ISW München
Stopp den Kriegsvorbereitungen in Bund, Ländern und Gemeinden
Angetrieben wurden die Arbeiten durch Computerprobleme beim Übergang von 1999 auf das Jahr 2000, den verheerenden Anschlag im Jahre 2001 auf das World Trade Center in New York und die Jahrhundertflut der Elbe in 2002 mit Kosten von fast 12 Mrd. Euro.
Die verschiedenen Handlungsfelder zum Schutz kritischer Infrastrukturen (KRITIS-Strategie) wurden dann seitens der von CDU/CSU und SPD geführten Bundesregierung im Sommer 2009 zur bislang gültigen nationalen Strategie des Bundes zusammengeführt. Im Zuge internationaler Zusammenarbeit auf diesem Feld wurde damals bereits die NATO eingebunden.
Diese sog. KRITIS-Strategie formuliert das Ziel, „gravierende Störungen und Ausfälle von wichtigen Infrastrukturleistungen“ möglichst schon vorbeugend zu vermeiden und falls das nicht möglich ist, sollen ihre Folgen möglichst minimiert werden. Unter den Begriff „kritische Infrastrukturen“ und ihren Schutz fallen Gesundheit, Ernährung, Trinkwasser, Abwasser, Abfall, Energie, Transport und Verkehr, Informationstechnik und Telekommunikation (IT-/Cyber-Sicherheit). Dabei kommt der Zusammenarbeit zwischen Behörden und größtenteils privatwirtschaftlich organisierten Betreibern kritischer Infrastrukturen besondere Bedeutung zu. Beim Schutz Kritischer Infrastrukturen ist von einem breiten Gefahrenspektrum auszugehen. So kann allein der Ausfall einer kritischen Infrastruktur große gesamtwirtschaftliche und gesamtgesellschaftliche Auswirkungen nach sich ziehen. In der KRITIS-Strategie wird deshalb von einem All-Gefahren-Ansatz gesprochen. Einzelne, gefahrenspezifische Maßnahmen sollen sich diesem Ansatz nach also in ein übergreifendes Schutzkonzept einfügen.
Inzwischen hat die KRITIS-Strategie ihre Erweiterung gefunden durch die "EU-Richtlinie über die Resilienz kritischer Einrichtungen" (CER), die am 14. Dezember 2022 von der EU verabschiedet wurde. Diese Richtlinie wird derzeit – ein Entwurf liegt vor - in ein Gesetz, das sog. KRITIS-Dachgesetz, umgesetzt. Durch diesen Gesetzesentwurf werden – so das BMI – „erstmals kritische Infrastrukturen auf Bundesebene identifiziert und Mindeststandards für den physischen Schutz für Betreiber Kritischer Infrastrukturen festgelegt. Bisher gab es solche Bundesregelungen nur für die IT-Sicherheit kritischer Infrastrukturen“. Damit wird es in absehbarer Zukunft eine gesamtstaatlich angelegte strategische Handlungsgrundlage geben.
Ergänzt wird die nationale KRITIS-Strategie durch das Zivilschutz- und Katastrophenhilfegesetz (ZSKG) aus dem Jahre 1997 (zuletzt geändert 2020), mit dem der Bund „die Länder im Rahmen seiner Zuständigkeiten beim Schutz kritischer Infrastrukturen“ berät und unterstützt. Dabei stellt die Konzeption Zivile Verteidigung (KZV, 2016) „jene Gefahren in den Mittelpunkt, die im Zusammenhang mit bewaffneten Konflikten auftreten können. Die Notfallvorsorge im Rahmen der zivilen Verteidigung baut dabei auf dem fortlaufenden Schutz Kritischer Infrastrukturen auf“.
Der Schutz kritischer Infrastrukturen im Wandel durch zunehemende Kriegsvorbereitungen
In hochindustrialisierten Staaten ist der Schutz kritischer Infrastrukturen notwendig. Sei es um großräumige Überflutungen rasch zu beheben, die Trinkwasserversorgung im Klimawandel sicherzustellen, die Auswirkungen schwerer Industrieunglücke in dicht besiedelten Gebieten so gering als möglich zu machen oder den Ausfall großer Strom- und Telekommunikationsnetze (Zusammenbruch durch Netzstörungen inclusive Cyber-Angriffe) so rasch als möglich zu beheben.
Inzwischen vermischt sich der notwendige Schutz kritischer Infrastrukturen zunehmend mit Aufgaben zur Vorbereitung auf künftige Kriege. In diese Aufgaben sind die Bundesländer und Kommunen eingebunden. Insgesamt wird so der Boden zur gesamtgesellschaftlich angelegten Militarisierung und für ein autoritäres Staatswesen bereitet. Und von einem ist sicher auszugehen: im Krisen- und Kriegsfall wird die Verquickung von militärischer und ziviler Schutzplanung zu Ungunsten der Zivilbevölkerung ausgehen. Soweit erforderlich, wird der Schutz der Zivilbevölkerung militärischen Erfordernissen geopfert. Sei es, dass z. B. Brücken vermint und gesprengt werden müssen oder ein Krankenhaus zugunsten des Militärs zu räumen ist. Und eine Sicherstellung zentraler Einrichtungen wie Talsperren zur Wasserversorgung, Energiegewinnung und zum Hochwasserschutz sind vor der Zerstörung durch feindliche Raketen auch durch eine noch so ausgefeilte zivil-militärische Zusammenarbeit nicht zu gewährleisten. Allein die Zerstörung der zehn größten Stauseen in Ost-, Nord-, West- und Süddeutschland würde zu katastrophalen Folgen für Zivilbevölkerung, Wirtschaft und Energieversorgung führen.
Stopp den Kriegsvorbereitungen – für eine friedliche Zukunft
Nachstehend wird eine Reihe von Möglichkeiten aufgezeigt, sich Militarisierung, Aufrüstung und wachsender zivil-militärischer Zusammenarbeit entgegenzustellen:
- Zivil-militärische Zusammenarbeit:
- Ablehnung des von der Ampel-Regierung im Koalitionsvertrag geplanten und derzeit in Arbeit befindlichen, mit hohen Kosten verbundenen Gesundheitssicherstellungs-gesetzes. Damit sollen insbesondere „die effiziente und dezentrale Bevorratung von Arzneimittel- und Medizinprodukten sowie regelmäßige Ernstfallübungen für das Personal für Gesundheitskrisen sichergestellt“ werden. Dabei geht es auch um Einsatz und Verteilung von medizinischem Personal im Krisenfall. Die mangelnde Bevorratung ist das Ergebnis einer verfehlten jahrzehntelangen Gesundheits- und Arzneimittelpolitik. Dafür braucht es kein Gesundheitssicherstellungsgesetz, sondern eine am Gemeinwohl orientierte Gesundheits- und Arzneimittelversorgung. Für die große Mehrheit der gesetzlich Versicherten hat hier der DGB in 2023 richtungsweisende Vorschläge unterbreitet.
- Keine Indienstnahme ziviler öffentlicher und privater Einrichtungen des Gesundheitswesens - ob stationär oder ambulant - für Vorbereitungen auf kommende Kriege. Keine Verankerung von militärischen Sicherheitsthemen in der medizinischen Ausbildung.
- Keine zusätzlichen, zweckgebundenen Landesgelder für das Rote Kreuz, damit für den Kriegsfall notwendige medizinische Mittel, Materialien und Ausrüstungen vorgehalten und eingelagert werden können;
- Keine Finanzierung des Katastrophenschutzes in den Ländern über notwendige Vorsorge hinaus beispielsweise im Falle von Großschäden wie Bränden, Unwettern oder Industriehavarien. Keine Finanzierung von Bunkerbauten, keine Finanzierung von Notfallreserven für Lebensmittel. Keine Teilnahme an Kriegsvorbereitungen wie Übungen zwischen Bund, Ländern und Gemeinden und den dafür zuständigen Behörden einschließlich Ausbildung und Rekrutierung von Fachpersonal.
- Infrastrukturausbau:
- Keine Ausrichtung des großräumigen Landesplanungsrechts (Raumordnungsrecht) und regional und lokal raumbedeutsamer Planungen und Maßnahmen zur Kriegsvorbereitung. Dazu zählen der Ausbau von Wasserwegen, Häfen, Straßen, Autobahnen, Brücken, Schienenwegen, Ausweisung oder Erweiterung von Flächen für Munitions- und Rüstungsbetriebe, für neue Kasernenanlagen, Logistikareale, Schießplätze.
Hinweis:
Seitens des Bundesamtes für Bevölkerungsschutz und Katastrophenhilfe ist mitgeteilt worden, das „nach dem 2008 neu gefassten Raumordnungsgesetz (kurz: ROG) dem „Schutz kritischer Infrastrukturen […] Rechnung zu tragen“ ist. Dies bedeutet, bei Abwägungs- und Ermessensentscheidungen auch Belange des Schutzes Kritischer Infrastrukturen im Kontext raumbedeutsamer Planungen und Maßnahmen zu berücksichtigen (§ 2 Absatz 2 Nummer 3, § 4 ROG)“. Die Raumordnung ist demnach angehalten, sich mit den ihr zur Verfügung stehenden Mitteln am Schutz Kritischer Infrastrukturen zu beteiligen. Soweit sich dieser Schutz auf militärisch bedeutsame Infrastrukturen richtet, ist das abzulehnen.
Literatur:
- Bundesamt für Bevölkerungsschutz und Katastrophenhilfe: https://www.bbk.bund.de/DE/Themen/Kritische-Infrastrukturen/Strategien-und-rechtlicher-Rahmen/Rechtlicher-Rahmen/rechtlicher-rahmen_node.html; Abruf: 12.09.2024;
- Bundesministerium des Innern und für Heimat: https://www.bmi.bund.de/SharedDocs/gesetzgebungsverfahren/DE/KRITIS-DachG.html; Abruf: 12.09.2024
- Das Gesundheitswesen muss sich besser auf Krieg, Terror und Katastrophen vorbereiten, in: aerzteblatt.de vom 15.03.2024
- Lauterbach bereitet Gesundheitswesen auf „militärische Konflikte“ vor, in: ZEIT ONLINE vom 02.03.2024
- Tagesschau: Kriegstreiber-Vorwürfe gegen Lauterbach; https://www.tagesschau.de/faktenfinder/kontext/lauterbach-gesundheitssystem-100.html; Abruf: 13.09.2024
Historischer Meilenstein – 75. Jahrestag der Volksrepublik China
Das Land hat In den letzten 75 Jahren unter der Führung der Kommunistischen Partei Chinas ausgeprägte Veränderungen vollzogen und dabei eine beispiellose Entwicklung erlebt.[1]
Anerkennende und auch kritisch distanzierte Stimmen der politischen Eliten unterschiedlichster ideologischer Ausrichtung kommen fast einvernehmlich zu dem Schluss, was ja für die Einschätzung eines „kommunistischen“ Jahrestages schon bemerkenswert ist, dass China in wenigen Jahrzehnten das erreicht hat, wozu die westlichen Industrieländer mehrere Jahrhunderte gebraucht haben. [2]
Chinas Wirtschaft hat sich seit dem Gründungsjahr 1949 den Status der zweitgrößten Volkswirtschaft der Welt erarbeitet. .
Nach einschlägigen Fakten der gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Entwicklung, wie sie von Wirtschaftsinstituten und den Mainstream-Medien [3] üblicherweise dargestellt und ausgelegt werden, ist der diesjährige Jahrestag auch ein Anlaß, auf eines der eingelösten chinesischen Ziele hinzuweisen, die den Aufbau einer mäßig wohlhabenden Gesellschaft als eingelöst und erfüllt einstufen.[4]
Bemerkenswert ist, dass die Aufmerksamkeit der Welt auf China uns sein Einfluss auf das Weltgeschehen noch nie so tief und fokussiert war wie heute.[5]
Wohin geht die Menschheit - und was hat das mit China zu tun?
Schon zu Beginn der zurückliegenden Dekade hat China die viel beachtete Vision des Aufbaus einer Gemeinschaft mit einer gemeinsamen Zukunft für die Menschheit vorgestellt. Dies wird als Chinas Lösung angesehen, um globale Herausforderungen anzugehen und durch konzertierte Bemühungen der internationalen Gemeinschaft eine bessere Zukunft zu schaffen.
Es geht dabei nach dem Kooperationsverständnis der begründeten Politik der chinesischen Einheitspartei nicht darum, ein System durch ein anderes oder eine Zivilisation durch eine andere zu ersetzen. Stattdessen geht es darum, mit Ländern unterschiedlicher sozialer Systeme, Ideologien, historischen Kontexten und Entwicklungsstufen einen gegenseitigen Nutzen zu erzielen, gemeinsam Verantwortung in internationalen Angelegenheiten zu übernehmen und dabei Rechte partnerschaftlich zu teilen.[6]
Diese politisch-konzeptionellen Überlegungen, die China in seinem internationalen Wirken als globaler Partner, nach ökonomischen Möglichkeiten angeht, ist darauf ausgerichtet, gemeinsame Verantwortlichkeiten wie die gerechte Verteilung von Ressourcen, Umweltverantwortung und kollektive Sicherheitsmaßnahmen umzusetzen.
Es ermutigt die Länder, ein Gefühl der globalen Solidarität und Zusammenarbeit bei der Bewältigung transnationaler Bedrohungen zu fördern.
Die erreichte Globalisierung, die nicht zuletzt durch den Beitrag von China der verschwörungstheoretisch herbeigeredeten De-Globalisierung widerspricht, sondern vielmehr durch das Zurückdrängen der jahrzehntelang vorherrschenden unipoilaren Entwicklungsrichtung des westlichen kapitalistischen Lagers neue Charakterzüge in Form einer Kooperation der Multipolarität annimmt. [7]
Mit der Vertiefung der Globalisierung werden die Nationen immer mehr voneinander abhängig, während sich weiterhin verschiedene globale Herausforderungen abzeichnen:
Die Menschheit steht vor natürlichen Herausforderungen wie dem Klimawandel und dem Verlust der biologischen Vielfalt sowie vor gemeinsamen globalen Bedrohungen wie extremer Armut, nuklearer Verbreitung, politischem Extremismus, Hegemonie und eskalierenden geopolitischen Konflikten.
Die Entwicklung Chinas zu einer führenden Wirtschaftsmacht
China ist mit knapp 1,4 Milliarden Einwohnern das bevölkerungsreichste Land der Erde. In den vergangenen 30 Jahren hat sich die Nation zunehmend zu einer weltweit bedeutenden Wirtschaftsmacht entwickelt. Chinas Wirtschaft ist seit 2010, hinter den USA, die zweitgrößte Wirtschaftsmacht der Welt. Misst man die Kaufkraftparität (Waren und Dienstleistungen zu gleich hohen Preisen im Vergleich zweier unterschiedlicher Währungsräume), so weist China nach den Angaben der IWF spätestens seit 2018 ein höheres BIP auf als die USA; und nach den Prognosen zu den Wirtschaftsentwicklungen der
5 Top Länder wird China in den kommenden Jahren die USA und vermutlich alle anderen überflügeln. Daran werden auch die Aussagen der Think Tanks im Auftrag der herrschenden politischen Elite nichts ändern.
Im Jahr 2023 verzeichnete China ein Wirtschaftswachstum von 5,2%.
Dieses Wachstum lag im Rahmen der planerischen Zielvorgabe für alle Wirtschaftsregionen und -Ebenen Chinas von fünf Prozent", welches den Wachstumsraten der vergangenen Jahre entsprach. So verzeichnete die Wirtschaftsentwicklung Chinas zu Beginn des laufenden Jahres ein Wachstum von 5,3% im Vergleich zum Vorjahr. Damit rückt wie mehrfach beschrieben das offizielle planerische Wachstumsziel von "um 5%" für 2024 in greifbare Nähe.
In anderen Ländern gibt es mittlerweile eine Kurskorrektur in Richtung eines schrumpfenden Wirtschaftswachstums, , die eher einer nicht mehr verdrehbaren Rezession entspricht.[8]
Zugegeben, auch China kämpft mit Auswirkungen struktureller und globaler Einflußfaktoren, die hinlänglich beschrieben und analysiert sind.[9]
Deshalb scheint an dieser Stelle die Anmerkung ausreichend, dass die sich angestauten Markt-Dissonanzen im Immobiliensektor sich trotz der staatlichen Stützungsmaßnahmen wie sinkende Wohnungsnachfrage weiterhin besteht und die Immobilienpreise nach wie vor nicht ausreichend stabil sind. Auch der private Konsum kann noch keine übermäßigen Sprünge vorweisen im Vergleich zu den Wachstumszahlen der vergangenen Jahre. Allerdings erfüllen die staatlichen Stützungsmaßnahmen zur Belebung der Wirtschaft in Summe ihre wirtschaftsstabilisierende Funktion, so dass ein BIP-Wachstum von um die 5% erreichbar erscheint. Staatliche Stützmaßnahmen sind in einem System, das keine Profitmaximierung privater monopolistischer Unternehmensstrukturen zum Ziel hat, sondern dem Gemeinwohl der institutionalisierten sozialistischen Marktwirtschaft chinesischer Prägung verpflichtet ist, durchaus angebracht und von der Bevölkerung gefordert werden kann.[10]
Das ist der systemische Unterschied zur Subventionierung beispielsweise von Großkonzernen, die ihre Profitziele verfehlen und dann dem Staat mit Abwanderung und Vernichtung von Arbeitsplätzen drohen, wenn staatliche Subventionen ausbleiben sollten. [11]
Das entspricht weitestgehend der vorherrschenden sozialistischen Marktwirtschaft chinesischer Prägung auf den Grundlagen der Dominanz des staatlichen Eigentums an Produktionsmitteln, der Integration von Planwirtschaft und Marktelementen sowie der Führung durch die Kommunistische Partei Chinas. Der Staat behält die Kontrolle über strategische Industrien und wichtige Wirtschaftssektoren. Und es gibt weiterhin eine übergeordnete wirtschaftliche Planung, aber mit mehr Flexibilität als in einer reinen Planwirtschaft. Privatunternehmen sind zugelassen, die auch einen wesentlichen Anteil am Erwirtschaften des Bruttoinlandsproduktes haben. Zudem sind ausländische Direktinvestitionen erlaubt, und die Preisbildung erfolgt teilweise durch Angebot und Nachfrage.[12]
Zur wirtschaftlichen Situation von Wirtschaft und Gesellschaft sollen einige aktuell verfügbare Zahlen im Jahr des 75-jährigen Bestehens der Volksrepublik angeführt werden:
Eine andere Perspektive – auch für Länder des globalen Südens
Auf der Grundlage seiner inzwischen erreichten Wirtschaftsmacht hat China auch seinen weltweit wirkmächtigen Einfluss im Rahmen von Wirtschaftskooperationen, Zusammenarbeit und seines Einflusses in internationalen Organisationen maßgeblich aufgebaut. Dazu gehören, stellvertretend ausgewählt, etwa die Bereiche
- Engagement in der UN-Entwicklungszusammenarbeit; China hat sich zu einem immer
sichtbareren Akteur in der UN-Entwicklungszusammenarbeit entwickelt,
- Einrichtung des UN-Treuhandfonds für Frieden und Entwicklung,
- Einbringen von Expertise zur Armutsbekämpfung zur Umsetzung der UN-
Nachhaltigkeitsziele,
- Stellvertretende Generaldirektorenfunktion bei der Welthandelsorganisation (WTO),
- Führungspositionen bei der UN-Organisation für industrielle Entwicklung (UNIDO),
- Führungspositionen bei der Internationalen Fernmeldeunion (ITU),
- Leitende Position bei der Ernährungs- und Landwirtschaftsorganisation (FAO),
In Ergänzung dazu hat China eigene Initiativen und Programme auf internationaler Ebene lanciert wie etwa
- die Neue Seidenstraße (Belt and Road Initiative, BRI) , die zudem als Plattform für Kooperationen mit UN-Organisationen dient [13]
- Gründung der Asiatischen Infrastrukturinvestmentbank[14]
- Förderung von Konzepten wie die "Schicksalsgemeinschaft der Menschheit"[15]
So hat sich etwa die Belt and Road Initiative (BRI) von einem chinesischen Konzept-Vorschlag zu international praktizierten Maßnahmen mit dem Schwerpunkt des Aufbaus von Infrastrukturen und Ausbau internationaler Handelswege entwickelt. [16]
Es hat nicht nur greifbare Vorteile für die teilnehmenden Länder gebracht, sondern auch einen positiven Beitrag zur Förderung einer gesunden Globalisierung, zur Bewältigung globaler Entwicklungsherausforderungen und zur Verbesserung der globalen Gouvernance beigetragen. In diesem Zusammenhang bedeutet Global Gouvernance die Vorgabe eines Rahmens von Prinzipien, Regeln, Gesetzen und Institutionen, der darauf abzielt, globale Probleme zu lösen und die Globalisierung politisch zu gestalten.[17]
Projekte wie der Wirtschaftskorridor China-Pakistan, China-Europe Railway Express, China-Laos Railway, Jakarta-Bandung High-Speed Railway, Piräus Port haben den Menschen in den Kooperationsländern sehr geholfen. Bis Ende Juni 2023 hatte China über 200 Kooperationsdokumente mit mehr als 150 Ländern auf fünf Kontinenten und über 30 internationalen Organisationen im Rahmen des BRI-Rahmens unterzeichnet, wodurch unzählige ikonische Projekte sowie kleinere, menschenzentrierte Projekte geschaffen wurden.
Zusammenfassend läßt sich gerade zur Belt and Road- Initiative anführen, dass bis Mitte letzten Jahres China über 250 Kooperationsdokumente mit mehr als 150 Ländern auf fünf Kontinenten und über 30 internationalen Organisationen im Rahmen des BRI-Rahmens unterzeichnet hat, wodurch unzählige ikonische Projekte sowie kleinere, menschenzentrierte Projekte geschaffen wurden.[18]
Das erklärte Bedürfnis von China nach Zusammenarbeit, auch über ideologische und systemische Unterschiede hinausreichend, war noch nie so dringend oder wichtiger als heute.
Dabei ist hervorzuheben, dass dieses internationale Agieren insbesondere auch Länder des globalen Südens ermutigt, eine Zusammenarbeit bei der Bewältigung transnationaler Bedrohungen zu fördern. China kann für sich beanspruchen, in den letzten zehn Jahren erhebliche Hilfe geleistet und verschiedene Organisationen wie die Asian Infrastructure Investment Bank (AIIB) gegründet zu haben zur Förderung von Projekten in PArtnerländern, die Chinas Prinzipien der Gleichheit, Inklusivität, Zusammenarbeit und Nachhaltigkeit widerspiegeln.
Im Gegensatz zu den selektiven Allianzen des Westens, worunter Länder des globalen Südens in ihrer Phase der Überwindung des Kolonialismus ihre Abhängigkeit nicht überwinden konnten, hat China belegbar einen Weg des integrativen Multilateralismus beschritten und etabliert, der integrative Rahmenbedingungen wie die BRI fördert, um die Entwicklung in zahlreichen Nationen zu erleichtern.[19]
Chinesische Initiativen – ein Zwischenfazit zu 75 Jahre VR China
Zum Jahrestag der Gründung des heutigen Chinas lässt sich als eine Bewertung des Status Chinas im globalen Kontext oder besser gesagt als ein Zwischenfazit seiner Entwicklung auf die Global Development Initiative von China im Jahr 2021 verweisen.
Die proklamierte Vision zielt darauf ab, eine Gemeinschaft mit einer gemeinsamen Zukunft für die Menschheit aufzubauen; sie beinhaltet
- die Global Development Initiative,
- die Global Security Initiative und
- die Global Civilization Initiative von 2021 bis 2023. [21]
Alles drei Initiativen konzentrieren sich auf die Bewältigung globaler Entwicklungs-herausforderungen, die Beseitigung globaler Sicherheitsrisiken und die Förderung des Austauschs und des gegenseitigen Lernens zwischen den Zivilisationen.[22]
Bisher haben mehr als 100 Länder und internationale Organisationen ihre Unterstützung für die Global Development Initiative angemeldet, wobei über 70 Länder dieser "Gruppe von Freunden" beigetreten sind. Laut der People's Daily Overseas Edition haben mehr als 200 Projekte zur Entwicklungszusammenarbeit Ergebnisse erzielt.[23]
UN-Generalsekretär António Guterres lobte die Global Development Initiative als "wertschätzenden Beitrag zur Bewältigung gemeinsamer Herausforderungen und zur Beschleunigung des Übergangs zu einer nachhaltigeren und integrativeren Zukunft".[24]
Quellen
[1] http://german.xinhuanet.com/20240930/0fc9ade90c614d5fbf248b437c27d5f7/c.html
[2] Andre Gunder Frank: ReORient. Globalwirtschaft im Asiatischen Zeitalter, 2016, Kap.1
[3] https://www.sueddeutsche.de/projekte/artikel/politik/china-volksrepublik-jubilaeum-75-jahre-e532715
[4] https://www.globaltimes.cn/page/202409/1320591.shtml
[5] https://www.globaltimes.cn/page/202409/1320585.shtml
[6] https://www.kapitalkompakt.de/blog/75-jahre-volksrepublik-china-modernisierung-globale-entwicklung
[7] https://german.cri.cn/2024/09/27/ARTIgjx2LPwJOeQpj6m211UD240927.shtml
[8] https://dzresearchblog.dzbank.de/content/dzresearch/de/2024/04/16/china--kraeftigeres-wirtschaftswachstum--aber-strukturschwaechen.html
[9] https://www.zukunftsinstitut.de/zukunftsthemen/ambivalenz-chinas;
[10] https://www.manager-magazin.de/politik/weltwirtschaft/china-regierung-hilft-immobilienmarkt-a-caae2ede-3deb-4a0d-9a14-4c0e17fb8669
[11] https://www.isw-muenchen.de/aktuelles/termine/eventdetail/25/-/china-unser-neuer-hauptfeind
[12] https://www.zeitschrift-marxistische-erneuerung.de/de/article/1262.das-kapital-und-die-sozialistische-marktwirtschaft-in-der-vr-china.html
[13] https://library.fes.de/pdf-files/international/20384.pdf
[14] https://library.fes.de/pdf-files/iez/19345.pdf
[15] A.a.O.: https://library.fes.de/pdf-files/international/20384.pdf
[16] https://www.isw-muenchen.de/online-publikationen/texte-artikel/5154-die-seidenstrasseninitiative-3-internationales-kooperationsforum-belt-and-road
[17] https://de.wikipedia.org/wiki/Global_Governance
[18] https://www.kas.de/c/document_library/get_file?groupId=252038&uuid=1d5a14e0-27c9-cd16-9565-88493215fb6b;
https://www.logistik-express.com/belt-and-road-initiative-projekte-im-stresstest/
[19] https://www.isw-muenchen.de/online-publikationen/texte-artikel/5294-wirtschaftskooperation-zwischen-china-und-afrika-seit-24-jahren-focac
[20] Bojan Lalic, Direktor des Belt and Road Institute, Belgrad, Sept. 2024
[21] https://en.wikipedia.org/wiki/Global_Development_Initiative; http://en.chinadiplomacy.org.cn/gdi/index.shtml
http://no.china-embassy.gov.cn/eng/lcbt/lcwj/202401/P020240112016449761416.pdf
[22] https://www.globaltimes.cn/page/202409/1320591.shtml
[23] https://simple.wikipedia.org/wiki/Global_Development_Initiative
[24] https://www.un.org/uk/desa/china%E2%80%99s-belt-and-road-forum-guterres-calls-inclusive-sustainable-and-durable
Friedenspolitik für die Welt des 21. Jahrhunderts.
Das internationale System befindet sich in einem Umbruch von historischer Tragweite. Die Dominanz der USA geht zu Ende.
Eine neue Hegemonialmacht wird es auf absehbare Zeit nicht geben.
Es entsteht eine multipolare Weltordnung. Keine der heute lebenden Generationen kennt ein solches System aus eigener Erfahrung.
Ein Diskussionspapier der Initiative Nie wieder Krieg!
Das internationale System befindet sich in einem Umbruch von historischer Tragweite. Die Dominanz der USA geht zu Ende. Eine neue Hegemonialmacht wird es auf absehbare Zeit nicht geben. Es entsteht eine multipolare Weltordnung. Keine der heute lebenden Generationen kennt ein solches System aus eigener Erfahrung.
Der Umbruch wirft neue Fragen zu Krieg und Frieden auf. So zur Positionierung der Friedensbewegung in der Rivalität der Großmächte, zu Stabilitätsrisiken eines multipolaren Systems, zum Verhältnis von inter- nen Verhältnissen eines Landes und internationalem System sowie zum Zusammenhang von Krieg und Frieden mit den globalen Problemen von Klimawandel, Armut, technologischen Umwälzungen wie Digi- talisierung und künstliche Intelligenz. Wir haben es mit einer enorm gesteigerten Komplexität zu tun.
Aufgabe von Friedenspolitik auf der Höhe der Zeit ist es, Antworten auf die neuen Entwicklungen der Weltordnung zu finden und sie strategisch zu verarbeiten.
Der vorliegende Text will zur Diskussion über die Veränderungen der machtpolitischen Struktur und Dy- namik des internationalen Systems und die Konsequenzen daraus für Friedenspolitik anregen.1 Dabei haben wir nicht den Anspruch, die Thematik in all ihren Dimensionen behandelt zu haben. Kommentare, Kritik und Widerspruch sind willkommen. Wichtig ist, dass die Diskussion in Gang kommt.
1. Die Umbrüche im internationalen System verstehen
Die zentrale Determinante für Struktur und Dynamik des internationalen Systems ist auf absehbare Zu- kunft seine Transformation zu einem polyzentrischen System. Die Transformation ist unaufhaltsam. Die geopolitische Dominanz der USA und ihrer Verbündeten endet. Sie führt zur „Entwestlichung“ der inter- nationalen Machtverhältnisse. Das ist die eigentliche Zeitenwende. Es entsteht eine Pluralität von geo- politischen Machtzentren, die jedoch unterschiedliches Gewicht haben.
1.1. Die USA bleiben Supermacht
Die USA bleiben dabei durchaus Supermacht. Sie haben bei allen wesentlichen Machtressourcen – Mili- tär, ökonomisches Potential, Technologie, politischer Einfluss und So: Power – nach wie vor eine Spit- zenstellung. Mit ihren Militärallianzen und über 800 ausländischen Militärstützpunkten, mit ihren Kon- zernen, dem Dollar als internationaler Währung, ihren Geheimdiensten, Medien, ihrer Kulturindustrie verfügen sie über eine einzigartige Präsenz auf der ganzen Welt. Ein machtpolitisch besonders wichtiges Instrument ist dabei die NATO. Sie wurde von den USA gegründet und steht unter ihrer Führung. Gegen den Willen Washingtons kann in der NATO keine wichtige Frage entschieden werden. Auch im Indo- Pazifik formiert Washington derzeit ein gegen China gerichtetes System von Militärbündnissen.
