vaterland beweist, als wäre es noch einmal August 1914. Die Liste derjenigen, die es für nötig hielten, symbolisch ihre Wehrdienstverweigerung zurückzuziehen und den Fahneneid auf die Nation in Waffen zu schwören, ist lang. Sie reicht von Scholz und dem "grünalternativen" Wirtschaftsminister Robert Habeck über gealterte Intellektuelle, Journalisten und Schriftsteller wie Ralf Bönt ("Das entehrte Geschlecht"), Stern-Redakteur Thomas Krause und den taz-Redakteur Tobias Rapp bis zu anderen Personen des öffentlichen Lebens wie dem evangelischen Bischof Ernst-Wilhelm Gohl, dem Komiker Wigald Boning und dem "ewigen Hofnarr" Campino von der bekannten Schlagerband "Die Toten Hosen".

Vor diesem Hintergrund war es auch nur folgerichtig, dass Rapp als ehemaliger Redakteur und bis heute Mitherausgeber der "linksradikalen" Jungle World jüngst im Spiegel auch den "Veteranentag" begrüßte als einen "großen Schritt weg von alten Lebenslügen": "Eine Gesellschaft" könne nun "sagen: Wir können die Last nicht von euren Schultern nehmen, die es heißt, gekämpft und möglicherweise getötet zu haben. Aber wir können euch einmal im Jahr eine Bühne geben und an diese Last erinnern. Es war nicht sinnlos."

 

Theodor W. Adorno: weniger Angst vor der extremen Rechten als vor der rechten Radikalisierung der "Mitte"

Es war Theodor W. Adorno, der einmal schrieb, er habe weniger Angst vor der extremen Rechten als vor der rechten Radikalisierung der "Mitte", vor der Rückkehr des Nationalistischen, Autoritären und Faschistischen in der Sprache der Demokratie.

Wer heute glaubt, die Rechte am besten mit ihren eigenen Waffen schlagen zu können, von der Übernahme ihrer Migrationspolitik, ihres Kulturkampfes und ihrer Begriffe und Politikmittel aus dem "Zeitalter der Katastrophen" (Eric Hobsbawm), der betreibt ihr eigentliches Geschäft.

Kurzfristig mögen die Umfragewerte der AfD in Folge der Skandalisierung der Machenschaften ihres Spitzenkandidaten für die Europawahl heruntergehen. Langfristig mag man sich in der AfD zurücklehnen, weil man weiß: "Rechts wirkt". Das Land rast mit atemberaubendem Tempo in eine rechte Vergangenheit; aber im Führerstand stehen nicht Björn Höcke und Maximilian Krah, sondern die Liberalen selbst.

 

 

 

„Unnötig Angst vor dem Atomtod“

Mar, 23/07/2024 - 06:09

Mit ersten Protesten aus der Bevölkerung und denunziatorischen Tiraden gegen Kritiker beginnt der neue Konflikt um die Stationierung von US-Mittelstreckenwaffen in Deutschland.
Experten warnen, die Stationierung könne die atomare Aufrüstung anheizen und verstärke die Gefahr eines Atomkriegs.

Die Bundesregierung hatte am Rande des NATO-Jubiläumsgipfels eine entsprechende Stationierungsvereinbarung mit der US-Administration unterzeichnet; sie sieht vor, bis 2026 US-Marschflugkörper des Typs Tomahawk, SM-6-Lenkraketen und Hyperschallraketen des Typs Dark Eagle in Deutschland aufzustellen. Mit den Waffen können nicht nur Sankt Petersburg und Moskau erreicht werden. Es ist auch möglich, zentrale Elemente der russischen Nuklearstreitkräfte auszuschalten – beispielsweise das Frühwarnsystem, das kürzlich die Ukraine attackierte. Experten warnen, Moskau könne deshalb auf die Stationierung von Mittelstreckenwaffen in Deutschland „mit Änderungen seiner Nukleardoktrin“ antworten; im Kriegsfall sei sogar ein „präemptiver“ Atomangriff auf die Raketenstellungen denkbar.
Außenministerin Annalena Baerbock nennt Protest gegen die Raketenstationierung „verantwortungslos“. In einer Zeitschrift der Evangelischen Kirche heißt es, „Desinformationsschleudern“ schürten „unnötig Angst vor dem Atomtod“.

Der Bruch des INF-Vertrags

Die Bundesregierung hat in einem Schreiben an die Bundestagsausschüsse für Äußeres und für Verteidigung ihre Entscheidung, die Stationierung von US-Mittelstreckenwaffen auf deutschem Territorium zuzulassen, mit der Behauptung begründet, Russland habe – zunächst unter Bruch des INF-Vertrags – „bodengestützte Mittelstreckensysteme entwickelt“ und sich trotz mehrfacher Aufforderung der westlichen Staaten geweigert, das zu unterlassen.[1] Die Behauptung verkürzt die reale Entwicklung sinnentstellend. So hat Washington, bevor es am 1. Februar 2019 den INF-Vertrag kündigte, nie Beweise dafür vorgelegt, dass Moskau tatsächlich an der Entwicklung von Mittelstreckenwaffen arbeite.[2] Es hat aber eingeräumt, seinerseits Ende 2017 die Entwicklung solcher Waffen gestartet zu haben. Recherchen der International Campaign to Abolish Nuclear Weapons (ICAN), die im Jahr 2017 mit dem Friedensnobelpreis ausgezeichnet wurde, belegen, dass die USA spätestens im Oktober 2018 Aufträge in Milliardenhöhe für Entwicklung und Bau neuer Raketen vergaben.[3] Ziel war es, Mittelstreckenwaffen in der Asien-Pazifik-Region zu stationieren – mit Angriffsziel China. Letzteres hat Washington kürzlich auf den Philippinen begonnen, allerdings vorläufig nur für einige Monate (german-foreign-policy.com berichtete [4]). Eine dauerhafte dortige Stationierung schieben die USA noch hinaus.

Erhöhte Atomkriegsgefahr

Anders als in der Asien-Pazifik-Region will Washington Mittelstreckenwaffen schon 2026 dauerhaft in Deutschland stationieren.
Es handelt sich um Tomahawk-Marschflugkörper, SM-6-Lenkraketen und Hyperschallraketen des Typs Dark Eagle. Die Tomahawk und die Dark Eagle können nicht nur Sankt Petersburg, sondern auch Moskau erreichen. Besonders im Fall der Dark Eagle erhöht dies wegen der massiv verkürzten Vorwarnzeiten – und weil die Hyperschallrakete, wie die Stiftung Wissenschaft und Politik (SWP) festhält, ohnehin „kaum zu stoppen“ ist [5] – die Spannungen erheblich. Dies gilt umso mehr, als Russland, wie es in einem aktuellen Fachbeitrag heißt, in Betracht ziehen muss, dass im Kriegsfall die Dark Eagle zentrale Elemente seiner Nuklearstreitkräfte zerstören könnte, etwa Radaranlagen [6]; einen Testlauf für einen Angriff auf das russische Frühwarnsystem gegen Nuklearwaffen haben erst kürzlich die ukrainischen Streitkräfte unternommen (german-foreign-policy.com berichtete [7]). Denkbar sei deshalb, heißt es in dem Fachbeitrag weiter, dass Moskau auf die Stationierung der US-Mittelstreckenwaffen in Deutschland „mit Änderungen seiner Nukleardoktrin“ antworte. Sollte Russland zudem zu der Auffassung gelangen, es könne seine Nuklearstreitkräfte nicht verlässlich gegen die Dark Eagle verteidigen, seien im Kriegsfall sogar „präemptive“ Atomangriffe auf deren Stellungen möglich.[8]

Anders als 1979

Mit Blick auf die dramatischen Gefahren werden inzwischen erste Proteste laut.
So forderte etwa am vergangenen Freitag eine Kundgebung in Potsdam eine umgehende Rücknahme des Vorhabens, US-Mittelstreckenwaffen in Deutschland zu stationieren.[9] Am Montag äußerte der Vorsitzende der SPD-Bundestagsfraktion, Rolf Mützenich, als erster – und bislang einziger – Politiker einer der drei Berliner Regierungsparteien, man dürfe „die Risiken dieser Stationierung nicht ausblenden“.[10] Angesichts der äußerst kurzen Vorwarnzeit der Raketen sei „die Gefahr einer unbeabsichtigten militärischen Eskalation ... beträchtlich“, warnte Mützenich; dabei besitze die NATO bereits ohne die Mittelstreckenwaffen „eine umfassende, abgestufte Abschreckungsfähigkeit“. „Mir erschließt sich auch nicht“, fuhr Mützenich fort, „warum allein Deutschland derartige Systeme stationieren soll“. Zu letzterem Aspekt hieß es bereits in dem erwähnten Fachbeitrag, die Tatsache, dass eine Stationierung ausschließlich in Deutschland geplant sei, unterscheide die aktuelle Maßnahme vom NATO-Doppelbeschluss im Jahr 1979: Damals habe Bundeskanzler Helmut Schmidt „noch darauf hingewirkt, eine derartige Singularisierung unbedingt zu vermeiden“.[11] Zudem sei die damalige Maßnahme „mit einem Angebot zur Rüstungskontrolle verbunden“ gewesen. Heute hingegen sei dies nicht der Fall.

„Verantwortungslos, naiv“

Während Beobachter warnen, „keinesfalls“ dürfe „der Eindruck entstehen“, die Bevölkerung werde „ohne Risikoabwägung vor vollendete Tatsachen gestellt“ [12], attackieren Politiker sowie Militärexperten jede Stellungnahme gegen die Stationierung der Mittelstreckenwaffen auf das Schärfste.
„Wir“ müssten „uns und unsere baltischen Partner schützen, auch durch verstärkte Abschreckung und zusätzliche Abstandswaffen“, behauptete Außenministerin Annalena Baerbock und erhob pauschal gravierende Vorwürfe gegen Kritiker:
„Alles andere wäre nicht nur verantwortungslos, sondern auch naiv gegenüber einem eiskalt kalkulierenden Kreml“.[13]

Weshalb es „verantwortungslos“ sein soll, Einwände gegen die Stationierung von Waffen zu erheben, die nach Einschätzung von Experten die Atomkriegsgefahr erhöhen, erläuterte die Ministerin, deren Partei einst der Friedensbewegung nahestand, nicht.

„Desinformationsschleudern“

Zu Baerbocks Partei hat sich vergangene Woche Frank Sauer geäußert, ein Privatdozent an der Münchener Universität der Bundeswehr.
„Bei der grünen Basis“ gebe es „schon seit langem ein Umdenken“, hielt Sauer fest:
„Ein Pazifismus im Stile der Bonner Republik wirkt heute für viele ... aus der Zeit gefallen.“[14]
Unabhängig davon, ob er „bei der Böll-Stiftung in Berlin oder bei einem Lokalpolitiker [der Grünen, d. Red.] in Bayern zu Gast“ sei: „Die meisten nehmen die Bedrohung durch Putin als gefährlicher wahr als eine westliche Aufrüstung.“
Jegliche Kritik an der Stationierung der Mittelstreckenwaffen denunziert Sauer, indem er erklärt, „das Bündnis Sahra Wagenknecht und die AfD“ schürten „falsche Ängste“:
Beide seien nur „Desinformationsschleudern“ und wollten „den Menschen jetzt aus innenpolitischen Motiven unnötig Angst vor dem Atomtod einreden“.[15]
Sauers Aussage ist über ein Interview mit Chrismon an die Öffentlichkeit getragen worden, der Zeitschrift der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD).

 

Mehr zum Thema: Moskau in Schussweite.

