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Aktualisiert: vor 3 Stunden 1 Minute

Waldliebe als Geschäftsmodell. Gelüftet: Das Geheimnis von Wohllebens Baum-Geheimnis

Do, 25/07/2024 - 16:29

In den Ausführungen „Das Geheime Leben der Bäume“ schreibt Deutschlands bekanntester Förster, Peter Wohlleben, beliebt bei vielen Umwelt- und Naturschutzverbänden, Bäumen menschliche Eigenschaften zu. Da stillen Mutterbäume ihren Nachwuchs, sie kuscheln miteinander, und der Wald soll wieder zu Urwald werden und nur nachrangig zur Holzerzeugung dienen. Kritische Kommentare über diese Denkweise richten sich gegen neue ideologische Begründungen gegen die Wald-Erzeugung von Holz.

Peter Wohlleben ist Deutschlands bekanntester Förster und Autor, weit über Deutschland hinaus seit Erscheinen seines Buches „Das Geheime Leben der Bäume“. Seine Bücher verkauften sich bisher millionenfach und in mehr als vierzig Sprachen übersetzt. Er ist bekannt und beliebt in Talkshows und Medien und hat einen großen Kreis um sich geschart in den Umwelt- und Naturschutzverbänden. Da werden Bäumen menschliche Eigenschaften zugeschrieben, dass Mutterbäume ihren Nachwuchs stillen, dass sie miteinander kuscheln, der Wald wieder zu Urwald oder mindestens zu einem weitgehend dem natürlichen Urwald ähnlicher Naturwald werde und nur nachrangig zur Holzerzeugung dienen soll.


Nun hat sich Wilhelm Bode zu Wort gemeldet, streitbarer Jurist und Forstakademiker, einst Leiter der saarländischen Forstverwaltung und der Obersten
Naturschutzbehörde. Denn „hier werde mit neuer ideologischer Begründung gegen die Wald-Erzeugung von Holz mobilisiert“. Wilhelm Bode ist engagierter Verfechter des auf Stetigkeit von Waldökosystemen in Raum und Zeit aufbauenden Dauerwald-Konzepts von Alfred Möller.
Der hatte das Konzept bereits in den ersten beiden Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts ausgearbeitet und stieß damit auf harten, anhaltenden Widerstand konservativer Forstwirtschaft.
Dennoch wird nach dem Konzept erfolgreich gewirtschaftet, zumeist von Privatwaldbetrieben. Bemerkenswert ist, dass Peter Wohlleben (gemeinsam mit Pierre Ibisch) zwar sein neuestes Buch „Waldwissen“ Möller gewidmet hat, aber das Konzept nur bruchstückhaft aufgreift und kein Wort verliert zu damit erfolgreich arbeitenden Betrieben.
Das sei aber an dieser Stelle nur erwähnt.
Zurück zu Bode´s Kritik. In seinem Essay geht es hart zur Sache. Mit Blick auf die Geschäftstätigkeit Wohllebens merkt er an, dass dieser sich hier für „waldliebende Bürger sowie kommunale Waldbesitzer – und gerne auch für die produzierende Wirtschaft – zu saftigen Preisen eine gänzlich neue Marktnische eröffnet habe“.
 Auf den Spuren für den Markterfolg des Bestsellers kommt Bode zu dem Ergebnis, dass es hier „eher unwahrscheinlich ist, dass es sich dabei um einen Zufallserfolg handelte“,
sondern um einen, der „marktstrategisch gezielt konstruiert und angegangen wurde“.
Dafür wird „die romantische Waldliebe der Deutschen angesprochen, indem er den Bäumen Sprache und Gefühle andichtet“.
Diese Zuschreibung menschlicher Eigenschaften gegenüber Bäumen, Tieren oder Naturgewalten, der sogenannte Anthropomorphismus, ist – so auch Bode - weltweit Bestandteil aller großen Religionen und hat breiten Eingang in die Alltagskulturen aller Völker gefunden.

Das dürfte das große Echo auf sein Buch erklären. Mit solchen Zuschreibungen setzt sich eine jüngst veröffentlichte Literaturstudie von 35 führenden europäischen und nordamerikanischen Ökologie- und Waldbauwissenschaftlern auseinander. Deren Ergebnisse teilt Wilhelm Bode und verweist Wohllebens menschliche
Verhaltenszuschreibungen von Bäumen ins Reich von „Fake-News“, Fabeln und Märchen. Die Studie befasst sich mit der Frage, „inwieweit über die Mykorrhizanetzwerke (das
Wurzelnetzwerk der Bäume, der Verf.) ein erheblicher Kohlenstofftransfer („Nahrungstransfer“, der Verf.) von „Mutterbäumen“ auf ihre Nachkommen und nahe
gelegene Sämlinge stattfindet“. Diese Behauptung wurde verneint.
 "Jüngste Übersichten zeigen, dass die Beweise für das „Mutterbaumkonzept“ nicht schlüssig oder gar nicht vorhanden sind“. Trotz dieser Ergebnisse werden aber, da ist sich der Rezensent sicher, die Diskussionen zur Lebensgemeinschaft der Waldbäume und möglichen Interaktionen von gleichen Baumarten untereinander und zwischen unterschiedlichen Baumarten weitergehen.
Pflanzen reagieren auf Änderungen ihrer biotischen und abiotischen Umwelt mit mannigfaltigen physiologischen und morphologischen Anpassungen.
Insgesamt geht es letztlich darum, nüchtern und sachlich – frei von Esoterik - zu erforschen, wie sich Pflanzen im Rahmen von Arterhalt und Konkurrenz behaupten und weiterentwickeln können.
Schlussendlich kommt Wilhelm Bode zu einem harten Urteil über Peter Wohlleben: „Er macht die begründete Kritik an der realexistierenden Forstwirtschaft, die natürlich primär der Holzerzeugung dient und auch in Zukunft dienen muss, in Deutschland unglaubwürdig, ja unmoralisch.
Er hilft mit seinem Vorgehen eher den Gegnern einer, im bestehenden Klimawandel dringend gebotenen, Waldreform.….

Der Einsatz gilt für nutzbare Wälder, die dauerhaft dem Klimawandel standhalten und biologisch effizient das Nutzholz der Zukunft zu erzeugen, da es der beste erneuerbare Rohstoff ist, den wir haben, und der sich biologisch nachhaltig in Dauerwäldern erzeugen lässt“.

 

Literaturhinweis

Wilhelm Bode: Waldliebe als Geschäftsmodell: Gelüftet: Das Geheimnis von Wohllebens Baum-Geheimnis,  Juli, 2024

NATO-Jubiläumsgipfel – stramm auf Kriegskurs

Do, 25/07/2024 - 07:12

Grund zum Jubeln hatten auf dem diesjährigen NATO-Jubiläumsgipfel nur Rüstungskonzerne und Kriegsstrategen.
Schon im Vorfeld erteilte die NATO der ukrainischen Regierung die Erlaubnis, mit westlichen Waffen Ziele in Russland anzugreifen; offensichtlich inclusive russische Frühwarnsysteme.
Ohne jede öffentliche Diskussion hat der deutsche Bundeskanzler Olaf Scholz dann beim NATO-Gipfel zugestimmt, US-Mittelstreckenraketen in Deutschland zu stationieren, die auch Moskau erreichen können.
Der Weg der Ukraine in die NATO sei unumkehrbar, wurde im Schlussstatement festgehalten.

 

Nicht nur weitere zig Milliarden wurden der Ukraine zugesagt, auch F16 Kampfflugzeuge und weitreichende Waffensysteme.
Zur Koordinierung des Waffeneinsatzes soll ein neues 700-köpfiges NATO-Kommando in Wiesbaden eingerichtet werden.
Damit werden weitere Eskalationsschritte gemacht, die uns einem Atomkrieg näherbringen.


Keine Mittelstreckenraketen! Eskalationsspirale jetzt beenden und abrüsten!

So lautet die Forderung der Naturwissenschaftlerinnen Initiative (NATWIS Verantwortung für Frieden und Zukunftsfähigkeit) in einer Erklärung:

„Bei ihrem 75. Geburtstag in Washington beschwor die NATO den Geist des Kalten Krieges. Um ihre Existenz zu rechtfertigen und die westliche Hegemonie unter Führung der USA gewaltsam aufrecht zu erhalten, riskieren sie einen Aufrüstungskurs, der die Welt an den Rand des Atomkriegs bringt.

Dazu passt die beim Gipfel von Bundeskanzler Olaf Scholz unterstützte Erklärung vom 10. Juli 2024, ab 2026 in Deutschland Mittelstrecken der USA zu stationieren, die Ziele in Russland treffen können“.

INF-Vertrag wurde entsorgt

Der INF-Vertrag von 1987 enthielt das Verbot, Mittelstreckenraketen mit einer Reichweite von 500 bis 5500 km und Abschussvorrichtungen in Europa zu stationieren.
Dieser Vertrag wurde 2019 durch den früheren US-Präsidenten Donald Trump aufgekündigt. Der INF-Vertrag war für die US-Regierung ohnehin ein Hindernis für die Entwicklung und Stationierung eigener Mittelstreckenraketen in verschiedenen Regionen, insbesondere in der Pazifikregion gegen China und in Europa gegen Russland gerichtet.

In einer Analyse der Informationsstelle Militarisierung (IMI) aus Tübingen weist auf das Bedrohungspotential dieser Waffen hin:

„…Drastisch beschrieb Wladimir Putin seine Sichtweise auf diese Waffensysteme in einer Rede zur Anerkennung der sogenannten Volksrepubliken Donezk und Lugansk am 21. Februar 2022 mit den Worten:
„Nachdem die Vereinigten Staaten den Vertrag über Kurz- und Mittelstreckenraketen gebrochen haben, entwickelt das Pentagon bereits offen eine Reihe von bodengestützten Angriffswaffen, darunter ballistische Raketen, die Ziele in einer Entfernung von bis zu 5.500 Kilometern erreichen können. Wenn solche Systeme in der Ukraine eingesetzt werden, können sie Ziele im gesamten europäischen Gebiet Russlands sowie jenseits des Urals treffen. Tomahawk-Marschflugkörper bräuchten weniger als 35 Minuten, um Moskau zu erreichen, 7 bis 8 Minuten für ballistische Raketen aus der Region Charkow und 4 bis 5 Minuten für Hyperschallraketen. Das nennt man, das Messer an der Kehle zu haben. Und ich habe keinen Zweifel daran, dass sie diese Pläne genauso umsetzen werden, wie sie es in den vergangenen Jahren immer wieder getan haben, indem sie die NATO nach Osten ausdehnen und militärische Infrastruktur und Ausrüstung an die russischen Grenzen verlagern, wobei sie unsere Bedenken, Proteste und Warnungen völlig ignorieren. Nach dem Motto: Entschuldigen Sie, die sind uns wurscht und wir tun, was immer wir wollen, was immer wir für richtig halten…“

Das entschuldigt den russischen Angriff in keiner Weise, aber es zeigt, welcher Stellenwert diesen Waffen in Moskau beigemessen wird. Ob die Systeme nun in der Ukraine oder in Deutschland stationiert werden, dürfte für Russland dabei kaum einen Unterschied machen: Bei Überschallgeschwindigkeit (Wikipedia spricht von bis zu Mach 17, also von rund 21.000km/h) und einer Reichweite von 2.700 bis 3.000 Kilometern wäre die Dark Eagle locker in der Lage, Ziele in Moskau in kurzer Zeit zu erreichen …“

Die Politik der Nato bringt die Welt an den Abgrund eines atomaren Krieges und Deutschland wird, wie schon im Kalten Krieg, zur möglichen Abschussrampe, Zielscheibe und Schlachtfeld eines drohenden Atomkriegs.
Das verantwortungslose Gerede über die Notwendigkeit, Deutschland kriegstüchtig zu machen, ist Teil einer ideologischen Kriegsvorbereitung.

Deutschland muss nicht kriegstüchtig, sondern friedenstauglich werden.

Die Friedensbewegung muss sich lautstark zu Wort melden.

Bei den Aktionen am 6 August, dem Jahrestag des Bombenabwurfes auf Hiroshima und Nagasaki.

Und bei den Aktionen und Demonstrationen rund um den Antikriegstag, dem 1. September.

 

Die innere Zeitenwende. Wie die Liberalen schon heute das Geschäft der AfD betreiben.