Die Verfügung über die ganze Bandbreite von Machtressourcen gibt Washington eine Vielfalt von Hand- lungsoptionen wie sonst keinem anderen Land, und konstituiert in allen Außenbeziehungen - zu Freund wie zu Feind - eine Asymmetrie. Das heißt auch, dass die USA ihre Interessen mehr als jeder andere durch Machtressourcen unterhalb der militärischen Schwelle durchsetzen können, u.a. durch Technolo- gie- und Wirtscha:ssanktionen und viele Formen politischen Drucks. Dabei können auch Wirtscha:s- sanktionen durchaus verheerende und tödliche Wirkungen haben. So starb z.B. nach UN-Angaben in- folge des Embargos gegen den Irak 1990-2003 mindestens eine halbe Million Menschen.2 Entwicklungs- länder sind besonders verletzlich. Neben ihren Lieblingsfeinden China, Russland, Iran, Kuba, Nicaragua, Nord-Korea, Venezuela stehen auch ca. 15 Low-Income-Countries auf Washingtons Sanktionsliste.3 Die Arroganz der Macht wird ganz besonders deutlich, wenn die Sanktionen extraterritorial, d.h. gegen Dritte verhängt werden, wenn diese sich Washington nicht unterwerfen wollen. Selbst die Bundesregie- rung hält dies für völkerrechtswidrig – zumindest tat sie das bis zur Sprengung von Nord-Stream II.
Die außerordentliche Machhülle prägt auch die US-Eliten mental. So wie es zum Wesen von Hegemonie gehört, dass jene, die ihrem Einfluss erliegen, sie als das Normale und quasi Naturgegebene wahrneh- men, so ist der globale Führungsanspruch für die politische Klasse in Washington eine Selbstverständ- lichkeit. Jede Infragestellung wird als Bedrohung aufgenommen. So meint z.B. Ex-Präsident Obama:
„Amerika muss auf der Weltbühne immer führen“, … „ich glaube mit jeder Faser meines Wesens an die amerikanische Sonderstellung“ [exceptionalism].4
Die Verfügung über Machtressourcen konstituiert die Krä:everhältnisse im internationalen System und erklärt – zwar nicht ausschließlich, aber zum großen Teil – die Außenpolitik eines Landes.
1.2. Supermacht China und die neue Rolle des Globalen Südens
Im Zentrum der Umbrüche steht der rasante Aufstieg von Ländern des Globalen Südens, vorneweg Chi- nas. Dessen atemberaubende Entwicklung vom Entwicklungsland zur Supermacht innerhalb zweier Ge- nerationen ist materiell, politisch wie psychologisch eine Provokation westlichen Überlegenheitsden- kens im Allgemeinen und des Dominanzanspruchs der USA im Besonderen.
Von den Machtressourcen her ist China den USA dicht auf den Fersen. Gemessen in Kauora:paritäten5 hat die chinesische Volkswirtscha: die USA sogar bereits überholt,6 auch wenn es beim Wohlstandsin- dikator ‚Pro-Kopf-Einkommen‘ erst das Niveau von Ländern wie Serbien oder Bulgarien erreicht hat. Mi- litärisch und technologisch ist China inzwischen eine Supermacht, und verfügt mit seinen beispiellosen Entwicklungserfolgen insbesondere im Globalen Süden über beträchtliche So:-Power.
Indien, inzwischen das bevölkerungsreichste Land der Welt, verfügt nach Kauora:parität schon jetzt über die drittgrößte Volkswirtscha:. Auch formuliert die indische Führung offen den Anspruch auf Groß- machtstatus. Allerdings ist die Differenz zwischen Anspruch und Wirklichkeit noch groß, und es dür:e einige Zeit dauern, bis das Land in die erste Reihe der Weltmächte aufrückt.
China und Indien stehen für die neue weltpolitische Bedeutung des Globalen Südens, wo auch Länder wie Indonesien, Brasilien, Südafrika, Saudi-Arabien oder das NATO-Mitglied Türkei eine geopolitisch ei- genständigere Rolle zu spielen versuchen. Weitaus mehr als die Bewegung der Blockfreien während des Kalten Kriegs 1.0. ist der Globale Süden heute zu einem machtpolitischen Faktor geworden. Das Schei- tern des Westens, ihn im Ukrainekrieg auf seine Seite zu ziehen, ist dafür ein Indikator von vielen. Pro- jekte wie die BRICS oder die Shanghai Cooperation Organization (SCO) wollen „eine demokratischere und gerechte multipolare Welt auf der Grundlage des Völkerrechts, der Gleichheit, des gegenseitigen Respekts, der Zusammenarbeit, des gemeinsamen Handelns und kollektiver Entscheidungen aller Staa- ten“.7 Demnach geht es also nicht darum, den einen Hegemon durch einen anderen zu ersetzen, sondern das Prinzip der Hegemonie selbst in Frage zu stellen.
D.h. die Selbstorganisation des Südens richtet sich objektiv in erster Linie gegen die Vorherrscha: der USA und deren Gefolge. Das ist das eigentlich Verbindende. Ansonsten ist der Globale Süden keine ho- mogene Interessengruppe. In einigen Fällen gab es sogar bewaffnete Konflikte untereinander, so zwi- schen China und Indien, zwischen Pakistan und Indien, oder Armenien und Aserbaidschan.
1.3. Der Wiederaufstieg Russlands zur Großmacht
Russland war nach der Niederlage im Kalten Krieg 1.0. auch als Weltmacht am Ende. Die Versuche, sich nach 1991 dem Westen anzunähern - auch noch zu Beginn der Ära Putin - ohne sich zugleich der US- Hegemonie unterzuordnen, sind gescheitert. Die entscheidende Rolle spielte dabei, dass die USA von Anfang an die Entstehung einer engeren Bindung zwischen EU bzw. wichtigen Mitgliedsländern und Russland blockiert haben. Das wichtigste Instrument war dabei die NATO-Osterweiterung. Sie war zwar ein Bruch mit dem Prinzip der ungeteilten, gemeinsamen Sicherheit, entspricht aber einem Essential der außenpolitischen Doktrin Washingtons: „die Entstehung eines Hegemons in Eurasien“ unbedingt zu ver- hindern.8
In den 2000er Jahren begann nicht nur eine Konsolidierung im Inneren, sondern mit der Modernisierung der russischen Nuklearstreitkräfte auch der Wiederaufstieg als Großmacht. Auf dem Sektor der strategi- schen Atomwaffen hat das Land Supermachtstatus. D.h. es besteht ein strategisches Gleichgewicht (des Schreckens) mit den USA. Selbst bei einem nuklearen Erstangriff der USA, würde Moskau mit seiner Zweitschlagskapazität die USA noch in Schutt und Asche legen können.
Das ist für die US-Eliten nur schwer zu ertragen. Es gibt daher immer wieder Diskussionen, über einen Enthauptungsschlag, mit dem die russische Zweitschlagsfähigkeit ausgeschaltet werden könnte. Die Ost- erweiterung der NATO und insbesondere die potentielle Aufnahme der Ukraine wird von Moskau als Möglichkeit dazu wahrgenommen. Als Bedrohungsszenario ist dies Bestandteil der russischen Mili- tärdoktrin. Bereits ohne Krieg wäre die Enthauptungsfähigkeit ein gewaltiges Druckmittel, um Wohlver- halten zu erzwingen. Das meinte Putin in seiner Rede zur Rechtfertigung des Einmarschs in die Ukraine:
„Tomahawk-Marschflugkörper bräuchten weniger als 35 Minuten, um Moskau zu erreichen, 7 bis 8 Mi- nuten für ballistische Raketen aus der Region Charkow und 4 bis 5 Minuten für Hyperschallraketen. Das nennt man, das Messer an der Kehle zu haben.“9
Bei allen anderen Machtressourcen, angefangen beim konventionellen Militär, ist Russland den USA weit unterlegen. Allerdings sollte daraus nicht die Unterschätzung folgen, wie sie in dem Spruch Helmut Schmidts vom „Burkina Faso mit Atomraketen“ zum Ausdruck kommt. In Kaufkraftparitäten liegt der russische Kapitalismus im globalen Ranking des IWF auf Platz sechs hinter Japan und Deutschland, und klar vor Großbritannien (Rang 9) und Frankreich (Rang 10). Es ist bezeichnend, dass in den großen Me- dien das Ranking nach KKP selten vorkommt. Aber selbst nach Wechselkursparität belegt Russland immerhin noch Platz 11 (2023) – Tendenz steigend. Auch die Fehleinschätzungen bei der Wirkung von Sanktionen ist typisches Beispiel für die notorische Unterschätzung Russlands. Die vollmundige Ankün- digung der deutschen Außenministerin, das Land zu ruinieren, erwiesen sich als dünkelha:e Illusion.
Inzwischen ist es zu einer weitgehenden wirtschaftlichen Abkopplung vom Westen gekommen. Moskau hat die Abwendung vom Westen zum strategischen Ziel seiner außenpolitischen Orientierung ge- macht.10 Sie begann schon vor dem Ukrainekrieg und hat sich seit 2022 enorm beschleunigt.
Mit China ist eine strategische Allianz auf der Grundlage komplementärer Interessen entstanden. Russ- land profitiert von der überlegenen Wirtschaftskraft und dem technologischen Know-how Chinas. Pe- king ist umgekehrt in der Konfrontation mit den USA daran interessiert, an der 4.000 km langen gemein- samen Grenze einen strategischen Partner, innenpolitisch stabilen Nachbarn und Lieferanten wichtiger Rohstoffe zu haben.
1.4. Die EU in der neuen Weltordnung
Im Jahr 1900 stellte Europa fast ein Viertel der Weltbevölkerung. Gegenwärtig sind es für die EU noch 5,5%, die bis 2050 auf 4,5% sinken werden. Schon jetzt hat sich der Schwerpunkt der Weltwirtschaft vom transatlantischen Raum nach Ostasien verlagert. Für 2050 wird ein Schrumpfen des EU-Anteils am globalen BIP von derzeit 14% auf 9% prognostiziert.11 1980 waren es noch über 20%.
In einer multipolaren Weltordnung möchte die EU eigenständiger Pol sein, auf Augenhöhe mit den USA und China. Dazu sollen alle Politikfelder in den Dienst der geopolitischen Ambitionen gestellt werden: Klima, Energie- und Rohstoffe, Wirtschaft, Technologie, Medien etc. In Worten des Strategischen Kompasses heißt es, „die volle Bandbreite der EU-Politik und ihre Hebel als Machtinstrumente zu nut- zen.“12 Auch die Erweiterungspolitik wird zum geopolitischen Machterwerb genutzt.
Bei der EU ist jedoch der Unterschied zwischen Wollen und Können besonders groß. Sie ist kein Staat, sondern ein Hybrid aus Staatenallianz und supranationalen Elementen von Staatlichkeit. Mit dieser kom- plizierten Konstruktion verfügt sie über deutlich weniger Handlungsfähigkeit als ein klassischer Staat. Akut setzen Wachstumsschwäche und Verluste bei Wettbewerbsfähigkeit und Spitzentechnologien die EU enorm unter Druck, während die internen Widersprüche und zentrifugalen Tendenzen zunehmen, wie u.a. die Wahlen zum EU-Parlament 2024 zeigten.
Hinzu kommt, dass die NATO einer geopolitischen Eigenständigkeit der EU enge Grenzen setzt. Das führt in den Essentials internationaler Politik zur Unterordnung unter die USA.
Von einigen Mitgliedsländern, vor allem im Osten, ist das so gewollt. Sie vertrauen den USA mehr als den EU-Führungsmächten Frankreich und Deutschland. Selbst mit Trump würde sich an der Unterord- nung unter die USA nichts grundsätzlich ändern. Er will vor allem NATO-Europa stärker an den Kosten für die Sicherung der US-Hegemonie beteiligen und die Lasten des Ukrainekriegs abwälzen. Solange die NATO existiert, dürfte der Wunsch der EU nach autonomem Weltmachtstatus unerfüllt bleiben.
Vor diesem Hintergrund ist die Kontroverse um ‚strategische Autonomie‘ und ‚Transatlantismus‘ Aus- druck von Abstiegsängsten: „Die nächsten Jahrzehnte werden diesen Kontinent grundlegend herausfor- dern, … ich fürchte wir werden außenpolitisch ein Zwerg bleiben, wenn wir nicht aus der Einstimmigkeit herauskommen“,13 so Manfred Weber, Fraktionschef der Konservativen EVP im EU-Parlament (EP). Nach 500 Jahren Kolonialismus, Imperialismus und Neokolonialismus Europas ist das eine schwere Kränkung für das Selbstwertgefühl der Funktionseliten und ihr Überlegenheitsdenken. So heißt es schon 2016 in einer Resolution des EU-Parlaments „dass die EU ihre Sicherheits- und Verteidigungsfähigkeiten stärken muss, da sie ihr volles Potenzial als Weltmacht nur nutzen kann, wenn sie ihre einzigartige ‚SoG Power‘ im Rahmen eines umfassenden EU-Ansatzes mit ‚Hard Power‘ kombiniert“.14
In solchen Formulierungen schimmert Panik vor dem Abstieg durch. Sie ist ein starker Treiber für die Militarisierung und den Bellizismus. Symptomatisch dafür ist die Resolution des neuen Europaparla- ments zur Ukraine vom Juli 2024, die vom Geist militaristischer Durchhalteparolen durchtränkt ist, wäh- rend das völkerrechtliche Gebot zu Diplomatie und Verhandlungen nicht vorkommen. 15 Dazu passt auch die Nominierung von Kaja Kallas, einer fanatischen Russenhasserin, als Außenbeauftragte.
1.5. Die deutsche „Zeitenwende“
Abstiegsängste treiben auch die deutschen Funktionseliten um. So erklärte Bundespräsident Steinmeier „Selbstbehauptung“ zur Aufgabe unserer Zeit, denn es kämen „raue, härtere Jahre“.16
In der Tat ist Deutschland von Niedergangstendenzen auf verschiedenen Gebieten erfasst. Die Wirtschaft steht vor einschneidenden Strukturanpassungen, von denen nicht sicher ist, ob sie gelingen. Die Dekar- bonisierung, an sich sinnvoll und notwendig, aber ohne kohärentes Konzept, die Abkopplung von russi- schem Erdgas und damit von einem jahrzehntelangen Wettbewerbsvorteil, die Wettbewerbsstärke Chi- nas, Hinterherhinken bei Digitalisierung, Verfallserscheinungen bei der Infrastruktur, Inflation und sin- kende Reallöhne – all das bedroht die Zukunft des deutschen Wirtschaftss- und Sozialsystems.
Ökonomische Stärke war aber bisher das Fundament für Deutschlands Rolle in der EU und für eine ge- wisse Weltgeltung. Da dieses Fundament zu bröckeln beginnt, soll jetzt die Machtressource Militär her- angezogen werden, um dem geopolitischen Bedeutungsverlust zu entkommen.
Dabei geht es nicht nur um die militärische Hardware. Auch mental wird mit der Entmottung des alten Feindbildes von der Gefahr aus dem Osten und mit unverhohlener Geschichtsklitterung aufgerüstet. Die öffentlich-rechtlichen und andere große Medien sind dabei zu staatstragenden Echokammern des neuen Bellizismus geworden.
Zugleich wird damit implizit anerkannt, dass die EU als militärischer Faktor nur unzulänglich in Frage kommt. Deshalb setzt man jetzt parallel dazu auf die nationalstaatliche Karte. Das hat zudem den Vorteil, in der Rivalität um die Führung in der EU gegenüber Frankreich an Gewicht zu gewinnen.
Allerdings verfügt Paris mit der Atombombe und dem ständigen Sitz im UN-Sicherheitsrat über einen Trumpf, der für Berlin unerreichbar ist. Das versucht Macron zu nutzen, indem er die Force de frappe als Ersatz für die atomare Präsenz der USA offeriert. Das würde ein Stück strategischer Autonomie bieten, aber zugleich französische Hegemonie in der EU begründen. Das wollen weder Berlin noch die Mitglieds- staaten im Osten. Sie ziehen die transatlantische Option vor.
Damit verschiebt sich das machtpolitische Gravitationszentrum der EU von Westeuropa nach Osten. Polen und das Baltikum verstehen sich als Frontstaaten und leiten daraus den Anspruch auf mehr Ein- fluss ab. Die Position Deutschlands in der EU ist dank seiner geografischen Mittellage, seiner starken wirtschaftlichen Präsenz in den östlichen Mitgliedsländern und seiner „Zeitenwende“ gestärkt worden, während die deutsch-französische Achse an Bedeutung verliert. Prompt wird in Berlin offen ein Füh- rungsanspruch erhoben, so u.a. vom Ko-Vorsitzenden der SPD, Klingbeil: „Deutschland muss den An- spruch einer Führungsmacht haben. Nach knapp 80 Jahren der Zurückhaltung hat Deutschland heute eine neue Rolle im internationalen Koordinatensystem.“17 Dieser Führungsanspruch bezieht sich aller- dings nur auf die EU und stellt die Unterordnung unter die Hegemonie der USA nicht in Frage.
Das wird auch nach dem Ukrainekrieg so bleiben. Wie immer er ausgeht, die Konfrontation mit Russland wird für lange Zeit bleiben und einen neuen „Eisernen Vorhang“ durch den Kontinent ziehen.
Innenpolitisch heißt „Zeitenwende“, dass die unteren Klassen die Kosten tragen müssen. Schon jetzt kommt es zur Umverteilung vom Sozialen zum Militär, während die Profite der Rüstungsindustrie immer neue Höhen erreichen.
Und – wie immer in solchen Fällen – gehört auch die Demokratie zu den Verlierern. Gesinnungstreuer Konformismus wird eingefordert. Was früher der vaterlandslose Geselle oder Verräter war, ist heute der Putinversteher und Lumpenpazifist, während Heldenkitsch, Kriegsfähigkeit und der Kult des Kämpfers wieder hoffähig werden. Nach dem Vorbild der Unterstützung für Israel wird inzwischen auch das Be- kenntnis zu NATO und Aufrüstung de facto zur „Staatsraison“ erhoben. Wer dabei nicht mitmacht, ris- kiert aus dem zulässigen Diskurs ausgegrenzt zu werden.
2. Der zentrale Konflikt auf dem Weg zur multipolaren Weltordnung
Eine multipolare Weltordnung ist ein Schritt zur Pluralisierung der internationalen Beziehungen und zu realem Multilateralismus. Sie erweitert für aufsteigende Länder die Teilhabe an Entscheidungen über die Entwicklung des internationalen Systems. Zugleich erhöht sich die Handlungsmacht mittlerer und kleinerer Länder. Es entstehen Spielräume, wenn gleichzeitige oder wechselnde Kooperationen mit ver- schiedenen Großmächten möglich werden. ‚Multivektorielle Außenpolitik‘ ist das Stichwort dafür.
Auf dem Papier existiert das zwar alles bereits in der UN-Charta, u.a. im Prinzip der souveränen Gleich- heit aller Staaten sowie dem Verbot der Einmischung in innere Angelegenheiten. Die machtpolitische Funktionsweise des internationalen Systems hat dies in der Praxis immer wieder ignoriert.
Der Umbruch birgt freilich auch beträchtliche Risiken. Historisch haben Änderungen der Hegemonial- ordnung oft zu Krieg geführt. Eine Harvard-Studie hat 16 solcher Fälle in der Weltgeschichte untersucht. In zwölf davon kam es zum Krieg, darunter die beiden Weltkriege.18
Aber auch ohne Krieg kann Multipolarität leicht zur Zunahme von Konkurrenz, Spannungen, Instabilität und Unberechenbarkeit führen. Kernproblem ist dabei, dass die etablierte Hegemonialmacht nicht be- reit ist, ihre Vormachtstellung aufzugeben und sich friedlich in die neue Ordnung einzufügen.
Anders als bei früheren Umbrüchen dieser Art ist neu, dass der geopolitische Wandel mit menschheits- geschichtlich einmaligen Risiken durch Klima- und andere Umweltprobleme zusammenfällt, deren Lö- sung globale Kooperation eigentlich zwingend erforderlich macht.
2.1. Washington will weiterhin die Weltordnung dominieren
Die USA sind nicht bereit, ihre Vorherrschaft aufzugeben. So heißt es in der offiziellen Sicherheitsstra- tegie der Biden Administration: „Es gibt kein Land das besser geeignet wäre mit Stärke und Entschieden- heit zu führen als die Vereinigten Staaten von Amerika“.19 Das ist nicht nur Anspruch, sondern Washing- ton versucht dies Tag für Tag in Praxis umzusetzen. Und das nicht erst seit heute. Bereits 1992 wurde erklärt, zukünftig nie wieder einen Rivalen, wie es die Sowjetunion war, hochkommen zu lassen: „Unser erstes Ziel ist, das Wiederauftreten eines neuen Rivalen auf dem Territorium der ehemaligen Sowjet- union oder woanders zu verhindern,“ hieß es in der sog. Wolfowitz-Doktrin. 20 Und schon vor dem Ukra- inekrieg wurden in zahlreichen offiziellen Dokumenten die Hauptfeinde explizit markiert: „China und Russland sind die wichtigsten Bedrohungen für eine Ära von Frieden und Wohlstand in der Welt,“ heißt es z.B. in der Militärdoktrin der US-Kriegsmarine von 2020. 21
Man kann daher das internationale System nicht ohne das Agieren seines mächtigsten Akteurs verste- hen. Mit Anti-Amerikanismus hat das nichts zu tun.
Wenn China und Russland zu den Hauptfeinden erklärt werden, kann es nicht verwundern, dass die ihrerseits zur Lagerbildung gedrängt werden, wenngleich vor allem China versucht, einer Blockbildung durch plurale Netzwerke zu entgehen. Die massiven Sanktionen gegen China vor allem im Hightech- Bereich sollen ein Gleichziehen mit den USA oder gar Überholen verhindern. Die Spannungen um Taiwan eskalieren. Zugleich nutzen die USA ihr Potential zur Lagerbildung im Indo-Pazifik mit Japan, Australien, Südkorea und den Philippinen. Auch Indien soll ins US-Lager gezogen werden – auch wenn die Aussich- ten dafür eher gering sind.
Russland gegenüber wurde der Ukrainekrieg zum Stellvertreterkrieg transformiert. Kriegsziel ist dabei erklärtermaßen die maximale Schwächung Russlands, ökonomisch wie militärisch, verbunden mit der Hoffnung auf einen Regimewechsel in Moskau. Allerdings hindert die Fortsetzung dieses Krieges die USA daran, sich voll auf den Kampf gegen China zu konzentrieren.
Zur Durchsetzung seines Hegemonialanspruchs gegenüber Peking und Moskau greift Washington in
erster Linie auf den Einsatz seiner militärischen, technologischen und wirtschaftlichen Machtinstrumente zurück, während ein Interessenausgleich durch politische Konfliktlösung, Verhandlungen und Diplomatie ausgeschlossen bleiben.
2.2. Atomarer Winter statt Klimaerwärmung?
Mit der Atombombe existiert zum ersten Mal in der Menschheitsgeschichte eine Waffe, mit der die Gat- tung des homo sapiens ausgerottet werden kann. Zwar gab es unter dem Schock der Kuba-Krise Verträge zur Rüstungskontrolle, die mit dem Gleichgewicht des Schreckens eine gewisse Stabilität und Entspan- nung ermöglichten. Doch inzwischen haben wir wieder eine brandgefährliche Situation: die Verträge sind gekündigt, beginnend bereits 2001 mit der Kündigung des ABM-Vertrages durch die Bush-Admini-
stration, und es gibt neue, völlig unregulierte Technologien, deren militärische Anwendung unkalkulier- bare Risiken erzeugen, darunter ein Kriegsausbruch aufgrund technischer Fehler.
Die Konfrontation findet nicht mehr nur zu Lande, zu Wasser und in der Lu: statt, sondern auch im Weltraum und im Cyberspace. Das erhöht zusätzlich das Misstrauen zwischen den Konfliktparteien und führt zu noch mehr Instabilität. Je weiter die Eskalation getrieben wird, umso wahrscheinlicher ist ir- gendwann ein Kontrollverlust. Die ukrainischen Angriffe auf das russische Atomwaffenradar zur Früher- kennung anfliegender Nuklearwaffen verweisen auf dieses Risiko.
Wenn es nicht bald zu Verhandlungen wenigstens über Rüstungskontrolle kommt, könnte der Welt statt der Klimaerwärmung ein atomarer Winter drohen.
Die heißen Kriege in der Ukraine und in Nahost absorbieren schon jetzt große materielle und politische Ressourcen und fesseln die Aufmerksamkeit der Öffentlichkeit. Dafür treten die Klima- und Umweltkrisen in den Hintergrund. Der Ukraine-Krieg verursachte in den zwölf Monaten 2023 einen CO2- Ausstoß von etwa 120 Millionen Tonnen, was etwa dem Ausstoß eines Landes wie Belgien entspricht.22 Die Treibhausgasemissionen durch das Militär werden weltweit auf mindestens 1.644 und bis zu 3.484 Millionen Tonnen im Jahr geschätzt. Das sind 3,3 bis 7,0 Prozent der globalen Emissionen.23 Und zwar im laufenden militärischen Betrieb, ohne die derzeitigen Kriege. Das ist in etwa der Ausstoß eines Landes wie Russland oder Indien. In die Zahlenwerke, die dem Kyoto-Protokoll 1997 und dem Pariser Abkom- men 2015 zugrunde liegen, wurden die militärischen Belastungen absichtlich nicht aufgenommen.
2.3. Neue US-Atomwaffen gegen Russland auf deutschem Boden
Angesichts der vielen Zuspitzungen ist der Beschluss der USA, Marschflugkörper vom Typ Tomahawk, Mittelstreckenraketen SM-6 und die Hyperschallwaffe Dark Eagle ab 2026 auf deutschem Boden zu sta- tionieren, eine neue Qualität der Eskalation. Tomahawk und Dark Eagle sind sowohl konventionell als auch nuklear bestückbar und können Ziele im gesamten europäischen Teil Russlands angreifen, während die Vorwarnzeit im Vergleich zu den in Büchel dislozierten Kampfbombern der sog. atomaren Teilhabe drastisch schrumpft.
Einmal mehr handelt es sich hier um eine US-Maßnahme auf dem Territorium eines Drittstaates, die von Moskau nicht symmetrisch beantwortet werden kann, z.B. durch Raketenstationierungen vor der Haus- tür Washingtons, wie die Sowjetunion das 1962 in Kuba als Antwort auf US-Raketen in der Türkei tat. Die Stationierung verschiebt das strategische Gleichgewicht zugunsten der USA.
Und sie wird in der Logik von Abschreckung und Gegenabschreckung zu russischen Maßnahmen führen, die Deutschland zum bevorzugten Ziel russischer Raketen machen. Mit der unterwürfigen Hinnahme der bereits seit 2021 geplanten Stationierung setzt die Bundesregierung das Land einer neuen atomarer Gefährdung aus - während Washington 8.000 km weit vom Schuss ist.
Offiziell begründet wird die Stationierung mit der Behauptung einer ‚Sicherheitslücke‘, da Russland seit 2018 Mittelstreckenraketen vom Typ Iskander in seiner Exklave Kaliningrad mit einer Reichweite über 500 km aufgestellt habe. Das sei ein Bruch des INF-Vertrages.24 Moskau behauptet, die Raketen hätten dagegen nur eine Reichweite von 480 km und wären damit vertragskonform.
In der Auseinandersetzung unterschlägt die Bundesregierung zum einen, dass die USA schon 2016 in Rumänien und 2018 in Polen das Raketenabwehrsystem AEGIS/SM-3 installierten. 25 Moskau betrachtet das als Beeinträchtigung des strategischen Gleichgewichts. Zum anderen ging Washington auf den rus- sischen Vorschlag einer gegenseitigen Verifikation von Iskander und AEGIS/SM-3 nicht ein.
An dem Verlauf der Schuldzuweisungen wird die Logik der Abschreckung kenntlich: die eigenen Ab-
sichten werden verschleiert, was mit dem hochtrabenden Begriff „strategische Ambiguität“ auch noch zu rationaler Politik deklariert wird, und der Gegner soll in Angst versetzt werden, während die eigene Aufrüstung als reine Verteidigungsmaßnahme etikettiert wird. Heraus kommen die Zunahme der Spannun- gen und Unsicherheit auf beiden Seiten.
2.4. Demokratie versus Autokratie?
Ideologisch rechtfertigt der Westen die Konfrontationspolitik mit der Konstruktion „Demokratie versus Autokratie“. Mit der Anrufung von ‚Werten‘ soll eine post-heroisch eingestellte Bevölkerung wieder zu Kriegsbereitschaft motiviert werden. Notwendig ist dafür das seit ewigen Zeiten praktizierte Verfahren, die Gegenseite als das schlechthin Böse darzustellen. „Es geht um den Unterschied zwischen Gut und Böse“ so Nikki Haley, ehemalige UNO-Botschafterin der USA, stellvertretend für viele.26
Wenn man genauer hinschaut, entlarvt sich die scheinbar hochmoralische Einteilung der Welt in Gut und Böse jedoch als Doppelmoral. So heißt es in der o.g. US-Sicherheitsstrategie: „Die dringendste stra- tegische Herausforderung für unsere Vision geht von Mächten aus, die autoritäres Regieren mit einer revisionistischen Außenpolitik verbinden.“ Daneben wird eine andere Kategorie von Autokratien einge- führt: „Viele Nicht-Demokratien schließen sich den Demokratien der Welt an, um diesen [revisionisti- schen] Verhaltensweisen abzuschwören.“27 Es geht also nicht um Autokratie als solche, sondern um das, was Washington zum ‚Revisionismus‘ erklärt, d.h. die Ablehnung der US-Dominanz. Man kreiert zwei Sorten von Autokratie: die revisionistischen in Peking und Moskau und die nicht-revisionistischen, die als Partner akzeptiert werden. Auch Lars Klingbeil ist Anhänger solcher doppelten Standards: „Es ist klar, dass wir dabei auch mit Ländern zusammenarbeiten müssen, die nicht unsere Werte teilen oder sogar unsere Gesellschaftsordnung ablehnen.“28
Der zentrale Widerspruch im internationalen System ist keineswegs der zwischen Auto- und Demokratie, sondern der zwischen dem Eintreten für eine nicht-hegemoniale, multipolare Weltordnung auf der ei- nen, und dem Versuch der Aufrechterhaltung von US/westlicher Dominanz auf der anderen Seite.
Die politische Funktion des Narrativs vom Widerspruch zwischen Auto- und Demokratie besteht darin, das schon in der Antike verkündete Dogma „Wenn du den Frieden willst, bereite den Krieg vor!“ plausibel zu machen. Dabei wird aber dessen grundlegender Defekt unterschlagen, nämlich dass die Gegenseite genauso denkt, und die Konfliktspirale auf diese Weise immer wieder angetrieben wird. Das o.g. Beispiel der Mittelstreckenwaffen zeigt die praktischen Folgen.
Im Unterschied zu Interessenskonflikten kann es in moralischen Konflikten keine Kompromisse geben. Sie ähneln darin Glaubenskriegen. Es sei denn, man einigt sich – wie schon im Augsburger Religions-frieden 1555 - auf die friedliche Koexistenz unterschiedlicher Bekenntnisse. Ein ideologischer Konflikt zwischen Demokratie und Autoritarismus stimuliert eine Eskalationsspirale mit Konfrontation, Wettrüsten und Kaltem Krieg – bis es zum Kontrollverlust, dem heißen Krieg, kommt.