[1] Thomas Wiegold: Dokumentation: die – nun doch anlaufende? – Debatte über US-Mittelstreckenwaffen in Deutschland. augengeradeaus.net 20.07.2024.

[2] Till Ganswindt: Wer ist für den Bruch des INF-Abrüstungsvertrages zu Mittel- und Langstreckenraketen verantwortlich? mdr.de 16.07.2024.

[3] S. dazu Abschied vom INF-Vertrag (III).

[4] S. dazu moskau-in-schussweite

[5] Jonas Schneider, Torben Arnold: Gewichtig und richtig: weitreichende US-Mittelstreckenwaffen in Deutschland. SWP-Aktuell 2024/A 36. 18.07.2024.

[6] Alexander Graef, Tim Thies, Lukas Mengelkamp: Alles nur Routine? ipg-journal.de 16.07.2024.

[7] S. dazu Die Erweiterung des Schlachtfelds.

[8] Alexander Graef, Tim Thies, Lukas Mengelkamp: Alles nur Routine? ipg-journal.de 16.07.2024.

[9] Matthias Krauß: Keine Atomwaffen für Brandenburg. nd-aktuell.de 19.07.2024.

[10] Thomas Wiegold: Dokumentation: die – nun doch anlaufende? – Debatte über US-Mittelstreckenwaffen in Deutschland. augengeradeaus.net 20.07.2024.

[11], [12] Alexander Graef, Tim Thies, Lukas Mengelkamp: Alles nur Routine? ipg-journal.de 16.07.2024.

[13] „Alles andere wäre naiv“. tagesschau.de 21.07.2024.

[14], [15] Constantin Lummitsch: „Sahra Wagenknecht und die AfD schüren falsche Ängste“. chrismon.de 17.07.2024.

 

 

Chinas politische Signale und Programmatik: Modernisierung von Wirtschaft und Staat, Reformvorhaben, Wirtschaftsstabilität

Lun, 22/07/2024 - 08:38

Das Ergebnis der Beratungen der 3. Plenartagung des Zentralkomitees der führenden Kommunistischen Partei bilden neben der Halbjahres-Bilanz 2024 die Grundlage für den weiteren wirtschaftspolitischen Weg in China.

Gliederung der Ausführungen

  1. Die Zielsetzung der 3. Plenartagung
  2. Hohe Erwartungen
  3. Die Halbjahres-Bilanz der chinesischen Wirtschaft
  4. Höhepunkte des Wachstums – und seine Lücken
  5. Communique der 3. Plenartagung. Die Rahmenvorgaben für Modernisierung, Reformen und weitere Öffnung
  6. Ein Zwischenfazit

 

  1. Die Zielsetzung der 3. Plenartagung

Die 3. Plenartagung der führenden Gremien der politischen Führung Chinas ist eine der wichtigsten Sitzungen des Landes für Entscheidungen und politische Richtungsweisungen. Sie stand in diesem Jahr ganz im Zeichen von Reformen und der Modernisierung von Wirtschaft und Staat.
Reformen? Wie passen Reformen zu einem kommunistischen Staat, der sich unbeeindruckt von den Versuchen der westlichen politisch-militärischen Machtzirkeln dagegen verwahrt, den seit 1949 konzipierten Weg des Aufbaus eines sozialistischen Landes aufzugeben und konsequent eine sozialistische Gesellschafts-Entwicklung chinesischer Prägung anzugehen?
In der Tat, die chinesische Auslegung von Reformen,  die auf der 3. Plenartagung 1978  unter Deng Xiaoping begannen, belegen  einen entscheidenden Wendepunkt in der wirtschaftlichen Entwicklung des sozialistischen  Landes. Diese Reformen führten China auf einen Kurs der wirtschaftlichen Öffnung und Reform, der eine rasante Entwicklung ermöglichte. Die wichtigsten Aspekte dieser Reformen umfassten:

  • Die Einführung marktwirtschaftlicher Elemente in die sozialistische Planwirtschaft, was als sozialistische Marktwirtschaft mit chinesischen Merkmalen definiert ist,
  • Die Öffnung des chinesischen Marktumfeldes zur Beschleunigung der bedarfsgerechten Versorgung und Bereitstellung von Produkten und der damit auch zugestandenen Stärkung des Eigeninteresses kapitalistischer Wirtschaftsteilnehmer, ein pragmatisches Zugeständnis für ausländische Investitionen und Technologien,
  • Die staatliche Dezentralisierung und Liberalisierung auf den vertikalen und regionalen Ebenen. (1)

In der politischen Auseinandersetzung der letzten 100 Jahre sind (vermutlich) zentnerweise Begründungen, system-kritische Analysen und Empfehlungen entstanden, die sich mit der Frage von Reformen auch in einem sozialistisch strukturierten Gesellschaftssystem befassten.  Aber das soll an dieser Stelle nur als eine Anregung verstanden werden, um sich gegebenenfalls intensiver mit der Kultur, Politik und Gesellschaftsentwicklung der Volksrepublik China zu befassen und die eine oder andere vorgeprägte Meinung über das Land China zu überdenken.
Im folgenden Beitrag geht es aber um die aktuellen Reformen und Richtungsweisungen, die im Mittelpunkt der 3. Plenartagung des Zentralkomitees und seinen ständigen Ausschüssen standen. (2)

  1. Hohe Erwartungen

Die Bedeutung dieses Treffens im Juli 2024 lag darin, eine Bewertung der aktuellen sozial-ökonomischen Situation in seiner Komplexität vorzunehmen. So standen Fragen an zur dynamischen Fortschreibung und Modernisierung der wirtschaftlichen, sozialen und staatlichen Bestandteile der chinesischen Gesellschaft sowie die Erörterung der politischen Leitlinien für  Reformvorhaben und  Modernisierungs-Ansätze  in den erkannten Problemfeldern.
Eine zentrale Rolle spielte  auch die Thematik einer weiteren Öffnung mit all seinen Konsequenzen; einen besonderen Stellenwert  nahmen dabei Themen der Zulassung und Förderung unternehmerischer Aktivitäten ausländischer Firmen ein.

Reformen sind in diesem, chinesischen, Kontext als Modernisierungspfad der chinesischen Gesellschaft zu begreifen.  Reformvorhaben kennzeichnen also eine planmäßige Umgestaltung oder Verbesserung bestehender Strukturen. Eine Abkehr von den Grundprinzipien des Aufbaus einer sozialistischen Gesellschaft und deren grundlegenden geistigen und kulturellen Fundamenten war und ist nach der vorherrschenden kommunistischen Gesellschafts-Ideologie Chinas nicht beabsichtigt.
Existierende Schwachstellen wie etwa die anhaltend ungleiche Einkommensentwicklung, die regionalen Unterschiede der Lebens- und Arbeitsbedingungen, die fehlenden Ausbildungs- und Jobangebote gerade in den Bereichen der Fortschritts-Industrie und der zu erwähnenden Problemzone Immobilienmarkt lassen sich als die reformbedürftigsten Problembereiche angeben. (3) Siehe als ergänzende Beschreibung hierzu die vor der Plenartagung erstellte Analyse von Wolfgang Müller: Justiert China die Wirtschaftspolitik neu? Debatten vor dem Dritten Plenum des ZK der KP, Sozialismus.de, Heft 7/8-2024  


Die Bedeutung von Öffnung für das Marktumfeld

Im Vorfeld der Plenumstagung entstanden eine Reihe von Analysen, die sich mit der Bedeutung der Öffnung, einer pragmatischen Öffnung für westliches Kapital zur Förderung der eigenen Wirtschaft und auch der internationalen Kooperation im Rahmen der Mitwirkung in globalen Organisationen befaßten; beispielhaft für Letzteres ist dafür vor allem die Mitgestaltung in der UN und in der Welthandelsorganisation (WHO) zu nennen. (5)

Neben der grundlegenden Beibehaltung der Staatsführung und der bewährten Wirtschaftspolitik sind die Bereitschaft zur Veränderung von Strukturen und die pragmatische Bereitschaft zur Öffnung nach meinem Verständnis die zentralen Faktoren, die China zur 2. größten Wirtschaftsmacht gemacht haben. Die Türen offen zu halten und Platz für pragmatische Experimente einräumen, sind nach wie vor integrale Bestandteile des wirtschaftlichen Erfolgs Chinas, vor allem, wenn es den dringend notwendigen Wandel zu einem wissensbasierten, fortschrittlichen Produktionszentrum angeht.
Nach Meinung von Experten sollte China seine Unternehmer dazu befähigen, die Wettbewerbsfähigkeit sowohl privater als auch staatlicher Unternehmen experimentell und zukunftsorientiert zu steigern. Der Wirtschaftswissenschaftler Keyu Jin hat auf das Nachfragedefizit und den Vertrauensverlust in den Privatsektor als Hindernisse für Chinas Erholung nach der Pandemie hingewiesen. (6) Chinesische Wirtschaftsexperten plädierten im Vorfeld der Plenartagung auch für eine kontinuierliche Öffnung für Ausländer, egal ob es sich um Touristen, Studenten oder qualifizierte Arbeitskräfte handle. Zheng Yongnian, Politikwissenschaftler und Professor an der chinesischen Universität von Hongkong in Shenzhen, rief China dazu auf, wenn erforderlich auch eine einseitige Öffnung gegenüber dem Rest der Welt zu wagen.

Die Anzeichen mehren sich, dass die politische Führung den Anforderungen und Interessen ausländischen Unternehmen durch weitere Zugeständnisse zu ihren Aktivitäten in China entgegenkommen will.  Dazu gehören etwa die Lockerung der Visa-Beschränkungen für Nicht-Chinesen und die Aufnahme Australiens und Neuseelands in die Liste der Länder, die schon von der Visumspflicht befreit sind. (7)
Der Abbau von administrativen Hindernissen bei der rechtlichen Registrierung, Geschäftsstreitigkeiten und der unzureichenden Transparenz der einzuhaltenden Vorschriften gehört nach Experten-Meinung zu den Arbeitsfeldern der Öffnung, die einer    Bereitschaft der unternehmerischen Tätigkeit in China entgegenkommen würde.
Und ein weiteres zu erwähnendes Thema der Öffnung ist die konsequente Beibehaltung des konstruktiven  Dialogs  mit wohlmeinenden Gesprächspartnern, die das Ansehen von China, auch in westlichen Gesellschaften, fördern können.

Das unterstreicht auch das Ansinnen Chinas, im immer härter werdenden internationalen Wettbewerb den eigenen Einfluß beizubehalten und auszubauen.


Wie die rasche sozio-ökonomische Entwicklung des Landes in den letzten mehr als 40 Jahren zeigt, sind Öffnung und Reformen zu wirksamen Instrumenten geworden, mit denen die Partei und das Volk große Fortschritte machen können, um mit der Zeit Schritt zu halten.

John Ross:  How China will continue achieving its high-quality development, Senior Fellow am Chongyang Institute for Financial Studies an der Renmin University of China. (8)

Die 3. Plenartagung war nach Meinung der Veranstaltet problem- und ergebnisorientiert angelegt und hat die Voraussetzungen geschaffen für eine intensive, offene und konstruktive Diskussion über praktikable Lösungen, die dem Land helfen sollen, einige große Hindernisse auf seinem Weg zu nachhaltigem Wachstum zu überwinden und gleichzeitig seine langfristige strategische Autonomie zu bewahren.