Di, 23/07/2024 - 13:41

In einem facettenreichen "Sittengemälde" zeigt der Autor auf,  wie der Rechtsruck aus der Mitte von Gesellschaft und Politik kommt, und wie unter der Maske von Liberalität und "Doppel"Moral über alle Lebensbereiche ein neuer Totalitarismus implementiert wird. Militarisierung treibt die Entdemokratisierung voran, vergiftet die gesellschaftliche Debatte, begründet Macht und Einfluss des militärisch-industriellen Komplexes und bereitet den Boden für rechte bis rechtsextreme Machtoptionen.

 

"Ob SPD oder Grüne: Die Gesellschaft wird rhetorisch derart nach rechts geschoben, dass die AfD nur frohlocken kann."

Wer mit der ultra-rechten Nethanyahu-Regierung paktiert und zum Völkermord an den Palästinenser:innen schweigt, ist in seiner Doppelmoral unglaubwürdig in Bezug auf den Krieg um die Ukraine und den Protest gegen die AfD.
"Alternative gegen Deutschland" titelte jüngst der Spiegel, mit Bezug auf mutmaßliche Zahlungen, die der AfD-Europa-Spitzenkandidat Maximilian Krah aus China erhalten haben soll. Ein Mitarbeiter Krahs wurde wegen Spionageverdacht für die Volksrepublik verhaftet. Der Spiegel erhob den Vorwurf des "Landesverrats". Mal abgesehen davon, dass ganz allgemein auch Deutschland – nicht zuletzt über seine zahlreichen parteinahen Stiftungen – ausgiebig Akteure im Ausland finanziert und dass seine Geheimdienste selbstverständlich spionieren: Wer als liberaler Antifaschist glaubt, es sei ein besonders cleverer Schachzug, heute den Begriff des "Landesverrats" gegen eine rechtsautoritäre Partei zu wenden, die behauptet, nationale Interessen zu verfolgen, der wird sich morgen wundern, dass er damit diese illiberale und nationalistische Rhetorik wieder in der politischen Kultur der Bundesrepublik etabliert haben wird.

Linke können ohnehin die Uhr danach stellen, wann sich Strafverfolgung mit Landes- oder gar Hochverratsvorwürfen auch und vor allem wieder gegen sie wenden wird. Schon in den kommenden Jahren dürfte jeden dieser Bannstrahl treffen, der auch nur leise Zweifel anmeldet und eine offene demokratische Diskussion darüber einfordert, ob Hochrüstung, Deutschlands Nuklearbewaffnung, die einst allein von postfaschistischen Haudegen wie Franz Josef Strauss, heute aber mit einem frisch, fromm, fröhlich, freien "Ja zur Atombombe" von Ulrike Herrmann bis Joschka Fischer gefordert wird, tatsächlich gute Ideen sind und ob eine neue Blockkonfrontation gegen China und die Entsendung der Fregatten "Bayern" und "Württemberg" ins Südchinesische Meer, damit sie dort – wie einst die Kreuzerdivision vor Kiautschou – "Flagge zeigen" für "unsere Werte und Interessen", wirklich dazu beitragen, den Frieden in der Welt zu sichern und globale Menschheitsprobleme wie die soziale Ungleichheit und die Klimakatastrophe zu bewältigen.

Die am Februar 2022 ohne vorherige parlamentarische, geschweige denn breite gesellschaftliche Debatte von Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) verkündete "Zeitenwende" – schon der Form nach ein demokratiepolitischer Skandal – ist in der Tat eine Zeitenwende auch dem Inhalt nach. Sie wendet die Zeit, aber nicht in eine goldene Zukunft; sie dreht die Uhr zurück in die düstere deutsche Vergangenheit.

 

Zeitenwende – zurück in die Vergangenheit

Bei der inneren Zeitenwende geht es zurück in eine Zeit der Soldatendenkmäler, damit eine"glückssüchtige Gesellschaft" (Joachim Gauck, damals Bundespräsident) wieder lerne, die im Kampf fürs Vaterland am Hindukusch Gefallenen als Helden zu verehren. Es geht zurück in die Zeit der "Pflichtjahre", mit der dieselben Leute, die im Rahmen der "Agenda 2010" und der Hartz-Gesetze einst Sprengsätze am sozialen Zusammenhalt der Gesellschaft legten, heute wieder "Gemeinsinn stärken" wollen und vergessen, dass es das "Pflichtjahr" in der deutschen Geschichte schon einmal gab und wann und zu welchem Zweck, nämlich demselben: ideologisch zu kitten, was wirtschafts- und sozialpolitisch zerbrochen wurde.

 

Neue Soldaten braucht das Land

Bei der inneren Zeitenwende geht es weiter um den Wiedereinbruch des Militärischen in die Schulen, wo die Kinder nach Ansicht von Bundesbildungsministerin Bettina Stark-Watzinger (FDP) im Sinne eines "unverkrampften Verhältnisses zur Bundeswehr" und für "unsere Widerstandsfähigkeit" zusammen mit Soldaten der Armee den Kriegsfall üben sollen und wo Jugendoffiziere der Bundeswehr als "Karriereberaterinnen und Karriereberater" auf die Schüler losgelassen werden, um mit den aktuellen Rekordzahlen an Minderjährigen im Kriegsdienst die allgemeinen Rekrutierungsprobleme der Truppe zu lösen.

Aber klar, in Zeiten angespannter Arbeitsmärkte reicht die reine Wehrpflicht aus ökonomischen Gründen, die die Amerikaner "economic draft" nennen, und die an die Stelle der "Bürger in Uniform" die "Prekarier in Uniform" und eine "Unterschichtenarmee" (Michael Wolffsohn) setzte, in der Ostdeutschland zwar keine Generäle, aber nach dem Motto "Arbeitslos oder Afghanistan" fast zwei Drittel der Soldaten im Kriegseinsatz stellte, nicht mehr aus, um bis 2031 das erklärte Ziel eines 203.000 Soldaten starken Heeres zu erreichen.

 Auch die angeworbenen EU-Ausländer sind bislang ausgeblieben, weil die südeuropäische Jugendarbeitslosigkeit eben nicht mehr 50 Prozent oder mehr beträgt wie noch zu Eurokrisenzeiten. Hinzu kommt die Abbrecherquote bei der Grundausbildung. Sie ist eklatant hoch, weil die Realität beim Kommiss nun einmal herzlich wenig mit dem Bild zu tun hat, das die jährlich 35 Millionen verschlingende Armeewerbung an Straßenbahnen, Bushaltestellen und auf YouTube verspricht: Kameradschaft, Rumschrauben an geilen PS-strotzenden Karren, Krieg als Gaming (bloß ohne Resetknopf), Weltreisen, Weltrettung, Lebenssinn.

Neue Soldaten jedoch braucht das Land angesichts der Rekordzahlen nachträglicher Verweigerungen bei Reservisten, deren Lust, sich fürs Vaterland zusammenschießen zu lassen, offenkundig gering ist – untertroffen nur noch von den Anhängern der Grünen, die Umfrage auf Umfrage zwar stabil Waffen und Kriegsdienst für Ukrainer und andere fordern, aber von denen nach einer Forsa-Umfrage nur 9 Prozent bereit wären, Deutschland auch persönlich mit der Waffe zu verteidigen.

Nach Ansicht von Bundesbildungsministerin Bettina Stark-Watzinger (FDP) sollen Schulkinder im Sinne eines "unverkrampften Verhältnisses zur Bundeswehr" und für "unsere Widerstandsfähigkeit" zusammen mit Soldaten der Armee den Kriegsfall üben.

Die innere Zeitenwende bringt indes das Militärische nicht nur in die Schulen zurück, sondern auch an die Universitäten, wo Regierung und konservative Opposition unter dem Jubel linksliberaler Medien gegen das verpflichtende Friedensgebot im Grundgesetz verstoßen und die Zivilklauseln aushebeln wollen, die es als Lehre aus dem Zweiten Weltkrieg bislang verboten haben, Forschung und Wissenschaft in den Dienst der Rüstungskonzerne zu stellen. In Nordrhein-Westfalen ist das mit den Stimmen von CDU und FDP längst geschehen.

Innere Zeitenwende meint auch die Rückkehr der Unterscheidung von "Gut" (wir, na klar!) und "Böse" (die anderen, was sonst?), von (westlicher) "Zivilisation" und (östlicher) "Barbarei", bloß das die Grenze vom "Ostproblem" (Walther Harich) weiter nach Osten verschoben wurde und die Barbarei nicht schon an der Grenze zu Polen beginnt. Es ist die Rückkehr der "Erbfeinde" (einst Frankreich, heute Russland und China) und die Rückkehr der "Bürde des weißen Mannes" (Rudyard Kipling) zur Zivilisierung der Barbaren, die wieder am deutschen Wesen genesen sollen und sich – so jüngst Reinhard Bütikofer, außenpolitischer Sprecher der Grünen im Europaparlament, auf PHOENIX – sich "einfach von uns so verwandeln lassen" müssen, "dass am Ende dann etwas rauskommt, was einfach den Vorstellungen entspricht, die man von uns über das Land und darüber" gehabt hat, "wie die Welt insgesamt organisiert sein soll."

 

Die innere Zeitenwende ist, wenn ein autoritärer Liberalismus, anstatt den Dialog zu suchen, seine Kritiker pauschal unter Verfassungsfeindverdacht stellt.

Die innere Zeitenwende ist auch die Rückkehr des ostentativen Unwillens, in geschichtlichen Kontexten und Kausalzusammenhängen zu denken und dabei auch die Perspektive de "Feinde" einzunehmen (um, wenn schon nicht Völkerverständigung zu befördern, wenigstens der Kriegseskalation vorzubeugen); ja, es ist die Rückkehr der medialen Ächtung bis hin zur Unterstrafestellung des bloßen Versuchs, es zu tun.

Innere Zeitenwende bedeutet die Rückkehr der "vaterlandslosen Gesellen", die schon heute wieder als "fünfte Kolonne" des Feindes bezeichnet und vom Recht auf Versammlungs- und Meinungsfreiheit mit illiberaler Justiz und Polizeigewalt abgehalten werden, während für die Feinde von außen autoritäre Einreise- und Sprechverbote erteilt werden, so wie dies jüngst der renommierten Philosophin Nancy Fraser und dem früheren griechischen Finanzminister Yanis Varoufakis widerfuhr.

Innere Zeitenwende ist, wenn eine Wissenschaftsministerin, sich auf einen Schmähartikel aus der Bild-Zeitung beziehend, massivste Polizeigewalt gegen friedlich protestierende Studentinnen und Studenten rechtfertigt. Und wenn ein autoritärer Liberalismus, anstatt den Dialog zu suchen, seine Kritiker und die, die bloß ihre Bürgerrechte wahrnehmen, pauschal unter Verfassungsfeindverdacht stellt.

Innere Zeitenwende ist, wenn der Bundestag, wie vor zwei Jahren im Rahmen der Verschärfung von Paragraf 130 StGB und der "Holodomor"- Resolution geschehen, über Nacht Gesetze erlässt, die in erheblichem Maße die Freiheit und den Fortschritt der wissenschaftlichen Forschung einschränken und durch Kriminalisierung Gesinnungskonformismus produzieren, wo einst Historiker ergebnisoffen debattierten.

Längst gelten wieder Berufsverbote für die "inneren Feinde", die man durch Gesinnungsprüfungen vom öffentlichen Dienst fernhält, wie beim neuen "Radikalenerlass" in Brandenburg.

 

Die Empörung über die "Remigrations"-Träume der AfD wurde umso unglaubwürdiger dadurch, dass nur wenige Wochen zuvor die Ampelkoalition das europäische Asylrecht geschliffen hat.

Migranten sollen, sofern sie sich nicht zur "freiheitlich-demokratischen Grundordnung" und Staatsräson einer bedingungslosen Unterstützung des israelischen Staates bekennen, egal, welche rechtsextremen Kräfte ihn gerade regieren und welche KI-gesteuerten Kriegsverbrechen er gerade begeht, nicht nur keine Staatsbürgerschaft erhalten, wie dies der Bundestag Anfang des Jahres mit den Stimmen der Ampel beschlossen hat, sondern man will sie ihnen sogar bis zu zehn Jahre rückwirkend entziehen. Dies forderten u.a. Bundesjustizminister Marco Buschmann (FDP) und die Sozialdemokraten gegenüber Menschen mit doppelter Staatsbürgerschaft.