3. Kontroversen in der Friedensbewegung bearbeiten
Das Narrativ von Auto- versus Demokratie besitzt bis in Teile der Friedensbewegung und der gesellschaft- lichen Linken hinein einige Attraktivität. Dem liegt eine ursprünglich emanzipatorische Intention zu- grunde: die Verdammten dieser Erde zu befreien. Schon die Gründung von „Schwesterrepubliken“ durch französische Revolutionstruppen im 18. Jahrhundert hatte dieses Motiv.29 Affinität zu diesem Verständ- nis von Internationalismus – z.B. in der Kommunistischen Internationale in ihren ersten Jahren und ihrem Ziel der Weltrevolution30 oder Che Guevaras Revolutionsversuch in Bolivien - ist unübersehbar. Aller- dings kann außenpolitischer Messianismus von links unter Bedingungen von Konflikt und Spannungen im internationalen System höchst gefährlich werden, insbesondere wenn er mit dem ‚liberalen Interna- tionalismus‘ konvergiert, mit dem der Westen gern eine aggressive Außenpolitik rechtfertigt.
3.1. Demokratie, Menschenrechte und nationale Souveränität
Ohnehin ist ein Großbegriff wie Demokratie immer umstritten, auch innerhalb der Friedensbewegung. Und es ist fraglich, ob je ein Konsens darüber zu erreichen ist. Erst recht, wenn es sich um die internen Verhältnisse eines anderen Landes handelt. Das ist auch nicht notwendig, wenn man die UN-Charta zur Souveränität und Nichteinmischung in die inneren Verhältnisse (insbes. Art. I, Abs. 2, Art. II, Abs. 1 und Abs. 7) respektiert. Die Charta beruht ja gerade auf der Einsicht, dass angesichts unterschiedlicher Kul- turen, Wertesysteme und politischer Ordnungen heilloses Chaos und Zerstörung entstünde, wenn jedes Land seine eigenen Vorstellungen anderen aufdrängen oder gar mit Gewalt aufzwingen wollte.
Ähnliches gilt für Menschenrechte, wenn der Begriff als Kampfbegriff für geopolitische Interessen in Dienst genommen wird. Universalität der Menschenrechte bedeutet die Verpflichtung aller Mitglieds- staaten, die Menschenrechte im eigenen Land zu verwirklichen (UN-Charta Art. I, Abs.3). Dazu gehören auch die sozialen Menschenrechte, die auch vom Westen gern ausgeblendet werden. Sie ist aber keine Lizenz für Regime-Change von außen, oder gar für einen Angriffskrieg der NATO, wie z.B. 1999 gegen Jugoslawien, als der deutsche Außenminister meinte, man müsse „ein neues Auschwitz verhindern“. Auch Moskaus Rechtfertigung für den Einmarsch in die Ukraine, das Land vom Faschismus zu befreien, gehört in die Kategorie unilateraler Anmaßung zur Intervention in ein anderes Land.
Nur für extreme Fälle wie Völkermord sieht die UN-Charta (Art. VII) genau definierte Ausnahmen vor. Demnach kann nur der UN-Sicherheitsrat die Befugnis zur Gewaltanwendung gegen ein Land erteilen. Das betrifft auch die sog. Responsibility to Protect, die in den Nullerjahren, als die westliche Hegemonie noch ungebrochen schien, Konjunktur hatte.31 Die Hürden für Eingriffe sind sehr hoch, nicht zuletzt durch Blockaden im Sicherheitsrat. Das wird bei russischen Vetos immer lauthals beklagt. Anders dagegen bei US-Vetos, wenn es um Israel geht. Allerdings zeigt die Entscheidung für einen Waffenstillstand in Gaza vom 10. Juni 2024, dass es auch anders geht; auch wenn der Beschluss von Israel - mit westlicher Duldung - ebenso wenig umgesetzt wurde, wie die Resolutionen der Vollversammlung zu vielen anderen Konflikten.
In Deutschland gibt es politische Strömungen, die ein sehr distanziertes Verhältnis zu nationaler Souve- ränität und dem Gebot der Nichteinmischung haben. Sie berufen sich dabei auf die Erfahrungen mit dem exzessiven Nationalismus der deutschen Geschichte – und sind insofern typisch deutsch. Der hohe Stel- lenwert von Souveränität und Nichteinmischung im Völkerrecht ist aber Reaktion auf die lange Ge- schichte der Unterwerfung und Ausbeutung fremder Länder im Kolonialismus, Imperialismus und Neo- kolonialismus. Das vergisst man im Globalen Süden nicht.
Zudem reagiert gerade der Westen selbst extrem empfindlich, wenn er glaubt, andere Länder würden sich in seine inneren Verhältnisse einmischen. Allerdings ist bei der allfälligen Empörung über tatsächli- che oder angebliche Desinformation und Cyberattacken aus Russland und China o: schwer zwischen Fakt und Fake, zwischen Realität, Propaganda und Verschwörungstheorie zu unterscheiden.
3.2. Widersprüche zwischen Frieden und Menschenrechten?
Die ideologische Aufladung zwischenstaatlicher Beziehungen mit unilateralen Wertorientierungen führt dazu, dass von fundamentalistischen Gegensätzen ausgegangen und nach Strategien gesucht wird, den jeweils anderen einzudämmen oder ganz auszuschalten.
Natürlich ist die Steinigung von Ehebrecherinnen in Saudi-Arabien, die Theokratie der Mullahs und der Taliban, die Diskriminierung religiöser, ethnischer, politischer u.a. Minderheiten in vielen Teilen der Welt
– darunter auch im Westen - schwer zu ertragen. Kritik und Protest aus der Zivilgesellschaft ist selbstver- ständlich legitim. Auch für die Friedensbewegung bleibt internationalistische Solidarität mit Pazifisten, Kriegsdienstverweigerern u.a. Kriegsgegnern, die Repressionen und Verfolgung ausgesetzt sind, auf der Tagesordnung. Allerdings muss sie sich dabei klar von geopolitischer Instrumentalisierung von Men- schenrechten durch Regierungen oder militaristischen Kräften abgrenzen.
Zudem ist Friedenspolitik per se auch Menschenrechtspolitik, denn die unmenschliche Brutalität des Krieges, die Toten, Verstümmelten, Traumatisierten, die Kriegsverbrechen sowie die sozialen und politi- schen Folgen von Zerstörung und Hass sind schwerste Verletzung der Menschenrechte.
Oft sind Menschenrechtsfragen mit dem Recht auf Selbstbestimmung von Minderheiten verknüpft, vor allem, wenn die Minderheiten Diskriminierungen ausgesetzt sind. Wenn diese dann staatliche Unab-
hängigkeit anstreben, entstehen scharfe Konflikte, in denen das Recht auf Selbstbestimmung in Widerspruch zum Recht auf territoriale Integrität des Mehrheitsstaates gerät. Spektakuläre Beispiele sind Kurdistan, Kosovo, die Kriege zwischen Armenien und Aserbaidschan um Berg-Karabach, Nord-Zypern oder die Westsahara, aber auch Katalonien oder Schottland. Und natürlich die Taiwan- und die Palästinafrage. Auch in der Ukraine ist das Selbstbestimmungsrecht der Bewohner der Krim und des Donbass eine wichtige Komponente des Konflikts. Zusätzliche Brisanz gewinnen solche Konflikte, wenn sie Teil geopolitischer Einmischung von ausländischen Mächten und entsprechend instrumentalisiert werden.
3.3. Instrumentalisierung von Menschenrechten provoziert Wagenburgverhalten
Die geopolitische Instrumentalisierung von Demokratie und Menschenrechten erzeugt permanent
Spannungen im internationalen System. Ein Klima der Konfrontation führt aber auch dazu, dass Autoritarismus und Repression in einem Land, das sich bedroht fühlt, entstehen, bzw. dort wo sie bereits existieren, sich weiter verstärken. Es tritt das Wagenburg-Phänomen ein, d.h. Abwehrhaltung nach außen führt auch immer zu Konformitätsdruck nach innen.
Das gilt für alle Seiten. Das Verbot russischer Sender und Zeitungen durch die EU und die Cancel Culture gegen alles Russische, oder auch die deutsche „Staatsraison“ im Gaza-Krieg haben zwar noch nicht das Ausmaß an Autoritarismus wie in der Ukraine und Russland erreicht, aber grundsätzlich grei: hier die gleiche Logik der Wagenburg.
Eine neue Dimension entsteht dabei durch das Internet und die Integration des Cyberspace in die Kon- frontation. Auch hier sind die USA führend. Ihr Geheimdienstsystem - 18 Institutionen mit über 800.000 Mitarbeitern - verfügte amtlichen Angaben zufolge 2023 über ein Budget von 99,6 Mrd. Dollar, wovon 27,9 Mrd. auf den militärischen Bereich enhielen.32 Zum Vergleich: die russischen Militärausgaben bei- trugen 2023, dem zweiten Kriegsjahr in der Ukraine, insgesamt 109 Mrd. Dollar.33
3.4. Krieg, Moral und Rationalität
Eng verbunden mit dem Narrativ von Auto- versus Demokratie ist der Umgang mit Konvikt und Krieg in ausschließlich moralischen Kategorien. Das führt zu einer bequemen Reduktion einer komplexen Wirk- lichtet auf zwei Variablen: „gut“ und „böse“. Diese wiederum beruhen meist auf lange etablierten Feindbildern und archetypischen Klischees, wie der ‚Gefahr aus dem Osten‘ oder dem Bild von David & Goliath. Darin wird z.B. der ‚David Ukraine‘ Opfer von ‚Goliath Russland‘. Vor allem bei vielen jungen Leuten gibt es auch die Wahrnehmung: ‚Goliath Israel‘ gegen ‚David Palästina‘! Das sind Strategien, die eigene Identität aus den realen Widersprüchen herauszunehmen und sich der einen oder anderen Seite zu unterwerfen. Eine autonome Friedensbewegung wird damit unmöglich.
Moralisch begründete Parteinahme ist auch deshalb attraktiv, weil sie ein Überlegenheitsgefühl vermint- telt. Denn „Wir“ sind natürlich „die Guten“. Moral mutiert dann zu selbstgerechtem Moralisieren, wie es sehr typisch von der links-liberalen Avantgarde des Bellizismus, dem militaristischen Mainstream und ihrer Erzählung von der „wertegeleiteten Außenpolitik“ vertreten wird.
Allerdings ist Moral nur solange glaubwürdig, wie sie unteilbar ist. Wer selbst das Völkerrecht mit Füßen tritt, wie die NATO in Jugoslawien, oder die US-geführte „Koalition der Willigen“ im Irak 2003 – darunter die Ukraine mit dem sechstgrößten Truppenkontingent von 36 - praktiziert Doppelmoral.
Doppelmoral ist auch im Spiel, wenn es um das Recht auf Selbstbestimmung geht, z.B. des Kosovo oder Taiwans. Da gilt dessen Durchsetzung mit Krieg bzw. militärischen Drohungen durch den Westen als ge- rechtfertigt, während der gleiche Vorgang im Fall der Krim oder des Donbass‘ zu Separatismus erklärt und seine militärische Niederschlagung unterstützt wird.
Heuchlerische Doppelstandards gelten auch beim Thema Annexionen. So bleiben die Annexion von Nordzypern und Teilen des kurdisch besiedelten Nordsyriens durch das NATO-Mitglied Türkei oder die der Golanhöhen und Ostjerusalems durch Israel ohne praktische Konsequenzen seitens des Westens. Die Annexion der Westsahara durch Marokko wurde, entgegen klarer UN-Beschlüsse, durch die USA sogar formell anerkannt, und Frankreich ist dabei, sich dem anzuschließen.
Aus alledem folgt kein Plädoyer für Amoralität. Auch emanzipatorische Friedenspolitik braucht einen moralischen Kompass. Aber wenn Krieg verhindert oder beendet werden soll, helfen moralische Empö- rung oder gar moralisierender Hass nicht weiter. Im Gegenteil. Hass erzeugt Gegenhass und die Sehn- sucht nach Rache und treibt so die Spirale der Gewalt immer weiter. Stattdessen muss man die Ursachen von Konflikten rational begreifen. Wissen und rationale Erkenntnis sind die Vorbedingung für mündige moralische Entscheidungen.
4. Anforderungen an Friedenspolitik auf der Höhe der Zeit
Erste Aufgabe einer zeitgemäßen Friedenspolitik ist es, die Komplexität der neuen Weltordnung zu ver- stehen und in Argumentation und Praxis einzubeziehen. Gefragt ist ein aufgeklärter Realismus, ein nüch- terner Umgang mit Geopolitik, allerdings auf Grundlage friedenspolitischer Wertorientierungen.
Dazu gehören die klare Haltung gegen Tod und Zerstörung durch Krieg und die Orientierung an der UN- Charta: Diplomatie und politische Konfliktlösung, Kooperation, ungeteilte, gemeinsame Sicherheit,
souveräne Gleichheit aller Staaten, friedliche Koexistenz, Rüstungskontrolle und Abrüstung.
Notwendig ist die qualifizierte Auseinandersetzung mit Bellizismus und Militarismus und deren schein- bar plausiblen Argumenten. Die Friedensbewegung und die gesellschaftliche und politische Linke sollten den Sirenengesängen einer ‚Burgfriedens-Politik‘, auf die die SPD sich im Ersten Weltkrieg einließ, nicht folgen.
Dabei gilt es, sich Diffamierungen wie ‚Putinversteher‘, Antiamerikanismus und dem Missbrauch des An- tisemitismusvorwurfs u.ä., die auf Denkverbote und die Unterdrückung freier Meinungsäußerung hin- auslaufen, selbstbewusst zu entziehen.
Friedenspolitik identifiziert sich nicht prinzipiell oder dauerhaft mit einem Land oder einem Lager. Das gilt auch für das eigene Land/Lager, d.h. Absage an Nationalismus, Euro-Nationalismus und die Identifi- kation mit irgendeiner Wagenburg, auch nicht mit der des Westens.
Das schließt nicht aus, im konkreten Fall Vorschläge einer Seite zu unterstützen, wenn sie friedenspoli- tisch sinnvoll sind. Das gilt auch für entsprechende Initiativen aus ‚Feindesland‘.
Nicht möglich ist in einer interdependenten Welt und unter Bedingungen der existenziellen Bedrohung durch Massenvernichtungsmittel die Haltung „Alles Imperialisten, aus deren Händel halten wir uns raus“.
Strategische Autonomie der EU, die darauf hinausläuft, klassische Großmacht zu werden, ist keine Frie- denspolitische Option. Gebraucht wird eine Autonomie, die mit einem anderen Politiktypus einhergeht, der auf Frieden, Koexistenz, Abrüstung, gemeinsamer Sicherheit und Kooperation beruht.
Schon in Vorkriegszeiten gehört die Kritik an ideologischen Feindbildern, die eine wesentliche Voraus- setzung für außenpolitische Aggressivität schaffen, zu den Aufgaben von Friedenspolitik. Dazu ist es auch notwendig, autonome Expertise über ‚die Feinde‘ zu entwickeln, um nicht von staatstragenden
‚Experten‘, selbsternannten Think Tanks und einschlägigen Instituten abhängig zu sein.
Eine andere Außenpolitik für Deutschland liegt in der Verantwortung der deutschen Friedenskräfte.
Das kann ihnen niemand abnehmen und muss im Mittelpunkt ihrer Arbeit stehen. Ihre Aufgabe ist es, der Militarisierung der Gesellschaft, der Aufrüstung und den Großmachtambitionen des herrschenden Blocks – sei es in deutscher, EU- oder NATO-Gestalt – entgegenzutreten.
Kontroversen innerhalb der Friedensbewegung sollten in sachlicher und solidarischer Form ausgetragen werden und nicht zu Konfrontation und gegenseitiger Ausgrenzung führen. Grenzen der Toleranz gibt es nur gegenüber rechtsextremistischen, nationalistischen, militaristischen u.ä. Kräften. 34
Die herrschende Politik führt zu Demokratieabbau und zu sozialen Belastungen vor allem der subalter- nen Klassen und Schichten. Das muss eine wichtige Rolle friedenspolitischer Argumentation sein, nicht zuletzt, weil hier äußerst wichtige Ansatzpunkte für Gegenmachtbildung liegen.
Auch ist es den Kalten Kriegern der Zeitenwende, trotz intensiver Gesinnungsmassage durch die staats- tragenden Medien, noch immer nicht gelungen, die Bevölkerung voll auf ihre Seite zu ziehen. Wie Um- fragen immer wieder bestätigen, gibt es weiterhin starke post-heroische Einstellungen und eine Ableh- nung weiter Teile der Bevölkerung, sich auf „Kriegstüchtigkeit“ trimmen zu lassen.
Das gibt Anlass zu der Zuversicht, dass die Friedensbewegung wieder stark und einflussreich werden kann.
Zur Veröffentlichung genehmigt von der Initiative Nie wieder Krieg!
Quellenangaben
1 An der Formulierung des Textes waren beteiligt: Michael Brie, Erhard Crome, Frank Deppe, Peter Wahl. Die Verantwortung für die Endfas- sung liegt allein bei der Initiative ‚Die Waffen nieder!‘
2 UN Economic and Social Council (2000): The adverse consequences of economic sanctions on the enjoyment of human rights.
E/CN.4/Sub.2/2000/33 21 June 2000
3 The Washington Post, 25.7.2024: How four U.S. Presidents Unleashed Economic Warfare across the Globe. https://www.washing- tonpost.com/business/interactive/2024/us-sanction-countries-work/
4 Rede an der Militärakademie Westpoint, 28.5.2014. https://obamawhitehouse.archives.gov/the-press-office/2014/05/28/remarks-presi- dent-united-states-military-academy-commencement-ceremony
5 Das Bruttoinlandsprodukt (BIP) wird von IWF, Weltbank u.a. Institutionen sowohl in Wechselkurs- als auch in Kauarabparität (KKP) angege- ben. Da die Produktionskosten für alle im jeweiligen Inland produzierten Güter und Dienstleistungen aufgrund von Unterschieden bei Arbeits- kosten, Zugang zu Rohstoffen, Skaleneffekte durch den Binnenmarkt etc. erheblich sein können und sich damit entsprechend auf die wirt- schabliche Leistungskrab auswirken, verzerrt die Rechnung nach Wechselkursparitäten ob das Bild. So kann eine Kursänderung einer Wäh- rung über Nacht ein größeres oder kleineres BIP erscheinen lassen, obwohl sich realwirtschablich nichts geändert hat.
6 International Monetary Fund (IMF), data. https://data.imf.org/?sk=388dfa60-1d26-4ade-b505-a05a558d9a42
7 Abschlusserklärung der BRICs-Gründungskonferenz, Jekaterinburg 2009.
8 Congressional Research Service. U.S. Role in the World: Background and Issues for Congress. Updated January 19, 2021. https://crsreports.congress.gov/product/pdf/R/R44891.
9 Putin, Rede an die Nation, 21.2.2022. https://www.anti-spiegel.ru/2022/praesident-putins-komplette-rede-an-die-nation-im-wortlaut/ 10 Ministry of Foreign Affairs of the Russian Federation (2023). The Concept of the Foreign Policy of the Russian Federation. https://mid.ru/en/foreign_policy/fundamental_documents/1860586/
11 Price Waterhouse Cooper (2017): The long view: how will the global economic order change by 2050. London
12 Rat der Europäischen Union (2022): Ein Strategischer Kompass für Sicherheit und Verteidigung. S.7
13 Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung. 2.6.2024; S. 2. Einstimmigkeit meint das Konsensprinzip in Außen- und Sicherheitspolitik.
14 Europäisches Parlament. Umsetzung der Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik. 14.12.2016. P8_TA-PROV(20216)0503
15 Die Notwendigkeit der anhaltenden Unterstützung der EU für die Ukraine. Entschließung des Europäischen Parlaments vom 17. Juli 2024 (2024/2721(RSP))
17 Klingbeil, Lars, Rede zur Zeitenwende. 22.6.2022. S. 5. In: IPG Journal. https://www.ipg-journal.de/rubriken/aussen-und-sicherheitspoli- tik/artikel/lars-klingbeil-rede-zur-zeitenwende-6010/?utm_campaign=de_40_20220622&utm_medium=email&utm_source=newsletter
18 Allison, Graham. Destined for War: Can America and China Escape Thucydides's Trap? Boston/New York. 2017, S. 42 ff.
19 The White House. National Security Strategy. October 2022. https://www.whitehouse.gov/wp-content/uploads/2022/10/Biden-Harris- Administrations-National-Security-Strategy-10.2022.pdf
20 New York Times, 7.3.1992. https://www.nytimes.com/1992/03/08/world/us-strategy-plan-calls-for-insuring-no-rivals-develop.html Wolfowitz war stellvertretender Verteidigungsminister. Sein Entwurf wurde von der New York Times geleakt, und musste daher aus Image- gründen überarbeitet werden. Unabhängig davon ist die sog. ‚no rival Strategie‘ Kern der US-Geo-Strategie (s. auch Fußnote 6).
21 Department of the Navy: Advantage at Sea. Prevailing with Integrated All-Domain Naval Power. December 2020.
22 20 years climate focus. Climate damage caused by Russia’s war in Ukraine (First and second interim assessments). https://climatefo- cus.com/publications/climate-damage-caused-by-russias-war-in-ukraine/
23 Auer, Martin (2023): Der CO2-Stiefelabdruck des Militärs. https://at.scientists4future.org/2023/05/15/co2-stiefelabdruck-des-militars/ 24 Vertrag von 1987 über das Verbot landgestützter Mittelstreckenraketen in Europa mit einer Reichweite von 500 – 5.500 km. Der Vertrag wurde von der Trump-Administration gekündigt.
25 Washington erklärte, die Systeme dienten dem Schutz der EU vor iranischen Raketen. Von der iranischen Grenze ist es 1.500 km bis Rumä- nien und 2.000 km bis Polen. Dagegen grenzt Polen direkt an das Gebiet der russischen Enklave Kaliningrad.
26 Zitiert nach: Telepolis, 24.8.2023. https://www.telepolis.de/features/Republikaner-Debatte-Blutbad-ueber-die-Ukraine-und-was-ist-mit- China-9283499.html
27 The White House. National Security Strategy, a.a.O. S. 8
28 Klingbeil, Lars; a.a.O. S. 4
29 Was auch schon damals umstritten war. So schrieb Robespierre: „Niemand liebt die bewaffneten Missionare; der erste Rat, den die Natur und die Klugheit geben, ist der, sie als Feinde zurückzuschlagen.“
30 Das wurde später aus gutem Grund zurückgenommen und die Organisation 1943 aufgelöst.
31 Resolution A/RES/60/1 der UN-Vollversammlung, 16.9.2005
32 Office of the Director of the National Intelligence. https://www.dni.gov/index.php
33 SIPRI. Trends in Military expenditure, 2023. https://www.sipri.org/sites/default/files/2024-04/2404_fs_milex_2023.pdf
Die Fed schwenkt endlich um
Die Fed scheint davon auszugehen, dass der „Krieg gegen die Inflation“ vorbei ist, aber der Umfang der Senkung fällt auffällig hoch aus.
In den letzten Jahren nach dem Ende des pandemiebedingten Einbruchs war der Leitzins sehr stark gestiegen, von fast null im Jahr 2021 auf 5,5 % im Jahr 2023.
Der Leitzins dient als Untergrenze für alle Zinssätze für die Kreditaufnahme von Haushalten für Hypotheken und Verbraucherkredite sowie für Unternehmen für Kredite und Anleihepreise in den USA.
Aber nicht nur in den USA. Die Unternehmen und Regierungen der Welt leihen sich Geld hauptsächlich in Dollar.
Der Leitzins der Fed wirkt sich also indirekt auf die Kreditzinsen in allen Ländern aus, insbesondere in den Ländern mit hohen Schulden im globalen Süden. Der hoheZinssatz der Fed hat die Schuldenlast für die ärmsten Länder in die Höhe getrieben, von denen sich viele in einer "Schuldenkrise" befinden und einige sogar ihre Zahlung einstellen.
Der Fed-Ausschuss beschloss, den Leitzins um 50 Basispunkte (0,5 %) zu senken, nicht um 25 Basispunkte, wie es üblich ist. Dies impliziert zwei Dinge: eines ist rosig und eines nicht so rosig. Es deutet darauf hin, dass die Fed zuversichtlich ist, dass die Inflationsrate in den USA weiter in Richtung des politischen Ziels von 2 % pro Jahr sinken wird. Die Fed misst die Inflation anhand der Preisentwicklung bei den privaten Konsumausgaben (PCE), und die PCE-Rate ist jetzt auf 2,3 % gesunken. Die Fed geht davon aus, dass diese Rate bis 2026 (also noch etwa zwei Jahre entfernt) auf das Ziel von 2 % fallen wird.
Es deutet aber auch darauf hin, dass die US-Wirtschaft deutliche Anzeichen einer Verlangsamung aufweist. Das reale BIP-Wachstum lag im ersten Halbjahr 2024 bei durchschnittlich etwa 2,2 %. Diese Wachstumsrate wird sich jedoch voraussichtlich im gerade zu Ende gehenden dritten Quartal verlangsamen. Die Prognose der Federal Reserve von St. Louis liegt für dieses Quartal bei 1,6 %, während die Prognose der Federal Reserve von Atlanta mit 2,9 % höher ausfällt. Der US-amerikanische Fertigungssektor befindet sich trotz des Baubooms im Bereich der KI-Infrastruktur weiterhin in einer Flaute.
Die Arbeitslosenquote ist auf ein Niveau gestiegen, was einigen Indikatoren zufolge auf eine bevorstehende Rezession hindeutet.
Darüber hinaus wird die Inflation durch die Verwendung der PCE-Inflation stark unterschätzt. Der Hauptgrund für den Anstieg der Inflation seit 2022 ist der Anstieg der Energie- und Lebensmittelpreise, der durch die Unterbrechungen in den internationalen Lieferketten nach der Pandemie und das schlechte Produktivitätswachstum, d. h. den Angebotsfaktor, verursacht wurde. Er war nicht auf „übermäßige“ Staatsausgaben oder „übermäßige“ Lohnerhöhungen, d. h. auf Nachfragefaktoren, zurückzuführen.
Die Belege dafür aus vielen Studien sind überwältigend. überwältigend.
Der Rückgang der „Schlagzeilen“-Inflationsrate ist hauptsächlich auf einen Rückgang der steigenden Energie- und Lebensmittelpreise zurückzuführen. Dahinter ist die Kerninflation bei den Preisen nicht annähernd so stark zurückgegangen. Die Kerninflation bei den privaten Konsumausgaben liegt in den USA immer noch bei etwa 2,6 % pro Jahr. Und wenn verschiedene Komponenten der Haushaltsausgaben (Versicherungen, Hypotheken usw.) ordnungsgemäß in den Inflationskorb aufgenommen würden, würde dies ein anderes Bild ergeben und die Inflationsrate um mehrere Punkte höher ausfallen als bei der PCE-Messung.
Die geldpolitischen Maßnahmen der Fed haben den Anstieg der Inflation nicht aufgehalten und hatten wenig damit zu tun, dass sie anschließend gesunken ist.
Dennoch behauptet die Fed, dass die Inflation durch ihre Geldpolitik eingedämmt wurde und vor allem, ohne einen Einbruch der Wirtschaft zu verursachen. Die Prognosen des Fed-Ausschusses gehen von einem realen BIP-Wachstum von 2 % pro Jahr, einer Inflation von 2 % und einer Arbeitslosenquote von etwa 4,4 % aus – mit anderen Worten, eine perfekte „sanfte Landung“ für die Wirtschaft; ein „Goldilocks-Szenario“ einer Wirtschaft, die weder „zu heiß“ noch „zu kalt“ ist, sondern genau richtig. Dieses Szenario wird von allen großen Mainstream-Ökonomen der großen Investmentbanken bestätigt und wird daher von der Mehrheit der Finanzinvestoren akzeptiert.
Infolgedessen erreichten die US-Aktien- und Anleihemärkte nach der Zinssenkung der Fed neue Höchststände.
Die Art und Wahrscheinlichkeit dieser sogenannten "sanften Landung" ist in einem früheren Beitrag erörtert.
An dieser Stelle ist lediglich anzumerken, dass die US-Wirtschaft derzeit noch nicht in eine Rezession gerät. Die Unternehmensgewinne halten sich und bieten finanzielle Unterstützung für einige Investitionen, obwohl die meisten dieser Gewinne von den Mega-Tech-Unternehmen Magnificent Seven erzielt werden und die meisten Investitionen von diesen Unternehmen in KI und Chip-Infrastruktur getätigt werden, die teilweise von der Biden-Regierung Subventionen erhalten.
Der Großteil des US-Unternehmenssektors hat mit Problemen zu kämpfen, insbesondere kleine Unternehmen, die unter hohen Zinssätzen, einer schwachen Nachfrage nach ihren Waren und Dienstleistungen und gestiegenen Kosten für Vorleistungen und Dienstleistungen leiden.
Rund 37 % der kleinen Unternehmen in den USA mussten in den letzten drei Monaten einen Gewinnrückgang hinnehmen, der höchste Anteil seit 14 Jahren. Dies ist sogar noch schwächer als die 35 %, die während der Pandemie im Jahr 2020 verzeichnet wurden.
Kleine Unternehmen haben mit Schwierigkeiten zu kämpfen, als befände sich die Wirtschaft in einer Rezession.
Auch hier muss man das richtige Augenmaß bewahren. Finanzinvestoren mögen sich über den Beginn einer Reihe von Zinssenkungen freuen, die es billiger machen, Kredite aufzunehmen und mit „fiktivem Kapital“ zu spekulieren, aber die US-amerikanische „Realwirtschaft“ kommt kaum in Schwung.
Die Fed prognostiziert für den Rest dieses Jahrzehnts nur 2 % reales BIP pro Jahr.
Diese Rate liegt deutlich unter der durchschnittlichen Wachstumsrate vor der Großen Rezession von 2008-09 und vor der Pandemie, bedeutet aber eine viel niedrigere Rate des realen BIP pro Person, da die Bevölkerung durch Einwanderung wächst.
Und die US-Wirtschaft ist die leistungsstärkste der sieben größten kapitalistischen Volkswirtschaften (G7). Deutschland befindet sich in einer Flaute, Großbritannien, Frankreich und Italien stagnieren; Kanada und Japan stagnieren. Nur die kleineren südeuropäischen Volkswirtschaften in Europa schneiden besser ab, und das von einem sehr niedrigen Niveau aus. Was die sogenannten „Schwellenländer“ des globalen Südens betrifft, so befindet sich Südafrika in einer Flaute, Brasilien kommt nur langsam voran und Russland wächst nur als „Kriegswirtschaft“, während auch in den schnell wachsenden Volkswirtschaften Chinas und Indiens Anzeichen einer Verlangsamung zu erkennen sind.
Die Zinssenkungen der Fed werden nichts an diesen Trends ändern.