Während mehrheitlich die Presse-Stimmen im Westen im Vorfeld des Plenums wenig Objektivität bei der Beurteilung der Reformbemühungen walten ließen und das Halbjahres-Ergebnis der Wirtschaft ideologisch begründet eher unsachlich kommentierten, war die Plenartagung ein Ausdruck von Zielstrebigkeit und politischer Programmatik eines anders organisierten Staates, der einfach in einem schlechten Licht erscheinen muß. (9)

  1. Die Halbjahres-Bilanz der chinesischen Wirtschaft

Während sich Chinas Spitzenpolitiker auf das dritte Plenum des 20. Zentralkomitees vorbereiteten, hat das Nationale Büro für Statistik, NBS die aktuellen Zahlen der gegenwärtigen Wirtschaftsentwicklung Chinas bekanntgegeben, die Halbjahres-Bilanz 2024.

Nach den Vorläufigen Schätzungen des Nationalen Statistischen Amtes, NBS stieg das Bruttoinlandsprodukt (BIP) in der ersten Jahreshälfte 2024 um 5,0 Prozent
(gegenüber Vorjahr).

Aufgeschlüsselt nach Quartalen stieg das BIP im ersten Quartal um 5,3 Prozent gegenüber dem Vorjahr und im zweiten Quartal um 4,7 Prozent, was quartalsweise einem leichten Rückgang im ersten Quartal entspricht.

Chinesische Behörden und Analysten wiesen darauf hin, dass es sich bei dieser Verlangsamung um eine kurzfristige Schwankung handle, die die Wirtschaft nicht von ihrem anhaltenden Erholungsschwung abbringen werde. Die Fundamentaldaten der Wirtschaft seien nach wie vor positiv und würden sich in der zweiten Jahreshälfte verbessern. Dafür sind eine Reihe herausragender wirtschaftlicher Triebkräfte anzugeben, darunter die laufende Modernisierung der Industrie, robuste Exporte sowie umfangreiche Investitionen in die High-End-Produktion. (10)

Aufgeschlüsselt nach Wirtschaftszweigen stieg die Wertschöpfung in der Primärindustrie um 3,5 Prozent gegenüber dem Vorjahr, während die Sekundärindustrie einen Anstieg von 5,8 Prozent verzeichnet und der Sektor der Dienstleistungen einen Anstieg von 4,6 Prozent aufweist.

Jahresziel im Fokus

Das BIP-Wachstum von 5 Prozent in der ersten Jahreshälfte 2024 entspricht dem Ziel, das sich die Regierung zu Beginn des Jahres gesetzt hat.
Unmittelbar nach der Veröffentlichung der Daten zitierten einige westliche Medien jedoch die Verlangsamung im zweiten Quartal als eher negative Entwicklung der chinesischen Wirtschaft. Einige übertrieben den Abwärtsdruck, dem das Land ausgesetzt sei und deuteten unvermittelt an, dass China von seinem jährlichen BIP-Ziel abrücken werde. Blickt man aber auf die nach dem Covid-Einbruch verlaufende Wachstumskurve, bewegt sich das Wachstum (im Gegensatz z.B. der deutschen Wirtschaft) auf einem bemerkenswert konstanten hohen Niveau.
Die amtliche Statistik räumte zwar eine gewisse Belastung der aktuellen Wirtschaftstätigkeit ein, erklärte jedoch, dass die Verlangsamung im Zeitraum April bis Juni auch durch kurzfristige Faktoren wie extreme Wetterbedingungen und häufige Regen- und Flutkatastrophen beeinflusst wurde. Das stabile Wachstum von 5 Prozent in der ersten Jahreshälfte bringe China auch auf einen guten Weg, sein Ziel eines Wirtschaftswachstums von rund 5 Prozent für das gesamte Jahr zu erreichen, so die Ökonomen.

"Die chinesische Wirtschaft ist trotz eines komplexen globalen und nationalen Umfelds stabil geblieben und hat [in den ersten sechs Monaten] nicht nur ein quantitatives Wachstum, sondern auch eine qualitative Verbesserung erzielt. Dies ist ein lobenswertes und solides wirtschaftliches Zeugnis."
NBS-Sprecher,15. Juli 2024
 

  1. Höhepunkte des Wachstums – und seine Lücken

Analysten zufolge ist das Wirtschaftswachstum im ersten Halbjahr "stabil und moderat" und spiegelt prinzipiell ein umfassendes Bild des Aufschwungs der zweitgrößten Volkswirtschaft der Welt nach dem Covid-Einbruch wider. Sie befindet sie sich in einer Phase des Wandels, in dem die Entwicklung neuer Triebkräfte durch ergänzende Impulse zur Förderung der Produktivkraftentwicklung Wirkung zeigen. Die Industrietätigkeit ist nach wie vor der wichtigste Motor für die Wirtschaft, was zum Teil auf die robuste Nachfrage aus dem Ausland zurückzuführen ist. Die Wertschöpfung von Industrieunternehmen ab einer bestimmten Größe stieg in den ersten sechs Monaten im Vergleich zum Vorjahr um 6 %, wobei die Entwicklung neuer, qualitativ hochwertiger Produktivkräfte spürbar an Fahrt gewann. (11)

Hierzu sind eine Reihe aktueller Zahlen zur Halbjahres-Bilanz der Wirtschaftstätigkeit in der folgenden Tabelle zusammengestellt:

Zu einigen der in der Tabelle dargestellten Werte anbei einige ergänzende Anmerkungen:

Anmerkung 1:
Eine Analyse nach Eigentumsverhältnissen ergab, dass die Wertschöpfung von Unternehmen in staatlicher Hand um 4,6 Prozent, die von Unternehmen in Aktienbesitz um 6,5 Prozent, die von Unternehmen, die von ausländischen Investoren oder Investoren aus Hongkong, Macao und Taiwan finanziert werden, um 4,3 Prozent und die von privaten Unternehmen um 5,7 Prozent zunahm.

Anmerkung 2:
Im ersten Halbjahr belief sich der Gesamtwert der Warenein- und -ausfuhren auf 2.912 Mrd. $, was einem Anstieg von 6,1 Prozent gegenüber dem Vorjahr entspricht. Der Gesamtwert der Ausfuhren belief sich auf 1.698,2 Mrd.$, ein Anstieg um 6,9 Prozent.
Der Gesamtwert der Einfuhren belief sich auf 1.265,46 Mrd. $, ein Anstieg um 5,2 Prozent.

Anmerkung 3:

Im ersten Halbjahr erreichten die Anlageinvestitionen (ohne ländliche Haushalte) 3,44 Billionen $, was einem Anstieg von 3,9 Prozent gegenüber dem Vorjahr entspricht. Unter Abzug der Investitionen in die Immobilienentwicklung stiegen die Anlageinvestitionen um 8,5 Prozent.
Im Einzelnen wuchsen die Investitionen in die Infrastruktur um 5,4 Prozent,
die in das verarbeitende Gewerbe um 9,5 Prozent und in die Immobilienentwicklung um
10,1 Prozent.

Anmerkung 4:
In der ersten Jahreshälfte stieg der Verbraucherpreisindex (VPI) um 0,1 Prozent gegenüber dem Vorjahr, während der Index im ersten Quartal auf dem gleichen Niveau wie im Vorjahr blieb. Aufgegliedert nach Warenkategorien sanken die Preise für Nahrungsmittel, Tabak und Alkohol um 1,4 Prozent, für Bekleidung um 1,6 Prozent, für Wohnungen um 0,2 Prozent, für Waren und Dienstleistungen des täglichen Bedarfs um 0,9 Prozent, für Verkehr und Nachrichtenübermittlung um 0,7 Prozent, für Bildung, Kultur und Freizeit um 2,0 Prozent, für medizinische Dienstleistungen und Gesundheitsversorgung um 1,4 Prozent und für sonstige Waren und Dienstleistungen um 3,3 Prozent.
Bei den Preisen für Nahrungsmittel, Tabak und Alkohol sank der Preis für frisches Obst um 7,8 Prozent, für frisches Gemüse ging die Preisgestaltung um 2,7 Prozent zurück, Schweinefleisch blieb unverändert und Getreide stieg um 0,5 Prozent.
Der Kernverbraucherpreisindex ohne die Preise für Nahrungsmittel und Energie stieg im Jahresvergleich um 0,7 Prozent. (12)

Generell blieb die Wirtschaftsleistung des Landes im ersten Halbjahr stabil, und es wurden stetige Fortschritte bei der Transformation und Modernisierung erzielt.
Die Bewertungen ernstzunehmender Analysten der wirtschaftlichen Situation stimmen mit den kritischen Einschätzungen der Führungskreise und Arbeitsgremien auf der 3. Plenartagung weitgehend überein, dass ein nicht zu übersehendes Potential zur Wirtschaftsbelebung besteht. Die nach wie vor auffälligen Lücken, oder anders ausgedrückt, Krisenerscheinungen, wie z. B. die Immobilienkrise mit einem riesigen Bestand an unfertigen Wohnungen, oder des offensichtlich zu langsam anwachsenden Arbeitsmarktes für junge Menschen, die ihre Berufsqualifikation in modernen IT- und Dienstleistungsbereichen sehen, stellen die staatlichen Gremien und Unternehmen vor ernstzunehmende, aber lösbare Herausforderungen.
So bewegt sich etwa die Arbeitslosigkeit im Kern auf einem konstanten überschaubaren Niveau, aber entsprechend den Anforderungen der Entwicklung der zukunftsorientierten Industriebereiche stehen offenbar zu wenige Arbeitsplätze zur Verfügung. (13)

Der Anteil von Chinas gesamter Wirtschaftsleistung an der Weltwirtschaft ist von etwa 12,3 Prozent vor über einem Jahrzehnt auf jetzt etwa 18 Prozent gestiegen.  Chinas Beitrag zum globalen Wirtschaftswachstum lag in den letzten Jahren bei etwa 30 Prozent.
Neuere Zahlen einer Langfristprognose vermuten jedoch einen Rückgang des chinesischen Beitrags zur globalen Wirtschaftsleistung. Hier sieht sich die politische Führung auch deshalb in der Verantwortung, mit entsprechenden Maßnahmen den bestehenden wirtschaftlichen und politischen Einfluss im Weltgeschehen aufrechtzuerhalten.

Die bemerkenswerte Entwicklung Chinas von einem der ärmsten Länder der Welt im Jahr 1949 zur zweitgrößten Volkswirtschaft der Welt in nur etwas mehr als 70 Jahren ist nach Experten-Meinung vor allem auf die beständige Rolle und richtungsweisende Führung der KPCh zurückzuführen. Nach Auffassung von John Ross, Senior Fellow am Chongyang Institute for Financial Studies an der Renmin University of China könne nachweislich keine andere politische Partei in der Welt eine vergleichbare Leistung vorweisen. (14)

 

IWF hebt BIP-Wachstumsprognose für China an

Der Internationale Währungsfonds (IWF) hat in seinem jüngsten Weltwirtschaftsausblick (WEO) die Prognose für das chinesische BIP-Wachstum in 2024 auf 5 Prozent bestätigt.
Die Stellungnahme des IWF zu den China-Daten erfolgte unmittelbar nach offizieller Bekanntgabe durch das NBS. Als ausschlaggebende Faktoren werden dabei eine stetige Erholung des Binnenkonsums und ein Anstieg der Exporte angegeben. In seiner WEO-Aktualisierung vom Juli geht der IWF davon aus, dass die prognostizierten 5% Wachstums für das Jahr 2024 eine Aufwärtskorrektur um 0,4 Prozentpunkte gegenüber dem WEO-Bericht des IWF vom April bedeuten.  (15)

"In China sorgte der wiedererstarkte Binnenkonsum im ersten Quartal für eine positive Entwicklung, die durch einen scheinbar vorübergehenden Anstieg der Exporte unterstützt wurde, die erst spät wieder an den Anstieg der weltweiten Nachfrage im letzten Jahr anknüpfen konnten."
WEO, World Economic Outlook

Entgegen den zumeist abwertenden Nachrichten (16) westlicher Medien zur chinesischen Halbjahres-Bilanz 2024 deutet auch die Aufwärtskorrektur der IWF-Prognose darauf hin, wonach sich die Erwartungen für eine stabile und solide Erholung der chinesischen Wirtschaft trotz des sich eintrübenden außenwirtschaftlichen Umfeldes und eines zunehmenden Handels-protektionismus erfüllen werden. Dies ist als ein Beleg für Chinas wirtschaftliche Wettbewerbsfähigkeit einzuschätzen.