Dass dieselben Akteure dann wenig später – nach Bekanntwerden der sogenannten "Wannseekonferenz 2.0" der AfD und des rechtsextremen Identitären-Chefs Martin Sellner – vor den Vertreibungsplänen von Rechtsaußen warnten und skandalisierten, dass der AfD-Bundestagsabgeordnete Gerrit Huy auf dem Treffen für die doppelte Staatsbürgerschaft plädierte, um so Menschen mit Migrationshintergrund den deutschen Pass leichter entziehen zu können, bekam dadurch ein Geschmäckle.

Jedenfalls ergaben sich Glaubwürdigkeitsprobleme, wenn dieselben, die diese Pläne als rote Haltelinie bezeichnen, weil der Entzug der Staatsbürgerschaft schließlich das Mittel der Nazis gewesen sei, ihre Gegner zu vertreiben, nun selber damit liebäugeln. Und die Empörung über die "Remigrations"-Träume der AfD, die schon bei Björn Höckes Buch – ohne Frage – "Terror mit Ankündigung" gewesen sind, wurde umso unglaubwürdiger dadurch, dass nur wenige Wochen zuvor die Ampelkoalition das europäische Asylrecht geschliffen und Scholz im Rahmen der vom Spiegel begrüßten "neuen Härte in der Flüchtlingspolitik" "Abschiebungen im großen Stil" gefordert hatte. (siehe kommunisten.de, 21.12.2023: EU einig zum Abbau der Menschenrechte von Geflüchteten)

 

Rückkehr einer Agitation und Propaganda in staatlichen und privaten Medien, die Feindbilder, Siegesgewissheit und Durchhalteparolen verbreiten

Die innere Zeitenwende beinhaltet weiter, auch weil die Bevölkerung ihren Eliten über weite Strecken der Nachkriegsgeschichte nicht in Aufrüstung und Kriegseinsätze zu folgen bereit war, die Rückkehr einer Agitation und Propaganda in staatlichen und privaten Medien, die – Feindbilder, Siegesgewissheit und Durchhalteparolen verbreitend – wenig mit vierter Gewalt und viel mit Volkserziehung zu tun hat.

Dazu gehört die Schaffung eines inneren Kollektivs mit nationalen Mythen und einer "Leitkultur", die ein in sozialer Ungleichheit auseinanderlaufendes Land zusammenhalten sollen, eine allgemeine Renationalisierung und Militarisierung der Sprache und Beförderung emotionaler Verhärtung.

Innere Zeitenwende ist, wenn etwa die auflagenstärkste Zeitung in Deutschland den größten deutschen Rüstungskonzern Rheinmetall – Aktienkurssteigerung seit dem Ukrainekrieg: +523 % – die Rückkehr zur Wehrpflicht fordern lässt, weil "die Zeitenwende (…) eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe" sei und "freiheitliche Gesellschaften (…) in der Lage dazu sein" müssten, "für ihre Werte einzustehen".

Bleibt es bei diesem Tempo, dürfte im Rahmen von Initiativen, wie dem von CDU und CSU geforderten "Bundesprogramms für Patriotismus" unweigerlich auch der "Sedan-Tag" fröhliche Urständ feiern, mit dem man im Kaiserreich den Sieg über den damaligen Erbfeind feierte. Schon jetzt dürften in manchen Planstellen Überlegungen angestellt werden, wie ein – an sich nie wahrscheinlicher und heute immer unwahrscheinlicher gewordener – militärischer Sieg über Russland angemessen in der kollektiven Erinnerung verankert werden könnte.

 

Begriffe, Sprache, Politikstile und Mittel der nationalistischen und autoritären Rechten des späten 19. und frühen 20. Jahrhunderts kehren in Worten und Taten des "liberalen" Bürgertums zurück, dafür braucht es gar keine Nazis.

Die vielen Artikel aus bürgerlich-liberalen Schreibstuben, die im Geiste eines "ohnmächtigen" und "hilflosen Antifaschismus" vor der AfD warnen oder gegen die rechtsautoritären Nationalisten den Vorwurf des "Landesverrats" erheben, merken dabei augenscheinlich nicht, dass jeder ihrer mit dem moralisch erhobenen Zeigefinger geschriebene Artikel den Rechtsextremen mindestens ein paar Hundert neue Wähler zutreibt, weil deren sich ohnmächtig fühlenden Wähler die Angst der Herrschenden spüren und zum Glauben verleitet sind, durch ein Kreuz bei der AfD sich selbst zu ermächtigen und den verhassten Eliten eins auszuwischen.

Aber während sie verkennen, dass sie – mit Brecht gesprochen – doch eigentlich nur wie die Kälber sind, die der Trommel hinterhertrotten, für die sie das Fell selber liefern, verkennen die Liberalen vor allem eines: Es braucht für die Rückkehr der Gespenster der dunklen Vergangenheit keine Weidels und Höckes. Sie selbst, die Liberalen, sind es, die sie beschwören.

 

Die "innere Zeitwende" rehabilitiert in einer Weise Begriffe, Sprache, Politikstile und Mittel der nationalistischen und autoritären Rechten des späten 19. und frühen 20. Jahrhunderts, dass es dafür einer AfD gar nicht bedarf.

Zurück ist die "nationale Sicherheit", in deren Namen internationales (Investitions- und Handels-)Recht und das Völkerrecht, auf das man sich sonst gelegentlich beruft, gebrochen wird. Wieder da sind "Staatsräson", "Autarkie", die heute "De- Risking" heißt, Hochrüstung und die Aufforderung zur "Kriegstüchtigkeit", denn sonst steht, na klar, "in fünf bis acht Jahren" der Russe bei dir im Keller. Wieder wird vor "Kriegsmüdigkeit" im Volk gewarnt, finden öffentliche Gelöbnisse und Militärparaden vor Landesparlamenten statt und markiert eine "neue Lust auf Helden" die Rückkehr des "heroischen Denkens", das über den – an Verdun und den Ersten Weltkrieg gemahnenden und nicht zu gewinnenden – Stellungs- und Abnutzungskrieg in der Ukraine sagt: "das Gemetzel ist notwendig".

Entstanden ist ein neuer Gewaltkult, der – vollkommen geschichtsvergessen – nach innen nie zuvor gesehene Ausmaße der Gewalt von Jugendlichen mit Silvesterböllern beklagt, während er nach außen selbst nur noch die Sprache der Gewalt vorlebt und ausschließlich die Logik des Militärischen kennt.

Auf einmal wieder da ist eine politische Kultur des "Wer nicht hören will, muss fühlen", deren Losung "Waffen, Waffen und nochmals Waffen" ist und in der liberale Journalisten und ein grüner Wirtschaftsminister wie einst die Pimpfe vom Deutschen Jungvolk für die technischen Daten der allerneuesten Waffen-Systeme der Rüstungskonzerne schwärmen, um dann anschließend wie Ego Shooter vor der Mattscheibe Kill Counts gegen die als "Orks" entmenschlichten Feindsoldaten zu feiern und sich am Töten von Russen aus Weltrekordentfernung zu weiden. Kurz: das alles kehrt in Worten und Taten des "liberalen" Bürgertums zurück, dafür braucht es gar keine Nazis.

 

Es bedurfte keiner Faschisten für den beispiellosen Geschichtsrevisionismus

Es braucht sie nicht, um "Veteranentag" und Heldendenkmäler für Gefallene einzuführen oder für die Forderung nach "Wehrkunde im Schulunterricht". Es braucht sie nicht, um Holocaust-Mittäter wie Stepan Bandera zu Freiheitskämpfern umzudeklarieren.

Und es bedurfte auch keiner Faschisten mit Trademark und Copyright für den beispiellosen Geschichtsrevisionismus und die monströse Holocaustrelativierung, die Wladimir Putin mit Hitler gleichsetzt und den völkerrechtswidrigen Krieg Russlands in der Ukraine mit Hitlerdeutschlands Vernichtungskrieg im Osten, dessen Ziel im Rahmen des "Generalplan Ost" bekanntlich die Versklavung der Ostvölker und Vernichtung ihrer gesamten gesellschaftlichen Elite – wenigstens 30 Millionen Menschen – durch systematische Massaker an Unbewaffneten ("Kommissarbefehl") und systematisches Verhungernlassen (wie während der Leningrad-Blockade mit mehr als einer Million Ziviltoten) war und aus dem sich auch der Plan zur systematischen Ermordung des europäischen Judentums ergab.

Während Liberale es lieben, auf X (ehemals Twitter) vom "Putler" zu sprechen, war es mit Berthold Kohler ein FAZ-Herausgeber, der sogar noch vor Bekanntwerden des russischen Kriegsverbrechens von Butscha den Begriff "Vernichtungskrieg" für den Ukrainekrieg nutzte, selbstverständlich in vollem Bewusstsein, dass er damit Russlands Krieg gegen die Ukraine, den nach UN-Angaben in mehr als zwei Jahren mindestens 10.810 Zivilisten mit dem Leben bezahlt haben, gleichsetzt mit dem "Russlandfeldzug" der Nazis, die in unter vier Jahren 27 Millionen Sowjetbürgerinnen und Sowjetbürger aus der Ukraine, Belarus und Russland töteten, etwa die Hälfte davon Zivilistinnen und Zivilisten.

Dabei war es das Europäische Parlament, das vor vier Jahren mit den Stimmen der Liberalen und im Geist der NPD und des Geschichtsrevisionismus von Ernst Nolte der Sowjetunion die (Mit-)Schuld für den Zweiten Weltkrieg gab, während die taz und die "Grüne Jugend" Höckes "erinnerungspolitische Wende um 180 Grad" gleich in Eigenregie vollzogen, als die Berliner Tageszeitung unter dem Titel "Putin ist der neue Stalin" ihrer grünalternativen Leserschaft erklärte, "die tatsächliche Geschichte des Zweiten Weltkrieges" sei, "dass Stalin diesen Krieg geplant hatte (…), lange bevor Hitler an die Macht kam", und die "Grüne Jugend" gleich noch das "Unternehmen Barbarossa" zum Höhepunkt der "Siedlungseroberung" eines russischen "Kolonialstaats" erklärte und damit den Nazis und ihrer für sich reklamierten "europäischen Sendung" zur Befreiung der "Ostvölker" die rückwirkende Legitimation erteilte.

 

Es sind Liberale, die jetzt schon für die Zeit nach dem Ukrainekrieg rüsten und fordern, der "Pazifismus darf nicht wieder auferstehen".

Im Übrigen bedarf es auch für einen antifeministischen Rollback keiner rechtsextremen Incel- und "Männerbewegung". Als Björn Höcke vor sieben Jahren bei Pegida in Dresden eine unverweichlichte "Männlichkeit" als Voraussetzung von "Wehrhaftigkeit" forderte, wurde er als ewiggestrig gescholten.

Im Zuge der "inneren Zeitenwende" kommen dieselben Forderungen aus der sogenannten bürgerlichen Mitte, wenn zum Beispiel der Literaturwissenschaftler, SZ-Redakteur und Theodor-Wolff-Preisträger Tobias Haberl ("Der gekränkte Mann") im Spiegel aufklärte, der "deutsche Großstadtmann", der "kochen kann", sei mit seinen "gepunkteten Socken" "zu weich für die neue Wirklichkeit", weswegen ein Zurück zur "nötigen Härte" und der "Streitkultur seiner Väter" fällig sei, denen – aber ja nur zu unserem Besten! – regelmäßig die Hand ausrutschte, weil sie eben noch wussten, dass sich "nicht jedes Problem wegdiskutieren lässt".

Es sind Liberale, für die es zur neuen Normalität gehört, ihre Gegner wie Kritiker von (einseitigen) Waffenlieferungen als "Lumpenpazifisten", "gewissenlose" "Unterwerfungspazifisten", "Friedensschwurbler", "Putins willige Helfer" oder gleich als "Totengräberinnen der Ukraine" und "Secondhand-Kriegsverbrecher" zu bezeichnen.

Es sind Liberale, die jetzt schon für die Zeit nach dem Ukrainekrieg rüsten und fordern, der "Pazifismus darf nicht wieder auferstehen".

Es war die liberale Zeit, die am 80. Jahrestag der "Wollt ihr den totalen Krieg?"-Rede von Joseph Goebbels das Interview einer linken Liberalen, Eva Illouz, betitelte mit: "Ich wünsche mir einen totalen Sieg", um diese dann unter dem Jubel des tagaus tagein die Trommel rührenden Perlentauchers, ausführen zu lassen, dass sie sich diesen "totalen und vernichtenden Sieg für die Ukraine" wünsche, "weil die Russen täglich Verbrechen gegen die Menschlichkeit verüben, die nicht ungesühnt bleiben dürfen" und "weil Putin die ideellen Werte Europas bedroht."