Globales Landgrabbing deutscher Unternehmen - „Sozial nachhaltig“
Botschaftsvertreter in Sambia lobt Firmenengagement für vermeintliche „soziale Nachhaltigkeit“.
Deutsches Unternehmen betreibt in Sambia Landgrabbing im großen Stil und schädigt damit einheimische Kleinbauern schwer. Deutscher Botschaftsvertreter lobt die Firma für vermeintliche „soziale Nachhaltigkeit“. Dies zeigt aktuell das Beispiel der deutschen Firma Amatheon Agri, die auf dem afrikanischen Kontinent im großen Stil Agrarflächen aufkauft. In Sambia hat das Unternehmen inzwischen 40.000 Hektar erworben – eine Fläche annähernd von der Größe des Bodensees. Um die Nutzung für den Anbau von cash crops oder auch für die Viehzucht zwecks Fleischproduktion zu ermöglichen, wurden zahllose Kleinbauern zwangsweise umgesiedelt und ihrer Lebensgrundlage beraubt. Wie die Nichtregierungsorganisation FIAN berichtet, beraubt Amatheon Agri Kleinbauern außerdem des lebensnotwendigen Zugangs zu Wasser und sperrt Wege; behindert wird zuweilen sogar der Krankentransport. Ein Mitarbeiter der deutschen Botschaft in Sambia lobte Amatheon Agri kürzlich für angebliche „Errungenschaften in ökonomischer, sozialer und ökologischer Nachhaltigkeit“. Laut FIAN-Angaben sind auch weitere deutsche Unternehmen an Landgrabbing beteiligt. Die Bundesregierung, heißt es bei der Organisation, komme ihrer Pflicht, gegen die Verletzung legitimer Landrechte im Globalen Süden vorzugehen, nicht nach.
Amatheon Agri
Die Amatheon Agri Holding N.V. ist ein überwiegend auf dem afrikanischen Kontinent tätiges Agrar- und Lebensmittelunternehmen mit Hauptsitz in Berlin. Miteigentümer Lars Windhorst, ein deutscher Unternehmer, der einst von Bundeskanzler Helmut Kohl als „Wunderkind der deutschen Wirtschaft“ gefeiert wurde und heute für seine schillernde Karriere bekannt ist [1] – gegen ihn lag bis April ein Haftbefehl in Großbritannien vor [2] –, rief die Firma 2011 zusammen mit Carl Heinrich Bruhn ins Leben, einem ehemaligen Manager der Molkerei Müller. Amatheon Agri dehnt seine Tätigkeit vom Anbau von Agrargütern bzw. von der Viehzucht über die Verarbeitung bis zum Handel entlang der gesamten Wertschöpfungskette aus. Hauptprodukte sind sogenannte cash crops wie Mais und Soja sowie Fleisch. Dabei zielt das Unternehmen auf die Ausbeutung vermeintlich „ungenutzter Ressourcen“ in Afrika südlich der Sahara, wo es mit „europäische[m] Know-how“ allen Beteiligten eine „Win-Win-Situation“ verspricht.[3] Im Jahr 2012 begann Amatheon Agri Ländereien in Sambia zu erwerben, expandierte dann 2013 nach Uganda, 2014 nach Simbabwe und zuletzt 2022 in die Demokratische Republik Kongo. Eine größere Aufmerksamkeit in Deutschland erhalten immer wieder die Aktivitäten der Firma in Sambia.
Zwangsumsiedlungen für Monokulturen
In Sambia hat sich Amatheon Agri Agrarflächen von rund 40.000 Hektar angeeignet – eine Fläche, die, wie die Nichtregierungsorganisation FIAN (FoodFirst Informations- und Aktions-Netzwerk) konstatiert, ungefähr so groß ist wie der Bodensee.[4]
Um Platz für Monokulturen zu schaffen – vor allem Soja und Mais –, veranlasste das deutsche Unternehmen immer wieder Zwangsumsiedlungen der ursprünglich ansässigen Kleinbauern. Manche von deren Gemeinden sind mittlerweile durch Agrarflächen, die Amatheon Agri gehören, faktisch eingekesselt. Die Kleinbauern dürfen diese Flächen nicht betreten, weshalb immer wieder kilometerlange Umwege in die nächstgelegene Stadt genommen werden müssen.
Auch Krankentransporte werden behindert. Entlaufenes Vieh wird oft von Amatheon Agri eingefangen und den Kleinbauern nur gegen die Zahlung exzessiver Beträge zurückgegeben. Fälle, in denen die Firma der einheimischen Bevölkerung die traditionelle Nutzung von Flusswasser untersagte – als Trinkwasser oder auch zum Waschen –, sind bekannt.[5] Durch den Bau zweier Staudämme wiederum, die Amatheon Agri zur Bewässerung seiner Monokulturen benötigte, wurden Flussbetten trockengelegt; mehrere hundert Familien sollen besonders in der Trockenzeit von Wasserverknappung betroffen sein.
„Sozial nachhaltig“
Die Kleinbauern setzen sich zuweilen, nicht zuletzt mit Unterstützung der NGO FIAN, zur Wehr. Kürzlich etwa gelang es ihnen, eine einstweilige Verfügung gegen Amatheon Agri zu erwirken, in der der Firma verboten wurde, bestimmte Gebiete zu betreten.[6] Kurz nach dem Inkrafttreten der Verfügung trafen, wie FIAN berichtet, Vertreter der deutschen Firma einen lokalen Chief; wenig später wurde die einstweilige Verfügung zurückgezogen. In der folgenden Nacht vom 21. auf den 22. August 2024 berichteten mehrere Kleinbauern FIAN telefonisch, ihre Dörfer seien soeben überfallen, ihre Häuser zerstört worden. FIAN hat mehrmals versucht, die deutsche Botschaft in Sambia dazu zu bewegen, auf Amatheon Agri einzuwirken – ohne Erfolg. Stattdessen lobte vor kurzem ein Mitarbeiter der Botschaft die Firma für ihre angeblichen „Errungenschaften in ökonomischer, sozialer und ökologischer Nachhaltigkeit“.[7]
Das Vorgehen des Unternehmens wiegt umso schwerer, als in Sambia zwei Drittel der Bevölkerung unter Armut leiden; bereits seit Monaten herrscht Dürre, inzwischen hungert laut Berichten rund die Hälfte aller Einwohner.[8]
Weiter erschwert wird die Lage dadurch, dass die westlichen Russland-Sanktionen die Preise für Düngemittel auch in Sambia in die Höhe schnellen ließen.[9]
Landgrabbing weltweit
Landgrabbing, wie es Amatheon Agri unter anderem in Sambia betreibt, hat sich in jüngerer Zeit weltweit zu einem boomenden Trend unter Investoren entwickelt. Bereits im Jahr 2018 wurde die Größe der landwirtschaftlich genutzten Fläche, die sich Investoren allein seit dem Jahr 2000 angeeignet hatten, auf ungefähr 26,7 Millionen Hektar Land geschätzt – mehr als zwei Drittel der Gesamtfläche der Bundesrepublik. Allein in Afrika seien Agrarflächen in einer Größe von zehn Millionen Hektar verkauft worden, hieß es. Dabei hätten nur neun Prozent der Akquisitionen weltweit die Nutzung zur Lebensmittelproduktion zum Ziel gehabt; 38 Prozent der Erwerbungen seien „für Pflanzen bestimmt“ gewesen, „die nicht der menschlichen Ernährung dienen“, sondern der Herstellung von Tierfutter oder auch von Biokraftstoffen.[10] Mittlerweile werden – so etwa durch das Unternehmen Blue Carbon mit Sitz in Dubai – auch riesige Waldflächen in Ländern Afrikas, Asiens und Lateinamerikas aufgekauft, um per Emissionshandel Geld zu verdienen und damit die Industrieländer, die sich nicht schnell genug dekarbonisieren, zu entlasten.[11] Wie schnell die Entwicklung voranschreitet, zeigt die Tatsache, dass nach einer aktuellen Analyse die seit 2000 von Landgrabbing betroffene Fläche mittlerweile auf 100 bis 213 Millionen Hektar geschätzt wird.[12]
Stillschweigende Zustimmung
Auch andere deutsche Unternehmen beteiligen sich an Landgrabbing in großem Stil – und zwar nicht nur Amatheon Agri. So investierte etwa die Deutsche Bank, wie Roman Herre, Agrarreferent von FIAN Deutschland, berichtet, im Jahr 2009 über ihr Tochterunternehmen DWS „mindestens 279 Millionen Euro in Firmen, die Agrarland kaufen oder pachten“. Diese Firmen hätten mehr als drei Millionen Hektar Land „in Südamerika, Afrika und Südostasien“ in ihren Besitz gebracht.[13] Laut Herre hat zudem die Ärzteversorgung Westfalen-Lippe „100 Millionen US-Dollar in einen globalen Landfonds“ investiert, der „allein in Brasilien 133.000 Hektar Land insbesondere für riesige Sojabohnenmonokulturen aufgekauft“ habe. Herre weist darauf hin, die Bundesregierung müsse der aktuellen „Rechtsauslegung der Vereinten Nationen zu Land- und Menschenrechten“ zufolge eigentlich einschreiten; sie müsse nicht nur sicherstellen, dass „ihr eigenes Handeln beispielsweise über Entwicklungsbanken nicht zur Verletzung legitimer Landrechte führt“, sondern auch, dass eine solche Rechtsverletzung „durch in Deutschland ansässige Unternehmen mittels Regulierung unterbunden“ werde.
In Wirklichkeit ist die Bundesregierung freilich – das zeigen nicht zuletzt die unterstützenden Worte aus der deutschen Botschaft in Sambia für Amatheon Agri – von jedem Einschreiten gegen Landgrabbing weit entfernt.
[1] David Nikolai Müller, Tobias Fuchs: Justiz-Krimi um Dessous-Firma von Finanzjongleur Lars Windhorst: Luxusmarke La Perla droht der Ausverkauf. businessinsider.de 19.01.2024.
[2] Olaf Storbeck, Robert Smith, Cynthia O’Murchu: Court suspends arrest warrant after Lars Windhorst agrees to attend hearing. ft.com 04.06.2024.
[3] „Globale Ernährungstrends mit Afrikas Potenzial kombinieren, das ist unsere Stärke“. Carl Heinrich Bruhn, Amatheon Agri Holding N.V. fixed-income.org 02.02.2021.
[4] Berliner Agrarinvestor Amatheon: Konflikte um Land und Wasser eskalieren. fian.de 03.09.2024.
[5] Kathrin Hartmann: Deutscher Agrarinvestor in Sambia: Amatheon Agri in der Kritik. rosalux.de 13.09.2024.
[6] Sambia – Amatheon. fian.de.
[7] Kathrin Hartmann: Deutscher Agrarinvestor in Sambia: Amatheon Agri in der Kritik. rosalux.de 13.09.2024.
[8] Kathrin Hartmann: Konflikte um Land und Wasser: Sambische Bauern gegen deutsche Firma. fr.de 03.09.2024.
[9] Zambia: Impacts of the Ukraine and Global Crises on Poverty and Food Security. International Food Policy Research Institute (IFPRI): Country Brief 15. 07.07.2022. S. auch Die Hungermacher (IV).
[10] Landgrabbing. weltagrarbericht.de.
[11] Land Grabs for Carbon. thebreakthrough.org 28.05.2024.
[12], [13] Roman Herre: Land Grabbing: Boden als Investitionsobjekt. boell.de 09.01.2024.
Deutsche Ökonomie in der Globalisierungsfalle? Die internationale Vernetzung der deutschen Wirtschaft
Ein Merkmal dieser besonderen außenwirtschaftlichen Beziehungen ist seit Jahren der Außenhandelsüberschuss.
Bei der Betrachtung des Offenheitsgrades (Summe von Exporten und Importen im Verhältnis zur Wirtschaftsleistung) weist Deutschland eine erheblich größere Offenheit aus als vergleichbare andere Industrieländer wie Frankreich, Vereinigtes Königreich, China oder die USA (vgl. hierzu Prognos 2024, 2). Dabei weist die Verflechtung weit über die in den Handelsstatistiken ablesbaren Größen hinaus. Es ist nicht übertrieben zu behaupten, der Aufstieg Deutschlands zu einer führenden Industrienation ist eng mit diesen internationalen Verflechtungen verbunden, ja wäre ohne sie kaum vorstellbar. Sie sind ein besonderes Charakteristikum der wirtschaftlichen Ausrichtung in diesem Land.
Ein Merkmal dieser besonderen außenwirtschaftlichen Beziehungen ist seit Jahren intensiv in der Debatte und in der Kritik: der Außenhandelsüberschuss (vgl. hierzu beispielhaft neben ganz vielen anderen Veröffentlichungen: Arbeitsgruppe Alternative Wirtschaftspolitik 2017). Deutschland produziert seit Jahr- zehnten mehr Waren, als es im Inland verbraucht. Dieser oft als »Exportorien- tierung« bezeichnete Tatbestand war lange Zeit der wichtigste Wachstumstreiber der deutschen Wirtschaft. Der Schwerpunkt der deutschen Warenausfuhren liegt dabei bei wenigen Industriebranchen. Die Autoindustrie, der Maschinenbau, die Chemische Industrie, DV-Geräte, Elektronik, Optik und die Elektrischen Ausrüs- tungen machten im Jahr 2023 55 Prozent der gesamten Ausfuhren aus.
Deutschland ist einer der wenigen klassischen Industrieländer, wo die Be- deutung der Industrie (Anteil an Bruttowertschöpfung und an der Beschäftigung) für die gesamte Wirtschaft seit langem stabil ist. Fast alle anderen Länder hat- ten mehr oder weniger ausgeprägte Deindustrialisierungen zu verkraften. Ohne erhebliche Exportquoten wäre diese Entwicklung in Deutschland nicht möglich gewesen. Einen so großen Bedarf an industriellen Produkten gibt es inländisch schlicht nicht.
Allerdings sind die Zeiten stark steigender Außenhandelsüberschüsse vorbei. Der Höhepunkt war bereits 2016 erreicht, als der Überschuss einen Wert von fast 250 Milliarden Euro erreichte. Seitdem war er bis 2022 kontinuierlich gesunken. Im letzten Jahr stieg er wieder an, blieb aber mit 225 Milliarden Euro deutlich unter den früheren Spitzenwerden. Zudem sind diese Daten aus der Handelssta- tistik nicht preisbereinigt. Real ist der Rückgang in den letzten Jahren damit noch viel größer gewesen.
Während die Exportorientierung immer Gegenstand intensiver Debatten war, ist ein anderes Merkmal der internationalen Verflechtungen lange Zeit unbeachtet geblieben: die Importorientierung. Erst in den Zeiten der Corona-Krise, als internationale Lieferketten gerissen sind und Produktion deshalb nicht mehr stattfinden konnte, rückte auch dieser Aspekt in den Blickpunkt. 2023 betrugen die Warenausführen knapp 1,6 Billionen Euro, die Einfuhren beliefen sich aber ebenfalls auf gigantische 1,4 Billionen Euro. Angesichts dieser Summen relati- viert sich sogar der enorme Außenhandelsüberschuss. Bis 2019 waren sowohl die Exporte als auch die Importe kontinuierlich angestiegen, mit Ausnahme der Krisenjahre 2009/10. Der Rückgang 2020 war ebenfalls krisenbedingt, durch die Maßnahmen zur Bekämpfung der Coronapandemie waren die Außenhandels- beziehungen stark eingeschränkt. Der starke Anstieg der Einfuhren 2022 beruht ausschließlich auf Preiseffekten, weil die Importpreise für Gas und Öl und auch einige andere Rohstoffe förmlich explodierten. Das hat sich im letzten Jahr wie- der normalisiert.
Von dem Muster, das Rohstoffe eingeführt und dann industrielle bearbeitet wer- den und diese Produkte dann ausgeführt werden, haben sich die deutschen Ein- fuhren schon lange entfernt. Natürlich werden auch weiterhin Rohstoffe impor- tiert, da Deutschland als rohstoffarmes Land darauf angewiesen ist. Das ist aber nur ein relativ kleiner Teil. Selbst wenn man davon ausgeht, dass Rohstoffe zu relativ niedrigen Preisen gehandelt werden und deshalb – in Werten ausgedrückt
– in der Handelsbilanz unterrepräsentiert sind, machen sie nur einen kleinen Teil der Importe aus. Die Struktur der Güter unterscheidet sich nicht wesentlich von der Struktur der Exportgüter. Gut die Hälfte der importierten Waren sind Produkte der wichtigen Industriebranchen DV-Geräte, elektrische und optische Erzeugnisse, Autoindustrie, elektrische Ausrüstungen, Maschinenbau und che- mische Erzeugnisse.
Auch von den Ländern unterscheiden sich die Warenein- und Ausfuhren nicht besonders stark. Wichtigster Handelspartner ist in jedem Fall die EU. 54 Prozent der Exporte gingen und 52 Prozent der Importe kamen 2023 aus der EU. Nach einzelnen Ländern sortiert gehen die Exporte vor allem in die USA, nach Frankreich, die Niederlande, China und Polen. China ist das einzige Land, bei dem sich die deutschen Handelsbeziehungen deutlich von den anderen unter- scheiden. Aus China beziehen wir viel mehr Waren, als wir dorthin verkaufen. So ist die Rangfolge der wichtigsten Importstaaten China, die Niederlande (das ist ein Sonderfall, weil ein großer Teil der Ölimporte der Niederlande zugerechnet wird), Polen und Italien.
Zu den Importen gehören neben Gas, Öl, Metallen und landwirtschaftlichen Er- zeugnissen auch Konsumgüter. Große Teile der heimischen Konsumgüterindus- trie wurden in den letzten Jahrzehnten von den Importeuren verdrängt. So gibt es beispielsweise praktisch keine Produktion von Unterhaltungselektronik oder von Textilien mehr in Deutschland. Diese Branchen haben dem Kostendruck mit Ländern, die mit erheblich geringerem Lohnniveau fertigen, nicht standgehalten. Auch viele gängige Medikamente kommen mittlerweile fast ausschließlich aus dem Ausland. Doch die Einfuhren spielen auch für die hiesige Produktion eine ganz wichtige Rolle. Es werden in großem Maße industrielle Vorprodukte ein- geführt, die in Deutschland weiterverarbeitet werden.
Mit der Osterweiterung der EU wurde die dortige Industrie zu einer verlän- gerten Werkbank der hiesigen Unternehmen entwickelt. Viele neue Fabriken entstanden auch auf der grünen Wiese. Teile der vorher in Deutschland statt- findenden Produktion wurde in diese Länder verlagert, was zu einer erheblichen Kostensenkung führte. Eine weitere wichtige Vorleistungsgruppe, die importiert wird, sind Güter, die in Deutschland nicht in ausreichender Menge und/oder in ausreichender Qualität zur Verfügung stehen. An erster Stelle sind hier die Halb- leiter zu nennen, die in vielen Branchen benötigt werden. Im Ergebnis ist in der deutschen Industrieproduktion ein bedeutender Teil ausländischer Wertschöp- fung enthalten.
»Der überdurchschnittlich hohe Offenheitsgrad liegt unter anderem am ho- hen deutschen Importbedarf an Vorleistungsgütern für die weitere Verarbeitung in den industriellen Wertschöpfungsketten. Ein erster Überblick zeigt, dass ei- nige Branchen besonders viele Vorleistungsgüter aus dem Ausland beziehen, die dann in ihren jeweiligen Produktionsprozessen weitere Verwendung finden. An der Spitze steht hier der Kraftwagenbau mit Vorleistungsimporten im Wert von mehr als 60 Mrd. Euro.« (Prognos 2024, 2)
In den zentralen deutschen Industriebranchen wie Auto, Chemie oder Maschi- nenbau stammen 30–40 Prozent der Wertschöpfung aus dem Ausland. Das gilt in etwas abgeschwächter Form nicht nur für die Produktion, sondern auch für die deutschen Ausfuhren. »Etwa 30 Prozent der Exporte des Verarbeitenden Gewerbes enthalten importierte Vorleistungen und Rohstoffe. … In der Auto- mobilindustrie macht ausländische Wertschöpfung etwa 28 Prozent des Wertes der Exporte aus. Das liegt etwas unterhalb des Durschnitts des Verarbeitenden Gewerbes. Die Bedeutung globaler Wertschöpfungsketten hat über die Zeit zu- genommen« (SVR 2022, 375).
Damit wird der Umriss des deutschen »Geschäftsmodells« deutlich. Mit dem Import günstiger Konsumgüter und günstiger Energie wurde der Lebensstandard gesichert. Gleichzeitig haben niedrige Energie- und Rohstoffpreise sowie die Ein- fuhr von industriellen Vorleistungsgütern aus Staaten mit erheblich niedrigerem Lohnniveau die Wettbewerbsfähigkeit der Industrie gesteigert. Das hat zu den großen Exporterfolgen beigetragen und somit relativ gut bezahlte industrielle Ar- beitsplätze gesichert und den exportierenden Konzernen hervorragende Profite beschert. Doch dieses Modell stößt schon seit längerem an seine Grenzen. Die un- mittelbaren Wachstumseffekte aus den vielfältigen Außenhandelsverflechtungen lassen sich am Außenbeitrag ablesen. Diese Größe aus der Volkswirtschaftlichen Gesamtrechnung beschreibt den Anteil des Wachstums (oder des Schrumpfens), die sich aus den Exporten minus der Importe ergeben.
Zuletzt waren es die Jahre 2010 bis 2012, in denen es der deutschen Ökonomie gelungen war, einen nennenswerten Außenbeitrag zu erwirtschaften. Damals haben die Exporte wesentlich dazu beigetragen, die Wirtschafts- und Finanz- krise schnell zu überwinden, was als V-förmiger Krisenverlauf bezeichnet wur- de. Die Industrie hatte dabei stark von den weltweiten Konjunkturprogrammen profitiert, die zur Überwindung der Krise aufgelegt wurden. In den Jahren 2013 bis 2018, die von einem mäßigen konjunkturellen Aufschwung geprägt waren, traf das nicht mehr zu. Auf den gesamten Zeitraum betrachtet gab es überhaupt keinen positiven Außenbeitrag mehr. Die Außenhandelsverflechtungen hatten das Wachstum vermindert und keineswegs gepusht. Der Aufschwung war aus- schließlich binnenwirtschaftlich getragen. 2020 setzte dann eine Phase multipler Krisen mit vielfältigen Ursachen ein.
Die Phase der De-GlobalisierungDie große weltweite Finanz- und Wirtschaftskrise der Jahre 2008/09 war nicht nur für die deutschen Außenhandelsbeziehungen eine tiefgreifende Zäsur. Zu- mindest was den Welthandel betrifft brach der Prozess der fortschreitenden Globalisierung, bei dem der Welthandel schneller zunahm als die Wirtschafts- leistung, ab. Eine neue Phase der Wirtschaftsbeziehungen brach an, die viele als De-Globalisierung charakterisierten. Es waren aber nicht nur die realen Han- delsbeziehungen betroffen, auch die ideologischen Debatten verschoben sich. Wurden die »Schatten der Globalisierung« (Stiglitz) wie die Deregulierung der Finanzmärkte, die Folgen des Freihandels und die immer ungleichere Verteilung bisher von linker Seite intensiv kritisiert (was auch zur Gründung von ATTAC führte), so kam die Globalisierung jetzt von rechts, von nationalistischer Seite, immer stärker unter Beschuss.
»Der Trend geringerer Wachstumsraten und stagnierender Globalisierung ist Folge der Krisen der letzten Jahre sowie der zunehmenden Widerstände ge- gen eine voranschreitende Öffnung der Märkte. Seit vielen Jahrzehnten war die Grundhaltung neo-liberaler Ökonomen das herrschende Paradigma. Dazu gehör- te auch die auf Adam Smith und David Ricardo zurückgehende Überzeugung, dass der Handel und die Spezialisierung der Länder auf die Waren, die sie we- gen einer besseren Verfügbarkeit von Produktionsfaktoren zu (vergleichsweise) geringeren Kosten herzustellen vermögen, den Wohlstand mehren.« (Kurtzke/ Scheidt 2023, 3)
Dieses Paradigma wich immer stärker den Forderungen nach nationaler Ab- schottung. Politisch setzte sich dieser nationalistische Kurs mit der Wahl von Donald Trump (Amtszeit 2017–2021) vor allem in den USA durch. Der wirt- schaftliche Konflikt mit China wurde weiter zugespitzt, aber auch gegen andere Länder wie die EU wurden Strafzölle eingeführt. Die Verhandlungen über ein Freihandelsabkommen mit der EU (TTIP) wurden abgebrochen. Der nordameri- kanische Freihandelspakt NAFTA wurde ebenfalls ausgesetzt und durch das neue Abkommen United States-Mexico-Canada Agreement (USMCA) ersetzt, in dem es beispielsweise umfangreichere Local Content Bestimmungen gibt. Obwohl dieser neue Kurs die selbst gesteckten Ziele, wie eine Verringerung des US-Ame- rikanischen Leistungsbilanzdefizits, klar verfehlte (siehe hierzu Arbeitsgruppe Alternative Wirtschaftspolitik 2023, 85f), wurde die Zollpolitik unter Joe Biden praktisch unverändert fortgeführt, die Sanktionspolitik gegenüber China sogar verschärft. Die Politik der Abschottung ist offensichtlich in den USA zu populär um geändert zu werden.
Eine ganz neue Qualität der Störung internationaler Wirtschaftsverflechtun- gen entwickelte sich ab 2020. Zunächst brach im Frühjahr die Corona-Pandemie aus. Die Staaten versuchten, durch Abschottungen, Grenzschließungen, Betriebs- schließungen und vielen Einschränkungen für die Bevölkerung die Ausbreitung des Virus zu verhindern. Das hat die wirtschaftlichen Aktivitäten erheblich eingeschränkt. Die Welt geriet in eine schwere Wirtschaftskrise. Noch stärker waren die internationalen Beziehungen betroffen. Einzelne Länder wie China fuhren mit einer null-Covid-Strategie einen noch härteren Kurs. Ganze Städte (oder auch Häfen) wurden abgeriegelt, wenn einzelne Infektionsfälle auftragen. Die in- ternationalen Lieferketten brachen zeitweise zusammen. Deutschland war davon besonders stark betroffen, die ganz große Mehrheit der Unternehmen litten wie die Befragungen des ifo-Instituts ergaben unter Materiamangel. Die Produktion musste häufig eingeschränkt werden. Besonders prominent in der öffentlichen Wahrnehmung war der Mangel an Mikrochips in der Automobilindustrie, doch es fehlte an vielen Rohstoffen und Vorprodukten und das in praktisch allen Bran- chen.
»Bei näherer Betrachtung der großen europäischen Industrien fallen zwei Dinge ins Auge. Erstens kämpfte Frankreich historisch mit einer hohen Material- knappheit. Diese zeigte sich insbesondere Anfang der 1990er und 2000er Jahre. Die Werte für Deutschland, Spanien, Italien und Österreich lagen vor der Pande- mie im Schnitt bei 4,6 %. Zweitens litt besonders Deutschland unter den jüngs- ten Materialengpässen. Ende 2021 und Anfang 2022 berichteten in Deutschland mehr als 80 % der befragten Unternehmen von Engpässen. In Irland, Schweden und Dänemark – die neben Deutschland am stärksten betroffen waren – klagten 71 %, 67 % beziehungsweise 65 % der Unternehmen über einen Materialmangel« (Licht/Wohlrabe 2024, 60f).
Nachdem die wirtschaftlichen Folgen der Pandemie abklangen und die Lage sich beruhigte, begann der Krieg Russlands gegen die Ukraine. Die EU und viele westliche Staaten reagierten mit umfassenden Sanktionspaketen, mit denen die russische Ökonomie in die Knie gezwungen und damit Kriegsuntüchtig gemacht werden sollte. Vor allem für die weltweite Energieversorgung erwiesen sich der Krieg und die Sanktionen als verheerend. Aber auch bei einigen Metallen, bei Lebens- und Düngemitteln gab es Versorgungsengpässe, die zu stark steigenden Preisen führten. Die unmittelbaren Handelsverflechtungen Deutschlands mit Russland waren nicht sehr ausgeprägt, doch die explodierenden Energiepreise haben die deutsche Ökonomie stark beeinträchtigt. Auch wenn die Energiepreise inzwischen fast wieder das Vorkrisenniveau erreicht haben, die Zeiten der sehr billigen Energie ist wahrscheinlich endgültig vorbei. Und es ist der Arbeitsgrup- pe Alternative Wirtschaftspolitik unbedingt zuzustimmen, wenn sie in diesem Krieg einen Brandbeschleuniger für die Krise der internationalen Wirtschafts- beziehungen sieht.
»Der Krieg hat auch die geopolitische Spaltung der Welt vorangetrieben. Schon vorher entfaltete sich der Machtkampf um eine dominierende Stellung in der Welt zwischen den USA und China. Jetzt droht zunehmend eine Blockbil- dung, bei der China und Russland auf der einen Seite, Europa, die USA und Japan auf der anderen Seite stehen. Als Konsequenz werden in Deutschland die engen wirtschaftlichen Beziehungen zu China deutlich kritischer gesehen. Konzerne ge- raten in eine Zwickmühle zwischen der wirtschaftlichen Abhängigkeit von China und den Risiken ihres Engagements bei feiner Zuspitzung des Konflikts.« (Arbeitsgruppe Alternative Wirtschaftspolitik 2023, 85)
In der schwierigen geopolitischen Situation, in der wir uns gegenwärtig be- finden, gibt es mit dem notwendigen ökologischen Umbau und der fortschrei- tenden Digitalisierung zwei weitere Mega-Themen, die auch das internationale Wirtschaftsgeflecht massiv verändert. Die Umstellung auf erneuerbare Energien ist langfristig nicht nur aus ökologischen Gründen vorteilhaft. Zwar fallen enor- me Investitionsaufwendungen an, aber für die laufende Stromproduktion gibt es keine zusätzlichen Rohstoffkosten. Auch die Abhängigkeiten von Energieimpor- ten nehmen ab. Zwar wird Deutschland auch mit erneuerbaren Energien nicht Energieautark und wird weiter auf Einfuhren angewiesen sein. Die Anteile der inländischen Erzeugung fallen bei Wind und Sonne deutlich höher aus als bei fossilen Brennstoffen. Zudem können die Importe leichter diversifiziert werden, weil relativ viele Länder klimatisch gute Voraussetzungen für erneuerbare Ener- gien aufwarten.
Auf dem Weg dorthin gibt es aber neue internationale Abhängigkeiten. Das fängt aktuell bei den Solarpanels an, die nicht mehr in Deutschland produziert werden. Sie werden ausschließlich aus China importiert. Auch bei den Elemen- ten für Windkraftanlagen wachsen die Anteile, die von ausländischen Zulieferern kommen. Wenn man nicht nur die Energieversorgung anschaut, sondern den gesamten ökologischen und digitalen Umbau, dann verändert sich der Bedarf an Rohstoffen. Nach der Definition der EU sind kritische Rohstoffe solche, die eine hohe geographische Konzentration und häufige Verwendung in Zukunftstechno- logien aufweisen. Unter letzterem werden 3D-Druck, Drohnen, Digitale Techno- logien, Li-Ionen Batterien, Robotik, Photovoltaik, E-Motoren und Windenergie gesehen.