Eine vom IWF veröffentlichte Tabelle zeigt, welche Entwicklung der chinesischen Wirtschaft im Weltmaßstab gegenüber anderen Ländern in den nächsten Jahren zu erwarten ist.
Man beachte dabei zum Vergleich besonders die Prognose zur Wirtschaftsentwicklung Deutschlands. (17)

  1. Communique der 3. Plenartagung
    Die Rahmenvorgaben für Modernisierung, Reformen und weitere Öffnung

Zum Abschluss der im Juli d. J. erfolgten 3. Plenartagung verabschiedete das oberste politische Führungsgremium ein Communique, eine amtliche Verlautbarung, die das Ergebnis der Tagung zusammenfasst und als Rahmenvorgabe für die Entwicklung der nächsten 5 Jahre bezeichnet wird. Per Pressemitteilung war die chinesische Öffentlichkeit unmittelbar nach Veröffentlichung dazu aufgefordert, das Plenums-Communique zu studieren und sich an den vorgesehenen Maßnahmen in den jeweiligen Tätigkeitsbereichen zu beteiligen.
Das Communique ist so gesehen eine Resolution zur weiteren Vertiefung des beschlossenen Reformkurses für eine Modernisierung der chinesischen Gesellschaft. Die Förderung einer qualitativ hochwertigen Entwicklung, entlang des eingeschlagenen Weges, China zu einem modernen sozialistischen Land aufzubauen, wird als die Generallinie der sozio-ökonomischen Entwicklung bestimmt.
Wie der Name schon sagt, handelt es sich um ein Communique und nicht um einen dezidierten Plan der Umsetzung mit fest vereinbarten Lösungsansätzen.
Auszugsweise sind im Folgetext Passagen des Communiques zusammenfassend dargestellt.  Den Schwerpunkt der Darstellung bilden jene vereinbarten Maßnahmen und Programmpunkte, die schon im Vorfeld der Plenartagung eine hohe internationale Aufmerksamkeit erweckten, wie der künftige wirtschaftspolitische Weg Chinas in Zukunft aussehen mag. (18)

Das zitierte Dokument ist in seiner vollen Länge unter dem angegebenen link zu finden (19)


Zum Communique

Betonung der Bedeutung und Vertiefung von Reformen, um die chinesische Modernisierung voranzutreiben.
Die Schwerpunkte: Aufbau einer sozialistischen Marktwirtschaft, Förderung einer qualitativ hochwertigen wirtschaftlichen Entwicklung,  Unterstützung umfassender Innovationen,  Verbesserung der makroökonomischen Steuerung,  Förderung einer integrierten Stadt-Land- Entwicklung,  Verfolgung einer Öffnung auf hohem Niveau und der Förderung einer umfassenden Volksdemokratie , Förderung der sozialistischen Rechtsstaatlichkeit mit chinesischen Merkmalen,  Vertiefung der Reformen im Kulturbereich, Gewährleistung und Verbesserung des Wohlergehens des Volkes, Vertiefung der Reformen im Bereich des Umweltschutzes,  Modernisierung des nationalen Sicherheitssystems und der Kapazitäten Chinas, Vertiefung der nationalen Verteidigung und der Militärreform sowie die Verbesserung der Führungsrolle der Partei bei der weiteren Vertiefung der Reformen.

Ausweitung der Binnennachfrage, im Einklang mit einer wirksamen Umsetzung der makroökonomischen Politik.
Zur Vorbeugung und Entschärfung von Risiken in den Bereichen Immobilien, kommunale Schulden, kleine und mittlere Finanzinstitute und anderen Schlüsselbereichen werden verschiedene Maßnahmen umgesetzt zur Gewährleistung der weiteren Entwicklung und Sicherheit des erreichten Wohlstandsniveaus.
Förderung neuer Arbeitskräfte.

Solide Schritte in Richtung einer umweltfreundlichen und kohlenstoffarmen Entwicklung.
Die Erfolge bei der Armutsbekämpfung konsolidieren und ausbauen.
Das Wohlergehen der Menschen sicherstellen und verbessern.

Integrierte städtische und ländliche Entwicklung
für die chinesische Modernisierung.
Bei der neuen Industrialisierung sind die neue Urbanisierung und die umfassende Wiederbelebung des ländlichen Raums zu koordinieren, eine stärkere Integration von Stadt und Land bei Planung, Entwicklung und Regierungsführung anstreben.
Förderung eines gleichberechtigten Austausches und wechselseitige Ströme von Produktionsfaktoren zwischen Stadt und Land, um die Ungleichheiten zwischen beiden zu verringern und ihren gemeinsamen Wohlstand und ihre Entwicklung zu fördern. Verbesserung des grundlegenden ländlichen Betriebssystems, die Unterstützungssysteme zur Stärkung der Landwirtschaft, zum Nutzen der Landwirte und zur Bereicherung der ländlichen Gebiete verbessern und die Reform des Bodensystems vertiefen.

Weitere Reformen der Öffnung
durch die Fortsetzung der staatlichen Politik der Öffnung nach außen, das Schaffen neuer Institutionen für die Entwicklung einer offenen Wirtschaft mit höheren Standards.
Ausbau der Zusammenarbeit mit anderen Ländern.
Vertiefung der Strukturreform des Außenhandels, die Verwaltungssysteme für Investitionen im In- und Ausland weiter reformieren. Die Planung für die regionale Öffnung verbessern und die Mechanismen für eine qualitativ hochwertige Zusammenarbeit im Rahmen der Belt and Road Initiative verfeinern.

Verbesserung der Systeme zur Erhaltung der Umwelt
, konzertierte Anstrengungen einleiten, um die Kohlenstoffemissionen zu reduzieren, die Umweltverschmutzung zu verringern, eine grüne Entwicklung zu verfolgen und das Wirtschaftswachstum anzukurbeln, aktiv auf den Klimawandel zu reagieren.

Stärkung des kulturellen Selbstvertrauens.
Die chinesische Modernisierung ist die Modernisierung des materiellen und kulturell-ethischen Fortschritts., Entwicklung einer fortschrittlichen sozialistische Kultur zu entwickeln, eine revolutionäre Kultur fördern und die traditionelle chinesische Kultur weiterführen.

Modernisierung der friedlichen Entwicklung
. Die chinesische Modernisierung unterstreicht Chinas Politik der friedlichen Außenbeziehungen ist als eine unabhängige Außenpolitik des Friedens fortzusetzen. Die Außenpolitik ist weiterhin darauf ausgelegt, sich für eine menschliche Gemeinschaft mit einer gemeinsamen Zukunft einzusetzen.

Die Modernisierung der nationalen Verteidigung
und der Streitkräfte ein integraler Bestandteil der chinesischen Modernisierung ist. Die absolute Führung der Partei über die Volksstreitkräfte ist aufrechtzuerhalten und die Strategie der Stärkung des Militärs durch Reformen vollständig umzusetzen.
Die führende Rolle der Partei gilt als die grundlegende Garantie für die weitere Vertiefung der Reformen und um die Modernisierung Chinas umfassend voranzutreiben.

 

Ein Zwischenfazit

Ein abschließendes Fazit bietet sich redlicherweise nicht an, weil die detaillierten Beschlüsse und Maßnahmen über die etablierten staatlichen Kanäle und den chinesischen Wirtschaftspartnern erst im Anschluß zur Kenntnis genommen werden.

Manche ausländische Unternehmerverbände und aus dem off agierende Analysten bilden bei der Kenntnisnahme des Communiques eine unrühmliche Ausnahme, die weitreichende, liberale Öffnungen bis hin zu Systemveränderungen des politischen Systems in China erwartet hatten.  Öffnung und Reformen sind für diese Kreise nur zu verstehen als Freifahrtschein für ausländische Unternehmen, um ohne Einschränkung eigenständig und ohne Kontrolle in China agieren zu können.

Das erörterte Programm der 3. Plenartagung mit seinen weitreichenden Reformvorgaben und der weiteren Öffnung des heutige Chinas widerspiegelt die anstrengenden Aufgaben für die Zukunftsgestaltung des Landes. Das vorliegende Communique enthält keine überraschenden Elemente, die nicht schon zuvor kontinuierlich Gegenstand der Ausschüsse der Gremien der kommunistischen Partei Chinas gewesen wären.  Unterschiedlich nuanciert haben Analysten und auch die internationale Presse immer wieder darüber berichtet.  

Die 3. Plenartagung hat als politisches Ergebnis ein weitreichendes Statement mit globaler Wirkung hervorgebracht. Die wirtschaftliche und gesellschaftspolitische Ausrichtung chinesischer Politik soll nach den Ergebnissen der Beratungen ein Gleichgewicht zwischen Stabilität und Wachstum herstellen. Das Kommuniqué drückt die Notwendigkeit einer modernen Gestaltung von Wirtschaft und Staat und das Initiieren von fairen Bedingungen für Zukunftsinvestitionen im chinesischen Marktumfeld aus. Die beschlossene weitreichende Öffnung für ausländische Investoren soll auf einem hohen Niveau erfolgen und die benötigten Qualitätsproduktionskräfte dafür bereitstellen. Man kann davon ausgehen, dass detaillierte Vereinbarungen und Vorgaben für die beteiligten Wirtschaftspartner als nächste Schritte erfolgen werden. Auch wir werden das mit großer Aufmerksamkeit weiterhin begleitend kommentieren.

 

Quellenangaben

(1) http://de.china-embassy.gov.cn/det/zt/zg16d/200812/t20081219_3131095.htm

(2) https://www.chinadailyhk.com/hk/article/588057#Third-plenum-of-20th-CPC-Central-Committee-to-outline-reform-steps-2024-07-15

(3) Wolfgang Müller: Justiert China die Wirtschaftspolitik neu? Debatten vor dem Dritten Plenum des ZK der KP, Sozialismus.de, Heft 7/8-2024

(5) https://www.globaltimes.cn/page/202407/1316028.shtml

(6) https://www.globaltimes.cn/page/202407/1316028.shtml

(7) https://www.globaltimes.cn/page/202407/1316173.shtml

(8) https://www.news.cgtn.com

(9) http://www.chinatoday.com.cn/ctenglish/2018/zdtj/202407

(10) https://www.news.cgtn.com;

http://german.china.org.cn/txt/2024-07/16/content_117313989.htm

(11) https://www.stats.gov.cn/english/PressRelease/;

http://de.china-embassy.gov.cn/det/zgtphsz_/202407/t20240715_11454021;

htm
https://www.finanzen100.de/devisen/waehrungsrechner/?kurs=chinesischer-renminbi-yuan-us-dollar-cny-usd-9368554

(12) NBS, National Bureau of Statistics, China;

https://www.china-briefing.com/news/chinas-gdp-expands-5-in-h1-2024; https://www.stats.gov.cn/english/PressRelease/

(13) Wolfgang Müller, a.a.O.