Kurz, für all das braucht es keine extreme Rechte. Dieselben Leute, die heute die Konservativen davor warnen, als Lehre aus der Geschichte von 1933 ja nicht die "Brandmauer" einzureißen, während sie, wie Ursula von der Leyen, in Europa die "Post-Faschistin" Meloni küssen, wo sie sie treffen, bemerken gar nicht den Flammenwerfer in der eigenen Hand, mit dem sie das Land längst angezündet haben.

 

Insbesondere der "linke" Flügel des Bürgertums legt sich in Sachen innere Zeitenwende besonders ins Zeug

Dabei muss auffallen, dass es eben nicht nur ewiggestrige Konservative von der "Stahlhelm-Fraktion" sind, sondern gerade der "linke" Flügel des Bürgertums, der sich in Sachen innere Zeitenwende besonders ins Zeug legt.

Sicher, es war der CDU/CSU-Außenminister im Wartestand, Roderich Kiesewetter, der vor wenigen Wochen forderte, dass der "Krieg nach Russland getragen werden" müsse und man "alles tun" sollte, dort nicht nur "russische Militäreinrichtungen und Hauptquartiere" oder "Ölraffinerien", sondern auch "Ministerien" "zu zerstören". Aber der liberale Extremismus, der sich dadurch auszeichnet, dass er keine Rücksicht auf reale Gegebenheiten, Risiken und realistische Ziele nimmt, sondern in seinem auf selbstgerechtem Moralismus fußenden Fanatismus gegen den "Totalitarismus" selber totalitäre Züge an den Tag legt und keine Mittelbeschränkung zur Erreichung seiner Ziele erkennen lässt, hat seine Ursprünge letztlich in einem bis heute ungebrochenen Avantgardismus der Ex-Maoisten in der Partei Die Grünen.

 "Kriegstüchtigkeit" wiederum forderte ein sozialdemokratischer "Verteidigungsminister". Bei den Forderungen nach pauschal weiteren 100, 200, 300 Milliarden Euro für die Bundeswehr bei gleichzeitigen Sozialkürzungen, versteht sich, war Roderich Kiesewetter bloß das Echo der SPD-Politiker Scholz, Eva Högl, Wehrbeauftragte des Deutschen Bundestags, und Pistorius.

Vor "Kriegsmüdigkeit" wiederum warnte eine grüne Außenministerin, die sich zu Karneval gerne als "Leopard"-Panzer verkleidet hätte und sich im Ergebnis eines tief blicken lassenden Freud’schen Versprechers längst "im Krieg mit Russland" sieht.

Es war der grüne Wirtschaftsminister, der bei Maybrit Illner über die Panzerhaubitze 2000 ins Schwärmen geriet: "Die kann richtig was!".

Es war die Vorsitzende des Verteidigungsausschusses Marie- Agnes Strack-Zimmermann (FDP), die auf die Frage der "heute-Show", ob sie denn gedient habe, antwortete, sie sei "gut für den Volkssturm".

 

Das linksliberale Bürgertum korrigiert heute öffentlichkeitswirksam seine Geisteshaltung

Und die Forderung nach "Waffen, Waffen und nochmals Waffen" wiederum stammte ebenfalls von einem grünen Bundespolitiker, in diesem Fall Anton Hofreiter, der auch systematisches Aushungern wieder zum Prinzip deutscher Machtpolitik machen will. Als Beispiel für die von ihm markig geforderte Außenpolitik, die – im Geist von "Blut und Eisen" und "Macht ist das größte Aphrodisiakum" – endlich wieder "mit dem Colt auf dem Tisch verhandel(t)", schlug er im Dezember 2022 im Interview mit der "Berliner Zeitung" vor, mit der Kornkammer Ukraine am Wickel zukünftig 1,4 Milliarden Chinesen – denn womöglich "wagt" es mal wieder einer von ihnen, uns Deutsche "scheel anzusehen"! – offen den Hungertod anzudrohen: "Wenn uns ein Land Seltene Erden vorenthalten würde, könnten wir entgegnen: 'Was wollt ihr eigentlich essen?‘"

 

Es sollte also auch nicht verwundern, dass es das linksliberale Bürgertum ist, das heute öffentlichkeitswirksam seine Geisteshaltung korrigiert und durch symbolische Gelübde seine Loyalität zum Vaterland beweist, als wäre es noch einmal August 1914. Die Liste derjenigen, die es für nötig hielten, symbolisch ihre Wehrdienstverweigerung zurückzuziehen und den Fahneneid auf die Nation in Waffen zu schwören, ist lang. Sie reicht von Scholz und dem "grünalternativen" Wirtschaftsminister Robert Habeck über gealterte Intellektuelle, Journalisten und Schriftsteller wie Ralf Bönt ("Das entehrte Geschlecht"), Stern-Redakteur Thomas Krause und den taz-Redakteur Tobias Rapp bis zu anderen Personen des öffentlichen Lebens wie dem evangelischen Bischof Ernst-Wilhelm Gohl, dem Komiker Wigald Boning und dem "ewigen Hofnarr" Campino von der bekannten Schlagerband "Die Toten Hosen".

Vor diesem Hintergrund war es auch nur folgerichtig, dass Rapp als ehemaliger Redakteur und bis heute Mitherausgeber der "linksradikalen" Jungle World jüngst im Spiegel auch den "Veteranentag" begrüßte als einen "großen Schritt weg von alten Lebenslügen": "Eine Gesellschaft" könne nun "sagen: Wir können die Last nicht von euren Schultern nehmen, die es heißt, gekämpft und möglicherweise getötet zu haben. Aber wir können euch einmal im Jahr eine Bühne geben und an diese Last erinnern. Es war nicht sinnlos."

 

Theodor W. Adorno: weniger Angst vor der extremen Rechten als vor der rechten Radikalisierung der "Mitte"

Es war Theodor W. Adorno, der einmal schrieb, er habe weniger Angst vor der extremen Rechten als vor der rechten Radikalisierung der "Mitte", vor der Rückkehr des Nationalistischen, Autoritären und Faschistischen in der Sprache der Demokratie.

Wer heute glaubt, die Rechte am besten mit ihren eigenen Waffen schlagen zu können, von der Übernahme ihrer Migrationspolitik, ihres Kulturkampfes und ihrer Begriffe und Politikmittel aus dem "Zeitalter der Katastrophen" (Eric Hobsbawm), der betreibt ihr eigentliches Geschäft.

Kurzfristig mögen die Umfragewerte der AfD in Folge der Skandalisierung der Machenschaften ihres Spitzenkandidaten für die Europawahl heruntergehen. Langfristig mag man sich in der AfD zurücklehnen, weil man weiß: "Rechts wirkt". Das Land rast mit atemberaubendem Tempo in eine rechte Vergangenheit; aber im Führerstand stehen nicht Björn Höcke und Maximilian Krah, sondern die Liberalen selbst.

 

 

 

„Unnötig Angst vor dem Atomtod“

Di, 23/07/2024 - 06:09

Mit ersten Protesten aus der Bevölkerung und denunziatorischen Tiraden gegen Kritiker beginnt der neue Konflikt um die Stationierung von US-Mittelstreckenwaffen in Deutschland.
Experten warnen, die Stationierung könne die atomare Aufrüstung anheizen und verstärke die Gefahr eines Atomkriegs.

Die Bundesregierung hatte am Rande des NATO-Jubiläumsgipfels eine entsprechende Stationierungsvereinbarung mit der US-Administration unterzeichnet; sie sieht vor, bis 2026 US-Marschflugkörper des Typs Tomahawk, SM-6-Lenkraketen und Hyperschallraketen des Typs Dark Eagle in Deutschland aufzustellen. Mit den Waffen können nicht nur Sankt Petersburg und Moskau erreicht werden. Es ist auch möglich, zentrale Elemente der russischen Nuklearstreitkräfte auszuschalten – beispielsweise das Frühwarnsystem, das kürzlich die Ukraine attackierte. Experten warnen, Moskau könne deshalb auf die Stationierung von Mittelstreckenwaffen in Deutschland „mit Änderungen seiner Nukleardoktrin“ antworten; im Kriegsfall sei sogar ein „präemptiver“ Atomangriff auf die Raketenstellungen denkbar.
Außenministerin Annalena Baerbock nennt Protest gegen die Raketenstationierung „verantwortungslos“. In einer Zeitschrift der Evangelischen Kirche heißt es, „Desinformationsschleudern“ schürten „unnötig Angst vor dem Atomtod“.

Der Bruch des INF-Vertrags

Die Bundesregierung hat in einem Schreiben an die Bundestagsausschüsse für Äußeres und für Verteidigung ihre Entscheidung, die Stationierung von US-Mittelstreckenwaffen auf deutschem Territorium zuzulassen, mit der Behauptung begründet, Russland habe – zunächst unter Bruch des INF-Vertrags – „bodengestützte Mittelstreckensysteme entwickelt“ und sich trotz mehrfacher Aufforderung der westlichen Staaten geweigert, das zu unterlassen.[1] Die Behauptung verkürzt die reale Entwicklung sinnentstellend. So hat Washington, bevor es am 1. Februar 2019 den INF-Vertrag kündigte, nie Beweise dafür vorgelegt, dass Moskau tatsächlich an der Entwicklung von Mittelstreckenwaffen arbeite.[2] Es hat aber eingeräumt, seinerseits Ende 2017 die Entwicklung solcher Waffen gestartet zu haben. Recherchen der International Campaign to Abolish Nuclear Weapons (ICAN), die im Jahr 2017 mit dem Friedensnobelpreis ausgezeichnet wurde, belegen, dass die USA spätestens im Oktober 2018 Aufträge in Milliardenhöhe für Entwicklung und Bau neuer Raketen vergaben.[3] Ziel war es, Mittelstreckenwaffen in der Asien-Pazifik-Region zu stationieren – mit Angriffsziel China. Letzteres hat Washington kürzlich auf den Philippinen begonnen, allerdings vorläufig nur für einige Monate (german-foreign-policy.com berichtete [4]). Eine dauerhafte dortige Stationierung schieben die USA noch hinaus.

Erhöhte Atomkriegsgefahr

Anders als in der Asien-Pazifik-Region will Washington Mittelstreckenwaffen schon 2026 dauerhaft in Deutschland stationieren.
Es handelt sich um Tomahawk-Marschflugkörper, SM-6-Lenkraketen und Hyperschallraketen des Typs Dark Eagle. Die Tomahawk und die Dark Eagle können nicht nur Sankt Petersburg, sondern auch Moskau erreichen. Besonders im Fall der Dark Eagle erhöht dies wegen der massiv verkürzten Vorwarnzeiten – und weil die Hyperschallrakete, wie die Stiftung Wissenschaft und Politik (SWP) festhält, ohnehin „kaum zu stoppen“ ist [5] – die Spannungen erheblich. Dies gilt umso mehr, als Russland, wie es in einem aktuellen Fachbeitrag heißt, in Betracht ziehen muss, dass im Kriegsfall die Dark Eagle zentrale Elemente seiner Nuklearstreitkräfte zerstören könnte, etwa Radaranlagen [6]; einen Testlauf für einen Angriff auf das russische Frühwarnsystem gegen Nuklearwaffen haben erst kürzlich die ukrainischen Streitkräfte unternommen (german-foreign-policy.com berichtete [7]). Denkbar sei deshalb, heißt es in dem Fachbeitrag weiter, dass Moskau auf die Stationierung der US-Mittelstreckenwaffen in Deutschland „mit Änderungen seiner Nukleardoktrin“ antworte. Sollte Russland zudem zu der Auffassung gelangen, es könne seine Nuklearstreitkräfte nicht verlässlich gegen die Dark Eagle verteidigen, seien im Kriegsfall sogar „präemptive“ Atomangriffe auf deren Stellungen möglich.[8]

Anders als 1979

Mit Blick auf die dramatischen Gefahren werden inzwischen erste Proteste laut.
So forderte etwa am vergangenen Freitag eine Kundgebung in Potsdam eine umgehende Rücknahme des Vorhabens, US-Mittelstreckenwaffen in Deutschland zu stationieren.[9] Am Montag äußerte der Vorsitzende der SPD-Bundestagsfraktion, Rolf Mützenich, als erster – und bislang einziger – Politiker einer der drei Berliner Regierungsparteien, man dürfe „die Risiken dieser Stationierung nicht ausblenden“.[10] Angesichts der äußerst kurzen Vorwarnzeit der Raketen sei „die Gefahr einer unbeabsichtigten militärischen Eskalation ... beträchtlich“, warnte Mützenich; dabei besitze die NATO bereits ohne die Mittelstreckenwaffen „eine umfassende, abgestufte Abschreckungsfähigkeit“. „Mir erschließt sich auch nicht“, fuhr Mützenich fort, „warum allein Deutschland derartige Systeme stationieren soll“. Zu letzterem Aspekt hieß es bereits in dem erwähnten Fachbeitrag, die Tatsache, dass eine Stationierung ausschließlich in Deutschland geplant sei, unterscheide die aktuelle Maßnahme vom NATO-Doppelbeschluss im Jahr 1979: Damals habe Bundeskanzler Helmut Schmidt „noch darauf hingewirkt, eine derartige Singularisierung unbedingt zu vermeiden“.[11] Zudem sei die damalige Maßnahme „mit einem Angebot zur Rüstungskontrolle verbunden“ gewesen. Heute hingegen sei dies nicht der Fall.