Kritische Rohstoffe sind Cobalt, Bor, Silicium, Graphit, Magnesium, Lithium, Niob, Seltene Erden und Titan (siehe hierzu Flach u. a. 2022). Bei einigen dieser Rohstoffe wird in den kommenden Jahren ein gewaltig steigender Bedarf prog- nostiziert. Bei vielen ist China derzeit ein wichtiger Lieferant für den Weltmarkt. Mangelnde Investition in Förderstätten, sich zuspitzende Konflikte und Handels- kriege können schnell zu Lieferproblemen und/oder stark steigenden Preisen führen.
Ein heikler Punkt in den internationalen Wirtschaftsbeziehungen sind Sub- ventionen. Nach den Regeln der Welthandelsorganisation WTO sind sie norma- lerweise verboten, um international faire Wettbewerbsbedingungen zu garantie- ren. Es gab immer wieder Vorwürfe, Verdächtigungen und auch Verfahren vor den WTO-Schiedsgerichten wegen unerlaubter Subventionierung. Ein bekann- ter Fall, der sich seit vielen Jahren hinzieht sind die gegenseitigen Vorwürfe zwi- schen Boing und Airbus. Jetzt sind viele Staaten ganz offen dazu übergegangen, die WTO-Regeln nicht mehr zu beachten und mit massiven Subventionen um die Ansiedlung von Kapital zu buhlen. Ziel ist es, internationale Abhängigkeiten zu verringern, Arbeitsplätze im eigenen Land zu sichern und die industrielle Füh- rerschaft in wichtigen Branchen zu erzielen.
China arbeitet mit einem vielfältigen Förderinstrumentarium daran, bis 2049 zur weltweiten führenden Industrienation aufzusteigen. Zwischenschritte dahin waren der fünf-Jahres-Plan 2021–2025 und die Made in China 2025 Strategie.
»Das Handlungsmuster, wie in der ‚Made in China 2025‘ Strategie vorgegangen wird, ist bei den unterschiedlichen Technologien ähnlich. Zuerst werden aus- ländische Investoren angeworben, Technologien übernommen und Nachfrage geschaffen. Danach entwickelt man sich selber Schritt für Schritt zum globalen Technologieführer.« (Kurtzke/Scheidt 2023, 16)
In den USA hat die Biden-Administration zur Ankurbelung der Wirtschaft einen »Built Back Better Plan« aufgelegt. Neben einem Programm für mehr In- frastrukturinvestitionen »Infrastructure Investment and Jobs Act« gehören dazu zwei große Förderprogramme zur Subventionierung der Industrie. Das ist der
»Chips and Science Act« (Volumen 280 Milliarden US-Dollar) und der »Infla tion Reduction Act” (Volumen 550 Milliarden Euro) (Vgl. ausführlicher Kurtzke/ Scheidt 2023, 10ff). Die Finanzvolumina sind nur erste Ansätze. Da die Förder- mittel nicht gedeckelt sind, können die Beträge noch erheblich ansteigen.
Auch in der EU gibt es eine Vielzahl an industriepolitischen Initiativen und Förderprogrammen, um den ökologischen Umbau, die Digitalisierung und stra- tegische industrielle Ziele finanziell zu unterstützen. Sie werden im »Green Deal Industrial Plan« gebündelt. Die möglichen Fördervolumina unterscheiden sich wahrscheinlich gar nicht so viel von den US-amerikanischen und den chinesi- schen Programmen. Doch die EU hat hier einen strukturellen Nachteil: Es dauert in der Regel sehr lange, bis entsprechende Initiativen das europäische Gesetzge- bungsverfahren durchlaufen haben. Dann müssen diese Richtlinien noch in na- tionales Recht überführt werden. Am Ende müssen die konkreten Fördermittel wieder von der EU genehmigt werden. Auch wird normalerweise nur die Erlaub- nis zur Förderung erteilt, die Geldmittel kommen von den Nationalstaaten. Vie- le können sich entsprechende Förderungen gar nicht leisten. Deutschland hätte damit zwar grundsätzlich kein Problem, es schränkt sich aber selber durch die Schuldenbremse und keine ausreichende Besteuerung von Unternehmen, hohen Einkommen und großen Vermögen ein.
Grundsätzlich ist es zwar richtig, wenn Regierungen die wirtschaftliche Ent- wicklung nicht dem freien Markt überlassen, sondern selbst für die strategische Ausrichtung eingreift. Die Förderung ökologischer Produktion, die sich über Marktpreise noch nicht rechnet, kann auch sehr sinnvoll sein. Doch faktisch ha- ben die vielen nationalen Initiativen zu einem Subventionswettlauf geführt, der sehr teuer ist und bei dem alle verlieren. Krätke beschreibt diese Entwicklung spe- ziell für die Halbleiterbranche. Weil sie als strategisch sehr wichtig eingeschätzt wird, werden Investitionen praktisch überall gefördert. »Damit erleben wir den Beginn eines weltweiten industriepolitischen Wettlaufs, der die heutige interna- tionale Arbeitsteilung zwangsläufig verändern muss. Denn alle wollen sich aus der Abhängigkeit von Zulieferern aus dem Ausland lösen.« (Krätke 2022, 101) Das ist in diesem Fall besonders ärgerlich, weil es sich um eine hochprofitable Branche handelt, die überhaupt keiner Förderung bedarf.
Die weltweite Aufstellung des deutschen Kapitals
Nicht erst, seit es für die Ansiedlung von bestimmten Industrien hohe staatliche Subventionen gibt, ist die Anlage des Kapitals im Ausland für deutsche Unterneh- men ein Thema. Es ist ein langfristiger Trend und ein weiterer Faktor der inter- nationalen Verflechtung der deutschen Ökonomie. »Deutsche Unternehmen par- tizipierten ebenfalls an der Globalisierung in Form von Direktinvestitionen. So schraubten hiesige Firmen ihren konsolidierten Bestand an Direktinvestitionen im Ausland von gut 120 Mrd € Ende des Jahres 1990 auf knapp 1½ Billionen € Ende 2019 hoch.« (Deutsche Bundesbank 2021, 18)
Die Motive für Direktinvestitionen sind vielfältig. Saldenmechanisch sind sie eine Gegenbuchung zu den Leistungsbilanzüberschüssen. Allerdings stellt der Be- stand an Direktinvestitionen auch Vermögen dar, aus denen wieder Renditen er- wirtschaftet werden. Wenn diese nicht vollständig wieder in dem Land investiert werden, steigern diese Einnahmen wiederum den Leistungsbilanzüberschuss.
»Die Primäreinkommensbilanz wies im Berichtsjahr einen massiven, praktisch unveränderten Aktivsaldo von 144 Mrd. € aus. Der Überschuss war nur etwa 2 Mrd. € höher als 2022, nachdem er in den beiden Jahren zuvor kräftig angestie- gen war. Somit entsprachen allein die Nettoerträge der Primäreinkommen etwa 3 ½ % des BIP.« (Deutsche Bundesbank 2024, 96) Zum Vergleich: der gesamte Überschuss in der Leistungsbilanz betrug 2023 243,1 Milliarden Euro. Aus den internationalen Vermögenseinkommen speist sich also ein erheblicher Teil des gesamten Leistungsbilanzüberschusses.
Den größten Bestand an deutschen Direktinvestitionen im Ausland hatte 2021 mit 489 Milliarden Euro die EU, knapp dahinter lagen die USA mit 409 Mil- liarden Euro. Der Bestand an deutschen Direktinvestitionen in China war mit 103 Milliarden Euro deutlich kleiner, wenn auch schnell zunehmend. Insgesamt sind die ausländischen Direktinvestitionen in Deutschland erheblich geringer. Der Be- stand an Direktinvestitionen aus der EU lag bei 380 Milliarden Euro. Aus den USA war der Bestand mit 67 Milliarden Euro relativ klein, aus China gab es gar nur einen Bestand von 4,6 Milliarden Euro (alle Zahlen Deutsche Bundesbank). Das in Deutschland manchmal der Eindruck vermittelt wird, es gebe einen Aus- verkauf der deutschen Wirtschaft an das Ausland oder gar nach China, erscheint nach den Zahlen relativ absurd. Generell gibt es aber auf der Kapitalseite eine große internationale Verflechtung.
Aus der Sicht des einzelnen Unternehmens kann eine Direktinvestition eine reine Finanzanlage sein. Oft werden Beteiligungen aber auch aus strategischen Gründen getätigt. Kooperationen zu anderen Unternehmen im Ausland werden so aufgebaut. Mit der Mehrheitsübernahme anderer Unternehmen oder dem Aufbau von Produktionsstätten auf der grünen Wiese können aber auch die eigenen Produktionskapazitäten erweitert werden. Damit können Exporte ergänzt oder ersetzt werden.
Das die Direktinvestitionen auch in den Aufbau von Produktionskapazitäten geflossen sind, zeigt sehr deutlich die deutsche Automobilproduktion. 2023 pro- duzierten die deutschen Autokonzerne im Inland 4,1 Millionen PKW (von denen 75,7 Prozent exportiert wurden), aber an ausländischen Fertigungsstätten 10,1 Millionen PKW. Die ausländischen Produktionskapazitäten sind also längst viel größer als diejenigen in Deutschland. An erster Stelle steht dabei China, wo die deutschen Konzerne (hier nur Zahlen für 2021) 4,36 Millionen PKW fertigten. Danach folgen die ausländischen Standorte in Europa mit 3,18 Millionen PKW und in Amerika mit 1,98 Millionen PKW. Der Anteil der inländischen Fertigung an der Gesamtproduktion hat gegenüber 2018 weiter abgenommen.
Als Motiv für die Produktion im Ausland gilt häufig die größere Marktnähe. In gewissem Maße können dann Direktinvestitionen im Ausland die heimische Produktion sogar stärken. Unternehmen die investieren tun dies häufig im In- land und im Ausland. Allerdings kann es auch zur Verlagerung der inländischen Produktion kommen, dann werden Exporte durch Auslandsproduktion ersetzt. Es spricht viel dafür, dass wir dieses gerade in China erleben. Die Exporte bre- chen ein, die Direktinvestitionen steigen weiter. »Der sprunghafte Anstieg der grenzüberschreitenden Primäreinkommen aus China sowie die reinvestierten Gewinne deutscher Unternehmen deuten darauf hin, dass deutsche Unterneh- men zunehmend nicht mehr nach China exportieren, sondern direkt dort produ- zieren. Darüber hinaus erhöht China seinen heimischen Wertschöpfungsanteil an konsumierten, investierten und produzierten Waren, sodass die Importquote
Chinas um etwa die Hälfte im Beobachtungszeitraum gesunken ist. Hierfür ist nicht zuletzt Chinas technischer Fortschritt verantwortlich.« (Stamer 2023, 11)
Was bedeutet es aus deutscher Perspektive, wenn Exportproduktion substi- tuiert wird? Hier muss man klar unterscheiden zwischen der Perspektive der Be- schäftigten und des Kapital. Aus der Sicht der Beschäftigten gehen Arbeitsplätze verloren. Wenn diese nicht durch zusätzliche inländische Nachfrage ersetzt wer- den können, ist damit klar ein Wohlstandverlust verbunden. Allerdings ist damit für die – in diesem Fall chinesischen – Beschäftigten eine Zunahme an Arbeits- plätzen und damit an Wohlstand verbunden. Der Außenhandelsüberschuss geht zurück. Aus der Sicht des Kapitals kommt es nur auf die Renditen an. Da diese bei der chinesischen Produktion mindestens so hoch sind wie in Deutschland (siehe hierzu Bertelsmann Stiftung 2023), haben Vorteile. Denn sie können Ein- fuhrzölle oder Local Content Regelungen umgehen. Bei relativ offenen Handels- beziehungen, wie etwa in der EU, erwächst ihnen ein weiterer großer Vorteil: Ausländische Standorte sind eine gute Möglichkeit, Belegschaften gegeneinander auszuspielen. Die internationale Solidarität ist meist geringer als die innerhalb eines Staates. Neue Aufträge bekommen die Standorte, die günstiger produzieren können. Es gibt die Gefahr eines Unterbietungswettlaufs.
Fazit: Strukturelle Krise des deutschen Wachstumsmodels
Deutschland steckt in der Stagnationsfalle. Ein Teil davon ist rein konjunkturell und wird auch wieder überwunden werden. Ein Teil ist aber auch strukturell: Das deutsche Geschäftsmodell, das auf einer großen internationalen Verflechtung bei Importen, Exporten und Direktinvestitionen angewiesen ist, stößt an seine Grenzen in einer Welt der Deglobalisierung. Die jüngsten Beispiele betreffen den Handel mit China: die Einführung von Einfuhrzöllen auf chinesische Elektro- autos und das Verbot von chinesischen Komponenten bei der 5G Technik in den Telekommunikationsnetzen. Es ist relativ unerheblich, ob die Vorwürfe, die zu diesen Regelungen geführt haben, berechtigt sind oder nicht. Sie werden auf je- den Fall Gegenreaktionen der chinesischen Seite hervorrufen, die wiederum den Handelsbeziehungen schaden werden.
Diejenigen, die eigentlich mit den Zöllen geschützt werden sollen, lehnen sie deshalb auch entschieden ab. »Grundsätzlich gilt: Ausgleichszölle für aus China importierte E-Pkw sind nicht geeignet, die Wettbewerbsfähigkeit der europäi- schen Automobilindustrie zu stärken. Die deutsche Automobilindustrie setzt sich für freien und fairen Handel ein. Jede protektionistische Maßnahme, dazu zählen zusätzliche Zölle genauso wie ungerechtfertigte und marktverzerrende Subven- tionen, schränkt freien Handel ein und birgt das Risiko von Handelskonflikten, die sich letztlich zum Nachteil aller Seiten auswirken.« (VDA-Präsidentin Hilde- gard Müller in einer Presserklärung vom 04.07.2024)
Die geopolitischen Spannungen fallen zudem in eine Zeit des notwendigen ökologischen Umbaus. Es ist völlig unklar, ob die deutsche Industrie ihre Wettbewerbsstärke auch bei einem Umstieg auf ökologische Produkte halten kann. Die derzeitige Situation bei E-Autos lässt daran zumindest Zweifel aufkommen.
Ein letzter Stabilitätsanker ist die EU, mit der die intensivsten Wirtschafts- beziehungen bestehen. Hier gibt es stabile Rechtsbeziehungen. Doch auch an der Stelle wachsen die Risiken: der Brexit war eine erste Warnung und der Aufstieg rechtsradikaler Parteien verheißt nichts Gutes.
Klar ist nur: die Abhängigkeiten von Deutschland sind so groß, dass ein kurz- fristigesDecoubling verheerende Konsequenzen hätte. Deutschland braucht langfristig einen neuen Entwicklungspfad. Vielleicht bietet der ökologische Um- bau dabei sogar Chancen, weil alle Strukturen umgebaut werden müssen.
Literatur
Arbeitsgruppe Alternative Wirtschaftspolitik (2017): Statt »Germany first«: Alternativen für ein solidarisches Europa, MEMORANDUM 2017, Köln.
Arbeitsgruppe Alternative Wirtschaftspolitik (2023): Globalisierung am Ende – Zeit für Alter- nativen, MEMORANDUM 2023, Köln.
Bertelsmann Stiftung (2023): Gewinne deutscher Investoren in China – eine erste empirische Bestandsaufnahme, zusammen mit IW Köln, MERICS gGmbH, BDI.
Deutsche Bundesbank (2021): Grenzüberschreitende Unternehmensübernahmen: Auswirkun- gen der Internationalisierung auf Unternehmen in Deutschland, in: Monatsbericht Juli 2021.
Deutsche Bundesbank (2024): Die deutsche Zahlungsbilanz für das Jahr 2023, in: Monatsbe- richt März 2024.
Flach, L. u. a. (2022): Wie abhängig ist Deutschland von Rohstoffimporten? Eine Analyse für die Produktion von Schlüsseltechnologien, Studie des ifo-Zentrum für Außenwirtschaft für die IHK München und Oberbayern und den DIHK.
Krätke, Michael R., (2022): Chips: Wettlauf um die Schlüsselindustrie des 21. Jahrhunderts, in: Blätter für deutsche und internationale Politik 10/2022.
Kurtzke, W./Scheidt, B. (2023): Krise der Globalisierung, Ursachen und Folgen für die deut- sche Industrie, in: Wirtschaftspolitische Informationen der IG Metall, Juni 2023.
Licht, T, Wohlrabe, K. (2024): Materialengpässe in der Industrie: Ein Blick zurück, Status quo und ein europäischer Vergleicht, in: ifo Schnelldienst 3/2024.
Prognos AG (2024): Resilienz der deutschen und bayerischen Wirtschaft, Studie im Auftrag des vbw, Juli 2024.
Sachverständigenrat (SVR) (2022): Jahresgutachten 2022/23.
Stamer, Vincent (2023): Deutsche Exporte ausgebremst: China ersetzt »Made in Germany«, in: Kiel Policy Brief, September 2023.
Erstveröffentlichung Zeitschrift marxistische Erneuerung, Nr. 139, September 2024
Die Rettung des europäischen Kapitals: eine existenzielle Herausforderung
Diese Woche wurde der Bericht von Draghi veröffentlicht. Aktuell befinden sich die großen europäischen Volkswirtschaften entweder in der Rezession (Deutschland, Schweden, Österreich) oder stagnieren (Frankreich, Italien).
Kaum eine EU-Wirtschaft wächst um mehr als 1 % pro Jahr, und der Durchschnitt der EU/EZ liegt bei gerade einmal +0,2 %.
Vor etwa einem Jahr beauftragte die Kommission der Europäischen Union Mario Draghi mit der Erstellung eines wegweisenden Berichts über die Zukunft der europäischen Wirtschaft. Draghi ist ein ehemaliger Goldman-Sachs-Banker, ehemaliger Chef der italienischen Zentralbank und dann Präsident der Europäischen Zentralbank, bevor er kurzzeitig Ministerpräsident von Italien wurde. In den Augen der Kommission war er also eindeutig geeignet, nach Wegen zu suchen, um das europäische Kapital vor dem Rückstand gegenüber dem Rest der Welt zu bewahren.
Diese Woche wurde der Bericht von Draghi veröffentlicht. Dies geschieht zu einer Zeit, in der sich die großen europäischen Volkswirtschaften entweder in der Rezession befinden (Deutschland, Schweden, Österreich) oder stagnieren (Frankreich, Italien). Kaum eine EU-Wirtschaft wächst um mehr als 1 % pro Jahr, und der Durchschnitt der EU/EZ liegt bei gerade einmal +0,2 %.
Der Bericht mit dem Titel The fuThe future of European Competitiveness (Die Zukunft der europäischen Wettbewerbsfähigkeit)( ist 600 Seiten lang.
Er zeichnet ein klägliches, aber zutreffendes Bild des relativen Rückgangs der EU-Volkswirtschaften bei Produktions- und Produktivitätswachstum, Lebensstandard und technischem Fortschritt im Vergleich zu den USA und Asien.
Europa hat 1945 einen schrecklichen Krieg hinter sich, der seine Bevölkerung und seine Wirtschaft dezimiert hat. In den folgenden 50 Jahren des
20. Jahrhunderts erholte es sich jedoch rasch wirtschaftlich (zumindest in den Kernländern Europas) und konnte schließlich mit der Produktion und dem Lebensstandard in Nordamerika und Japan mithalten. Es wurden neue Institutionen geschaffen, die darauf abzielten, die Volkswirtschaften der Region zu integrieren und weitere Kriege innerhalb der Region zu vermeiden.
Im Bericht heißt es : „Das europäische Modell kombiniert eine offene Wirtschaft, ein hohes Maß an Marktwettbewerb und einen starken Rechtsrahmen“. Es hat einen „Binnenmarkt“ mit 440 Millionen Verbrauchern und 23 Millionen Unternehmen geschaffen, auf den etwa 17 % des weltweiten BIP entfallen, und gleichzeitig eine Einkommensungleichheit erreicht, die etwa 10 Prozentpunkte unter der in den USA und China liegt.
Gleichzeitig hat die EU in den Bereichen Regierungsführung, Gesundheit, Bildung und Umweltschutz führende Ergebnisse erzielt. Von den zehn Ländern, die bei der Anwendung der Rechtsstaatlichkeit weltweit am besten abschneiden, sind acht EU-Mitgliedstaaten. Europa liegt in Bezug auf die Lebenserwartung bei der Geburt und die niedrige Kindersterblichkeit vor den USA und China. Die europäischen Systeme der allgemeinen und beruflichen Bildung bieten ein hohes Bildungsniveau: Ein Drittel der Erwachsenen hat eine Hochschulausbildung abgeschlossen.
Die EU ist auch weltweit führend in Sachen Nachhaltigkeit und Umweltstandards, hat sich die ehrgeizigsten globalen Ziele für die Dekarbonisierung gesetzt und kann von der größten ausschließlichen Wirtschaftszone der Welt profitieren, die mit 17 Millionen Quadratkilometern viermal so groß ist wie die Landfläche der EU.
Doch jetzt befindet sie sich in einer schweren Krise - Draghi nennt die Situation sogar eine „existenzielle Herausforderung“. In seinem Bericht geht Draghi die traurige Geschichte der relativen Wirtschaftsleistung Europas im 21. Jahrhundert durch und zwar seit der Einführung der Euro-Einheitswährung.
Das Wirtschaftswachstum in der EU war in den letzten zwei Jahrzehnten durchgehend langsamer als in den USA, während China schnell aufgeholt hat. Der Abstand zwischen der EU und den USA beim BIP im Jahr 2015 hat sich schrittweise von etwas mehr als 15 % im Jahr 2002 auf 30 % im Jahr 2023 vergrößert.
Auf Pro-Kopf-Basis hat sich der Abstand aufgrund des schnelleren Bevölkerungswachstums in den USA weniger stark vergrößert, ist aber mit 34 % heute immer noch erheblich. Die Hauptursache für diese divergierenden Entwicklungen ist die Produktivität.
Rund 70 % des Rückstands beim Pro-Kopf-BIP gegenüber den USA sind auf die geringere Produktivität in der EU zurückzuführen.
Viele EU-Volkswirtschaften haben sich gut entwickelt und sind vom expandierenden Welthandel abhängig. Die Zeit des raschen Wachstums des Welthandels ist jedoch vorbei: Der IWF geht davon aus, dass der Welthandel mittelfristig nur um 3,2 % pro Jahr wachsen wird, ein Tempo, das deutlich unter dem jährlichen Durchschnitt von 4,9 % im Zeitraum 2000-19 liegt.
Der Anteil der EU am Welthandel ist in der Tat rückläufig, wobei seit dem Ausbruch der Pandemie ein deutlicher Rückgang zu verzeichnen ist.
In der Vergangenheit konnte Europa seinen Bedarf an Energieimporten decken, indem es reichlich Pipelinegas aus Russland bezog, das 2021 rund 45 % der Erdgasimporte der EU ausmachte. Doch nach dem Ukraine-Konflikt ist diese billige Energie nun zu enormen Kosten für Europa verschwunden. Die EU hat mehr als ein Jahr BIP-Wachstum eingebüßt, während sie gleichzeitig massive Haushaltsmittel für Energiesubventionen und den Bau neuer Infrastrukturen für den Import von Flüssiggas umleiten muss.
Zwar sind die Energiepreise seit ihrem Höchststand erheblich gesunken, doch müssen die Unternehmen in der EU immer noch mit Strompreisen rechnen, die zwei- bis dreimal so hoch sind wie in den USA, und die Erdgaspreise sind vier- bis fünfmal so hoch.
Am wichtigsten ist für Mario Draghi, dass Europas Position bei den Spitzentechnologien, die das künftige Wachstum vorantreiben können, rückläufig ist.
Nur vier der 50 weltweit führenden Technologieunternehmen stammen aus Europa, und die weltweite Position der EU im Technologiebereich verschlechtert sich:
Von 2013 bis 2023 sank ihr Anteil an den weltweiten Umsätzen im Technologiebereich von 22 % auf 18 %, während der Anteil der USA von 30 % auf 38 % stieg.
Der Rückstand beim Produktivitätswachstum ist für die Zukunft des europäischen Kapitals am schädlichsten. Die EU tritt in die erste Phase ihrer Geschichte ein, in der das Wachstum nicht durch eine steigende Bevölkerungszahl unterstützt wird. Bis 2040 wird die Zahl der Erwerbstätigen voraussichtlich um fast 2 Millionen pro Jahr zurückgehen. Der Bericht geht zwar nicht darauf ein, aber eine neue Studie kommt zu dem Schluss, dass die alternde Bevölkerung in Europa „massiven Gegenwind für das Wirtschaftswachstum verursachen wird“. Während der demografische Wandel in der Vergangenheit positiv zum Pro-Kopf-Wirtschaftswachstum beigetragen hat, wird er in den kommenden Jahrzehnten die Wachstumsrate der G4-Volkswirtschaften in Europa um 0,3 bis 1 Prozentpunkt pro Jahr verringern.
Draghi schließt daraus: "Wir werden uns mehr auf die Produktivität stützen müssen, um das Wachstum anzukurbeln. Aber selbst wenn die EU ihre durchschnittliche Produktivitätswachstumsrate seit 2015 beibehalten würde, würde dies nur ausreichen, um das BIP bis 2050 konstant zu halten - und das zu einer Zeit, in der die EU vor einer Reihe neuer Investitionen steht, die durch höheres Wachstum finanziert werden müssen."
Das Problem ist, dass das niedrige Produktivitätswachstum durch geringe Investitionen in produktive Sektoren, insbesondere in neue Technologien, verursacht wird. Die Lücke zwischen den produktiven Investitionen und dem BIP beträgt in den USA und in Europa jedes Jahr etwa 1,5 % des BIP.
In dem Bericht wird lediglich in einer Anmerkung auf eine Studie der Europäischen Investitionsbank (EIB) verwiesen, https://www.eib.org/attachments/lucalli/20230381_economics_working_paper_2024_01_en.pdf, in der untersucht wird, woher diese Lücke bei den produktiven Investitionen kommt. Aus dieser Studie geht hervor, dass die Gesamtinvestitionsquote im Verhältnis zum BIP in der EU im Durchschnitt sogar höher ist als in den USA. Dies liegt zum Teil daran, dass das BIP in den Jahren der langen Depression (2010-19) in den USA schneller gestiegen ist als in der EU. Obwohl also die Investitionen in den USA schneller stiegen als in der EU, blieb die Investitionsquote im Verhältnis zum BIP in den USA niedriger als in Europa.
Wenn man die Preis-Deflatoren für reale Investitionen in den beiden Regionen vergleicht und die Immobilien- und Bauinvestitionen ausklammert (50 % der Investitionen in der EU gegenüber 40 % in den USA), kehrt sich der Unterschied bei den „produktiven Investitionen“ um. Im Durchschnitt des Zeitraums 2012-2020 betrug die durchschnittliche Lücke real 2,6 Prozentpunkte des BIP. In fünfzehn Ländern war der Investitionsrückstand gegenüber den USA größer als im EU-Durchschnitt, darunter einige der größeren Volkswirtschaften wie die Niederlande (2,7 Prozentpunkte), Deutschland (2,8 Prozentpunkte), Italien (4,0 Prozentpunkte), Frankreich (2,5 Prozentpunkte) und Spanien (4,3 Prozentpunkte) - mit anderen Worten: der Kern Europas.
Die EIB stellte fest, dass der Investitionsrückstand der EU größtenteils auf „immaterielle Vermögenswerte“, d. h. Patente, geistiges Eigentum, Software usw., zurückzuführen ist. In diesen Bereichen waren die USA weit voraus. Die Unternehmen in der EU sind auf „ausgereifte Technologien spezialisiert, bei denen das Potenzial für Durchbrüche begrenzt ist. Sie geben weniger für Forschung und Innovation (FuI) aus - 270 Mrd. EUR weniger als ihre US-amerikanischen Kollegen im Jahr 2021. Die Top-3-Investoren in F&I in Europa wurden in den letzten zwanzig Jahren von Automobilunternehmen dominiert. In den USA war es Anfang der 2000er Jahre genauso, mit der Autoindustrie und der Pharmaindustrie an der Spitze, aber jetzt sind die Top 3 alle in der Technologiebranche.
Was sind Draghis Erklärungen für die geringen produktiven Investitionen in Europa, insbesondere im Technologiebereich?
Als guter Banker schiebt Draghi die Schuld auf den „Mangel an Finanzmitteln“ und auf das Versäumnis, Unternehmen zu großen multinationalen Konzernen zu fusionieren, die mit den USA konkurrieren können.
"Europa steckt in einer statischen Industriestruktur fest, in der nur wenige neue Unternehmen auftauchen, die bestehende Industrien stören oder neue Wachstumsmotoren entwickeln. Tatsächlich gibt es kein EU-Unternehmen mit einer Marktkapitalisierung von über 100 Mrd. EUR, das in den letzten fünfzig Jahren von Grund auf neu gegründet wurde, während alle sechs US-Unternehmen mit einer Bewertung von über 1 Billion EUR in diesem Zeitraum entstanden sind“.
Laut Draghi ist ein Hauptgrund für die weniger effiziente „Finanzintermediation“ in Europa, dass die Kapitalmärkte nach wie vor zersplittert sind und die Ersparnisströme in die Kapitalmärkte geringer sind. Es muss einen EU-weiten Kapitalmarkt und in der EU angesiedeltes Risikokapital geben, das nicht von den USA abhängig ist.
"Viele europäische Unternehmer ziehen es vor, sich von US-Risikokapitalgebern finanzieren zu lassen und auf dem US-Markt zu expandieren. Zwischen 2008 und 2021 haben fast 30 % der in Europa gegründeten „Einhörner“ - Start-ups, die später einen Wert von über 1 Mrd. USD erreichten - ihren Sitz ins Ausland verlegt, die große Mehrheit davon in die USA."
Es gibt einfach zu viele bürokratische Vorschriften und ineffiziente Kreditmärkte, um „privates Kapital freizusetzen“. Draghi zufolge "verfügen die Haushalte in der EU über reichlich Ersparnisse, um höhere Investitionen zu finanzieren, aber derzeit werden diese Ersparnisse nicht effizient in produktive Investitionen gelenkt. Im Jahr 2022 beliefen sich die Ersparnisse der privaten Haushalte in der EU auf 1.390 Milliarden Euro, verglichen mit 840 Milliarden Euro in den USA."
Aber sind die ineffizienten EU-Kapitalmärkte die Ursache für die geringeren produktiven Investitionen in Europa?
Der Bericht deutet die wahre Ursache an, indem er aufzeigt, dass die privaten Finanzierungskosten zu hoch sind im Vergleich zu den Erträgen, die der kapitalistische Sektor der EU benötigt, um produktive Investitionen zu steigern, im Gegensatz zu Investitionen in Immobilien oder Finanzanlagen. Die eigentliche Ursache liegt in der geringeren Rentabilität des europäischen Kapitals im Vergleich zu den USA. Dies ist insbesondere seit 2017 der Fall (in diesem Beispiel unten für die amerikanische und deutsche Rentabilität).