(14) https://english.news.cn/20240717/62621c8d72cc4e3c94f45971db1cc2df/c.html

(15) https://www.globaltimes.cn/page/202407/1316177.shtml

(16) https://www.zdf.de/nachrichten/politik/ausland/china-xi-jinping-wirtschaft-parteitreffen-drittes-plenum-100.html;

https://www.tagesschau.de/wirtschaft/weltwirtschaft/china-bip-wachstum-100.html;
https://edition.cnn.com/2024/07/14/economy/china-communist-party-third-plenum-economy-intl-hnk/index.html

(17) https://www.imf.org/en/Publications/WEO/Issues/2024/07/16/world-economic-outlook-update-july-2024

(18) https://apnews.com/article/china-plenum-economy-trump-b02543fda4ff61aeaa30b96419e0a06b;
https://foreignpolicy.com/2024/07/16/china-third-plenum-ccp-economic-policy-xi-deng-reform/

(19)  https://www.chinadailyhk.com/hk

 

 

 

Die Brandmauer rutscht

Ven, 19/07/2024 - 07:50

Die von einem CSU-Politiker geführte Europäische Volkspartei (EVP) hat bei den jüngsten Wahlen im Europaparlament den cordon sanitaire („Brandmauer“) weit nach rechts verschoben und erste Parteien der extremen Rechten zu Kooperationspartnern gemacht.
Die ultrarechte Fraktion EKR stellt im Europaparlament drei Mitglieder des Präsidiums – dank Zustimmung der EVP. Sie gilt unter Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen nun als „Partner für die Gesetzgebung“.

 

Am 17. Juli d. J.  wurden mit Stimmen der EVP drei Parlamentarier der ultrarechten EKR-Fraktion (Europäische Konservative und Reformer) ins Präsidium des Europaparlaments gewählt.
Der EKR-Fraktion gehören Parteien der äußersten Rechten mit Ursprüngen im Neofaschismus wie die Fratelli d’Italia (FdI) und die Schwedendemokraten an. Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen (CDU), die vor ihrer gestrigen Wiederwahl eine herbe gerichtliche Niederlage wegen ihrer Impfstoffverträge erlitt, hatte vor dem Wahlgang Absprachen mit den FdI getroffen. Im neuen Europaparlament stellen Parteien der äußersten Rechten neben der viertgrößten (EKR) auch die drittgrößte Fraktion, die Patrioten für Europa (PfE). Die PfE-Parteien haben einen Ministerpräsidenten (Ungarn) in ihren Reihen; zu ihnen gehören zudem zwei aktuelle wie auch zwei einstige Regierungsparteien. Damit ist die extreme Rechte im Europaparlament so stark wie noch nie zuvor.

EU-Recht gebrochen

Am Mittwoch, dem Tag vor ihrer Wahl, hatte EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen eine empfindliche Niederlage vor dem Gericht der Europäischen Union (EuG) erlitten. In dem Verfahren ging es um die Verträge zum Kauf von Covid-19-Impfstoffen, die die EU-Kommission mit den Impfstoffherstellern geschlossen hatte. Scharf kritisiert wird vor allem ein Vertrag mit dem US-Konzern Pfizer über die Lieferung von bis zu 1,8 Milliarden Impfstoffdosen für einen Preis von 35 Milliarden Euro. Der Stückpreis lag damit stolze 25 Prozent über dem Stückpreis früherer Lieferungen; die Menge überstieg den Bedarf bei weitem, weshalb alleine im Jahr 2023 Impfstoff im Wert von vier Milliarden Euro vernichtet werden musste.[1] Aufklärung darüber, wie der für Pfizer exzellente, für die EU beispiellos teure Vertrag zustande gekommen war, ist nicht wirklich möglich: Von der Leyen hat den Vertrag mit Pfizer-Chef Albert Bourla persönlich in Textnachrichten ausgehandelt, sieht sich nun aber außerstande, die Nachrichten aufzufinden. Die Kommission war darüber hinaus nicht bereit, die Verträge einsehbar zu machen.
Mit ihrer exzessiven Geheimhaltungspraxis brechen die EU-Kommission und ihre Präsidentin laut dem Urteil des EuG EU-Recht; sie müssen nun Transparenz herstellen.[2]

Mit Stimmen der EKR

Das EuG-Urteil hat sich offenkundig nicht auf von der Leyens Wiederwahl ausgewirkt; für die CDU-Politikerin stimmten am gestrigen Donnerstag 401 der 720 Abgeordneten im EU-Parlament – eine solide Mehrheit. Grundsätzlich stützt sich von der Leyen schon seit Jahren auf die Fraktionen der Europäischen Volkspartei (EVP), der Liberalen (Renew) und der Sozialdemokraten, die zusammen genau 401 Abgeordnete zählen. Allerdings votierten laut Berichten rund 15 Sozialdemokraten und rund 15 Liberale, darunter die Parlamentarier der FDP, nicht für sie.[3] Bereits vorab waren Beobachter zudem davon ausgegangen, dass Frankreichs Konservative (Les Républicains) nicht für sie stimmen würden.[4] Von der Leyen hatte sich deshalb um Stimmen aus der Grünen-Fraktion bemüht – offensichtlich mit Erfolg. Unklar ist, wie viele Abgeordnete der Rechtsaußenfraktion der Europäischen Konservativen und Reformer (EKR) für sie stimmten. Dies tun zu wollen, hatten vorab alle jeweils drei Abgeordneten der Nieuw-Vlaamse Alliantie (N-VA) aus Belgien sowie der Občanská demokratická strana (ODS, Demokratische Bürgerpartei) aus Tschechien angekündigt. Sie gehören der EKR-Fraktion an, die von den extrem rechten Fratelli d’Italia (FdI, Brüder Italiens) der italienischen Ministerpräsidentin Giorgia Meloni geführt wird.

Mit Stimmen der EVP

Eine Kooperation mit der EKR-Fraktion galt noch vor wenigen Jahren als ausgeschlossen; ihre Parteien sind Teil der äußersten Rechten, kommen in vielen Fällen – so die FdI – direkt aus dem Milieu des Neofaschismus oder sind für offen rassistische Ausfälle führender Mitglieder bekannt wie etwa die Partei Die Finnen. Heute gilt die EKR im Europaparlament als legitimer Kooperationspartner.
Das hat am Mittwoch die Wahl des Parlamentspräsidiums bestätigt. Erhielt unmittelbar nach der vorigen Europawahl im Jahr 2019 noch kein EKR-Abgeordneter einen Posten an der Parlamentsspitze, so war dies vor zweieinhalb Jahren mit Roberts Zīle von der lettischen EKR-Partei Nationale Allianz erstmals der Fall: Zīle wurde Anfang 2022 zu einem der 14 Europaparlaments-Vizepräsidenten gewählt. Am Mittwoch wurde er wiedergewählt; zudem erhielt die EKR mit Antonella Sberna (FdI) einen zweiten Vizepräsidentenposten. Beide bekamen laut Insiderberichten auch Stimmen aus der EVP.[5]
EVP-Abgeordnete votierten zudem dafür, dass Kosma Złotowski von der EKR-Partei PiS (Prawo i Sprawiedliwość) einen der fünf Quästorenposten erhielt, die dem Präsidium angehören und dort für Verwaltungsfragen zuständig sind.
Damit sind der cordon sanitaire bzw. die einstige „Brandmauer“ gegenüber der EKR niedergerissen.

„Partner für die Gesetzgebung“

Als Architekt dieser Entwicklung gilt der EVP-Partei- und Fraktionsvorsitzende Manfred Weber (CSU). Weber hatte sich bereits im Sommer 2022, dies damals noch gegen erhebliche innere und äußere Widerstände, für Italiens Rechtsaußenkoalition aus Forza Italia (EVP), Fratelli d’Italia (EKR) und Lega (heute: Patrioten für Europa) stark gemacht (german-foreign-policy.com berichtete [6]). Er hat sich jetzt dafür eingesetzt, dass die EKR sowie ihre Mitgliedsparteien im Europaparlament von der EVP als kooperationsfähig erachtet werden. Die Wahl dreier EKR-Abgeordneter ins Präsidium des Europaparlaments mit EVP-Stimmen war die Probe aufs Exempel dafür; sie ist – aus Webers Sicht – gelungen. Die EKR-Fraktion könne nun „als potentielle[r] Partner für die künftige Gesetzgebung“ gelten, konstatiert ein Insider; der cordon sanitaire sei damit neu definiert.[7] Zwar gab der EKR-Kovorsitzende Nicola Procaccini (FdI) an, die FdI hätten am Donnerstag nicht für von der Leyen gestimmt. Doch ist unklar, woran das liegt. Meloni hatte Berichten zufolge verlangt, ein FdI-Politiker müsse einen bedeutenden Posten in der EU-Kommission erhalten; sie und von der Leyen hatten sich am Montag darüber ausgetauscht. Sollte ein FdI-EU-Kommissar noch nicht durchsetzbar sein, wäre nicht mit Stimmen der FdI für von der Leyen zu rechnen. Prinzipiell aber sind alle Voraussetzungen für eine FdI-EVP-Kooperation erfüllt.

Stärker denn je

Noch aufrechterhalten wird der cordon sanitaire gegen die Fraktion der Patrioten für Europa (PfE), die vom französischen Rassemblement national (RN) unter Jordan Bardella geführt wird und der unter anderem der ungarische Fidesz von Ministerpräsident Viktor Orbán, der belgische Vlaams Belang (VB), die italienische Lega, die niederländische Partij voor de Vrijheid (PVV), die spanische Vox, die portugiesische Chega, die tschechische ANO 2011 und die FPÖ angehören. Die PfE-Parteien stellen einen Ministerpräsidenten (Orbán), sind in zwei Staaten an der Regierung (Italien, Niederlande), waren Teil einer Regierung (ANO 2011, FPÖ) oder sind stärkste Kraft der Opposition (RN). Mit 84 Abgeordneten bilden sie aktuell die drittgrößte Fraktion im Europaparlament vor der Rechtsaußenfraktion EKR, die über 78 Abgeordnete verfügt. Hinzu kommt die von der AfD geführte Fraktion Europa Souveräner Nationen (ESN), die allerdings nur 25 Abgeordnete hat und durchweg randständigen Parteien entstammt.

Mit der dritt- sowie der viertgrößten Parlamentsfraktion, von denen eine – die EKR – mittlerweile als möglicher Kooperationspartner gilt, stellen die Parteien der extremen Rechten nun eine Kraft im Europaparlament dar, die erhebliches politisches Potenzial besitzt.

 

 

 

[1] Daniel Steinvorth: Umstrittener Impfstoff-Deal: Nun ermitteln Europas Korruptionsjäger gegen Ursula von der Leyen. nzz.ch 03.04.2024.

[2] Gericht: EU-Kommission mauerte. Frankfurter Allgemeine Zeitung 18.07.2024.

[3] Thomas Gutschker: Mit den Grünen zum Sieg. Frankfurter Allgemeine Zeitung 19.07.2024.

[4] Reconduite à la tête de la Commission, von der Leyen promet “une Europe forte”. msn.com 18.07.2024.

[5] Thomas Gutschker: Die EVP definiert den Cordon Sanitaire. Frankfurter Allgemeine Zeitung 18.07.2024.

[6] S. dazu „Wächter der pro-europäischen Politik“.

[7] Thomas Gutschker: Die EVP definiert den Cordon Sanitaire. Frankfurter Allgemeine Zeitung 18.07.2024.