„Verantwortungslos, naiv“

Während Beobachter warnen, „keinesfalls“ dürfe „der Eindruck entstehen“, die Bevölkerung werde „ohne Risikoabwägung vor vollendete Tatsachen gestellt“ [12], attackieren Politiker sowie Militärexperten jede Stellungnahme gegen die Stationierung der Mittelstreckenwaffen auf das Schärfste.
„Wir“ müssten „uns und unsere baltischen Partner schützen, auch durch verstärkte Abschreckung und zusätzliche Abstandswaffen“, behauptete Außenministerin Annalena Baerbock und erhob pauschal gravierende Vorwürfe gegen Kritiker:
„Alles andere wäre nicht nur verantwortungslos, sondern auch naiv gegenüber einem eiskalt kalkulierenden Kreml“.[13]

Weshalb es „verantwortungslos“ sein soll, Einwände gegen die Stationierung von Waffen zu erheben, die nach Einschätzung von Experten die Atomkriegsgefahr erhöhen, erläuterte die Ministerin, deren Partei einst der Friedensbewegung nahestand, nicht.

„Desinformationsschleudern“

Zu Baerbocks Partei hat sich vergangene Woche Frank Sauer geäußert, ein Privatdozent an der Münchener Universität der Bundeswehr.
„Bei der grünen Basis“ gebe es „schon seit langem ein Umdenken“, hielt Sauer fest:
„Ein Pazifismus im Stile der Bonner Republik wirkt heute für viele ... aus der Zeit gefallen.“[14]
Unabhängig davon, ob er „bei der Böll-Stiftung in Berlin oder bei einem Lokalpolitiker [der Grünen, d. Red.] in Bayern zu Gast“ sei: „Die meisten nehmen die Bedrohung durch Putin als gefährlicher wahr als eine westliche Aufrüstung.“
Jegliche Kritik an der Stationierung der Mittelstreckenwaffen denunziert Sauer, indem er erklärt, „das Bündnis Sahra Wagenknecht und die AfD“ schürten „falsche Ängste“:
Beide seien nur „Desinformationsschleudern“ und wollten „den Menschen jetzt aus innenpolitischen Motiven unnötig Angst vor dem Atomtod einreden“.[15]
Sauers Aussage ist über ein Interview mit Chrismon an die Öffentlichkeit getragen worden, der Zeitschrift der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD).

 

Mehr zum Thema: Moskau in Schussweite.

[1] Thomas Wiegold: Dokumentation: die – nun doch anlaufende? – Debatte über US-Mittelstreckenwaffen in Deutschland. augengeradeaus.net 20.07.2024.

[2] Till Ganswindt: Wer ist für den Bruch des INF-Abrüstungsvertrages zu Mittel- und Langstreckenraketen verantwortlich? mdr.de 16.07.2024.

[3] S. dazu Abschied vom INF-Vertrag (III).

[4] S. dazu moskau-in-schussweite

[5] Jonas Schneider, Torben Arnold: Gewichtig und richtig: weitreichende US-Mittelstreckenwaffen in Deutschland. SWP-Aktuell 2024/A 36. 18.07.2024.

[6] Alexander Graef, Tim Thies, Lukas Mengelkamp: Alles nur Routine? ipg-journal.de 16.07.2024.

[7] S. dazu Die Erweiterung des Schlachtfelds.

[8] Alexander Graef, Tim Thies, Lukas Mengelkamp: Alles nur Routine? ipg-journal.de 16.07.2024.

[9] Matthias Krauß: Keine Atomwaffen für Brandenburg. nd-aktuell.de 19.07.2024.

[10] Thomas Wiegold: Dokumentation: die – nun doch anlaufende? – Debatte über US-Mittelstreckenwaffen in Deutschland. augengeradeaus.net 20.07.2024.

[11], [12] Alexander Graef, Tim Thies, Lukas Mengelkamp: Alles nur Routine? ipg-journal.de 16.07.2024.

[13] „Alles andere wäre naiv“. tagesschau.de 21.07.2024.

[14], [15] Constantin Lummitsch: „Sahra Wagenknecht und die AfD schüren falsche Ängste“. chrismon.de 17.07.2024.

 

 

Chinas politische Signale und Programmatik: Modernisierung von Wirtschaft und Staat, Reformvorhaben, Wirtschaftsstabilität

Mo, 22/07/2024 - 08:38

Das Ergebnis der Beratungen der 3. Plenartagung des Zentralkomitees der führenden Kommunistischen Partei bilden neben der Halbjahres-Bilanz 2024 die Grundlage für den weiteren wirtschaftspolitischen Weg in China.

Gliederung der Ausführungen

  1. Die Zielsetzung der 3. Plenartagung
  2. Hohe Erwartungen
  3. Die Halbjahres-Bilanz der chinesischen Wirtschaft
  4. Höhepunkte des Wachstums – und seine Lücken
  5. Communique der 3. Plenartagung. Die Rahmenvorgaben für Modernisierung, Reformen und weitere Öffnung
  6. Ein Zwischenfazit

 

  1. Die Zielsetzung der 3. Plenartagung

Die 3. Plenartagung der führenden Gremien der politischen Führung Chinas ist eine der wichtigsten Sitzungen des Landes für Entscheidungen und politische Richtungsweisungen. Sie stand in diesem Jahr ganz im Zeichen von Reformen und der Modernisierung von Wirtschaft und Staat.
Reformen? Wie passen Reformen zu einem kommunistischen Staat, der sich unbeeindruckt von den Versuchen der westlichen politisch-militärischen Machtzirkeln dagegen verwahrt, den seit 1949 konzipierten Weg des Aufbaus eines sozialistischen Landes aufzugeben und konsequent eine sozialistische Gesellschafts-Entwicklung chinesischer Prägung anzugehen?
In der Tat, die chinesische Auslegung von Reformen,  die auf der 3. Plenartagung 1978  unter Deng Xiaoping begannen, belegen  einen entscheidenden Wendepunkt in der wirtschaftlichen Entwicklung des sozialistischen  Landes. Diese Reformen führten China auf einen Kurs der wirtschaftlichen Öffnung und Reform, der eine rasante Entwicklung ermöglichte. Die wichtigsten Aspekte dieser Reformen umfassten:

  • Die Einführung marktwirtschaftlicher Elemente in die sozialistische Planwirtschaft, was als sozialistische Marktwirtschaft mit chinesischen Merkmalen definiert ist,
  • Die Öffnung des chinesischen Marktumfeldes zur Beschleunigung der bedarfsgerechten Versorgung und Bereitstellung von Produkten und der damit auch zugestandenen Stärkung des Eigeninteresses kapitalistischer Wirtschaftsteilnehmer, ein pragmatisches Zugeständnis für ausländische Investitionen und Technologien,
  • Die staatliche Dezentralisierung und Liberalisierung auf den vertikalen und regionalen Ebenen. (1)

In der politischen Auseinandersetzung der letzten 100 Jahre sind (vermutlich) zentnerweise Begründungen, system-kritische Analysen und Empfehlungen entstanden, die sich mit der Frage von Reformen auch in einem sozialistisch strukturierten Gesellschaftssystem befassten.  Aber das soll an dieser Stelle nur als eine Anregung verstanden werden, um sich gegebenenfalls intensiver mit der Kultur, Politik und Gesellschaftsentwicklung der Volksrepublik China zu befassen und die eine oder andere vorgeprägte Meinung über das Land China zu überdenken.
Im folgenden Beitrag geht es aber um die aktuellen Reformen und Richtungsweisungen, die im Mittelpunkt der 3. Plenartagung des Zentralkomitees und seinen ständigen Ausschüssen standen. (2)

  1. Hohe Erwartungen

Die Bedeutung dieses Treffens im Juli 2024 lag darin, eine Bewertung der aktuellen sozial-ökonomischen Situation in seiner Komplexität vorzunehmen. So standen Fragen an zur dynamischen Fortschreibung und Modernisierung der wirtschaftlichen, sozialen und staatlichen Bestandteile der chinesischen Gesellschaft sowie die Erörterung der politischen Leitlinien für  Reformvorhaben und  Modernisierungs-Ansätze  in den erkannten Problemfeldern.
Eine zentrale Rolle spielte  auch die Thematik einer weiteren Öffnung mit all seinen Konsequenzen; einen besonderen Stellenwert  nahmen dabei Themen der Zulassung und Förderung unternehmerischer Aktivitäten ausländischer Firmen ein.

Reformen sind in diesem, chinesischen, Kontext als Modernisierungspfad der chinesischen Gesellschaft zu begreifen.  Reformvorhaben kennzeichnen also eine planmäßige Umgestaltung oder Verbesserung bestehender Strukturen. Eine Abkehr von den Grundprinzipien des Aufbaus einer sozialistischen Gesellschaft und deren grundlegenden geistigen und kulturellen Fundamenten war und ist nach der vorherrschenden kommunistischen Gesellschafts-Ideologie Chinas nicht beabsichtigt.
Existierende Schwachstellen wie etwa die anhaltend ungleiche Einkommensentwicklung, die regionalen Unterschiede der Lebens- und Arbeitsbedingungen, die fehlenden Ausbildungs- und Jobangebote gerade in den Bereichen der Fortschritts-Industrie und der zu erwähnenden Problemzone Immobilienmarkt lassen sich als die reformbedürftigsten Problembereiche angeben. (3) Siehe als ergänzende Beschreibung hierzu die vor der Plenartagung erstellte Analyse von Wolfgang Müller: Justiert China die Wirtschaftspolitik neu? Debatten vor dem Dritten Plenum des ZK der KP, Sozialismus.de, Heft 7/8-2024  


Die Bedeutung von Öffnung für das Marktumfeld

Im Vorfeld der Plenumstagung entstanden eine Reihe von Analysen, die sich mit der Bedeutung der Öffnung, einer pragmatischen Öffnung für westliches Kapital zur Förderung der eigenen Wirtschaft und auch der internationalen Kooperation im Rahmen der Mitwirkung in globalen Organisationen befaßten; beispielhaft für Letzteres ist dafür vor allem die Mitgestaltung in der UN und in der Welthandelsorganisation (WHO) zu nennen. (5)

Neben der grundlegenden Beibehaltung der Staatsführung und der bewährten Wirtschaftspolitik sind die Bereitschaft zur Veränderung von Strukturen und die pragmatische Bereitschaft zur Öffnung nach meinem Verständnis die zentralen Faktoren, die China zur 2. größten Wirtschaftsmacht gemacht haben. Die Türen offen zu halten und Platz für pragmatische Experimente einräumen, sind nach wie vor integrale Bestandteile des wirtschaftlichen Erfolgs Chinas, vor allem, wenn es den dringend notwendigen Wandel zu einem wissensbasierten, fortschrittlichen Produktionszentrum angeht.
Nach Meinung von Experten sollte China seine Unternehmer dazu befähigen, die Wettbewerbsfähigkeit sowohl privater als auch staatlicher Unternehmen experimentell und zukunftsorientiert zu steigern. Der Wirtschaftswissenschaftler Keyu Jin hat auf das Nachfragedefizit und den Vertrauensverlust in den Privatsektor als Hindernisse für Chinas Erholung nach der Pandemie hingewiesen. (6) Chinesische Wirtschaftsexperten plädierten im Vorfeld der Plenartagung auch für eine kontinuierliche Öffnung für Ausländer, egal ob es sich um Touristen, Studenten oder qualifizierte Arbeitskräfte handle. Zheng Yongnian, Politikwissenschaftler und Professor an der chinesischen Universität von Hongkong in Shenzhen, rief China dazu auf, wenn erforderlich auch eine einseitige Öffnung gegenüber dem Rest der Welt zu wagen.