Quelle: AMECO
Im Bericht nicht erwähnt, aber vielleicht relevant, ist, dass es in der EU viel mehr kleinere Unternehmen gibt, deren Rentabilität niedrig ist, während in den USA eine höhere Kapitalkonzentration die Gewinne für die wenigen Megatech-Unternehmen an der Spitze in die Höhe getrieben hat. Seit dem Jahr 2000 sind die Bruttogewinnraten in den Vereinigten Staaten gestiegen und die Konzentration in der Industrie hat zugenommen, aber diese Trends sind in der EU nicht zu erkennen.
Draghi kommt zu dem Schluss, dass "der daraus resultierende Zyklus aus geringer industrieller Dynamik, geringer Innovation, geringen Investitionen und geringem Produktivitätswachstum in Europa als ‚mittlere Technologiefalle‘ bezeichnet werden könnte. Meiner Meinung nach ist dies jedoch ein Produkt der „Rentabilitätslücke“.
Was ist gegen die Produktivitäts- und Investitionslücke zu tun?
Draghi sagt, dass "mindestens zusätzliche jährliche Investitionen in Höhe von 750 bis 800 Milliarden Euro erforderlich sind, was 4,4 bis 4,7 % des BIP der EU im Jahr 2023 entspricht. Zum Vergleich: Die Investitionen im Rahmen des Marshall-Plans zwischen 1948 und 51 entsprachen lediglich 1-2 % des EU-BIP. Um diese Steigerung zu erreichen, müsste der Anteil der Investitionen in der EU von derzeit rund 22 % des BIP auf etwa 27 % steigen, womit ein jahrzehntelanger Rückgang in den meisten großen EU-Volkswirtschaften umgekehrt würde. „Das ist ein Anstieg der Investitionen im Verhältnis zum BIP, wie es ihn seit dem Goldenen Zeitalter der 1950er und 1960er Jahre, als Europa nach dem Krieg rasch expandierte, nicht mehr gegeben hat.
Kann man erwarten, dass das europäische Kapital in der Lage oder willens ist, diese goldenen Investitionsjahrzehnte 50 Jahre später wiederherzustellen?
Wie der Bericht einräumt. „Historisch gesehen wurden in Europa etwa vier Fünftel der produktiven Investitionen vom privaten Sektor getätigt und das verbleibende Fünftel vom öffentlichen Sektor“.
In einem kapitalistischen Europa liegt es also an den Kapitalisten, mehr zu investieren, um die erforderliche höhere Produktivität in den Schlüsselbereichen zu erreichen. Der öffentliche Sektor kann das nicht tun, und die EU-Kommission und Draghi wollen ganz sicher nicht, dass öffentliche Investitionen den kapitalistischen Sektor durch öffentliches Eigentum und Planung der „Kommandohöhen“ der europäischen Volkswirtschaften ersetzen.
Draghis Antwort ist also die übliche wirtschaftsfreundliche Lösung:
Die Regierungen müssen monetäre und steuerliche Anreize schaffen, um die Kapitalisten zu Investitionen zu „ermutigen“. Zunächst müssen die Finanzierungskosten gesenkt werden, aber „um private Investitionen in Höhe von etwa 4 % des BIP allein durch Marktfinanzierung zu erreichen, müssten die privaten Kapitalkosten nach dem Modell der Europäischen Kommission um etwa 250 Basispunkte gesenkt werden.“
Das ist im derzeitigen inflationären Umfeld kaum möglich. Und überhaupt: „Obwohl eine verbesserte Kapitalmarkteffizienz (z.B. durch die Vollendung der Kapitalmarktunion) die privaten Finanzierungskosten senken dürfte, wird die Senkung wahrscheinlich wesentlich geringer ausfallen. Steuerliche Anreize zur Erschließung privater Investitionen scheinen daher notwendig, um den Investitionsplan zusätzlich zu den direkten staatlichen Investitionen zu finanzieren“.
Die Regierungen in der EU müssen also mehr öffentliche Mittel bereitstellen. Dies führt jedoch zu einem weiteren Problem. Die EU-Regierungen, vor allem in Kerneuropa, werden von der Notwendigkeit getrieben, den Haushalt auszugleichen“ und die Staatsverschuldung nicht zu erhöhen oder zu hohe Steuern zu erheben. Es gibt EU-Fiskalregeln, die nicht gebrochen werden dürfen!
Draghi will eine stärkere „gemeinsame Kreditaufnahme“, d. h. die EU begibt mehr EU-gesicherte Schuldtitel zur Finanzierung von Projekten. Aber das ist ein großes Tabu in der EU. Deutschland und die Niederlande haben eine niedrige Staatsverschuldung und sind nicht bereit, ihren stärker verschuldeten Nachbarn unter die Arme zu greifen. Weniger als drei Stunden, nachdem Draghi seinen Vortrag beendet hatte, sagte der deutsche Finanzminister Christian Lindner, dass Deutschland einer „gemeinsamen Kreditaufnahme “ nicht zustimmen werde, da die gemeinsame Kreditaufnahme „kurz zusammengefasst werden kann: Deutschland soll für andere zahlen. Aber das kann kein Masterplan sein.“
Draghi schlägt vor, mehr EU-weite Steuern zu erheben, um die Größe der EU-Kommission zu erhöhen, die zu klein ist und ihre Ausgaben auf den „sozialen Zusammenhalt“, regionale Subventionen und die Landwirtschaft konzentriert, anstatt auf „produktive Investitionen“.
Draghi möchte die öffentlichen Ausgaben der EU in den bestehenden Bereichen kürzen und sie auf Technologie umstellen. „Wenn die investitionsbezogenen Staatsausgaben nicht durch Haushaltseinsparungen an anderer Stelle kompensiert werden, könnten sich die primären Haushaltssalden vorübergehend verschlechtern, bevor der Investitionsplan seine positive Wirkung auf die Produktion voll entfalten kann.“ Eine solche Umstellung würde bei den Landwirten und in Osteuropa nicht gut ankommen.
Zusammenfassend skizziert der Draghi-Bericht den gravierenden Rückgang der Wettbewerbsfähigkeit des europäischen Kapitals im 21. JAhrhundert im Vergleich zu den USA und Asien. Jahrhundert im Vergleich zu den USA und Asien. Dies ist eine „existenzielle Herausforderung“, die nur durch einen massiven Anstieg der Investitionen, vor allem in neue Technologien, überwunden werden kann. Dies kann nur erreicht werden, wenn der kapitalistische Sektor mehr investiert. Die öffentlichen Investitionen sind zu gering, und die wirtschaftsfreundlichen Regierungen der EU wollen die großen Privatunternehmen ohnehin nicht übernehmen und haben stattdessen öffentliche Investitionen geplant. Das wäre das Ende des kapitalistischen Europas. Draghi sagt also, man müsse Europas Großunternehmen mit billigeren Krediten, deregulierten Märkten und verstärkten staatlichen Steueranreizen dazu ermutigen, mehr zu investieren, um „private Investitionen freizusetzen“. Die Chancen, dass die Regierungen der EU-Mitgliedstaaten bereit sind, mehr Geld auszugeben, um den Unternehmen in der EU ausreichend zu helfen, sind jedoch gering.
Der erforderliche gewaltige Aufschwung bei den produktiven Investitionen kann nur dann stattfinden, wenn die Rentabilität des europäischen Kapitals sprunghaft ansteigt. Das wird aber nicht durch die Verbilligung von Krediten erreicht, sondern würde nur durch einen starken Anstieg der Ausbeutung der Arbeitskraft in Europa und durch die „schöpferische Zerstörung“ der „mittleren Technologie“ zur Kostensenkung erfolgen.
Vermutlich wird sich der relative Niedergang der EU weltweit fortsetzen und sogar beschleunigen.
„Ein langsamer, aber qualvoller Niedergang“
Experten urteilen, auch die geplanten Zurückweisungen verstießen gegen Völkerrecht.
Ex-EZB-Präsident warnt vor „qualvollem Abstieg“ der EU.
Die Ankündigung von Personenkontrollen an den deutschen Grenzen ab dem kommenden Montag löst bei der EU-Kommission sowie in mehreren Nachbarstaaten der Bundesrepublik Unmut aus. In Brüssel wird darauf hingewiesen, dass Kontrollen an den Schengen-Binnengrenzen nur als „absolute Ausnahme“ erlaubt sind; ihre umfassende Einführung durch die Bundesregierung und die fehlende zeitliche Begrenzung deuten darauf hin, dass sie keine Ausnahme sind. Zu den angekündigten Zurückweisungen heißt es in Österreich, man sei nicht bereit, Flüchtlinge zurückzunehmen, falls Deutschland ihnen völkerrechtswidrig das Stellen eines Asylantrags verweigere.
Experten urteilen, die neuen Grenzkontrollen verstießen offen gegen EU-Recht; Berlin handle, „als wäre die AfD (schon) an der Macht“.
Polens Ministerpräsident Donald Tusk kündigt „dringende Konsultationen“ mit anderen Nachbarstaaten der Bundesrepublik an. Während bereits vom Ende des Schengen-Systems die Rede ist, warnt Ex-EZB-Präsident Mario Draghi in einer aktuellen Analyse, wolle die EU ihren „qualvollen Niedergang“ vermeiden, dann müsse sie bis zu 800 Milliarden Euro investieren – ein Mehrfaches des Marshallplans.
Mit EU-Recht nicht vereinbar
Die Anordnung von Bundesinnenministerin Nancy Faeser vom Montag, an allen deutschen Außengrenzen wieder Personenkontrollen einzuführen – offiziell vorläufig, ein Ende ist aber nicht in Sicht –, löst in Brüssel und in mehreren EU-Mitgliedstaaten deutlichen Unmut aus. Die Maßnahme wird ab dem kommenden Montag (16. September) umgesetzt; die Kontrollen an den Grenzen zu Österreich, die seit 2015 stattfinden, wie auch an den Grenzen zu Polen und zu Tschechien, die im Oktober 2023 eingeführt wurden, werden verlängert. Aus rein praktischer Perspektive heißt es verärgert etwa aus Luxemburg, man hoffe, der Schritt werde die zahlreichen Arbeitspendler und den sonstigen alltäglichen Grenzverkehr nicht übermäßig belasten.[1]
Prinzipielle Kritik äußert etwa Alberto Alemanno, Professor für Europarecht an der École des hautes études commerciales de Paris (HEC Paris), der konstatiert, es handle sich um „einen offensichtlich unverhältnismäßigen Bruch des Grundsatzes der Freizügigkeit im Schengenraum“, der mit EU-Recht nicht vereinbar sei.[2]
Christopher Wratil, Assoziierter Professor für Government am Institut für Staatswissenschaft der Universität Wien, schrieb auf X, Berlin dürfe nun „nicht mehr damit kommen, irgendwer anders halte sich nicht an EU-Recht“. Die Bundesregierung handle zudem, „als wäre die AfD (schon) an der Macht“. Tatsächlich kommentierte der extrem rechte niederländische Politiker Geert Wilders Berlins neue Grenzkontrollen auf X so: „Gute Idee, müssen wir auch machen!“
„Keine Übernahmen“
Auf entschiedene Ablehnung stößt auch der Plan, die Zurückweisungen an den Grenzen deutlich auszuweiten. Rein praktisch verweigert sich Österreich dem Ansinnen. Bereits am Montag hatte Innenminister Gerhard Karner erklärt, er habe den Direktor der österreichischen Bundespolizei „angewiesen, keine Übernahmen durchzuführen“.[3] Als sein Hauptmotiv darf gelten, dass die Zahl der Asylanträge, die die Wiener Behörden zu bearbeiten hätten, rasch ansteigen würde.
Völkerrechtler äußern vor allem grundsätzliche Einwände. So schreiben das internationale Flüchtlingsrecht wie auch EU-Normen, vor allem die Dublin-II-Verordnung, vor, dass Flüchtlinge an den Grenzen Gelegenheit haben müssen, einen Asylantrag zu stellen, der dann auch bearbeitet werden muss.
Wenn ein Flüchtling zuvor in einen anderen EU-Staat eingereist ist, dann kann er zwar dorthin abgeschoben werden; allerdings muss zuvor klar festgestellt werden, in welchem Staat der Flüchtling zuerst die EU betreten hat, und dann gilt es die Abschiebung mit den Behörden des betreffenden Landes zu regeln.[4] All das kostet Zeit; währenddessen muss der Flüchtling zumindest versorgt werden. Dies ist etwa bereits in den Schnellverfahren am Flughafen in Frankfurt am Main („Flughafenverfahren“) der Fall.
Die Praxis an den Grenzen
Bei alledem ist unklar, wie die Praxis an den deutschen Grenzen aussieht. Die Bundespolizei hat bereits im vergangenen Jahr 35.618 Personen an der Grenze zurückgewiesen; im ersten Halbjahr 2024 waren es sogar 21.601 Personen – ein erheblich höherer Prozentsatz als 2023. Zudem fällt auf, dass der Anteil derjenigen, die an der Grenze den Wunsch äußern, Asyl zu beantragen, merkwürdig schwankt. An der deutsch-österreichischen Grenze blieb er relativ konstant: Im ersten Quartal 2023 lag er bei 14, im zweiten Quartal 2024 bei 11 Prozent aller Personen, die ohne gültige Papiere bzw. ohne Visum Einreise begehrten. An der deutsch-polnischen Grenze fiel der Anteil von 57 Prozent im ersten Quartal 2023 auf 23 Prozent im zweiten Quartal 2024.[5] Unklar ist unter anderem, ob Einreisewillige auf die Möglichkeit, Asyl zu beantragen, in einer Sprache hingewiesen werden, die ihnen vertraut ist, und ob die Grenzbeamten zuverlässig in der Lage sind, möglicherweise auf Englisch vorgetragene Asylbegehren zu verstehen.
Aus der Partei Die Linke heißt es, man habe sogar Kenntnis von Fällen, in denen Grenzbeamte Flüchtlingen empfohlen hätten, auf einen Asylantrag zu verzichten, weil die Chance, wirklich Asyl zu erhalten, in Deutschland äußerst gering sei.[6] Die Bundesregierung weist das selbstverständlich zurück.
„Eine absolute Ausnahme“
Mit erkennbarer Skepsis äußerte sich zu dem deutschen Vorstoß auch die EU-Kommission. Kontrollen an den Schengen-Binnengrenzen dürften bloß dann vorgenommen werden, wenn sie unzweifelhaft „notwendig und verhältnismäßig“ seien, bestätigte eine Sprecherin der Kommission am Dienstag in Brüssel. Deshalb „sollten derartige Maßnahmen eine absolute Ausnahme bleiben“.[7] Ob das auf die geplanten deutschen Grenzkontrollen zutreffe, werde zur Zeit überprüft. Eindeutig ablehnend äußerte sich Polens Ministerpräsident Donald Tusk. Er erklärte mit Blick auf die Pläne, die Zurückweisungen auszuweiten: „Ein solches Vorgehen ist aus polnischer Sicht inakzeptabel“.[8] Man wolle „dringende Konsultationen“ mit anderen „Nachbarn Deutschlands“ abhalten, um über Reaktionen zu diskutieren. Polen sorgt sich – wie Österreich –, es werde eine viel höhere Zahl an Asylanträgen bearbeiten müssen, falls die Bundesrepublik ihre Zurückweisungen stark ausweitet.
Allerdings weisen Beobachter darauf hin, dass Polen seine Grenze zu Belarus mit Stacheldrahtverschlägen in Höhe von mehreren Metern abgeschottet hat und dort selbst illegale Zurückweisungen in hoher Zahl durchführt. Polnische Gerichte, so heißt es, ahndeten „die mit EU-Recht schwer zu vereinbarende Praxis der Zurückweisung bisher nicht“.[9]
EU: Anschluss verpasst
Während die neuen deutschen Grenzkontrollen zu Konflikten mit mehreren Nachbarstaaten führen, das Schengen-System bedrohen und außerdem Kosten in Höhe von vielen Milliarden Euro verursachen könnten (german-foreign-policy.com berichtete [10]), sagt ein aktuelles Papier des ehemaligen EZB-Präsidenten Mario Draghi der EU auch rein wirtschaftlich eine düstere Zukunft voraus.
Während Chinas Wirtschaft unverändert wachse und gegenüber dem Westen aufhole, falle die EU gegenüber den USA seit zwei Jahrzehnten zurück, konstatiert Draghis Bericht zur Zukunft der europäischen Wettbewerbsfähigkeit.
Ursache sei vor allem, dass die EU die „digitale Revolution und die damit verbundenen Produktivitätsgewinne weitgehend verpasst“ habe.[11] Nun müsse dringend die Produktivität erhöht werden; dies erfordere EU-Investitionen in Höhe von 750 bis 800 Milliarden Euro pro Jahr – nahezu fünf Prozent der EU-Wirtschaftsleistung. Im Rahmen des Marshallplans seien nach dem Zweiten Weltkrieg ein bis zwei Prozent der Wirtschaftsleistung bereitgestellt worden – erheblich weniger, als heute nötig sei. Unterblieben die Investitionen, dann drohe ein weiterer Abstieg; dann sei auch „das europäische Sozialmodell“ nicht mehr finanzierbar.[12]
„Wenn die EU jetzt nicht handelt“, sagt Draghi voraus, „steht ihr ein langsamer, aber qualvoller Niedergang bevor.“
[1] Die eine Grenze ist nicht wie die andere. Frankfurter Allgemeine Zeitung 11.09.2024.
[2] Jon Henley: ‘The end of Schengen‘: Germany’s new border controls put EU unity at risk. theguardian.com 10.09.2024.
[3] Bisher sind die Nachbarn nicht auf Streit aus. Frankfurter Allgemeine Zeitung 10.09.2024.
[4] Matthias Lehnert, Robert Nestler: Der Mythos von der Notlage. verfassungsblog.de 09.09.2024.
[5], [6] Mona Jaeger: Wer wird bereits zurückgewiesen? Frankfurter Allgemeine Zeitung 10.09.2024.
[7], [8] Polen nennt Grenzkontrollen „inakzeptabel“. Maßnahme muss laut EU-Kommission „absolute Ausnahme bleiben“. tagesspiegel.de 11.09.2024.
[9] Bisher sind die Nachbarn nicht auf Streit aus. Frankfurter Allgemeine Zeitung 10.09.2024.
[10] S. dazu Festung Deutschland
[11] Carsten Volkery: Draghi fordert massive Investitionen – und neue EU-Schulden. handelsblatt.com 09.09.2024.
[12] Draghi warnt vor qualvollem Niedergang. Frankfurter Allgemeine Zeitung 10.09.2024.
Setzt China künftig die Standards für Künstliche Intelligenz?
Seit der Trump-Regierung haben die USA China mit Wirtschaftssanktionen überzogen, in erster Linie im Halbleiterbereich.
Bislang haben die Sanktionen ihr Ziel nicht erreicht, Chinas Aufstieg zu stoppen.
Vor allem haben sie nicht verhindert, dass China bei einer Schlüsseltechnologie der Zukunft, der Künstlichen Intelligenz, weiter aufgeholt hat.
Schon 2018 spielten nach Einschätzung von McKinsey nur noch die USA und China eine wesentliche Rolle auf dem Gebiet der Künstlichen Intelligenz.
Europa war längst abgeschlagen (FT, 2.5.18). Seitdem herrscht unter den Eliten in den USA die Paranoia, dass es mit der technologischen Vormachtstellung der USA demnächst vorbei ist. „Diese Technologien sind so umwälzend, dass das in den KI-Technologien führende Land nicht nur einen wirtschaftlichen oder technologischen Vorsprung hat, sondern auch bei der nationalen Sicherheit vorne ist“, zitierte die Financial Times einen Cyber-Experten aus dem US-Sicherheitsapparat. Künstliche Intelligenz verändert die Kriegsführung und hat das Potential zur Neuordnung der globalen Machtverteilung.
Bislang hatten die USA den meisten Experten zufolge einen Vorsprung, vor allem, weil sie die besten Algorithmen haben und über den Zugriff auf dedizierte Computer-Hardware, also Chips, verfügen, die die ultraschnelle Durchforstung riesiger Datenmengen ermöglichen. Die USA sind in der Grundlagenforschung stark. Aber China hat aufgeholt: Schon 2018 teilten sich der chinesische Konzern Alibaba und Microsoft die Siegerprämie bei einem Wettbewerb um das Leseverständnis von KI-Software und ebenso bei Wettbewerben um Gesichtserkennung.
Unter dem Begriff der Künstlichen Intelligenz als Teilgebiet der Informatik werden Technologien zusammengefasst, die es ermöglichen, kognitive Fähigkeiten der Menschen - nämlich aus Daten Informationen zu erfassen und zu sortieren - durch Hardware und Software zu imitieren. Diese Intelligenz kann auf programmierten Abläufen nach klaren Regeln basieren oder aber durch sogenanntes maschinelles Lernen erzeugt werden.
Durch die zunehmende Verfügbarkeit von großen Datenmengen und höher Rechenleistung wurden zuletzt vor allem im Bereich des maschinellen Lernens große Fortschritte gemacht. Dabei generiert ein Lernalgorithmus aus den Beispieldaten eine Funktion, die auch für neue Daten eine korrekte Ausgabe erzeugt.
Lernalgorithmen können Lösungen für Probleme lernen, die zu kompliziert sind, um sie mit Regeln zu beschreiben, zu denen es aber viele Daten gibt, die als Beispiele für die gewünschte Lösung dienen können.
Ein Lernalgorithmus bildet vorgegebene Beispieldaten auf ein mathematisches Modell ab. Dabei passt der Lernalgorithmus das Modell so an, dass es von den Beispieldaten auf neue Fälle verallgemeinern kann, der Algorithmus wird trainiert. Das so statistisch, durch Wiederholung trainierte Modell kann für neue Daten Vorhersagen treffen oder Empfehlungen und Entscheidungen erzeugen.
Die Software lernt, selbstständig die Struktur der Daten zu erkennen. So können Roboter selbst erlernen, wie sie bestimmte Objekte greifen müssen, um sie von A nach zu B transportieren. Sie bekommen nur gesagt, von wo und nach wo sie die Objekte transportieren sollen. Wie genau der Roboter greift, erlernt er durch das wiederholte Ausprobieren und durch Feedback aus erfolgreichen Versuchen.
Als generative KI werden Modelle des maschinellen Lernens bezeichnet, die auf der Basis von Eingabedaten in Form von Texten, Bildern, Videos oder Audioformaten neue Inhalte generieren. Eine Sonderform der generativen KI sind große Sprachmodelle (LLM, large language models), die aus unspezifischen Spracheingaben jeder Art (juristische Texte oder Gebrauchsanweisungen oder Kurzgeschichten …) neue Textdokumente generieren.
Bei der Künstlichen Intelligenz geht es u.a. um Anwendungen wie Muster- und Gesichtserkennung durch Computer, die automatisierte Beantwortung von Kundenanfragen oder das autonome Steuern von Autos, Drohnen oder Booten. Die KI-Technologien können aber genauso militärisch genutzt werden.
2030 will China bei KI an der Weltspitze sein
In Chinas staatlicher Wirtschaftsplanung für die nächsten Jahrzehnte hat die Künstliche Intelligenz (KI) eine Schlüsselstellung. Schon seit der Jahrtausendwende spielt die KI in allen Staatsplänen eine prominente Rolle. Auch bei der Dritten Plenartagung des ZK der KP, die in diesem Sommer stattfand und die sich auf die Wirtschaftspolitik konzentrierte, ging es um die Förderung der neuen Produktivkräfte und die Künstliche Intelligenz. Die chinesische Regierung sieht in KI und allgemein in den neuen Produktivkräften die Motoren für die weitere wirtschaftliche und soziale Entwicklung des Landes.
2030 will China bei der Künstlichen Intelligenz an der Weltspitze sein. 2017 war Chinas Sputnik-Moment, als die von Google erworbene DeepMind-Software im Go-Spiel, einem komplexen alten chinesischen Brettspiel, den weltweit führenden Go-Spieler Ke Jie besiegte. Das demonstrierte die Kapazität von KI und war ein Weckruf für die chinesische Führung.
Für den Autor Kai-Fu Lee, früher Chef von Google China und jetzt Venture-Kapitalist und Buchautor („AI Superpowers: China, Silicon Valley and the New World Order“, New York 2018) ist China erstmals seit der Industriellen Revolution an der Spitze einer enormen technologischen und wirtschaftlichen Umwälzung.
Nach seiner Analyse wird China das Wettrennen um KI gegen die USA deshalb gewinnen, weil China in vier entscheidenden Feldern, die über den Einsatz von KI entscheiden, vorne ist: Erstens bei den qualifizierten Arbeitskräften. Zweitens beim Einsatz von Kapital. Drittens bei der staatlichen Regulierung. Und schließlich viertens bei der Verfügbarkeit von Daten.
Lee behauptet nicht, dass China in der Grundlagenforschung, den grundlegenden Innovationen auf diesem Gebiet führend ist. Aber das mache nichts, weil die großen intellektuellen Durchbrüche schon längst passiert sind. Was Lee zufolge jetzt zählt, ist die Implementation, der praktische Einsatz von KI, nicht die Innovation.
China hat hochqualifizierte Arbeitskräfte
Und dabei hat China besondere Vorteile: Nicht nur, dass die Arbeiten führender KI-Forscher leicht verfügbar sind, vor allem durch das Internet. Inzwischen kommen etwa 40% aller Forschungsarbeiten weltweit zum Thema KI aus China, nur etwa 10% aus den USA und 15% aus Europa. Eine der meistzitierten Forschungsarbeiten überhaupt, die demonstrierte, wie neuronale Netze zur Bildverarbeitung trainiert werden können, wurde von KI-Forschern aus China verfasst. Ein amerikanischer Experte urteilte, dass Chinas KI-Forschung Weltklasse ist und dass China einen signifikanten Vorsprung bei der Bilderkennung und in der Robotik hat (Economist, 15.6.24).
Zwar ziehen die USA, speziell das Silicon Valley, immer noch Top-Talent an. Ein chinesischer Entwickler schätzte, dass 2020 ca. die Hälfte aller KI-Entwickler im Silicon Valley Chinesen waren. Noch 2019 blieben nur 38% der chinesischen Universitätsabsolventen mit KI-Schwerpunkt in China, aber 2022 waren es schon fast 60%. Die alte Weltordnung in den Naturwissenschaften, dominiert von den USA, Japan und Europa, gehe dem Ende entgegen, diagnostiziert der Economist (15.6. 24). Dabei dominiert China in den angewandten Wissenschaften, besonders in den Ingenieurwissenschaften, während die USA und Europa bei der Grundlagenforschung noch vorne sind. Nach einer Erhebung der Stanford University entfielen 2022 über 60% aller KI-Patente auf chinesische Unternehmen und Organisationen und nur etwa 20% auf die USA (Nikkei Asia, 11.8.24).
China hat ein extrem wettbewerbsorientiertes Wirtschaftssystem, das KI fördert
Zweitens hat China laut Lee eine extrem wettbewerbsorientierte und unternehmerische Ökonomie nach dem Motto: Move fast and break things! Im erbitterten Konkurrenzkampf haben chinesische Unternehmen führende westliche Unternehmen in ihrem Heimatmarkt längst übertrumpft. Die Methode von ständigem „Versuch-und-Irrtum" des chinesischen Geschäftsmodells sei bestens geeignet, die Ergebnisse der KI in der Volkswirtschaft zu verbreiten.
Für westliche Ohren, die mit der KP Chinas und mit Staatsplanung immer wirtschaftliche Stagnation und verkrustete Strukturen assoziieren, mag die Beschreibung der chinesischen Volkswirtschaft als einer extrem wettbewerbsorientierten, dynamischen Ökonomie bizarr erscheinen. Doch z.B. der Erfolg und das Innovationstempo der vielen chinesischen Autobauer müsste doch inzwischen auch den eingefleischtesten Neoliberalen zum Grübeln bringen.
Auch die Entwicklung der chinesischen KI-Branche ist ein Beispiel dafür, wie die den Rahmen definierende Planung und die begleitende Co-Finanzierung auf allen staatlichen Ebenen zusammen mit hunderten privaten Start-ups ein Ökosystem im ganzen Land geschaffen haben, dass die weitere Entwicklung der KI-Technologien fördert und für den praktischen Einsatz in der chinesischen Volkswirtschaft sorgt. So stellen mit ultraschnellen Chips ausgestattete staatliche Rechenzentren den KI-Start-ups, die wegen der US-Sanktionen keine leistungsfähigen Rechner mehr bekommen, günstig Rechenzeit zur Verfügung. Und natürlich werden diese jungen Unternehmen bei öffentlichen Ausschreibungen und von Staatsunternehmen bevorzugt. Noch vor zwei Jahren – nach dem Markteintritt von ChatGPT und anderer Modelle von generativer KI im Westen - schien China den technologischen Wettlauf mit den USA zu verlieren. Inzwischen sind aber zahlreiche chinesische KI-Produkte von den chinesischen Internet-Giganten wie Baidu, Tencent oder Bytedance, aber auch von den zahllosen Start-ups auf dem Markt, die in ihrer Leistung den Produkten etwa der US-Konzerne vergleichbar sind (Wallstreet Journal, 23.8.24).
Für Kai-Fu Lee sind Chinas große Schwärme von KI-Unternehmen und den damit verbundenen Chip-Startups vielleicht ineffizient, aber insgesamt effektiv. Das zähle.
Für die Berliner Analysten von Sinolytics, einem auf China spezialisierten Forschungsinstitut, könnte die Arbeitswelt der Zukunft sogar in China entschieden werden (China.Table vom 21. August 2024). Denn in Chinas geschütztem Markt entstehen äußerst konkurrenzfähige Anwendungen, die früher oder später ihren Weg nach Europa finden.
“Während im Westen ChatGPT, Claude, Otter.ai, Gamma und andere Anwendungen das Arbeitsleben der verändern, treiben in China Akteure wie KimiChat von Moonshot AI, Ernie Bot von Baidu, Spark von iFLYTEK, Tongyi Qwen von Alibaba oder dem an der Tsinghua-Universität entstandenem Start-up Zhipu AI diesen Trend voran.
Generell unterscheiden sich die chinesischen GenAI-Anwendungen nicht wesentlich von vergleichbaren Angeboten US-amerikanischer oder europäischer Anbieter. Allerdings profitieren sie von gewissen Vorteilen: einer Fülle an Trainingsdaten und der Offenheit der chinesischen Nutzer gegenüber neuen Apps und digitalen Produkten. Hinzu kommen ein harter Wettbewerb unter den starken chinesischen Anbietern, ein großer Pool an KI-Fachkräften und eine beträchtliche politische Unterstützung. Zudem sind die Anbieter durch gesetzliche Einschränkungen vor internationaler Konkurrenz geschützt. All diese Vorteile könnten ein perfekter Nährboden für die nächste Welle chinesischer Technologieunternehmen sein, die sich auf dem Weltmarkt etablieren wollen. Chinas KI-Unternehmen sind hoch ambitioniert …”
Verfügbarkeit von Daten
Ob Bilderkennung, Spracherkennung oder die automatisierte Auswertung oder Erstellung von Dokumenten: die Leistungsfähigkeit der KI-Systeme basiert auf der Masse von Daten, die in diese Systeme eingeflossen sind.