Moskau in Schussweite

Ven, 12/07/2024 - 10:42

Deutschland beteiligt sich an der Entwicklung einer europäischen Mittelstreckenwaffe mit Reichweite bis Russland. Übergangsweise werden  US-Marschflugkörper in Deutschland stationiert.
NATO koordiniert die Aufrüstung der Mitgliedstaaten.



Aus Berichten des zu Ende gegangenen NATO-Gipfels in Washington geht hervor, dass. Deutschland  sich an der Entwicklung neuer Mittelstreckenwaffen beteiligt,  die Ziele in Russland erreichen können, darunter vermutlich Moskau.
Demnach haben Deutschland, Frankreich, Italien und Polen beschlossen, gemeinsam einen Marschflugkörper oder eine Hyperschallrakete zu entwickeln, die eine Reichweite von rund 2.000 Kilometern haben könne.
 Damit gerät bei einer Stationierung der Waffe in der Bundesrepublik die russische Hauptstadt ins Visier. Übergangsweise sollen US-Marschflugkörper vom Typ Tomahawk sowie Lenkraketen SM-6 in Europa stationiert werden, vermutlich in Wiesbaden. Washington will dort zudem Hyperschallwaffen vom Typ Dark Eagle aufstellen, sobald deren Entwicklung abgeschlossen ist. Der NATO-Gipfel in Washington knüpfte an die Gipfel in Madrid (2022) und in Vilnius (2023) an: Hatte das Militärbündnis in Madrid ein neues Streitkräftemodell, in Vilnius neue Verteidigungspläne beschlossen, so diente der Gipfel in Washington dazu, die Pläne nun zu konkretisieren – den Aufbau rüstungsindustrieller Kapazitäten und die Entwicklung neuer Waffen inklusive.

Die Rüstungsprioritäten der NATO

Bei der Konkretisierung der Planungen geht es nicht nur darum, militärische Strukturen auszubauen und in Manövern Kriegsszenarien zu üben, sondern auch darum, in der Rüstung neue Kapazitäten zu schaffen und neue militärische Fähigkeiten zu erschließen. Dazu wurde in Washington eine Vereinbarung mit dem Titel NATO Industrial Capacity Expansion Pledge geschlossen, die im Wesentlichen vorsieht, die Rüstungsindustrie zu stärken sowie neue Fabriken zu errichten – dies nach Möglichkeit in multinationaler Kooperation.[1] Die NATO will dies künftig koordinieren, womit sie freilich in direkte Rivalität mit der EU gerät, die ihrerseits danach strebt, sich eine eigenständige rüstungsindustrielle Basis zu verschaffen.[2] Die Rüstungsproduktion sei ein „Teil der Verteidigungsplanung“, wird ein hochrangiger NATO-Beamter zitiert.[3] Um eine möglichst straffe Koordination sicherzustellen, sollen die Mitgliedstaaten ihre Rüstungsmaßnahmen einmal im Jahr nach Brüssel melden. Zu den Prioritäten gehöre es, heißt es unter Berufung auf den NATO-Beamten, die Logistik „für die schnelle Verlegung von Einheiten“ zu optimieren, zudem „moderne IT für Kommunikation und Aufklärung“ zu beschaffen, „erheblich größere Munitionsbestände“ aufzubauen und „Schläge in der Tiefe mit Abstandswaffen“ zu ermöglichen.

Mittelstreckenwaffe aus der EU

Mit Letzterem werden sich Deutschland, Frankreich, Italien und Polen gemeinsam befassen. Eine entsprechende, noch recht allgemein gehaltene Absichtserklärung zur Entwicklung von Waffen, mit denen man Ziele auf feindlichem Territorium weit hinter der Front treffen kann, unterzeichneten die Verteidigungsminister der vier Staaten am Rande des NATO-Gipfels. Konkret gehe es darum, dies berichtet ein gewöhnlich gut informierter Korrespondent, „eine landgestützte Waffe mit einer Reichweite von deutlich mehr als tausend Kilometern zu entwickeln“. Dabei könne es sich um „einen Marschflugkörper“ oder auch „eine ballistische Rakete“ handeln, wobei letztere, sollte man sich auf sie einigen, auch als Hyperschallrakete konstruiert werden könne.[4] „Derlei Waffen könnten von Deutschland aus auf russische Ziele gerichtet werden“, heißt es weiter – „bei einer Reichweite von 2.000 Kilometern auch auf Moskau“. In Berlin gehe man davon aus, dass sich nach dem Regierungswechsel in London auch Großbritannien an dem Vorhaben beteiligen werde. Als Modelle, die dabei als Anknüpfungspunkte genutzt werden könnten, werden der deutsche Taurus, der britische Storm Shadow und der französische Scalp genannt. Deren Reichweite liegt freilich bloß bei wenig mehr als 500 Kilometern.

Tomahawk als Übergangslösung

Weil die Entwicklung der neuen Waffe – unabhängig davon, ob es sich bei ihr um einen Marschflugkörper oder um eine Hyperschallrakete handelt – voraussichtlich eine Menge Zeit benötigen wird, ist zunächst eine Übergangslösung vorgesehen. Dazu werden die Vereinigten Staaten ab 2026 Raketen und Marschflugkörper in Deutschland stationieren. Zum einen handelt es sich um Lenkraketen des Typs SM-6, deren Reichweite mit über 350 Kilometern angegeben wird. Zum anderen ist auch die Stationierung von Tomahawk-Marschflugkörpern vorgesehen, die Ziele in einer Entfernung von bis zu 2.500 Kilometern erreichen können; damit gerät bei einem Standort in Deutschland auch Moskau ins Visier. Anders als die neu zu entwickelnde europäische Waffe werden die übergangsweise stationierten US-Waffen unter US-Kontrolle bleiben und im Kriegsfall von US-Einheiten abgeschossen werden. Als der wahrscheinlichste Standort gilt Wiesbaden, wo die Vereinigten Staaten schon im Jahr 2021 – also vor Beginn des Ukraine-Kriegs – ihre Second Multi-Domain Task Force aktiviert haben. Ein Dozent der Münchner Bundeswehr-Universität wird mit der Einschätzung zitiert, eine Stationierung von Waffen wie SM-6 und Tomahawk sei angesichts der Fähigkeiten der Second Multi-Domain Task Force „zu erwarten“ gewesen.[5]

Ausstieg aus dem INF-Vertrag

Dass die Stationierung der Tomahawk-Marschflugkörper zulässig ist, ist dem Auslaufen des INF-Vertrags geschuldet, den Washington und Moskau am 8. Dezember 1987 geschlossen hatten. Er sah die vollständige Abrüstung aller landgestützten Raketen mit einer Reichweite von 500 bis 5.500 Kilometern vor. Das Ende des Vertrags wird heute allgemein Russland in die Schuhe geschoben. Tatsächlich hat Washington bereits Anfang 2019 offen eingeräumt, schon Ende 2017 mit der Entwicklung neuer Mittelstreckenraketen begonnen zu haben. Recherchen der International Campaign to Abolish Nuclear Weapons (ICAN) haben belegt, dass das Pentagon bereits im Oktober 2018 begann, Aufträge im Wert von mehr als 1,1 Milliarden US-Dollar für Entwicklung und Bau neuer Raketen zu vergeben. Am 1. Februar 2019 kündigte die Trump-Administration den INF-Vertrag; im März 2019 bestätigte das Pentagon, man beginne nun mit dem Bau neuer Mittelstreckenraketen.[6] Demnach lag der Ausstieg aus dem Vertrag eindeutig im US-Interesse.

Gegen China

Ursache für den US-Ausstieg aus dem INF-Vertrag war damals Berichten zufolge der Plan, US-Mittelstreckenraketen in größtmöglicher Nähe zu China zu stationieren (german-foreign-policy.com berichtete [7]). Im November 2023 kündigte der Kommandeur der U.S. Army Pacific, General Charles Flynn, an, die Vereinigten Staaten würden im Jahr 2024 sogenannte Typhon-Batterien in die Asien-Pazifik-Region verlegen; dabei handelt es sich um Batterien, von denen etwa Tomahawk-Marschflugkörper abgeschossen werden können.[8] Im April verlegten die Vereinigten Staaten erstmals eine Typhon-Batterie im Rahmen eines Manövers in den Norden der Philippinen, von wo aus mit Tomahawks große Teile Südchinas attackiert werden können.[9] Hieß es zunächst aus den philippinischen Streitkräften, die Typhon-Batterien würden in den Philippinen bleiben, so wird nun berichtet, sie sollten im September wieder abgezogen werden. Doch könnten sie jederzeit erneut in den Norden der Philippinen verlegt werden.[10] Möglich ist dies dank der Aufkündigung des INF-Vertrags.

 

[1] NATO Industrial Capacity Expansion Pledge. nato.int 10.07.2024.

[2] S. dazu Auf dem Weg in die Kriegswirtschaft.

[3], [4] Thomas Gutschker: Eine neue Waffe, die Moskau treffen könnte. faz.net 11.07.2024.

[5] Nils Metzger: Warum die USA Raketen bei uns stationieren. zdf.de 11.07.2024.

[6] S. dazu Abschied vom INF-Vertrag (III).

[7] S. dazu „Ein Alptraumszenario für China“.

[8] Ashley Roque: Army’s new Typhon strike weapon headed to Indo-Pacific in 2024. breakingdefense.com 18.11.2023.

[9] Laurie Chen, Mikhail Flores: China’s defence ministry condemns US missile deployment in Philippines. reuters.com 31.05.2024.

[10] Seong Hyeon Choi, Sylvie Zhuang: Why is the US typhon missile system being withdrawn from the Philippines? scmp.com 05.07.2024.

Chinesische E-Automobile - ihre Marktentwicklung, Schutzzölle und die Gegenmaßnahmen

Ven, 12/07/2024 - 06:08

China hat seine weltweiten Automobil-Verkäufe signifikant steigern können.
Chinesische Hersteller von Elektrofahrzeugen dringen verstärkt in große Schwellenländer wie Brasilien und Russland und in den Nahen Osten vor.



Nach den Rückschlägen durch die höheren Zölle in den USA und jüngst der Europäischen Union lenken die Automobilhersteller Chinas ihre Exporte auf andere Ziele um.

Die Automobil-Lieferungen  von batterieangetriebenen Fahrzeugen aus chinesischer Produktion an Käufer in den Ländern von Brasilien bis zu den Vereinigten Arabischen Emiraten (VAE) nehmen in besonderem Maße zu.

Dabei sind es vor allem die elektrisch angetriebenen chinesischen Automobile, insbesondere der boomartige Anstieg der Exportanteile der Marke BYD, die auf den internationalen Märkten aufgrund ihres vergleichbar günstigen Preis-Leistungs-Verhältnisses eine hohe Akzeptanz erreichen.(1)

Erwähnt sei nur am Rande die nicht zu übersehene Markenwerbung des Turniersponsors BYD bei den Spielen der Fussball-Europameisterschaft. Wer hätte gedacht, dass neben den Fussball-Interessierten selbst die vielen europäischen Politik-Repräsentanten und möglicherweise Anhänger protektionistischer Politik bei nahezu jedem Spiel chinesische Markenwerbung ertragen oder genießen konnten.