Die Anzeichen mehren sich, dass die politische Führung den Anforderungen und Interessen ausländischen Unternehmen durch weitere Zugeständnisse zu ihren Aktivitäten in China entgegenkommen will.  Dazu gehören etwa die Lockerung der Visa-Beschränkungen für Nicht-Chinesen und die Aufnahme Australiens und Neuseelands in die Liste der Länder, die schon von der Visumspflicht befreit sind. (7)
Der Abbau von administrativen Hindernissen bei der rechtlichen Registrierung, Geschäftsstreitigkeiten und der unzureichenden Transparenz der einzuhaltenden Vorschriften gehört nach Experten-Meinung zu den Arbeitsfeldern der Öffnung, die einer    Bereitschaft der unternehmerischen Tätigkeit in China entgegenkommen würde.
Und ein weiteres zu erwähnendes Thema der Öffnung ist die konsequente Beibehaltung des konstruktiven  Dialogs  mit wohlmeinenden Gesprächspartnern, die das Ansehen von China, auch in westlichen Gesellschaften, fördern können.

Das unterstreicht auch das Ansinnen Chinas, im immer härter werdenden internationalen Wettbewerb den eigenen Einfluß beizubehalten und auszubauen.


Wie die rasche sozio-ökonomische Entwicklung des Landes in den letzten mehr als 40 Jahren zeigt, sind Öffnung und Reformen zu wirksamen Instrumenten geworden, mit denen die Partei und das Volk große Fortschritte machen können, um mit der Zeit Schritt zu halten.

John Ross:  How China will continue achieving its high-quality development, Senior Fellow am Chongyang Institute for Financial Studies an der Renmin University of China. (8)

Die 3. Plenartagung war nach Meinung der Veranstaltet problem- und ergebnisorientiert angelegt und hat die Voraussetzungen geschaffen für eine intensive, offene und konstruktive Diskussion über praktikable Lösungen, die dem Land helfen sollen, einige große Hindernisse auf seinem Weg zu nachhaltigem Wachstum zu überwinden und gleichzeitig seine langfristige strategische Autonomie zu bewahren.

Während mehrheitlich die Presse-Stimmen im Westen im Vorfeld des Plenums wenig Objektivität bei der Beurteilung der Reformbemühungen walten ließen und das Halbjahres-Ergebnis der Wirtschaft ideologisch begründet eher unsachlich kommentierten, war die Plenartagung ein Ausdruck von Zielstrebigkeit und politischer Programmatik eines anders organisierten Staates, der einfach in einem schlechten Licht erscheinen muß. (9)

  1. Die Halbjahres-Bilanz der chinesischen Wirtschaft

Während sich Chinas Spitzenpolitiker auf das dritte Plenum des 20. Zentralkomitees vorbereiteten, hat das Nationale Büro für Statistik, NBS die aktuellen Zahlen der gegenwärtigen Wirtschaftsentwicklung Chinas bekanntgegeben, die Halbjahres-Bilanz 2024.

Nach den Vorläufigen Schätzungen des Nationalen Statistischen Amtes, NBS stieg das Bruttoinlandsprodukt (BIP) in der ersten Jahreshälfte 2024 um 5,0 Prozent
(gegenüber Vorjahr).

Aufgeschlüsselt nach Quartalen stieg das BIP im ersten Quartal um 5,3 Prozent gegenüber dem Vorjahr und im zweiten Quartal um 4,7 Prozent, was quartalsweise einem leichten Rückgang im ersten Quartal entspricht.

Chinesische Behörden und Analysten wiesen darauf hin, dass es sich bei dieser Verlangsamung um eine kurzfristige Schwankung handle, die die Wirtschaft nicht von ihrem anhaltenden Erholungsschwung abbringen werde. Die Fundamentaldaten der Wirtschaft seien nach wie vor positiv und würden sich in der zweiten Jahreshälfte verbessern. Dafür sind eine Reihe herausragender wirtschaftlicher Triebkräfte anzugeben, darunter die laufende Modernisierung der Industrie, robuste Exporte sowie umfangreiche Investitionen in die High-End-Produktion. (10)

Aufgeschlüsselt nach Wirtschaftszweigen stieg die Wertschöpfung in der Primärindustrie um 3,5 Prozent gegenüber dem Vorjahr, während die Sekundärindustrie einen Anstieg von 5,8 Prozent verzeichnet und der Sektor der Dienstleistungen einen Anstieg von 4,6 Prozent aufweist.

Jahresziel im Fokus

Das BIP-Wachstum von 5 Prozent in der ersten Jahreshälfte 2024 entspricht dem Ziel, das sich die Regierung zu Beginn des Jahres gesetzt hat.
Unmittelbar nach der Veröffentlichung der Daten zitierten einige westliche Medien jedoch die Verlangsamung im zweiten Quartal als eher negative Entwicklung der chinesischen Wirtschaft. Einige übertrieben den Abwärtsdruck, dem das Land ausgesetzt sei und deuteten unvermittelt an, dass China von seinem jährlichen BIP-Ziel abrücken werde. Blickt man aber auf die nach dem Covid-Einbruch verlaufende Wachstumskurve, bewegt sich das Wachstum (im Gegensatz z.B. der deutschen Wirtschaft) auf einem bemerkenswert konstanten hohen Niveau.
Die amtliche Statistik räumte zwar eine gewisse Belastung der aktuellen Wirtschaftstätigkeit ein, erklärte jedoch, dass die Verlangsamung im Zeitraum April bis Juni auch durch kurzfristige Faktoren wie extreme Wetterbedingungen und häufige Regen- und Flutkatastrophen beeinflusst wurde. Das stabile Wachstum von 5 Prozent in der ersten Jahreshälfte bringe China auch auf einen guten Weg, sein Ziel eines Wirtschaftswachstums von rund 5 Prozent für das gesamte Jahr zu erreichen, so die Ökonomen.

"Die chinesische Wirtschaft ist trotz eines komplexen globalen und nationalen Umfelds stabil geblieben und hat [in den ersten sechs Monaten] nicht nur ein quantitatives Wachstum, sondern auch eine qualitative Verbesserung erzielt. Dies ist ein lobenswertes und solides wirtschaftliches Zeugnis."
NBS-Sprecher,15. Juli 2024
 

  1. Höhepunkte des Wachstums – und seine Lücken

Analysten zufolge ist das Wirtschaftswachstum im ersten Halbjahr "stabil und moderat" und spiegelt prinzipiell ein umfassendes Bild des Aufschwungs der zweitgrößten Volkswirtschaft der Welt nach dem Covid-Einbruch wider. Sie befindet sie sich in einer Phase des Wandels, in dem die Entwicklung neuer Triebkräfte durch ergänzende Impulse zur Förderung der Produktivkraftentwicklung Wirkung zeigen. Die Industrietätigkeit ist nach wie vor der wichtigste Motor für die Wirtschaft, was zum Teil auf die robuste Nachfrage aus dem Ausland zurückzuführen ist. Die Wertschöpfung von Industrieunternehmen ab einer bestimmten Größe stieg in den ersten sechs Monaten im Vergleich zum Vorjahr um 6 %, wobei die Entwicklung neuer, qualitativ hochwertiger Produktivkräfte spürbar an Fahrt gewann. (11)

Hierzu sind eine Reihe aktueller Zahlen zur Halbjahres-Bilanz der Wirtschaftstätigkeit in der folgenden Tabelle zusammengestellt:

Zu einigen der in der Tabelle dargestellten Werte anbei einige ergänzende Anmerkungen:

Anmerkung 1:
Eine Analyse nach Eigentumsverhältnissen ergab, dass die Wertschöpfung von Unternehmen in staatlicher Hand um 4,6 Prozent, die von Unternehmen in Aktienbesitz um 6,5 Prozent, die von Unternehmen, die von ausländischen Investoren oder Investoren aus Hongkong, Macao und Taiwan finanziert werden, um 4,3 Prozent und die von privaten Unternehmen um 5,7 Prozent zunahm.

Anmerkung 2:
Im ersten Halbjahr belief sich der Gesamtwert der Warenein- und -ausfuhren auf 2.912 Mrd. $, was einem Anstieg von 6,1 Prozent gegenüber dem Vorjahr entspricht. Der Gesamtwert der Ausfuhren belief sich auf 1.698,2 Mrd.$, ein Anstieg um 6,9 Prozent.
Der Gesamtwert der Einfuhren belief sich auf 1.265,46 Mrd. $, ein Anstieg um 5,2 Prozent.

Anmerkung 3:

Im ersten Halbjahr erreichten die Anlageinvestitionen (ohne ländliche Haushalte) 3,44 Billionen $, was einem Anstieg von 3,9 Prozent gegenüber dem Vorjahr entspricht. Unter Abzug der Investitionen in die Immobilienentwicklung stiegen die Anlageinvestitionen um 8,5 Prozent.
Im Einzelnen wuchsen die Investitionen in die Infrastruktur um 5,4 Prozent,
die in das verarbeitende Gewerbe um 9,5 Prozent und in die Immobilienentwicklung um
10,1 Prozent.

Anmerkung 4:
In der ersten Jahreshälfte stieg der Verbraucherpreisindex (VPI) um 0,1 Prozent gegenüber dem Vorjahr, während der Index im ersten Quartal auf dem gleichen Niveau wie im Vorjahr blieb. Aufgegliedert nach Warenkategorien sanken die Preise für Nahrungsmittel, Tabak und Alkohol um 1,4 Prozent, für Bekleidung um 1,6 Prozent, für Wohnungen um 0,2 Prozent, für Waren und Dienstleistungen des täglichen Bedarfs um 0,9 Prozent, für Verkehr und Nachrichtenübermittlung um 0,7 Prozent, für Bildung, Kultur und Freizeit um 2,0 Prozent, für medizinische Dienstleistungen und Gesundheitsversorgung um 1,4 Prozent und für sonstige Waren und Dienstleistungen um 3,3 Prozent.
Bei den Preisen für Nahrungsmittel, Tabak und Alkohol sank der Preis für frisches Obst um 7,8 Prozent, für frisches Gemüse ging die Preisgestaltung um 2,7 Prozent zurück, Schweinefleisch blieb unverändert und Getreide stieg um 0,5 Prozent.
Der Kernverbraucherpreisindex ohne die Preise für Nahrungsmittel und Energie stieg im Jahresvergleich um 0,7 Prozent. (12)

Generell blieb die Wirtschaftsleistung des Landes im ersten Halbjahr stabil, und es wurden stetige Fortschritte bei der Transformation und Modernisierung erzielt.
Die Bewertungen ernstzunehmender Analysten der wirtschaftlichen Situation stimmen mit den kritischen Einschätzungen der Führungskreise und Arbeitsgremien auf der 3. Plenartagung weitgehend überein, dass ein nicht zu übersehendes Potential zur Wirtschaftsbelebung besteht. Die nach wie vor auffälligen Lücken, oder anders ausgedrückt, Krisenerscheinungen, wie z. B. die Immobilienkrise mit einem riesigen Bestand an unfertigen Wohnungen, oder des offensichtlich zu langsam anwachsenden Arbeitsmarktes für junge Menschen, die ihre Berufsqualifikation in modernen IT- und Dienstleistungsbereichen sehen, stellen die staatlichen Gremien und Unternehmen vor ernstzunehmende, aber lösbare Herausforderungen.
So bewegt sich etwa die Arbeitslosigkeit im Kern auf einem konstanten überschaubaren Niveau, aber entsprechend den Anforderungen der Entwicklung der zukunftsorientierten Industriebereiche stehen offenbar zu wenige Arbeitsplätze zur Verfügung. (13)

Der Anteil von Chinas gesamter Wirtschaftsleistung an der Weltwirtschaft ist von etwa 12,3 Prozent vor über einem Jahrzehnt auf jetzt etwa 18 Prozent gestiegen.  Chinas Beitrag zum globalen Wirtschaftswachstum lag in den letzten Jahren bei etwa 30 Prozent.
Neuere Zahlen einer Langfristprognose vermuten jedoch einen Rückgang des chinesischen Beitrags zur globalen Wirtschaftsleistung. Hier sieht sich die politische Führung auch deshalb in der Verantwortung, mit entsprechenden Maßnahmen den bestehenden wirtschaftlichen und politischen Einfluss im Weltgeschehen aufrechtzuerhalten.