Daten sind der Rohstoff für die KI-Technologien, und hier verfügt China über mehr Daten als alle anderen Volkswirtschaften - nicht nur wegen der Besonderheiten seines gesellschaftlichen Systems.
China hat mehr Internet-Nutzer als Europa und die USA zusammen. Chinas hochentwickelte Internet-Ökonomie generiert ein Vielfaches an Daten im Vergleich zu anderen Volkswirtschaften. Digitale Zahlungssysteme sind selbstverständlich. Ebenso der Kauf von Tickets per Spracheingabe. Zudem bringt die Bevölkerungsdichte eine riesige Nachfrage nach Auslieferungen und anderen Dienstleistungen.
Spezialisierte KI-Anwendungen basieren für ihr Training auf der Verfügbarkeit größter Datenmengen. So hat China als Fabrik der Welt wahrscheinlich bei Produktionsdaten und bei Robotik die Nase vorn. Ebenso bei der Auswertung von Gesundheitsdaten etwa zur Prognose von Risiken für Herzerkrankungen. In Chinas Krankenhäusern werden mit KI Tumore entdeckt. An den meisten Gerichten hat Spracherkennung die Gerichtsstenografen ersetzt. Ambulanzen und Lieferanten von dringend benötigten Medikamenten können die Anfahrtszeiten durch smarte Steuerung von Ampeln etc. halbieren. Smart-City-Dienste von KI helfen etwa beim Auffinden von vermissten Kindern und Alten.
Gesichtserkennungssysteme Made in China, die auf KI-Bilderkennungs-Software basieren, sind inzwischen weltweit verbreitet. Nach einer US-Studie werden sie inzwischen von 52 Ländern eingesetzt. 2018 kontrollierte China die Hälfte des weltweiten Marktes für Gesichtserkennungs-Software und der entsprechenden Hardware, Kameras etc. Die Exporte dieser Technologien aus China wuchsen um 13,5% im letzten Jahr. Ein großer Lieferant ist Huawei, daneben Hikvision, SenseTime, Dahua und ZTE. Natürlich wird China angeklagt, mit diesen Technologien Autoritarismus zu exportieren.
Aber es gibt auch Konkurrenz aus den USA (IBM, Palantir und Cisco), Israel und Japan (NEC), über die im westlichen Medien kaum berichtet wird.
Chinas Polizei hat die größte Bild-Datenbank mit über 1 Mrd. Gesichtern. China technischer Vorsprung liegt aber auch darin, dass viele Transaktionen wie das Einchecken im Hotel oder auch im Krankenhaus, die Zugbuchung und Bankgeschäfte inzwischen ganz per Gesichtserkennung laufen als „real-name identification“ oder die sonstige Identifikation zumindest ergänzen. Aber als die Pharmazeutische Hochschule Nanjing ein Hörsaal-Monitoring-System mit Gesichtserkennung einführen wollte, um die Anwesenheit der Studenten zu checken oder sie beim Quatschen oder Surfen zu ertappen, gab es einen Aufstand der Studenten.
Datenbanken mit Dokumenten in chinesischer Sprache für das Training von KI-Systemen sind nur begrenzt verfügbar. In einer Open-Source-Datenbank für KI-Trainingszwecke namens Common Crawl sind weniger als 5% der Daten in chinesischer Sprache. Deswegen fördert die chinesische Regierung jetzt eigene Datenbanken. Ein Anbieter ist ein Ableger der Pekinger Volkszeitung (Renmin Ribao), der lokalen KI-Firmen jetzt Daten mit dem Label “mainstream values corpus” anbietet, also als Partei-konform zertifiziert.
Staatliche Regulierung und Definition von KI-Standards
Für die Regierung hat die praktische Förderung der Künstlichen Intelligenz und anderer Schlüsseltechnologien Priorität. Der Begriff Regierung meint dabei alle Ebenen des chinesischen Staatsapparates, von der Zentralregierung bis zur Administration einer kleinen Stadt. In einer Rede rief der damalige Ministerpräsident Li Keqiang schon 2014 zu „Mass entrepreneurship” und “Mass innovation“ auf, forderte also Massenbewegungen für Unternehmertum und Innovation.
Aber die chinesische Regierung will nicht nur die grundlegende Technologie entwickeln, sondern vor allem ihre praktische Anwendung fördern. Der 14. Fünfjahrplan für den Zeitraum von 2021 bis 2025 fordert ausdrücklich die Integration digitaler Technologien wie KI in die Gesellschaft. So breitet sich die generative KI längst in vielen Industrien und Dienstleistungen in China aus und wird z.B. zur Inspektion von Autoteilen oder auch zur Ausarbeitung von Studienplänen für Schulen zur Prüfungsvorbereitung genutzt (Nikkei Asia 11.8.24).
Für die Entwicklung der Künstlichen Intelligenz hat der chinesische Staatsrat eine nationale Strategie beschlossen. Für die Ziele geht China Risiken ein und baut auch eine komplementäre Infrastruktur. So haben alle großen chinesischen Internet-Firmen gemeinsame Forschungslabore mit der chinesischen Regierung.
Ein Schwerpunkt der chinesischen Regierung ist die Definition von Standards für Künstliche Intelligenz, die möglichst weltweit gültig sind und die damit auch die Verbreitung chinesischer KI-Produkte fördern. So nimmt nach Angaben der UN-Unterorganisation ITU, der International Telecommunication Union, Chinas Einfluss zu. Die Standards, deren Verabschiedung ca. 2 Jahre dauert, sind ein wichtiges Mittel der Wirtschafts- und Industriepolitik. So hat die deutsche Industrie historisch positive Erfahrungen und gute Geschäfte mit den DIN-Normen gemacht.
Lokale Experimente und Nomen, um später einmal landesweite Standards zu definieren, gelten für Chinas Versuche mit dem autonomen Fahren. Chinesische Software- und Autofirmen sind technologisch führend in der KI-Entwicklung für die Autoindustrie. Von den Lokalbehörden werden entsprechende Experimente unterstützt. Das ist ein wesentlicher Grund, warum die deutschen Auto-OEMs ihre Entwicklungszentren in China weiter ausbauen. Die Technologie für das autonome Fahren wird dort entwickelt, und die Standards werden dort gesetzt.
Bei den Standards für KI geht es auch um Gesetze und Vorschriften. Nach Daten der OECD gibt es weltweit inzwischen über 1.000 Gesetze und staatliche Vorschriften, die den Einsatz der KI regulieren sollen. In China sind inzwischen zahlreiche Gerichtsverfahren entschieden, bei denen es u.a..um den Schutz von Persönlichkeitsdaten und das Rechtes auf das eigene Bild in KI-Projekten ging. Die Befassung der chinesischen Justiz mit diesen Themen zeigt, wie weit KI inzwischen in das Alltagsleben in China eingedrungen ist. Das zeigt gleichzeitig, dass auch in China der Schutz der Persönlichkeitsdaten ein wesentliches Thema ist. Nach der Einschätzung westlicher Juristen haben die inzwischen erlassenen chinesischen Datenschutzgesetze durchaus "Biss”, auch wenn der Arbeitnehmer-Datenschutz dabei keine große Rolle spielt (Nikkei Asia 11.8.24).
Definiert die KP den Wissenskanon, den die KI-Sprachmodelle lernen sollen? Alle KI-Modelle haben ein Bias, sind tendenziös. Viele Untersuchungen haben nachgewiesen, dass KI-Ergebnisse etwa nach Rasse, Geschlecht und sozialer Herkunft entzerrt sind. Die Sorge mancher Experten im Westen: Wie die chinesische KP erfolgreich das Internet in China per Firewall abgeschottet hat, so könne die KP auch die KI und insbesondere die KI-Sprachmodelle steuern, dass die Werte und Ziele der KP dabei nicht verletzt werden. So ein Kommentar im britischen Guardian (22.4.24).
Die meisten generativen KI-Sprachmodelle brauchen in China das Okay der Cyberspace Administration, des chinesischen Internet-Regulators, bevor sie auf den Markt kommen. Die chinesischen KI-Firmen müssen zwischen 20.000 und 70.000 Fragen vorbereiten, mit denen ihre Systeme, z. B. Suchmaschinen, getestet werden, ob sie zuverlässige Antworten produzieren. Für die Freigabe müssen sie zusätzlich außerdem Datensätze von bis zu 10.000 Fragen einreichen, auf die das jeweilige Sprachmodell keine Antwort gibt. Ein großer Teil dieser Fragen bezieht sich auf die politische Ideologie und auf Kritik an der KP.
Im Mai veröffentlichte Chinas Cyberspace-Administration Pläne für einen Chatbot, einen Textgenerator, der auf Basis von KI funktioniert und eine Unterhaltung simuliert, als würde man mit einem Menschen schreiben. Der geplante Jackpot soll u.a. auf der Basis der politischen Philosophie von Xi Jinping trainiert werden. Unternehmen und Behörden hätten damit einen Chatbot als Option zur Verfügung mit der Garantie, nicht die politischen roten Linien zu verletzen.
Warum die immer neuen Chip-Sanktionen zu immer neuen KI-Innovationen führen
Chinesische KI-Firmen, die durch die US-Sanktionen von ultraschnellen Chips von Halbleiterfirmen wie Nvidia abgeschnitten sind, haben einen Weg gefunden, damit die nötigen Millionen Lernzyklen für die großen KI-Sprachmodelle dennoch erfolgreich gerechnet werden können: Sie entwickeln viel leistungsfähigen Programmcode, der auch auf Rechnern mit Chips älterer Generationen abläuft, berichtet das Wallstreet Journal (23.8.24).
Viele chinesische KI-Start-ups arbeiten für ihre KI-Sprachmodelle mit sehr effizientem Programmcode, um diese Einschränkungen zu umgehen. Andere entwickeln jetzt kleinere, spezialisierte Sprachmodelle oder nutzen auch Trainingsmethoden für die KI-Software, die weniger Rechenzyklen und damit weniger Energie und Zeit erfordern. Die Firma 01.AI, von dem oben genannten Buchautor Kai-Fu Lee gegründet und von den chinesischen Privatkonzernen Alibaba und Xiaomi unterstützt, arbeitet mit einem Trainingsformat, das den Zeit- und Energieaufwand reduziert. Die Firma könne nicht auf viele GPUs (spezialisierte Chips für Grafikverarbeitung und KI) zugreifen. Das zwinge zur Entwicklung einer sehr effizienten KI-Infrastruktur, zitiert das Wallstreet Journal Kai-Fu Lee. Der Chef von Baidu, einer Internet-Plattform, zugleich spezialisiert auf autonomes Fahren, warnte auf einer Konferenz im Juli 2024 in Peking vor einer Verschwendung knapper Computer-Ressourcen für die Entwicklung großer KI-Sprachmodelle. Wichtiger seien KI-gestützte Apps, also kleine Programme, die praktischen Nutzen hätten.
Der chinesische Bytedance-Konzern, Chinas “App-Fabrik”, aus dem die weltweit verbreitete App TikTok stammt, hat in den letzten Monaten mehr als 20 auf KI basierende Apps veröffentlicht, darunter einen Englisch-Tutor und ein Programm zur Erstellung eigener Videos. Andere Apps generieren aus Texten Videos. Drei der zehn KI-Apps mit den meisten Downloads in diesem Jahr in den USA stammen von chinesischen Firmen.
Auf der Konferenz im Juli in Peking erklärte ein Manager von Huawei, es sei falsch zu glauben, China könne nicht bei der Künstlichen Intelligenz führend sein, nur weil es nicht die modernsten Chips habe. In Unternehmen, staatlichen Rechenzentren und Forschungseinrichtungen werde fast die Hälfte aller großen KI-Sprachmodelle auf Ascend-Chips von Huawei trainiert. Andere chinesische Technologiekonzerne wie Baidu, Alibaba und Tencent nutzen eigene, inhouse entwickelte Chips, um ihre KI-Modelle zu testen.
Es ist offensichtlich, dass die US-Chip-Sanktionen Chinas Vormarsch auf dem Gebiet der Schlüsseltechnologie künstliche Intelligenz nicht gestoppt haben.
Wirtschaftskooperation zwischen China und Afrika: FOCAC
Auf dem diesjährigen Wirtschaftsforum für chinesisch-afrikanische Zusammenarbeit, FOCAC, in der chinesischen Hauptstadt Beijing vereinbaren China und Afrika eine Fortsetzung und Vertiefung ihre Wirtschafts- und Handelspartnerschaft.
FOCAC steht für "Forum on China–Africa Cooperation", das die Zusammenarbeit zwischen China und den Staaten Afrikas fördert. Seit seiner Gründung im Jahr 2000 hat sich das Forum FOCAC auf die Verwirklichung von gemeinsamem Wohlstand und nachhaltiger Entwicklung für die Völker Chinas und Afrikas konzentriert. Der institutionelle Aufbau und die praktische Zusammenarbeit im Rahmen des Forums hat zu bemerkenswerten Ergebnissen geführt. Es umfasst alle afrikanischen Länder, mit Ausnahme von Eswatini, das keine diplomatischen Beziehungen zu China unterhält.
Seit dem Bestehen von FOCACseit 2000 waren die vier größten Projekte, die durch chinesische Darlehen an afrikanische Staaten finanziert wurden, Verkehr mit 38,2 Milliarden US-Dollar, gefolgt von Energie/Energie mit 30,1 Milliarden US-Dollar, Bergbau/Öl mit 19,2 Milliarden US-Dollar und schließlich die Kommunikation mit 7,0 Milliarden US-Dollar.
China war in den letzten 15 Jahren der größte Handelspartner des afrikanischen Kontinents und eine wichtige Quelle für ausländische Investitionen.
Das Handelsvolumen erreichte im Jahr 2023 einen Rekordwert von 282 Milliarden Dollar, was einem Anstieg von 1,5 % gegenüber dem Vorjahr entspricht.[1]
Das FOCAC-Forum hat sich seit seiner Gründung im Jahr 2000 zu einer effizienten und einzigartigen Plattform für die Süd-Süd-Kooperation entwickelt. Das diesjährige Gipfeltreffen war das vierte Treffen auf Führungsebene unter Beteiligung von 53 Staats- und Regierungschefs afrikanischer Länder, an dem auch der Generalsekretär der Vereinten Nationen, Antonio Guterres teilnahm.
Im Mittelpunkt des Forums stand die Förderung der gegenseitigen Partnerschaft, die Stärkung der industriellen Integration und die Vertiefung der Zusammenarbeit in zukünftig wirtschaftlich relevanten Sektoren.[2]
Zukünftige Kooperation und finanzielle Unterstützung Afrikas in den nächsten drei Jahren
Die chinesische Regierung wird 360 Milliarden Yuan (50,7 Milliarden US-Dollar) an finanzieller Unterstützung für die Umsetzung der vereinbarten Maßnahmen bereitstellen, wobei die Unterstützung von 29.508.465.000 US-Dollar in Form von Kreditlinien , 11.245.905.760 US-Dollar an Hilfe in verschiedenen Formen und mindestens 9.840.167.540,00 US-Dollar an Investitionen in Afrika durch chinesische Unternehmen
als finanzielle Unterstützung für die Umsetzung verschiedener Modernisierungsinitiativen und weitere Förderungen der afrikanischen Entwicklung umfassen.
China will dabei etwa 1 Million Arbeitsplätze in Afrika schaffen, Kooperationsprojekte in den Bereichen saubere Energie und digitale Technologie initiieren und ein Programm zur Stärkung afrikanischer KMUs (kleine und mittlere Unternehmen) auflegen.[3]
Als eine besondere Maßnahme zur Förderung der Süd-Süd-Kooperation ist die Entscheidung der chinesischen Regierung anzusehen, dass alle am wenigsten entwickelten Länder (LDC), die diplomatische Beziehungen zu China unterhalten, einschließlich der 33 afrikanischen Länder, von Handelszöllen befreit werden sollen., d. h. eine unilaterale Nullzollbehandlung für 100 Prozent der Einfuhrgüter erhalten.
Die Vereinten Nationen definieren die "Least Developed Countries" (LDCs) oder die am wenigsten entwickelten Länder als „Länder mit niedrigem Einkommen, die mit schwerwiegenden strukturellen Hindernissen für eine nachhaltige Entwicklung konfrontiert sind“ Derzeit führen die UN-Behörden 45 dieser Länder auf ihrer Liste. Die Hauptkriterien sind dabei ein niedriges Bruttonationaleinkommen, (pro Kopf unter 1.018 US-Dollar), ein geringes Humankapital und eine hohe wirtschaftliche Verwundbarkeit (Anfälligkeit für externe wirtschaftliche Schocks und Naturkatastrophen.)[4]
Zum Status der Handelsbeziehungen China : Afrika
Der Handel zwischen Afrika und China stieg 2023 auf einen neuen Rekord von 282,1 Milliarden US-Dollar, ein Zuwachs von 100 Millionen US-Dollar oder 1,5 Prozent gegenüber dem Vorjahr. [5]
Chinas Importe afrikanischer Waren erreichten in der ersten Hälfte dieses Jahres einen Wert von 60,1 Milliarden Dollar, was einem Anstieg von 14 Prozent im Vergleich zum Vorjahr entspricht, teilte das Handelsministerium mit. Die umfangreichen Einfuhren landwirtschaftlicher Erzeugnisse aus Afrika sind ein wichtiger Aspekt der chinesisch-afrikanischen Handelskooperation. Der Umfang der aus Afrika eingeführten landwirtschaftlichen Erzeugnisse ist in den letzten sieben Jahren kontinuierlich gestiegen, soll aber durch die erwähnten unilateralen Erleichterungen der Zollbestimmungen intensiviert werden.
Neue partnerschaftliche Modernisierungsmaßnahmen
In den nächsten drei Jahren sind im Rahmen der FOCAC Süd-Süd Kooperation mehrere neue Projekte und Kooperationsbereiche zwischen China und Afrika in Vorbereitung:
Erneuerbare Energien. Hier ist ein signifikanter Schwenk hin zur Energieproduktion aus erneuerbaren Ressourcen in Afrika vorgesehen. Es geht um die Nutzung von Sonnen- und Windenergie, die auf dem afrikanischen Kontinent weithin verfügbar sind, ebensoum die Bereitstellung chinesischer Technologien für erneuerbare Energien und um die Erschließung Afrikas als wichtiger Absatzmarkt für "grüne" Technologien aus China.
Neue Industriezweige sollen ebenso wie die Integration von Liefer- und Produktionsketten in der Zusammenarbeit im Bereich neuer Energiefahrzeuge aufgebaut und gefördert werden. Gleichzeitig soll der Austausch zwischen chinesischen und afrikanischen Unternehmern über "Integration von Industrie- und Lieferketten" und "Entwicklung neuer Industrien" die weitere Zusammenarbeit fördern.
Digitale Innovation als ein sich abzeichnender neuer Sektor mit starken Asuwirkungen aüf die zukünftige Wirtschaftsentwicklung soll sich auch in der Kooperation zum partnerschaftlichen Vorteil stark gefördert werden.
Infrastrukturprojekte bleiben als Voraussetzung für die Wirtschaftsentwicklung weiterhin wichtig, So soll der Bau und die Modernisierung von Straßen, Eisenbahnen, Brücken und Häfen zur Verbesserung des afrikanischen Verkehrsnetzes weiterhin besondere Förderung erfahren.[6]
Medienberichten zufolge hat China den Bau und die Verbesserung von über 10.000 Kilometern Eisenbahnstrecke, fast 100.000 Kilometern Straßen, fast 1.000 Brücken und fast 100 Häfen in Afrika unterstützt. Diese Infrastrukturprojekte haben die Konnektivität, die wirtschaftliche und soziale Entwicklung sowie die Industrialisierung und Modernisierung des gesamten Kontinents erheblich verbessert. [7]
Auch die Zusammenarbeit im Rahmen der Belt and Road Initiative (BRI) soll im Zuge neuer vorgestellter Kooperationspläne vertieft werden.
Finanzielle Zusammenarbeit. Hier werden neue Ansätze für die finanzielle Zusammenarbeit diskutiert, nachdem das Volumen chinesischer Kredite für Projekte in Afrika in den letzten Jahren zurückgegangen ist.
Die neuen Projekte und Kooperationsbereiche zielen darauf ab, die China-Afrika-Beziehungen auf ein höheres Niveau zu heben und die Zusammenarbeit an die aktuellen globalen Herausforderungen und Möglichkeiten anzupassen.[8]
China zeigt sich nach Meinungen von Beobachtern der FOCAC 24 entschlossen, im Rahmen der partnerschaftlichen Modernisierungsmaßnahmen die Zusammenarbeit mit Afrika vor allem in den zuvor genannten Bereichen wie der digitalen Wirtschaft, der künstlichen Intelligenz und der neuen Energie zu verstärken.
Afrikanische Beamte und Führungskräfte aus der Wirtschaft bringen zum Ausdruck, dass die praktischen Initiativen, die auf dem Gipfeltreffen des China-Afrika-Kooperationsforums 2024 vorgestellt wurden, vielversprechend seien, um die Modernisierungsbemühungen der afrikanischen Länder zu beschleunigen.
Als ein Beleg dafür sind Beleg zwei ausgewählte Beispiele für die Süd-Süd Kooperation zu nennen:
Südafrika - Mit seiner riesigen Verbraucherbasis, seinem vielversprechenden Wachstumspotenzial und seiner Innovationskraft habe sich China zu einem Magneten für südafrikanische Unternehmen entwickelt, die ihre Präsenz ausbauen und von der wirtschaftlichen Dynamik des Landes profitieren wollen, sagte David Karl Ferreira, CEO von Vitality China under Discovery Ltd - einem in Südafrika ansässigen Finanzdienstleister.
Xiaomi -Gründer und Vorsitzender des chinesischen Smartphone-Herstellers Xiaomi, Lei Jun sagte, dass Afrikas Wirtschaftswachstum über dem globalen Durchschnitt liege und die Errichtung der Freihandelszone des Kontinents die grenzüberschreitende Handels-kooperation und Marktintegration fördere.[9]
Chinas Investitionen in Afrika gehen demzufolge über die traditionelle Rohstoffgewinnung hinaus und erstrecken sich auch auf das verarbeitende Gewerbe, den erwähnten Bau von Infrastrukturen, die digitale Wirtschaft und die Ausbildung von Arbeitskräften. Dieser diversifizierte Investitionsansatz hilft den afrikanischen Ländern nicht nur bei der Entwicklung ihrer Industriesysteme und der Steigerung des Produktwerts, sondern soll auch ihre Wettbewerbsfähigkeit auf dem Weltmarkt verbessern.
Bewährte Kooperation zur landwirtschaftlichen Entwicklung
Afrika kämpft seit langem mit der großen Herausforderung der Nahrungsmittelknappheit. Die afrikanische Landwirtschaft war während des langen Prozesses der Globalisierung immer wieder von verschiedenen Störungen wie etwa den Kolonialismus belastet und insofern unterentwickelt. Einer der Hauptgründe für die Stagnation der landwirtschaftlichen Produktion sind veraltete Produktionstechnologien und traditionelle landwirtschaftliche Praktiken. In diesem Zusammenhang hat die chinesische Hybridreis-Technologie, die für ihre hohe Effizienz und beeindruckenden Erträge bekannt ist, zu einem revolutionären Wandel in der Wahrnehmung der Landwirtschaft auf dem gesamten Kontinent geführt.
Chinas Hybridreis wird inzwischen in mehr als 20 afrikanischen Ländern angebaut.
Die Anwendung von Chinas Hybridreis-Technologie wird von Ernährungs-Experten als eine der wichtigsten Errungenschaften der landwirtschaftlichen Zusammenarbeit zwischen China und Afrika angesehen, die die Selbstversorgung der afrikanischen Länder mit Getreide erheblich verbessert hat.
China hat 24 landwirtschaftliche Technologie-Demonstrationszentren auf dem gesamten Kontinent eingerichtet und fördert dort mehr als 300 fortschrittliche und praktische Technologien, darunter Maisanbau, Gemüseanbau und Maniokvermehrung. Diese Entwicklung hat zu einer beeindruckenden Steigerung der lokalen Ernteerträge geführt, die zwischen 30 und 60 Prozent im Vergleich zu früheren Werten liegen.[10]
Insgesamt hat die landwirtschaftliche Zusammenarbeit zwischen China und Afrika sowohl in technischer als auch in wirtschaftlicher Hinsicht zu bedeutenden Erfolgen geführt. Noch wichtiger ist, dass sie einen Wandel der gesellschaftlichen Perspektiven in ganz Afrika gefördert und damit die Modernisierung des Agrarsektors des Kontinents vorangetrieben hat. Dies soll auch im Zuge der Modernisierungsmaßnahmen weiter vorangetrieben werden.
Im Zuge der Fortsetzung der FOCAC-Kooperation soll des Weiteren eine gemeinsame Krankenhausallianz gegründet werden, im Rahmen dessen gemeinsame medizinische Zentren zu errichten sind. Als ein erster Schritt werden 2000 medizinische MitarbeiterInnen in Afrika tätig werden und dazu beitragen, die vereinbarten Programme für Gesundheitseinrichtungen und Malariabehandlung umzusetzen.[11]
China wird Afrika 140.512.590 Mil. US-Dollar an militärischer Unterstützung zukommen lassen, 6.000 Militärangehörige und 1.000 Polizei- und Strafverfolgungsbeamte aus Afrika ausbilden und 500 junge afrikanische Militäroffiziere zu einem Besuch in China einladen, um die Partnerschaft für gemeinsame Sicherheit zu stärken.
Westliche Sichtweisen der Süd-Süd-Kooperation
Westliche Analysen, die sich mit den wirtschaftspolitischen Maßnahmen auf der Grundlage von FOCAC befassen, betonen trotz ihrer Vorbehalte gegenüber der chinesischen Politik die positiven Auswirkungen für die afrikanische Bevölkerung. [12]
„China verzahnt in Afrika bei der Entwicklungszusammenarbeit zahlreiche Instrumente der Außenpolitik wie Propaganda, Diplomatie, Handel, Investition, Entwicklungshilfe und Militärkooperation eng miteinander. Diese wirken sich zwar auch negativ auf bestimmte Bereiche des Alltags vieler Afrikanerinnen und Afrikaner aus, aber unterstützen zugleich das Wachstum, die Beschäftigungsverhältnisse und die Handlungsfreiheit der jeweiligen Regierungen und sogar der intergouvernementalen Institution der Afrikanischen Union. Somit verdrängt China die Afrikapolitik anderer Akteure wie der USA, Frankreich und der EU.“[13]
Der IWF kommt in seiner Bewertung der Handelsbeziehungen zwischen China und Afrika zu der Einschätzung, dass Chinas Engagement in Afrika zum Wirtschaftswachstum vieler afrikanischer Länder beigetragen hat. Die chinesischen Investitionen und der Handel haben neue Arbeitsplätze geschaffen und die Infrastruktur verbessert. Diversifizierung der Partner: Die Präsenz Chinas als Handelspartner hat den afrikanischen Ländern eine Alternative zu traditionellen westlichen Partnern geboten. Dies hat ihre Verhandlungsposition gestärkt und neue Möglichkeiten eröffnet. Entwicklungsmodell: China wird als Vorbild für schnelles wirtschaftliches Wachstum gesehen. Länder wie Äthiopien haben Aspekte des chinesischen Entwicklungsmodells übernommen, was zu Fortschritten in bestimmten Sektoren geführt hat.[14]
Auch betont der IWF die Wichtigkeit der Multilaterale Zusammenarbeit und ermutigt China sogar, sich stärker in globale Entwicklungsinitiativen einzubringen. Es ist davon auszugehen, dass der IWF Insgesamt sowohl Chancen als auch Herausforderungen in den chinesisch-afrikanischen Handelsbeziehungen sieht und plädiert nachvollziehbar für einen ausgewogenen Ansatz, der die Vorteile maximiert und die Risiken minimiert. [15]
Bereits in den 2010er Jahren kommt der wissenschaftliche Dienst des deutschen Bundestages zu der Erkenntnis, dass China trotz aller Bedenken der Konkurrenz zu deutschen und europäischen Projekten bei der Etablierung multilateraler Machtpole darauf bedacht sei, sich nicht durch Aktionen zu isolieren wie in der Vergangenheit. Auch halten sie eine Sichtweise, wonach China in Afrika als neokolonialistischer Rohstoff-Extrakteur auftrete, für verkürzt und verweisen auf den vielfältigen sozioökonomischen Aufschwung, den gerade die Technologie- und Infrastrukturabkommen der jüngsten Zeit den afrikanischen Staaten tatsächlich bringen könnten.[16]
Der Plattform „China Global South Projekt“ ist zu entnehmen, dass China sich als eine Art moralischer und politischer Sprecher für den globalen Süden positioniere, wobei Afrika eine Schlüsselrolle einnehme und China bemüht sei, neue Absatzmärkte zu finden. [17]
Nur zum Verständnis, FOCAC wurde im Jahr 2000 begründet und inzwischen sind schon viele Projekte realisiert bzw. initiiert worden, so dass der Warenaustausch nicht erst in diesem Jahr in den Beziehungen eine Rolle spielt.
Chinas Beteiligung an Friedenssicherungsmaßnahmen und Konfliktlösungen auf dem Kontinent spiegelt dabei ein wachsendes Engagement für politische Stabilität in der Region wider. Gemäß dem Stockholm International Peace Research Institute (SIPRI) hat China signifikant zur UN-Friedenssicherung in Afrika beigetragen, mit über 2.500 chinesischen Soldaten in verschiedenen Missionen.[18]
Der am Wirtschaftsgipfel teilnehmende UN-Generalsekretär António Guterres betonte in seiner Rede in Beijing, dass u. a. auch China und Afrika gemeinsam in der Lage seien,
die dringend nötige »Revolution« hin zu erneuerbaren Energien sowie zu digitalen Technologien auf dem afrikanischen Kontinent zu steuern. Die China-Afrika- Zusammenarbeit sei »eine Säule« der Süd-Süd-Kooperation, die notwendig sei, um die UN-Entwicklungsziele zu erreichen. Beide Seiten hätten dabei die volle Unterstützung der Vereinten Nationen.[19]
Westliche Polemik „Schuldenfalle“
Beim letzten Treffen 2018, ebenfalls in Peking, sagte der chinesische Staatspräsident Xi den afrikanischen Ländern Finanzmittel in Höhe von 60 Mrd. USD zu, darunter 20 Mrd. USD in Form von Kreditlinien sowie 15 Mrd. USD in Form von Zuschüssen, zinslosen Darlehen und Darlehen zu Vorzugsbedingungen. Die praktischen Ergebnisse der Zusammenarbeit zwischen China und Afrika liefern seit langem einen belegbaren Beweis, dass die systemkonkurrenz-getriebene Voreingenommenheit westlicher Länder gegenüber der bilateralen Süd-Süd-Kooperation von China und Afrika wenig zutreffend ist. Lange Zeit stand der Westen der Zusammenarbeit zwischen China und Afrika voreingenommen gegenüber, betrachtete Chinas Investitionen in Afrika durch die Brille des Kalten Krieges und verbreitete sogar bösartige Narrative wie „Neokolonialismus“ und „Schuldenfalle“. China würde afrikanischer Staaten in eine „Schuldenfalle“ locken bei der Bewilligung von Krediten.