E-Autos chinesischer Bauart

Chinesische Elektroautos gewinnen zunehmend an Bedeutung auf dem deutschen Markt. Mehrere Hersteller wie BYD, MG, Nio, Xpeng und Aiways bieten bereits Modelle in Deutschland an. Diese Fahrzeuge zeichnen sich zumeist durch moderne Technologie, attraktive Preise und hohe Reichweiten aus. Trotz anfänglicher Skepsis bezüglich Qualität und Sicherheit schneiden viele chinesische E-Autos in Crashtests gut ab. Der Marktanteil ist noch gering, wächst aber stetig.
2023 machten chinesische Marken 5,5% der zugelassenen Elektrofahrzeuge in Deutschland aus.
Allerdings werden sich die von der EU verhängten   Strafzölle von bis zu 38,1% auf chinesische E-Autos auf die Zulassungen negativ auswirken. Dies wird die Wettbewerbsfähigkeit dieser Fahrzeuge auf dem deutschen Markt, im wahrsten Sinn des Wortes nachhaltig beeinflussen. Die EU schlägt neben den USA dabei aber eine unvorteilhafte Entwicklung der eigenen Automobilbranche ein, was im Folgenden näher betrachtet wird.

Der weltweit zunehmende Absatz chinesischer E-Automobile

China hat Japan im vergangenen Jahr als weltgrößter Automobilexporteur abgelöst. Die chinesischen Automobilhersteller lieferten 4,91 Millionen Fahrzeuge aus, 58 Prozent mehr als 2022. Davon waren 1,2 Millionen batteriebetriebene Fahrzeuge, ein Allzeithoch und ein Anstieg um 77 Prozent gegenüber 2022.

"Die lebhaften Exporte spiegeln die Widerstandsfähigkeit der chinesischen Automobilindustrie wider. "Die in China hergestellten New-Energy-Vehicles haben dank ihrer hohen Qualität eine wichtige Rolle dabei gespielt, den wachsenden Einfluss des Landes weltweit zu demonstrieren."
Cui Dongshu, Generalsekretär der China Passenger Car Association (CPAC).

So stiegen die Exporte chinesischer Autos nach Brasilien von Januar bis Mai d. J. um mehr als das Sechsfache auf 159.612 Einheiten, während sich die Auslieferungen in den Vereinigten Arabischen Emiraten um 92 Prozent auf 114.530 Fahrzeuge erhöhten.

Nach Angaben des chinesischen Verbands der Automobilhersteller ist China  der größte Autolieferant Rußlands.  So stieg der Absatz von Januar bis Mai d.J. im Vergleich zum Vorjahreszeitraum um 92,8 Prozent auf 438.000 Fahrzeuge an. In den ersten fünf Monaten des Jahres 2024 wurden mehr als 154.000 Elektroautos ausgeliefert, doppelt so viele wie im gleichen Zeitraum des Vorjahres.

Chinesische Elektroautohersteller haben inzwischen den größten Marktanteil in Südostasien. Ihr Anteil wuchs von 47 Prozent im Jahr 2021 auf 74 Prozent im vergangenen Jahr, wie aus einem im Mai veröffentlichten Bericht von Deloitte China hervorgeht.

Die Produktion chinesischer Autos mit E-Antrieb

Bei der Herstellung von Elektroautos haben chinesische Autohersteller nach veröffentlichten Untersuchungen einen enormen Kostenvorteil gegenüber ihren globalen Konkurrenten, Danach ist eine voll entwickelte Lieferkette für die starke Produktionskraft verantwortlich, so Stephen Dyer, Co-Leader im Bereich Automobil und Leiter der Asien-Praxis von AlixPartners. (2)

Ein in China hergestelltes Elektroauto kostet nach Angaben von AlixPartners in der Produktion 35 Prozent weniger als die Fahrzeuge anderer Hersteller.

Umweltfreundlichkeit chinesischer Elektroautos

 Generell tragen chinesische Elektroautos durch ihre Förderung der E-Mobilität zu einer umweltfreundlicheren Zukunft bei. Auf den verfügbaren Informationen basierend stechen einige chinesische Elektroautohersteller durch ihr Engagement für Umweltfreundlichkeit und Nachhaltigkeit hervor:

BYD (Build Your Dreams) gilt als Pionier für umweltfreundliche Technologien.

Das Unternehmen setzt auf innovative Batterietechnologien wie die Blade-Batterie, die eine höhere Energiedichte und längere Lebensdauer bietet. BYD legt besonderen Wert auf nachhaltige, umweltfreundliche und zugleich praktische Mobilitätslösungen. (3)

Die Marke Nio zeichnet sich durch die Verwendung von recycelten und nachhaltigen Materialien in ihren Fahrzeugen aus. Zudem bietet Nio ein innovatives Batteriewechselsystem, das die Nutzungsdauer der Batterien verlängern und somit Ressourcen schonen kann. (4)

Die Marke Aiways setzt bei seinen Modellen U5 und U6 auf effiziente Antriebstechnologien und nachhaltige Materialien im Innenraum. (5)

Es ist wichtig zu beachten, dass die Umweltfreundlichkeit von Elektroautos nicht nur vom Fahrzeug selbst, sondern auch vom Strommix des jeweiligen Landes abhängt, in dem es geladen und gefahren wird.
Generell tragen aber chinesische Elektroautos zu einer umweltfreundlicheren Zukunft bei.

 
Handelsschranken

Bereits im Mai d.J.  kündigte das Weiße Haus in den USA eine Vervierfachung der Zölle auf in China hergestellte Elektrofahrzeuge an, die nun 100 Prozent betragen. (6)

Zu Beginn des Monats Juli traten in der EU, ergänzend zu den 10 % Standardzöllen auf chinesische Importfahrzeuge zusätzliche Schutzzölle von 17,4 bis 37,6 Prozent auf Elektrofahrzeuge chinesischer Hersteller, zumindest  vorläufig, in Kraft.
Die Angelegenheit soll noch mit den zuständigen Zoll – und Handelsbehörden beider Seiten weiterverhandelt werden, dessen endgültiges Ergebnis in vier Monaten erwartet wird.

 Eine Bewertung der angewandten Handelspraktiken

Die chinesischen Behörden haben als Reaktion eine Untersuchung initiiert mit dem Ziel, die Auswirkungen der EU-Handelsschranken gegenüber chinesischen Unternehmen zu bewerten. Der ohnehin brodelnde Handelsstreit dürfte dadurch weiter angeheizt werden. Die Behörden wollen Fragebögen, öffentliche Anhörungen und Vor-Ort-Inspektionen durchführen und die Untersuchung bis zum 10. Januar abschließen.  (7)

Das Handelsministerium der Volksrepublik China (Ministry of Commerce, MOFCOM) ist zuständig für die Regulierung des Binnen- und Außenhandels. In seine Zuständigkeit fallen ebenso Angelegenheiten für die internationale Wirtschaftszusammenarbeit und der Regelung von Import- und Exportangelegenheiten, Handelsverhandlungen, Investitionen und den Schutz geistigen Eigentums im Handelskontext.
Das Mofcom erklärte, dass die initiierten chinesischen Untersuchung auch die Bereiche der EU in Bezug auf chinesische Lokomotiven, Solarpaneele, Windkraftprodukte und Sicherheitskontrollgeräte einschließt.

Wirtschafts-Analysten sind sich darüber einig,  dass eine solche Untersuchung in der Regel den Beginn von Vergeltungsmaßnahmen markiert.

"Es ist nicht das erste Mal, dass China ein solches politisches Instrument einsetzt, und es ist möglich, dass es weitere Zölle auf ausgewählte europäische Waren geben wird".

"Die zersplitterte politische Landschaft bedeutet, dass sich die Beziehungen zwischen der EU und China wahrscheinlich in einer Sackgasse befinden, sich aber nicht wesentlich weiter verschlechtern werden."
Gary Ng, leitender Ökonom bei der Natixis Corporate and Investment Bank.

Lea Zuber, die EU-Wettbewerbssprecherin, betont dazu, dass die Kommission die Einzelheiten der chinesischen Untersuchung prüfe, fügte aber hinzu, dass die EU alle zur Verfügung stehenden Instrumente, einschließlich der Verordnung über ausländische Subventionen, voll ausschöpfen werde.

Generell bleibt festzuhalten, dass handelspolitische Maßnahmen, so wie sie von der EU gegenüber einem der wichtigsten außereuropäischen Handelspartner angewandt werden, seinem Charakter nach einem konservativen Protektionismus entsprechen. Vor allem steht s dieser EU-Protektionismus diametral zur verkündeten europäischen Entwicklung der grünen Industrie, die auch die Förderung des Ausstiegs aus der automobilen Verbrenner-Antriebs-Industrie einbezieht.

Es ist also davon auszugehen, dass China seinerseits alle notwendigen Maßnahmen ergreifen wird, um seine eigenen Rechte und Interessen angesichts der Anwendung missbräuchlicher Regeln zu schützen.

"Dies ist ein normaler Schritt in Handelsverhandlungen und wahrscheinlich eine Reaktion Pekings auf die jüngsten Gespräche mit Brüssel über Zölle auf Elektrofahrzeuge",
sagte Ding Shuang, Chefökonom für Greater China, Standard Chartered.

Mei Yuan, Assistenzprofessor für Wirtschaftswissenschaften an der Singapore Management University, merkt dazu an, dass die chinesische Untersuchung der EU im Einklang mit den Ausgleichsregeln der Welthandelsorganisation stehe:
"Wir wissen nicht, ob die EU strenger vorgegangen ist oder sogar zwischen den chinesischen Unternehmen differenziert hat, deshalb muss (Mofcom) die Situation untersuchen".

Unabhängig vom Ausgang der chinesischen Untersuchungen bleibt festzuhalten, dass höhere Zölle, die die USA und die EU auf chinesische Elektroautos erheben, chinesische Unternehmen dazu veranlassen werden,  ihren Absatz-Fokus auf die Schwellenländer zu verlagern, wo chinesische Autos der globalen Konkurrenz derzeit überlegen sind und vor allem einen konsumorientierten Preisvorteil bieten.
Damit soll aber nicht der individuellen Automobilität im globalen Süden per se das Wort geredet werden; aber auch dort ist die individuelle Mobilität ein Gradmesser für aufkommenden und nachgefragten Wohlstand. Einschränkend ist dabei allerdings auf die damit einhergehende Entwicklung eines  sozialen Einkommens-Ungleichgewichts hinzuweisen, was keinesfalls Zustimmung finden kann.  Aber das ist ein umfassendes sozial-ökonomisches Thema, das hier nicht beantwortet werden kann.


Chinesische E-Automobile auf dem deutschen Automobilmarkt

Derzeit sind mehrere chinesische Elektroautomarken und -modelle auch in Deutschland erhältlich. Hierzu ein paar Informationen zu den weiter oben bereits erwähnten chinesischen E-Automobilen:

BYD (Build Your Dreams) gilt als Vorreiter für umweltfreundliche Technologien.

BYD gilt als der weltgrößte Hersteller von Elektroautos und hat in 2023 sogar Tesla übertroffen.

In Europa setzte BYD in 2023 15.700 Automobile mit Elektro-Antrieb ab. In zwei Jahren ist der Absatz von knapp 100.000 Einheiten geplant.

Das Unternehmen setzt auf innovative Batterietechnologien wie die Blade-Batterie, die eine höhere Energiedichte und längere Lebensdauer bietet. Modelle wie der BYD Dolphin und der BYD Atto 3 zeichnen sich durch gute Energieeffizienz aus.
BYD bietet den Atto 3, den Dolphin, den Seal und die Modelle Han und Tang an.
Der BYD Dolphin gehört auch zu den preiswerteren Modellen auf dem deutschen Markt.
Die Preise sind vergleichsweise wettbewerbsfähig, wobei nach Verkäufer-Aussagen beim Kauf auch andere Faktoren wie Verbrauchskosten, Wiederverkaufswert und Langlebigkeit berücksichtigen sollte. Zugegeben, diese letzten Angaben sind Allgemeinweisheiten zum Automobilmarkt; keinesfalls sollte damit aber der Eindruck einer Reklame für chinesische
E--Automobile entstehen.