Die bemerkenswerte Entwicklung Chinas von einem der ärmsten Länder der Welt im Jahr 1949 zur zweitgrößten Volkswirtschaft der Welt in nur etwas mehr als 70 Jahren ist nach Experten-Meinung vor allem auf die beständige Rolle und richtungsweisende Führung der KPCh zurückzuführen. Nach Auffassung von John Ross, Senior Fellow am Chongyang Institute for Financial Studies an der Renmin University of China könne nachweislich keine andere politische Partei in der Welt eine vergleichbare Leistung vorweisen. (14)

 

IWF hebt BIP-Wachstumsprognose für China an

Der Internationale Währungsfonds (IWF) hat in seinem jüngsten Weltwirtschaftsausblick (WEO) die Prognose für das chinesische BIP-Wachstum in 2024 auf 5 Prozent bestätigt.
Die Stellungnahme des IWF zu den China-Daten erfolgte unmittelbar nach offizieller Bekanntgabe durch das NBS. Als ausschlaggebende Faktoren werden dabei eine stetige Erholung des Binnenkonsums und ein Anstieg der Exporte angegeben. In seiner WEO-Aktualisierung vom Juli geht der IWF davon aus, dass die prognostizierten 5% Wachstums für das Jahr 2024 eine Aufwärtskorrektur um 0,4 Prozentpunkte gegenüber dem WEO-Bericht des IWF vom April bedeuten.  (15)

"In China sorgte der wiedererstarkte Binnenkonsum im ersten Quartal für eine positive Entwicklung, die durch einen scheinbar vorübergehenden Anstieg der Exporte unterstützt wurde, die erst spät wieder an den Anstieg der weltweiten Nachfrage im letzten Jahr anknüpfen konnten."
WEO, World Economic Outlook

Entgegen den zumeist abwertenden Nachrichten (16) westlicher Medien zur chinesischen Halbjahres-Bilanz 2024 deutet auch die Aufwärtskorrektur der IWF-Prognose darauf hin, wonach sich die Erwartungen für eine stabile und solide Erholung der chinesischen Wirtschaft trotz des sich eintrübenden außenwirtschaftlichen Umfeldes und eines zunehmenden Handels-protektionismus erfüllen werden. Dies ist als ein Beleg für Chinas wirtschaftliche Wettbewerbsfähigkeit einzuschätzen.

Eine vom IWF veröffentlichte Tabelle zeigt, welche Entwicklung der chinesischen Wirtschaft im Weltmaßstab gegenüber anderen Ländern in den nächsten Jahren zu erwarten ist.
Man beachte dabei zum Vergleich besonders die Prognose zur Wirtschaftsentwicklung Deutschlands. (17)

  1. Communique der 3. Plenartagung
    Die Rahmenvorgaben für Modernisierung, Reformen und weitere Öffnung

Zum Abschluss der im Juli d. J. erfolgten 3. Plenartagung verabschiedete das oberste politische Führungsgremium ein Communique, eine amtliche Verlautbarung, die das Ergebnis der Tagung zusammenfasst und als Rahmenvorgabe für die Entwicklung der nächsten 5 Jahre bezeichnet wird. Per Pressemitteilung war die chinesische Öffentlichkeit unmittelbar nach Veröffentlichung dazu aufgefordert, das Plenums-Communique zu studieren und sich an den vorgesehenen Maßnahmen in den jeweiligen Tätigkeitsbereichen zu beteiligen.
Das Communique ist so gesehen eine Resolution zur weiteren Vertiefung des beschlossenen Reformkurses für eine Modernisierung der chinesischen Gesellschaft. Die Förderung einer qualitativ hochwertigen Entwicklung, entlang des eingeschlagenen Weges, China zu einem modernen sozialistischen Land aufzubauen, wird als die Generallinie der sozio-ökonomischen Entwicklung bestimmt.
Wie der Name schon sagt, handelt es sich um ein Communique und nicht um einen dezidierten Plan der Umsetzung mit fest vereinbarten Lösungsansätzen.
Auszugsweise sind im Folgetext Passagen des Communiques zusammenfassend dargestellt.  Den Schwerpunkt der Darstellung bilden jene vereinbarten Maßnahmen und Programmpunkte, die schon im Vorfeld der Plenartagung eine hohe internationale Aufmerksamkeit erweckten, wie der künftige wirtschaftspolitische Weg Chinas in Zukunft aussehen mag. (18)

Das zitierte Dokument ist in seiner vollen Länge unter dem angegebenen link zu finden (19)


Zum Communique

Betonung der Bedeutung und Vertiefung von Reformen, um die chinesische Modernisierung voranzutreiben.
Die Schwerpunkte: Aufbau einer sozialistischen Marktwirtschaft, Förderung einer qualitativ hochwertigen wirtschaftlichen Entwicklung,  Unterstützung umfassender Innovationen,  Verbesserung der makroökonomischen Steuerung,  Förderung einer integrierten Stadt-Land- Entwicklung,  Verfolgung einer Öffnung auf hohem Niveau und der Förderung einer umfassenden Volksdemokratie , Förderung der sozialistischen Rechtsstaatlichkeit mit chinesischen Merkmalen,  Vertiefung der Reformen im Kulturbereich, Gewährleistung und Verbesserung des Wohlergehens des Volkes, Vertiefung der Reformen im Bereich des Umweltschutzes,  Modernisierung des nationalen Sicherheitssystems und der Kapazitäten Chinas, Vertiefung der nationalen Verteidigung und der Militärreform sowie die Verbesserung der Führungsrolle der Partei bei der weiteren Vertiefung der Reformen.

Ausweitung der Binnennachfrage, im Einklang mit einer wirksamen Umsetzung der makroökonomischen Politik.
Zur Vorbeugung und Entschärfung von Risiken in den Bereichen Immobilien, kommunale Schulden, kleine und mittlere Finanzinstitute und anderen Schlüsselbereichen werden verschiedene Maßnahmen umgesetzt zur Gewährleistung der weiteren Entwicklung und Sicherheit des erreichten Wohlstandsniveaus.
Förderung neuer Arbeitskräfte.

Solide Schritte in Richtung einer umweltfreundlichen und kohlenstoffarmen Entwicklung.
Die Erfolge bei der Armutsbekämpfung konsolidieren und ausbauen.
Das Wohlergehen der Menschen sicherstellen und verbessern.

Integrierte städtische und ländliche Entwicklung
für die chinesische Modernisierung.
Bei der neuen Industrialisierung sind die neue Urbanisierung und die umfassende Wiederbelebung des ländlichen Raums zu koordinieren, eine stärkere Integration von Stadt und Land bei Planung, Entwicklung und Regierungsführung anstreben.
Förderung eines gleichberechtigten Austausches und wechselseitige Ströme von Produktionsfaktoren zwischen Stadt und Land, um die Ungleichheiten zwischen beiden zu verringern und ihren gemeinsamen Wohlstand und ihre Entwicklung zu fördern. Verbesserung des grundlegenden ländlichen Betriebssystems, die Unterstützungssysteme zur Stärkung der Landwirtschaft, zum Nutzen der Landwirte und zur Bereicherung der ländlichen Gebiete verbessern und die Reform des Bodensystems vertiefen.

Weitere Reformen der Öffnung
durch die Fortsetzung der staatlichen Politik der Öffnung nach außen, das Schaffen neuer Institutionen für die Entwicklung einer offenen Wirtschaft mit höheren Standards.
Ausbau der Zusammenarbeit mit anderen Ländern.
Vertiefung der Strukturreform des Außenhandels, die Verwaltungssysteme für Investitionen im In- und Ausland weiter reformieren. Die Planung für die regionale Öffnung verbessern und die Mechanismen für eine qualitativ hochwertige Zusammenarbeit im Rahmen der Belt and Road Initiative verfeinern.

Verbesserung der Systeme zur Erhaltung der Umwelt
, konzertierte Anstrengungen einleiten, um die Kohlenstoffemissionen zu reduzieren, die Umweltverschmutzung zu verringern, eine grüne Entwicklung zu verfolgen und das Wirtschaftswachstum anzukurbeln, aktiv auf den Klimawandel zu reagieren.

Stärkung des kulturellen Selbstvertrauens.
Die chinesische Modernisierung ist die Modernisierung des materiellen und kulturell-ethischen Fortschritts., Entwicklung einer fortschrittlichen sozialistische Kultur zu entwickeln, eine revolutionäre Kultur fördern und die traditionelle chinesische Kultur weiterführen.

Modernisierung der friedlichen Entwicklung
. Die chinesische Modernisierung unterstreicht Chinas Politik der friedlichen Außenbeziehungen ist als eine unabhängige Außenpolitik des Friedens fortzusetzen. Die Außenpolitik ist weiterhin darauf ausgelegt, sich für eine menschliche Gemeinschaft mit einer gemeinsamen Zukunft einzusetzen.

Die Modernisierung der nationalen Verteidigung
und der Streitkräfte ein integraler Bestandteil der chinesischen Modernisierung ist. Die absolute Führung der Partei über die Volksstreitkräfte ist aufrechtzuerhalten und die Strategie der Stärkung des Militärs durch Reformen vollständig umzusetzen.
Die führende Rolle der Partei gilt als die grundlegende Garantie für die weitere Vertiefung der Reformen und um die Modernisierung Chinas umfassend voranzutreiben.

 

Ein Zwischenfazit

Ein abschließendes Fazit bietet sich redlicherweise nicht an, weil die detaillierten Beschlüsse und Maßnahmen über die etablierten staatlichen Kanäle und den chinesischen Wirtschaftspartnern erst im Anschluß zur Kenntnis genommen werden.

Manche ausländische Unternehmerverbände und aus dem off agierende Analysten bilden bei der Kenntnisnahme des Communiques eine unrühmliche Ausnahme, die weitreichende, liberale Öffnungen bis hin zu Systemveränderungen des politischen Systems in China erwartet hatten.  Öffnung und Reformen sind für diese Kreise nur zu verstehen als Freifahrtschein für ausländische Unternehmen, um ohne Einschränkung eigenständig und ohne Kontrolle in China agieren zu können.

Das erörterte Programm der 3. Plenartagung mit seinen weitreichenden Reformvorgaben und der weiteren Öffnung des heutige Chinas widerspiegelt die anstrengenden Aufgaben für die Zukunftsgestaltung des Landes. Das vorliegende Communique enthält keine überraschenden Elemente, die nicht schon zuvor kontinuierlich Gegenstand der Ausschüsse der Gremien der kommunistischen Partei Chinas gewesen wären.  Unterschiedlich nuanciert haben Analysten und auch die internationale Presse immer wieder darüber berichtet.  

Die 3. Plenartagung hat als politisches Ergebnis ein weitreichendes Statement mit globaler Wirkung hervorgebracht. Die wirtschaftliche und gesellschaftspolitische Ausrichtung chinesischer Politik soll nach den Ergebnissen der Beratungen ein Gleichgewicht zwischen Stabilität und Wachstum herstellen. Das Kommuniqué drückt die Notwendigkeit einer modernen Gestaltung von Wirtschaft und Staat und das Initiieren von fairen Bedingungen für Zukunftsinvestitionen im chinesischen Marktumfeld aus. Die beschlossene weitreichende Öffnung für ausländische Investoren soll auf einem hohen Niveau erfolgen und die benötigten Qualitätsproduktionskräfte dafür bereitstellen. Man kann davon ausgehen, dass detaillierte Vereinbarungen und Vorgaben für die beteiligten Wirtschaftspartner als nächste Schritte erfolgen werden. Auch wir werden das mit großer Aufmerksamkeit weiterhin begleitend kommentieren.

 

Quellenangaben

(1) http://de.china-embassy.gov.cn/det/zt/zg16d/200812/t20081219_3131095.htm

(2) https://www.chinadailyhk.com/hk/article/588057#Third-plenum-of-20th-CPC-Central-Committee-to-outline-reform-steps-2024-07-15

(3) Wolfgang Müller: Justiert China die Wirtschaftspolitik neu? Debatten vor dem Dritten Plenum des ZK der KP, Sozialismus.de, Heft 7/8-2024

(5) https://www.globaltimes.cn/page/202407/1316028.shtml

(6) https://www.globaltimes.cn/page/202407/1316028.shtml

(7) https://www.globaltimes.cn/page/202407/1316173.shtml

(8) https://www.news.cgtn.com

(9) http://www.chinatoday.com.cn/ctenglish/2018/zdtj/202407

(10) https://www.news.cgtn.com;

http://german.china.org.cn/txt/2024-07/16/content_117313989.htm

(11) https://www.stats.gov.cn/english/PressRelease/;

http://de.china-embassy.gov.cn/det/zgtphsz_/202407/t20240715_11454021;

htm
https://www.finanzen100.de/devisen/waehrungsrechner/?kurs=chinesischer-renminbi-yuan-us-dollar-cny-usd-9368554

(12) NBS, National Bureau of Statistics, China;

https://www.china-briefing.com/news/chinas-gdp-expands-5-in-h1-2024; https://www.stats.gov.cn/english/PressRelease/

(13) Wolfgang Müller, a.a.O.

(14) https://english.news.cn/20240717/62621c8d72cc4e3c94f45971db1cc2df/c.html

(15) https://www.globaltimes.cn/page/202407/1316177.shtml

(16) https://www.zdf.de/nachrichten/politik/ausland/china-xi-jinping-wirtschaft-parteitreffen-drittes-plenum-100.html;

https://www.tagesschau.de/wirtschaft/weltwirtschaft/china-bip-wachstum-100.html;
https://edition.cnn.com/2024/07/14/economy/china-communist-party-third-plenum-economy-intl-hnk/index.html

(17) https://www.imf.org/en/Publications/WEO/Issues/2024/07/16/world-economic-outlook-update-july-2024

(18) https://apnews.com/article/china-plenum-economy-trump-b02543fda4ff61aeaa30b96419e0a06b;
https://foreignpolicy.com/2024/07/16/china-third-plenum-ccp-economic-policy-xi-deng-reform/

(19)  https://www.chinadailyhk.com/hk

 

 

 

Die Brandmauer rutscht

Fr, 19/07/2024 - 07:50

Die von einem CSU-Politiker geführte Europäische Volkspartei (EVP) hat bei den jüngsten Wahlen im Europaparlament den cordon sanitaire („Brandmauer“) weit nach rechts verschoben und erste Parteien der extremen Rechten zu Kooperationspartnern gemacht.
Die ultrarechte Fraktion EKR stellt im Europaparlament drei Mitglieder des Präsidiums – dank Zustimmung der EVP. Sie gilt unter Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen nun als „Partner für die Gesetzgebung“.

 

Am 17. Juli d. J.  wurden mit Stimmen der EVP drei Parlamentarier der ultrarechten EKR-Fraktion (Europäische Konservative und Reformer) ins Präsidium des Europaparlaments gewählt.
Der EKR-Fraktion gehören Parteien der äußersten Rechten mit Ursprüngen im Neofaschismus wie die Fratelli d’Italia (FdI) und die Schwedendemokraten an. Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen (CDU), die vor ihrer gestrigen Wiederwahl eine herbe gerichtliche Niederlage wegen ihrer Impfstoffverträge erlitt, hatte vor dem Wahlgang Absprachen mit den FdI getroffen. Im neuen Europaparlament stellen Parteien der äußersten Rechten neben der viertgrößten (EKR) auch die drittgrößte Fraktion, die Patrioten für Europa (PfE). Die PfE-Parteien haben einen Ministerpräsidenten (Ungarn) in ihren Reihen; zu ihnen gehören zudem zwei aktuelle wie auch zwei einstige Regierungsparteien. Damit ist die extreme Rechte im Europaparlament so stark wie noch nie zuvor.

EU-Recht gebrochen

Am Mittwoch, dem Tag vor ihrer Wahl, hatte EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen eine empfindliche Niederlage vor dem Gericht der Europäischen Union (EuG) erlitten. In dem Verfahren ging es um die Verträge zum Kauf von Covid-19-Impfstoffen, die die EU-Kommission mit den Impfstoffherstellern geschlossen hatte. Scharf kritisiert wird vor allem ein Vertrag mit dem US-Konzern Pfizer über die Lieferung von bis zu 1,8 Milliarden Impfstoffdosen für einen Preis von 35 Milliarden Euro. Der Stückpreis lag damit stolze 25 Prozent über dem Stückpreis früherer Lieferungen; die Menge überstieg den Bedarf bei weitem, weshalb alleine im Jahr 2023 Impfstoff im Wert von vier Milliarden Euro vernichtet werden musste.[1] Aufklärung darüber, wie der für Pfizer exzellente, für die EU beispiellos teure Vertrag zustande gekommen war, ist nicht wirklich möglich: Von der Leyen hat den Vertrag mit Pfizer-Chef Albert Bourla persönlich in Textnachrichten ausgehandelt, sieht sich nun aber außerstande, die Nachrichten aufzufinden. Die Kommission war darüber hinaus nicht bereit, die Verträge einsehbar zu machen.
Mit ihrer exzessiven Geheimhaltungspraxis brechen die EU-Kommission und ihre Präsidentin laut dem Urteil des EuG EU-Recht; sie müssen nun Transparenz herstellen.[2]

Mit Stimmen der EKR

Das EuG-Urteil hat sich offenkundig nicht auf von der Leyens Wiederwahl ausgewirkt; für die CDU-Politikerin stimmten am gestrigen Donnerstag 401 der 720 Abgeordneten im EU-Parlament – eine solide Mehrheit. Grundsätzlich stützt sich von der Leyen schon seit Jahren auf die Fraktionen der Europäischen Volkspartei (EVP), der Liberalen (Renew) und der Sozialdemokraten, die zusammen genau 401 Abgeordnete zählen. Allerdings votierten laut Berichten rund 15 Sozialdemokraten und rund 15 Liberale, darunter die Parlamentarier der FDP, nicht für sie.[3] Bereits vorab waren Beobachter zudem davon ausgegangen, dass Frankreichs Konservative (Les Républicains) nicht für sie stimmen würden.[4] Von der Leyen hatte sich deshalb um Stimmen aus der Grünen-Fraktion bemüht – offensichtlich mit Erfolg. Unklar ist, wie viele Abgeordnete der Rechtsaußenfraktion der Europäischen Konservativen und Reformer (EKR) für sie stimmten. Dies tun zu wollen, hatten vorab alle jeweils drei Abgeordneten der Nieuw-Vlaamse Alliantie (N-VA) aus Belgien sowie der Občanská demokratická strana (ODS, Demokratische Bürgerpartei) aus Tschechien angekündigt. Sie gehören der EKR-Fraktion an, die von den extrem rechten Fratelli d’Italia (FdI, Brüder Italiens) der italienischen Ministerpräsidentin Giorgia Meloni geführt wird.

Mit Stimmen der EVP

Eine Kooperation mit der EKR-Fraktion galt noch vor wenigen Jahren als ausgeschlossen; ihre Parteien sind Teil der äußersten Rechten, kommen in vielen Fällen – so die FdI – direkt aus dem Milieu des Neofaschismus oder sind für offen rassistische Ausfälle führender Mitglieder bekannt wie etwa die Partei Die Finnen. Heute gilt die EKR im Europaparlament als legitimer Kooperationspartner.
Das hat am Mittwoch die Wahl des Parlamentspräsidiums bestätigt. Erhielt unmittelbar nach der vorigen Europawahl im Jahr 2019 noch kein EKR-Abgeordneter einen Posten an der Parlamentsspitze, so war dies vor zweieinhalb Jahren mit Roberts Zīle von der lettischen EKR-Partei Nationale Allianz erstmals der Fall: Zīle wurde Anfang 2022 zu einem der 14 Europaparlaments-Vizepräsidenten gewählt. Am Mittwoch wurde er wiedergewählt; zudem erhielt die EKR mit Antonella Sberna (FdI) einen zweiten Vizepräsidentenposten. Beide bekamen laut Insiderberichten auch Stimmen aus der EVP.[5]
EVP-Abgeordnete votierten zudem dafür, dass Kosma Złotowski von der EKR-Partei PiS (Prawo i Sprawiedliwość) einen der fünf Quästorenposten erhielt, die dem Präsidium angehören und dort für Verwaltungsfragen zuständig sind.
Damit sind der cordon sanitaire bzw. die einstige „Brandmauer“ gegenüber der EKR niedergerissen.

„Partner für die Gesetzgebung“

Als Architekt dieser Entwicklung gilt der EVP-Partei- und Fraktionsvorsitzende Manfred Weber (CSU). Weber hatte sich bereits im Sommer 2022, dies damals noch gegen erhebliche innere und äußere Widerstände, für Italiens Rechtsaußenkoalition aus Forza Italia (EVP), Fratelli d’Italia (EKR) und Lega (heute: Patrioten für Europa) stark gemacht (german-foreign-policy.com berichtete [6]). Er hat sich jetzt dafür eingesetzt, dass die EKR sowie ihre Mitgliedsparteien im Europaparlament von der EVP als kooperationsfähig erachtet werden. Die Wahl dreier EKR-Abgeordneter ins Präsidium des Europaparlaments mit EVP-Stimmen war die Probe aufs Exempel dafür; sie ist – aus Webers Sicht – gelungen. Die EKR-Fraktion könne nun „als potentielle[r] Partner für die künftige Gesetzgebung“ gelten, konstatiert ein Insider; der cordon sanitaire sei damit neu definiert.[7] Zwar gab der EKR-Kovorsitzende Nicola Procaccini (FdI) an, die FdI hätten am Donnerstag nicht für von der Leyen gestimmt. Doch ist unklar, woran das liegt. Meloni hatte Berichten zufolge verlangt, ein FdI-Politiker müsse einen bedeutenden Posten in der EU-Kommission erhalten; sie und von der Leyen hatten sich am Montag darüber ausgetauscht. Sollte ein FdI-EU-Kommissar noch nicht durchsetzbar sein, wäre nicht mit Stimmen der FdI für von der Leyen zu rechnen. Prinzipiell aber sind alle Voraussetzungen für eine FdI-EVP-Kooperation erfüllt.

Stärker denn je

Noch aufrechterhalten wird der cordon sanitaire gegen die Fraktion der Patrioten für Europa (PfE), die vom französischen Rassemblement national (RN) unter Jordan Bardella geführt wird und der unter anderem der ungarische Fidesz von Ministerpräsident Viktor Orbán, der belgische Vlaams Belang (VB), die italienische Lega, die niederländische Partij voor de Vrijheid (PVV), die spanische Vox, die portugiesische Chega, die tschechische ANO 2011 und die FPÖ angehören. Die PfE-Parteien stellen einen Ministerpräsidenten (Orbán), sind in zwei Staaten an der Regierung (Italien, Niederlande), waren Teil einer Regierung (ANO 2011, FPÖ) oder sind stärkste Kraft der Opposition (RN). Mit 84 Abgeordneten bilden sie aktuell die drittgrößte Fraktion im Europaparlament vor der Rechtsaußenfraktion EKR, die über 78 Abgeordnete verfügt. Hinzu kommt die von der AfD geführte Fraktion Europa Souveräner Nationen (ESN), die allerdings nur 25 Abgeordnete hat und durchweg randständigen Parteien entstammt.

Mit der dritt- sowie der viertgrößten Parlamentsfraktion, von denen eine – die EKR – mittlerweile als möglicher Kooperationspartner gilt, stellen die Parteien der extremen Rechten nun eine Kraft im Europaparlament dar, die erhebliches politisches Potenzial besitzt.

 

 

 

[1] Daniel Steinvorth: Umstrittener Impfstoff-Deal: Nun ermitteln Europas Korruptionsjäger gegen Ursula von der Leyen. nzz.ch 03.04.2024.

[2] Gericht: EU-Kommission mauerte. Frankfurter Allgemeine Zeitung 18.07.2024.

[3] Thomas Gutschker: Mit den Grünen zum Sieg. Frankfurter Allgemeine Zeitung 19.07.2024.

[4] Reconduite à la tête de la Commission, von der Leyen promet “une Europe forte”. msn.com 18.07.2024.

[5] Thomas Gutschker: Die EVP definiert den Cordon Sanitaire. Frankfurter Allgemeine Zeitung 18.07.2024.

[6] S. dazu „Wächter der pro-europäischen Politik“.

[7] Thomas Gutschker: Die EVP definiert den Cordon Sanitaire. Frankfurter Allgemeine Zeitung 18.07.2024.

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