Für das Jahr 2026 plant BYD sogar ein eigenes Werk in Ungarn mit einer Kapazität von zunächst 150.000 Einheiten.
BYD wäre dann der erste chinesische Anbieter mit einer eigenen Pkw-Fabrik auf dem europäischen Kontinent. Schutzzölle der EU gegenüber dem Mitgliedsland Ungarn, der chinesische e-Autos im europäischen Automobilmarkt anbietet, wäre vermutlich selbst nach der Regie von EU-Protektionisten mehr als eine komödiantische Einlage.

MG, eine Marke des chinesischen Konzerns SAIC, hat den MG4 Electric, MG5 Electric, MG ZS EV und MG Marvel R Electric im Angebot in Deutschland.

Die Marke Nio verkauft die Modelle ET5, ET7 und EL7. Aiways ist mit den SUV-Modellen U5 und U6 vertreten.

GWM Ora bietet den Ora 03 (früher Funky Cat) an. Weitere verfügbare Modelle sind Seres 3 und Seres 5, Xpeng G9, Zeekr 001, Maxus Euniq 6. (8); (9)

Für 2024 sind trotz der verhängten Schutzzölle weitere Markteintritte chinesischer
E-Automobile in Europa bisher geplant.


Verbrenner-Aus und Strafzölle – wohin zeigt die Industriepolitik der EU?

Wie bereits in einem Artikel Mitte Mai erwähnt, waren EU-Stellen seit langem damit beschäftigt, einem Nachweis der Wettbewerbsverzerrung durch unzulässige Subventionierung chinesischer Elektro-Fahrzeuge zu belegen. In den zurückliegenden acht Monaten, seit diese Untersuchung eingeleitet wurde, haben die verantwortlichen Stellen Chinas mehrere "politische" Angebote an Brüssel gemacht, um den Streit zu beenden. Die Kommission hat stets geantwortet, dass die Untersuchung technischer Natur sei, ausgelöst durch Chinas eigene Subventionen. Die Entscheidung ist nun gefallen und es werden Import- Zölle auf in China hergestellte Elektrofahrzeuge erhoben. (10)

Kritische Ökonomen und auch Branchen-Vertreter der deutschen Automobil-Hersteller haben sich öffentlich und selbstredend ihren eigenen Profitinteressen verpflichtet gegen die Erhebung von Importzöllen und deren Konsequenzen für die eigenen Exportziele in China ausgesprochen. Sie warnen davor, dass eine Verteuerung von E-Fahrzeugen die Klimaziele der EU zurückwerfen und die europäischen Autoprodukte wirtschaftlich nicht mehr wettbewerbsfähig machen könnten.(11, 12)

In einem Interview des iwd, dem Informationsdienst des Instituts der deutschen Wirtschaft, erläutert der Aufsichtsratsvorsitzende Arndt G. Kirchhoff der Kirchhoff-Gruppe, einem weltweit agierenden Automobilzulieferer,  die anzunehmenden Auswirkungen der  Strafzölle auf  die hiesige Automobilindustrie und ihrer  Zulieferer.

Seine Antworten  auf die Fragen nach einer möglichen Rücknahme des Verbrenner-Aus durch die EU-Kommission  und der Erhebung von Schutzzöllen gegenüber preisgünstigen chinesischen E-Autos seien  hier auszugsweise dargestellt:

Frage: Rücknahme des Verbrenner-Aus in der EU ?

Antwort: „Ich halte das für unklug, weil so ein Hin und Her die Verbraucher total verwirrt. Die Frage ist eigentlich eine ganz andere, nämlich die, wie wir klimaneutral Auto fahren. Das geht auch mit einem Verbrenner, indem man ihm CO2-freien Kraftstoff gibt, der regenerativ erzeugt wurde. Dann fährt auch ein Otto- oder Dieselmotor klimaneutral. Das elektrische Fahren, das zurzeit in Europa praktiziert wird, ist nicht CO2-frei, denn der dafür verwendete Strom ist zumeist nicht grün. Der Strom ist in Deutschland in guten Jahren zur Hälfte grün, in Europa insgesamt ist er nicht mal zur Hälfte grün. Wir haben weltweit 1,4 Milliarden Autos mit Verbrenner-Motoren, die werden nicht morgen weg sein. Wenn wir diese Autos mit regenerativen Kraftstoffen nutzen würden, hätte das den schnellsten und größten Umweltnutzen.“

Frage: Schutzzölle auf chinesische E-Autos?
Antwort: „Das ist insbesondere aus deutscher Sicht sehr schlecht, weil wir ein kleines Land sind und unser Wohlstand im Wesentlichen darauf beruht, dass wir mit anderen Ländern handeln. Wenn wir jetzt Handelsbarrieren unterstützen, verbauen wir im Grunde genommen den deutschen Weg des Wirtschaftens. Denn wenn wir in Europa Barrieren aufbauen, dann werden die Handelspartner das auch tun. Und am Ende wird das Produkt für die Verbraucher teurer.“ (13)

Quellen

(1) https://www.scmp.com/business/china-business/article/3270034/chinese-ev-makers-train-sights-middle-east-brazil-russia-after-us-eu-raise-tariffs.

(2) https://www.alixpartners.com/insights/102id44/disruption-in-consumer-products-why-building-a-change-proof-organization-is-es/

(3) https://www.auto-naim.de/blog/die-4-groessten-elektroauto-hersteller-aus-china-zukunftstrends

(4) https://www.cardino.de/blog-posts/chinesische-elektroautos

(5) https://www.cardino.de/blog-posts/chinesische-elektroautos

(6) https://www.isw-muenchen.de/online-publikationen/texte-artikel/5244-100-schutzzoelle-ein-rueckfall

(7) https://www.scmp.com/economy/global-economy/article/3269892/china-probe-eus-trade-barriers

(8) https://www.autoscout24.de/informieren/ratgeber/beste-autos/chinesische-elektroautos/

(9) https://www.carwow.de/automagazin/elektroauto/e-auto-tipps-und-begriffserklaerung/aktuelle-chinesische-elektroautos

(10) https://www.isw-muenchen.de/online-publikationen/texte-artikel/5244-100-schutzzoelle-ein-rueckfall

(11) ) https://www.kleinezeitung.at/wirtschaft/18447769/bmw-chef-zipse-warnt-die-politik-man-schiesst-sich-ins-knie-damit;

(12 https://www.sueddeutsche.de/wirtschaft/strafzoelle-autoindustrie-handelskrieg-usa-china-1.7251371

(13) https://www.iwd.de/artikel/interview-durch-strafzoelle-wird-alles-teurer-625719/?utm_source=nl&utm_medium=email&utm_campaign=kw28-2024&utm_content=interview-kirchhoff-automobilindustrie

 

Einigung in der Bundesregierung: Grüße aus der Mottenkiste statt Fortschrittskoalition

Mar, 09/07/2024 - 16:20

Worklife-Balance ist ein wichtiges Thema in den Betrieben, wie Berichte von Betriebsräten zeigen.
Auszubildende wollen nach Übernahme Nachtschichten vermeiden, Bewerber fordern eine 4-Tage-Woche.
Die Bundesregierung jedoch ignoriert diese Stimmung in den Betrieben.

Die jüngsten Beschlüsse der Bundesregierung scheinen eher aus der Mottenkiste zu stammen, statt von einer selbsternannten „Fortschrittskoalition“:
Steuerfreie Überstundenbezahlung und Arbeiten trotz Renteneintritt scheinen Ideen gegen den Fachkräftemangel zu sein.

Nach wochenlangen Verhandlungen haben sich Bundeskanzler Scholz (SPD), Bundeswirtschaftsminister Habeck (Grüne) und Bundesfinanzminister Lindner (FDP) auf einen Nachtragshaushalt für das laufende Jahr sowie den Etatentwurf für 2025 geeinigt, meldet zeit.de
https://www.zeit.de/politik/deutschland/2024-07/bundeshaushalt-einigung-ampel-koalition-spd-saskia-esken-lars-klingbeil

Das Bundeskabinett soll den Entwurf am 17. Juli beschließen, anschließend geht er an den Bundestag.

Medienberichten zufolge will die Regierung Überstunden und Arbeiten über das Renteneintrittsalter hinaus attraktiver machen.
Dafür sollen offensichtlich auf bezahlte Überstunden keine Steuern und Abgaben mehr bezahlt werden. In Betrieben mit Tarifbindung gelte das für Mehrarbeit oberhalb von 34 Wochenarbeitsstunden, in Firmen ohne Tarifvertrag ab der 41. Arbeitsstunde, meldet tagesspiegel.de https://www.tagesspiegel.de/politik/bericht-uber-plane-der-ampelkoalition-empfanger-von-burgergeld-mussen-offenbar-arbeitsweg-von-bis-zu-drei-stunden-akzeptieren-11976677.html

Die Beschäftigten haben hierzulande im vergangenen Jahr laut Tagesschau 1,3 Milliarden Überstunden geleistet (www.tagesschau.de/wirtschaft/arbeitsmarkt/arbeit-deutschland-ueberstunden-100.html).
Demnach fielen pro Arbeitnehmer 2023 durchschnittlich 31,6 Überstunden an, allerdings war laut Bericht mehr als die Hälfte der geleisteten Überstunden 2023 unbezahlt.
Dies vor allem auch deshalb, weil die Bundesregierung bis heute eine Entscheidung des Bundesarbeitsgerichtes nicht umsetzt, nach der Arbeitszeiten zu erfassen sind.
Gesetz dazu fehlt bis heute.

Rentner, die weiter arbeiten, soll demnach nicht nur die Auszahlung des Arbeitgeberanteils zur Arbeitslosen- und Rentenversicherung erhalten können, sondern zusätzlich eine Renten-Aufschub-Prämie wählen können. Dabei erhalte der über die Altersgrenze hinaus arbeitende Mitarbeiter eine Einmalzahlung in Höhe der Rente, die ihm sonst ausgezahlt worden wäre.

Fachkräftemangel setzt Unternehmen unter Druck, Ideen zur Verbesserung der Arbeitsbedingungen zu entwickeln: 45 Unternehmen und Organisationen testen die Vier-Tage-Woche. Ein halbes Jahr lang wird die 100-80-100-Variante getestet: 100 Prozent Leistung in 80 Prozent der Zeit für 100 Prozent Lohn.
Initiiert wurde das Projekt von der Unternehmensberatung Intraprenör, die wiederum mit der Organisation „4 Day Week Global“ zusammenarbeitet. Mehr als die Hälfte der teilnehmenden Unternehmen hat zwischen zehn und 49 Beschäftigte. Am stärksten vertreten ist die IT-Branche (14 Prozent), aber auch Handwerk und Industrie (je sechs Prozent). https://www.telepolis.de/features/Die-Vier-Tage-Woche-Ein-neues-Modell-fuer-die-Zukunft-der-Arbeit-im-Test-9630436.html

Manche Unternehmen schaffen Fakten. Auf einen freien Freitag setzt unter anderem die Volksbank Kaiserslautern: Bereits im Sommer 2022 führte die Bank eine 34,5-Stunden-Woche ein und senkte die Arbeitszeit somit um 4,5 Stunden wöchentlich.
Der Lohn blieb gleich. Die Zahl der Bewerber auf freie Stellen stieg seitdem.

Die Entwicklung bietet Gewerkschaften Anknüpfungspunkte für Forderungen nach kollektiver Arbeitszeitverkürzung.

Von der Bundesregierung wird es dazu wohl keine Unterstützung geben.

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