Dazu ist anzumerken, dass zum Mythos der „Schuldenfalle Diplomatie“ der Politikwissenschaftler Ajit Singh von der Manitoba Universität, Kanada jahrzehntelang nachweist und auch belegt, dass chinesische Kredite nicht die Hauptursache für die Verschuldungsproblematik sind. Zudem läßt sich belegen, dass China kein räuberisches Verhalten gegenüber den Schuldnerländern an den Tag legt, indem es Schulden dazu nutzt, die Übernahme strategischer Vermögenswerte und natürlicher Ressourcen zu erleichtern oder die militärische Expansion zu fördern.[20]
Eine Schlussbemerkung
Es bleibt zu verfolgen, in welchem Maße und in welchem Zeitraum sich die Kooperation zwischen China und Afrika im Rahmen von FOCAC und der Initiative Belt and Road entwickelt. Die weitere Entwicklung hängt nicht zuletzt von dem sich verschärfenden Konflikt zwischen dem globalen Norden und dem globalen Süden ab, im Rahmen dessen auch die partnerschaftlichen Beziehungen von China und Afrika zu beobachten sind, ebenso wie die Bemühungen westlicher Länder und auch der EU, verloren gegangenes Vertrauen in Afrika wieder aufzubauen und mit China geopolitisch zu konkurrieren.
Quellenangaben
2 https://www.caixinglobal.com/2024-09-05/china-africa-summit-xi-pledges-50-billion-in-financial-aid-102233825.html;
https://www.kapitalkompakt.de/blog/china-afrika-gemeinschaft-globale-zusammenarbeit
5 https://table.media/africa/news/china-afrika-handel-auf-rekordhoch
6 https://2024focacsummit.mfa.gov.cn/eng/
https://www.globaltimes.cn/page/202408/1318438.shtml?id=11
8 Jörg Kronauer: https://www.jungewelt.de/artikel/483195.focac
9 https://www.chinadailyhk.com/hk/article/592416#Connectivity-of-industrial-chains-to-be-enhanced
10 https://www.globaltimes.cn/page/202409/1319253.shtml
11 Jörg Kronauer: https://www.jungewelt.de/artikel/483195.focac
12 https://www.megatrends-afrika.de/publikation/mta-spotlight-37-focac-2024-welche-strategie-im-umgang-mit-china-in-afrika
19 Jörg Kronauer: https://www.jungewelt.de/artikel/483195.focac
20 Ajit Singh: Der Mythos der "Schuldenfalle Diplomatie" und die Realitäten der chinesischen Entwicklungsfinanzierung, https://www.tandfonline.com/doi/full
Selbstbewusste Belegschaft: Wir sind Volkswagen – ihr seid es nicht!
Was für ein Schmalz, was für ein ideologisches Geschwätz bei der Androhung von Massenentlassungen und einer ersten Werksschließung in Brüssel.
Unter der Überschrift „Festgefahren“ wurde in „arranca“1 im Juli diesen Jahres ein Aufsatz von mir veröffentlicht, in dem beschrieben ist, wie die Autoindustrie die Verkehrswende blockiert und mit ihrer hochpreisigen Luxusstrategie in eine strategische Sackgasse rast.
Die Anzahl der Beschäftigten in der Auto- und Zulieferindustrie sank in den letzten vier Jahren um ca. 50.000, mit Ford hat einer der großen Hersteller bereits eine Fabrik in Saarlouis geschlossen, die Inlandsproduktion sank fast um die Hälfte von 5,7 Mio. auf 3 Mio. Fahrzeuge, während die Profite auf sagenhafte 60 Milliarden Euro stiegen. Bei der jüngsten Betriebsversammlung im Wolfsburger Werk am 4. September sagte der Finanzchef von VW: „Es fehlen uns die Verkäufe von rund 500.000 Autos, die Verkäufe für rund zwei Werke. Und das hat nichts mit unserer Produktion zu tun oder schlechter Leistung des Vertriebs. Der Markt ist schlicht nicht mehr da.“ Überraschend ist das nicht, was jetzt bei VW passiert. Bisher wurden die Überkapazitäten in der Autoindustrie immer beim jeweils anderen Hersteller oder „in China“ verortet.
Erstmals werden jetzt bei VW innerhalb eines Konzerns Überkapazitäten eingestanden.
Natürlich müssen diese Überkapazitäten abgebaut werden – durch den Aufbau von Produktion für nachhaltige öffentliche Mobilität und durch Arbeitszeitverkürzung.
Ende Mai dieses Jahres haben wir bei einem Ratschlag der Rosa-Luxemburg-Stiftung dazu eine Erklärung verabschiedet: Verkehrswende jetzt – für Klimaschutz und gutes Leben. Ein Diskussionsangebot des Gesprächskreises Zukunft Auto Umwelt Mobilität der Rosa-Luxemburg-Stiftung.2
Arbeitszeitverkürzung gehört, wie die Vier-Tage-Woche 1994, selbstverständlich zu den Maßnahmen, die sofort umgesetzt werden können, um Überkapazitäten abzubauen und die bisher verweigerte Verkehrswende einzuleiten.
Im vom damaligen Bezirksleiter der IG Metall Jürgen Peters herausgegebenen kleinen, inzwischen vergriffenen Büchlein, wurde die Erfahrungen festgehalten: „Modellwechsel – Die IG Metall und die Viertagewoche bei VW“ (Steidl-Verlag Göttingen, Dezember 1998).
Nun also, passend zur Mobilmachung, zur Erzeugung der Kriegstüchtigkeit und zum super Rüstungsetat, die Kriegserklärung des Porsche-Piëch -Clans und seines Managements an die hunderttausend Arbeiterinnen und Arbeiter der Marke Volkswagen und an die 3.000 Malocher bei Audi in Brüssel. Es geht bei der Androhung von Massenentlassungen und Werksschließungen nicht um auszugleichende Verluste, sondern letztlich um eine Umgruppierung des Kapitals zu lasten derjenigen, die den sagenhaften Reichtum der Großaktionäre erst geschaffen haben.
Wenn mit Rüstung und Krieg mehr Geld verdient werden kann als mit zum Beispiel Autos, dann gruppiert sich das Kapital eben um.
Falls jemand über die Not in den Werken von Volkswagen diskutieren will:
137 Milliarden Euro Gewinnrücklagen und mehr als 16 Milliarden Euro Nettogewinn 2023 in der Bilanz des Konzerns. Davon ausgeschüttet wurden 4,5 Milliarden 2024, gut 1,5 Milliarden Euro direkt an den Porsche-Piëch-Clan.Die Gift-Küche des VW-Managements: Spalten, herrschen, Kosten senken.
Das Management von VW verbreitet das Märchen, es würden vier Milliarden Euro fehlen. Aber es geht nur darum, die Kosten schneller zu senken, die hohen Gewinnerwartungen schneller zu erfüllen. Die vier Milliarden Euro fehlen ihnen zu einer angepeilten Umsatzrendite von 6,5 Prozent3. Darum geht es. Auch die Marke VW hat in zurückliegenden Jahren Umsatzrenditen in Höhe von mehr als vier Prozent geliefert. Bei hundert Milliarden Euro Umsatz kommen da ein paar Milliarden leicht zusammen, das Ziel von 10 Milliarden rückt aber mit der Unterauslastung der Fabriken in unerreichbare Ferne. Der Finanzvorstand Arno Antlitz bringt keinerlei Belege, wenn er bei der Betriebsversammlung in Wolfsburg behauptet, für die Marke VW würde „seit geraumer Zeit“ mehr Geld ausgegeben als eingenommen. Nun also die Kriegserklärung gegenüber allen, die diesen Reichtum geschaffen haben, an die Arbeiter_innen, Ingenieur_innen und Kaufleute:
- Der Tarifvertrag zur Beschäftigungssicherung soll gekündigt werden. Damit sollen, erstmals seit 1994, betriebsbedingte Entlassungen möglich werden.
- Das wäre Voraussetzung für den zweiten Punkt, nämlich die Androhung von Werksschließungen.
- Markenchef Schäfer sagt, die Reduzierung der Personalkosten um 20 Prozent reichten nicht aus,
- eben so wenig wie Abfindungen oder Altersteilzeit,
- die Anzahl der Auszubildenden muss reduziert werden und
- die höchsten Entgeltstufen, Tarif-Plus, sollen abgeschafft werden.
Es ist die Strategie des Managements, die Belegschaft gegeneinander auszuspielen: Alt gegen Jung, Büro gegen Fließband, Emden gegen Zwickau.
Konzernboss Oliver Blume wärmte die Story von der schwäbischen Hausfrau wieder auf und „verwies auf eine am Monatsende leere Familienkasse. Wenn dann der Fernseher kaputt geht, dann müssen Oma oder der reiche Onkel einspringen.“ Blume versucht es auf die sentimentale Tour: „Wir führen VW wieder dorthin, wo die Marke hingehört – das ist die Verantwortung von uns allen. Ich komme aus der Region, arbeite seit 30 Jahren im Konzern. Ihr könnt auf mich zählen und ich zähle auf Euch – Wir sind Volkswagen“.
Aber tausende in der Halle skandieren selbstbewusst:
„Wir sind Volkswagen – aber ihr seid es nicht!“4
Massenentlassungen und Werksschließungen? Die Rückkehr des Klassenkampfes
Die Herren machen das selber, dass ihnen der arme Mann Feind wird (Thomas Müntzer). Die Ankündigung von Massenentlassungen und Werksschließungen hat zu einem vieltausendfachen Aufschrei von Emden über Osnabrück, Hannover und Dresden bis Zwickau und Chemnitz, von Wolfsburg über Braunschweig und Salzgitter bis Kassel geführt. Zehntausende Arbeiterinnen und Arbeiter nahmen in den letzten Tagen an den Betriebsversammlungen in allen Werken von Volkswagen teil.
Eine Kollegin aus der Wolfsburger Personalabteilung berichtet mir: „So voll hab ich die Halle selten gesehen. Extrem große Geschlossenheit der Belegschaft. Hab noch nie erlebt, dass eine Betriebsratsvorsitzende derart deutlich unterstützt wurde. Volle Rückendeckung für Daniela Cavallo. Hervorragende Rede von ihr. Hat ihre Person ins Wort gestellt, dass es mit ihr keine Standortschliessungen gibt.
Auch gute Rede von IG Metall Bezirksleiter Thorsten Gröger. Applaus und Pfeifkonzert jeweils minutenlang! Hab ich so noch nie erlebt. Blume und Schäfer eher unbeeindruckt. Nichts Konkretes vom Vorstand, nur die üblichen Sprechblasen.“ Und ein Kollege aus dem Karrosseriebau ergänzt: „Es gab viel Stoff für den Vorstand und ihrem Versagen …. viel Gegenwind von Betriebsrat und IG Metall und nur Pfiffe für den Vorstand …. so richtig geil waren die Reden von unserer Seite und es wurde deutlich Kampfbereitschaft signalisiert …. hoffentlich bleibt das auch so.“ Flavio Benites, der Geschäftsführer der Wolfsburger IG Metall sagt: „Der Vorstand von Volkswagen hat die Axt an die Wurzeln von Volkswagen gelegt. Damit werden sie nicht durchkommen. Die IG Metall steht mit zehntausenden Mitgliedern bereit, unseren Forderungen Nachdruck zu verleihen.“
Der IG Metall-Bezirksleiter Thorsten Gröger war in Wolfsburg auf der Betriebsversammlung. Er kritisiert im Anschluss scharf: „Der Vorstand hat einen unverantwortlichen Plan präsentiert, der die Grundfesten von Volkswagen erschüttert und Arbeitsplätze sowie Standorte massiv bedroht. Dieser Kurs ist nicht nur kurzsichtig, sondern hochgefährlich – er riskiert, das Herz von Volkswagen zu zerstören. Ein solcher Kahlschlag wäre inakzeptabel und wird auf entschlossenen Widerstand stoßen. Wir werden mit aller Kraft, notfalls im harten Konflikt, für den Erhalt aller Standorte sowie der Jobs unserer Kolleginnen und Kollegen kämpfen! Pläne, die das Unternehmen auf Kosten der Belegschaft macht und die Regionen in unserem Land massiv zersetzen, werden wir nicht tolerieren.“
Ein Montagearbeiter aus Emden erzählt von der Betriebsversammlung: „Der Manni (Manfred Wulff, Betriebsratsvorsitzender) versprüht die Hoffnung, dass es mit der Stückzahl wieder hoch gehen und die Fabrik ausgelastet sein wird. Keine Ahnung, wo dieser Optimismus herkommt. Der Markenchef Schäfer hat ganz klar gesagt, dass Geld eingespart werden muss und die Beschäftigungssicherung gekündigt werden soll. Das würde bedeuten, dass eine 3-monatige Schonzeit für die Beschäftigten besteht. Danach könnte betriebsbedingte gekündigt werden. Eine einzige Katastrophe. Im Management sind diejenigen, die den Laden mit Volldampf gegen die Wand fahren. Bei der Betriebsversammlung fingen sie ihre Reden mit ‚Liebe Kolleginnen und Kollegen‘ an. Aber ihr seid nicht meine und nicht unsere Kollegen.“
Eine Kollegin aus der Lackiererei in Zwickau berichtet: „Die Motivation zu kämpfen ist am Standort nach den Ereignissen vom Montag hoch. Schäfer ist heute vom gesamten Werk lautstark mit Trillerpfeifen und Buhrufen empfangen worden. Die Stimmung zur Betriebsversammlung war kochend und brennend. Momentan kann noch niemand die Lage einschätzen. Das wird erst in den nächsten 2-3 Monaten sich zeigen. Es gibt auch Vermutungen, das VW das gemacht hat, um noch mehr Subventionen vom Land und vom Bund zu kassieren. Die ersten Reaktionen gibt es ja schon. In Gänze aber eine Katastrophe für die Belegschaft, die mal wieder den doofen macht.“ Die IG Metall aus Zwickau berichtet: Minutenlange Pfeifkonzerte nach jedem 3. Satz von VW-Markenvorstand bei der Betriebsversammlung im Fahrzeugwerk Zwickau – die Stimmung unter den rund 3000 Kolleginnen und Kollegen in Halle 26 und weiteren tausenden Beschäftigten vor der Halle kocht!! Und BR-Vorsitzender Uwe Kunstmann fand sehr deutliche Worte: „Werke in Frage zu stellen, ist als ob man ganze Regionen dem Erdboden gleich macht! Aber nicht mit uns!“5
Der Kasselaner Betriebsratsvorsitzende Carsten Büchling erklärt in einem Interview mit der Frankfurter Rundschau: „Dass jetzt betriebsbedingte Kündigungen und Werksschließungen im Raum stehen, ist Wasser auf die Mühlen der AfD. Es gibt keine Alternative zum Verbrenner-Aus! Es war schon eine Katastrophe, dass im Rahmen der EU diese Transformation zum Teil wieder infrage gestellt worden ist. Die Technik der E-Fuels, die da immer wieder als Alternative in Aussicht gestellt wird, ist nicht massentauglich. Sie ist eine Lösung für Porschefahrer. Wenn wir mehr Einfluss hätten auf strategische Entscheidungen über die Produktion, dann könnten solche krisenhaften Zuspitzungen wie jetzt bei VW vermieden werden. Unser Ziel muss sein, dass die Beschäftigten über die Produktion entscheiden. Die Beschäftigten müssen zu Miteigentümern der Betriebe werden.“6
Ein Gesetz gegen Betriebsschließungen?
Zur Frage der Möglichkeit von Werksschließungen bei Volkswagen hilft ein Blick ins Gesetzbuch: Im VW-Gesetz heißt es u.a.: (§4.2) „Die Errichtung und die Verlegung von Produktionsstätten bedürfen der Zustimmung des Aufsichtsrats. Der Beschluss bedarf der Mehrheit von zwei Drittel der Mitglieder des Aufsichtsrats.“ Mit dem Anteil des Landes und den zwei Mitgliedern der Landesregierung sowie den 10 Vertreter*innen der Beschäftigten im Aufsichtsrat wäre die „Verlegung von Produktionsstätten“ zu verhindern – aber auch die Schließung? Es gibt da noch die Satzung der Volkswagen AG, in der es konkreter formuliert ist in § 9.1: „Der Vorstand bedarf der vorherigen Zustimmung des Aufsichtsrats zur Vornahme folgender Geschäfte: 1. Errichtung und Aufhebung von Zweigniederlassungen; 2. Errichtung und Verlegung von Produktionsstätten.“
Das herrschende Recht ist das Recht der Herrschenden und das VW-Gesetz ist seit Jahrzehnten unter Dauerfeuer der neoliberalen Ideologen7. So wie der Tarifvertrag zur Beschäftigungssicherung eine Revisionsklausel hat, so gelten Gesetze auch nur so lange, wie sie den Herrschenden nutzen, sind erstens veränderbar und zweitens tatsächlich von der wirtschaftlichen Konjunktur abhängig. Deshalb bedarf es des Widerstandes gegen Hochrüstung und Sozialabbau, deshalb bedarf es des Kampfes um Mitbestimmung auch über strategische Unternehmensentscheidungen. Lange ist klar, dass es in der Weltautomobilindustrie massenhaft Überkapazitäten gibt und dass es mit der Autoproduktion und dem individuellen motorisierten Verkehr so nicht weitergehen kann. Landauf und landab ist bekannt, dass VW mit seiner Luxusstrategie am Markt vorbei plant. Deshalb hat der Kasselaner Betriebsratsvorsitzende Recht: Geld ist genügend da, es darf nur nicht von den Managern in die falsche Produktion bzw. auf die Konten des Porsche-Piëch-Clans umgeleitet werden.
Unser Grundgesetz schreibt keineswegs die kapitalistische Marktwirtschaft als einzig geltende Wirtschaftsform fest. In Artikel 14 und 15 geht es um die Pflicht des privaten Eigentums, dem Allgemeinwohl zu dienen und dessen mögliche Enteignung zum Zwecke der Vergesellschaftung und Überführung in Gemeineigentum.
Wann, wenn nicht jetzt ist es Zeit, den Rahmen für eine demokratische Wirtschaftsplanung zu schaffen, um soziale und politische Katastrophen bei VW oder anderen Autoherstellern zu verhindern.
Dazu sollten demokratische regionale Transformationsräte geschaffen werden mit Beteiligung aller wesentlichen Akteure aus der Wirtschaft und der Politik, natürlich der Gewerkschaften, aber auch der Wissenschaft, den Umwelt-, Klima- und Verkehrsinitiativen. Ohne Klassenkampf ist das aber nicht zu machen, es helfen am Ende nur das Unternehmensrecht und das Arbeitsrecht, wenn es im Arbeitskampf durchgesetzt wird.
Zum Schluss etwas BWL: Der Porsche-Piech-Clan verfügt über gut 50% der Stimmrechte (Stammaktien) und 32% der Anteile (Aktien inkl. Vorzugsaktien) insgesamt, das macht in der Addition ca. 165 Millionen Aktien x 9 Euro pro Aktie = 1,5 Milliarden Euro Dividende für den Clan.
Bei den Gewinnrücklagen in Höhe von über 130 Milliarden Euro handelt es sich um Jahresüberschüsse, die nicht ausgeschüttet, sondern einbehalten wurden. Diese sind Bestandteil des Eigenkapitals, quasi ein finanzielle Reserveposten. Aus dem Volkswagen-Geschäftsbericht 2021: „Aus den Anderen Gewinnrücklagen wurde ein Betrag von 13,5 Mrd. € entnommen und in den Bilanzgewinn umgegliedert.“
1https://arranca.org/ausgaben/nichts-zu-verlieren/den-g%C3%BCrtel-anders-schnallen
2https://www.rosalux.de/news/id/50452/verkehrswende-jetzt-fuer-klimaschutz-und-gutes-leben
3file:///C:/Users/User/Downloads/PM_Markengruppe_Core_steigert_im_Jahr_2023_Ergebnis_und_Rendite_engere_Zusammenarbeit_zwischen_den_Volumenmarken_greift.pdf
4Wolfsburger Nachrichten, 5.9.2024
5https://igm-zwickau.de/aktuelles/meldung/vw-betriebsversammlung-letztens-waren-wir-noch-die-perle-des-unternehmens-heute-fuehlen-wir-uns-eher-wie-eine-auster-die-ausgesaugt-wird
6https://www.fr.de/wirtschaft/wasser-auf-die-muehlen-der-afd-93281901.html
7Hier das Urteil des EuGH nach Klage gegen das VW-Gesetz: https://curia.europa.eu/de/actu/communiques/cp07/aff/cp070074de.pdf
Eine desolate Spaltung der Linken in Europa
Die neue Organisation wird den Namen "European Left Alliance for the People and the Planet" (Europäische Linksallianz für die Menschen und den Planeten) tragen.
Laut Satzung will die neue Organisation "die feministischen Parteien der grünen Linken vereinen, um ein anderes Europa der Zusammenarbeit, des sozialen Fortschritts und der Arbeiterrechte aufzubauen".
Wenn man sich die Zusammensetzung der neuen politischen Einheit ansieht, ist sie nicht leicht zu verstehen. Es gibt sieben Gründungsmitglieder: La France Insoumise, die in diesen Tagen im Mittelpunkt des französischen Geschehens steht und auch in Europa ein zentraler Knotenpunkt der Linken ist, Bloco de Esquerda (Linksblock, Portugal), Podemos (Spanien), Lewica Razem (Linke Gemeinsam, Polen), Enhedslisten De Rød-Grønne (rot-grüne Einheitsliste, Dänemark), Vänsterpartiet (Linkspartei, Schweden) und Vasemmistoliitto (Linksallianz, Finnland).
Der portugiesische Bloco de Esquerda, die dänischen Einheitslisten und die finnische Linksallianz waren bis vor kurzem Mitglied der Partei der Europäischen Linken (EL).
Die Vorgängerpartei von La France Insoumise, die Parti de Gauche, ist schon 2018 aus der EL ausgetreten. Podemos, die schwedische Linkspartei und die polnische Razem waren nie Mitglied der EL.
Die Gründung dieser neuen Partei geht nicht auf eine Spaltung in Bezug auf die Haltung zum Krieg zurück, zu der es unter den Gründungsparteien selbst noch große Differenzen gibt.
In der Frage des Friedens – insbesondere zur Frage der Zustimmung zu Waffenlieferungen an die Ukraine bzw. der Politik der Solidarität mit Palästina - sind die Positionen der europäischen Linken recht unterschiedlich.
Nur in Italien (Rifondazione Comunista, Sinistra Italiana, Movimento 5 Stelle) und Spanien (PCE, Izquierda Unida, Sumar, Podemos) gibt es einen breiten Konsens über eine klare Position zum Krieg: keine Waffen an kriegführende Länder; Solidarität mit Palästina.
Ganz entgegengesetzt die Position der dänischen Einheitslisten in Bezug auf den Krieg um die Ukraine. Ihr Spitzenkandidat zur EU-Wahl, Per Clausen, forderte im Wahlkampf ein Waffenexportverbot der EU in Drittländer, weil alle Waffen aus der EU in die Ukraine geliefert werden müssten. ""Die gesamte europäische Waffenproduktion sollte in die Ukraine gehen. Der Verteidigungskampf der Ukraine ist wichtiger als die Profite der Waffenhersteller - und wichtiger als EU-Missionen in Ländern wie Mali, die weit von den Grenzen der EU entfernt sind. (...) Die EU muss der Ukraine die von uns versprochenen Waffen und Munition liefern. Und wir müssen es pünktlich und ohne Verzögerung liefern. Deshalb schlage ich einen Stopp des Munitionsexports vor, damit jede in Europa hergestellte Patrone, Granate und Rakete an die Ukrainer gehen kann." [1]
Mehr als die Positionen zum russisch-ukrainischen Krieg, zum Atlantizismus oder zum israelischen Krieg gegen Palästina, die in der Fraktion unterschiedlich sind und selbst innerhalb dieser Zusammensetzung vielfältig bleiben (von der radikalen Ablehnung des Krieges durch Podemos bis zu den Kiew-nahen Positionen der Nordischen Linken), werden diese Formationen von dem Wunsch angetrieben, bestimmte Muster der Partei der Europäischen Linken zu durchbrechen, denen die deutsche Linke und die Griechen von Syriza anhängen, die noch bis vor zwei Legislaturperioden die führenden Parteien der Fraktion waren.
Schon seit einiger Zeit schwelt ein Unbehagen in Bezug auf die EL, ihre effektive Repräsentativität für eine europäische Linke, die in ihren Arbeits- und Entscheidungsmethoden vielfältiger geworden ist.
Auch nationale Fragen spielen eine Rolle: Die französische Insoumise beispielsweise waren nicht erfreut darüber, dass die Spitzenkandidatin bei den letzten Wahlen nicht die scheidende Europaabgeordnete Manon Aubry war, die von der Kommunistischen Partei Frankreichs, einem Gründungsmitglied der Europäischen Linken, mit einem Veto belegt wurde. Der portugiesische Linksblock hatte grundsätzliche Vorbehalte gegen die Aufstellung eines Spitzenkandidaten der EL für die EU-Wahl. In Spanien bekämpfen sich Sumar und Podemos.[2]
Angesichts der Tatsache, dass häufig große Verwirrung zwischen der Europäischen Partei (jetzt Parteien) und der im Brüsseler Parlament tätigen Fraktion The Left (früher GUE/NGL) herrscht, ist klarzustellen, dass letztere keine Veränderungen erfahren wird und ein einheitlicher, breiter und pluraler Raum bleibt. Zwar hat die Aussicht auf diese Spaltung zwischen den Parteien zu Beginn der Legislaturperiode zu nicht einfachen Diskussionen über die Struktur, die Arbeitsmethoden und die internen Gleichgewichte geführt, ohne jedoch jemals diesen gemeinsamen Raum in Frage zu stellen, der vor fast einem halben Jahrhundert auf Initiative der kommunistischen Parteien entstanden ist und nach und nach auch durch ganz neue Formationen bereichert wurde.
Waren es lange die DIE LINKE aus Deutschland und die ab 2015 in Griechenland erfolgreiche Partei Syriza unter Alexis Tsipras, die eine größere Anzahl Abgeordnete in die linke Fraktion im EU-Parlament sandte, nehmen nun die französische La France Insoumise und die bei den EU-Wahlen sehr erfolgreichen nordischen Linken eine führende Rolle ein. Dazu kamen nach der Wahl im Juni jetzt auch noch Abgeordnete der italienischen "Alleanza Verdi e Sinistra" (AVS) – ein Bündnis der Linkspartei Sinistra Italiana und der Partei der Grünen – und die Abgeordneten der Fünf-Sterne-Bewegung. Der Versuche des Bündnis Sahra Wagenknecht in die Fraktion aufgenommen zu werden, wurde abgeschmettert. (Parteien in der Linksfraktion: https://left.eu/delegations
Zumindest im Moment, so berichten verschiedene Parteien vor Ort, ist die Existenz der Fraktion (eine Garantie für Interventionsmöglichkeiten und Beweglichkeit in Brüssel und Straßburg) nicht gefährdet. Tatsache ist jedoch, dass die treibende Kraft hinter der Fraktion, die Partei der Europäischen Linken, im Zentrum von Spannungen und Distanzierungen steht und demnächst noch eine zweite europäische Linkspartei hinzukommt.
"Es wäre sicherlich besser gewesen, diesen gemeinsamen Geist beizubehalten, auch wenn es tiefgreifende und notwendige Veränderungen gab", meint die italienische Kommunistin Luciana Castellina in einem Kommentar zur Gründung einen neuen europäischen Linkspartei.
Die Italienerin Eleonora Forenza von Rifondazione Comunista und Mitglied des Sekretariats der Partei der Europäischen Linken: "Wir werden weiterhin für die Einheit der gesamten radikalen Linken arbeiten, die sich auf die einheitliche Fraktion Die Linke im Europäischen Parlament bezieht. Die Fraktion war schon immer intern plural".
Anmerkungen
[1] https://enhedslisten.eu/nyheder/opinion/hele-den-europaeiske-vaabenproduktion-boer-gaa-til-ukraine/
[2] neue-progressive-koalitionsregierung-in-spanien
zum Thema
kommunisten.de:
- Der-rechte-wind-ueber-der-union-linksfraktion-stabil
- Europaeische-linke-our-moment
- KEU-Parlament: Konservative, Sozialdemokraten, Grüne und Faschisten für Kampfjets für die Ukraine
- Linksbuendnis-finnland-nato-beitritt-kein-grund-fuer-austritt-aus-der-regierung
- Neue-progressive-koalitionsregierung-in-spanien
- Nicht nur DIE LINKE in Deutschland, auch SYRIZA zerlegt sich gerade selbst
Rosa Luxemburg Stiftung:
Streit um das Verbrenner-Aus
Das schadet dem Klima und droht die EU-Politik weiter für die extreme Rechte zu öffnen.
Die Unionsparteien erhöhen den Druck zugunsten einer Abkehr vom Verbrenner-Aus in der EU – mit ernsten Folgen das für Klima, die Umwelt und die europäische Politik. Wie Angelika Niebler, stellvertretende CSU-Vorsitzende und Europaabgeordnete, bekräftigt, betrachtet ihre Partei die für 2026 angekündigte Überprüfung des Verbrenner-Verbots als geeignetes „Einfallstor“, um das Verbot zu kippen. Die bereits beschlossene Ausnahme für E-Fuels reiche ihr nicht aus. Dies entspricht den Forderungen von Teilen der deutschen Kfz-Branche; während manche Konzerne wie etwa Volkswagen erklären, sie wünschten mehr Maßnahmen zur Unterstützung der Umstellung auf Elektromobilität, dringen andere, so etwa BMW, vor allem aber zahlreiche Kfz-Zulieferer auf eine längere Zulassung von Autos mit Verbrennungsmotor.
Als Brückentechnologie bewirbt die Verbrennerlobby E-Fuels, die allerdings klima- und umweltpolitisch scharf kritisiert werden: Ihre Energiebilanz gilt als verheerend; zudem setzen sie giftige Stickoxide in großen Mengen frei.
Eine Mehrheit für eine Abkehr vom Verbrenner-Aus wäre in Brüssel zudem nur mit einer Einbindung der ultrarechten EKR-Fraktion, also einer Öffnung für die extreme Rechte, zu erreichen.
Weg vom Verbrennungsmotor
Die Automobilindustrie ist – so formuliert es etwa die Bundesregierung – „der mit Abstand bedeutendste Industriezweig in Deutschland“.[1] Sie erzielte im vergangenen Jahr einen Umsatz von rund 564 Milliarden Euro, mehr als zwei Drittel davon – 393 Milliarden Euro – im Ausland. Mit beinahe 780.000 Beschäftigten ist die Branche zudem ein bedeutender Arbeitsplatzgarant. Die Umstellung auf Elektromobilität ist schon seit langer Zeit in Planung. Der Dieselskandal des Jahres 2015 schien die Stimmung weiter zu ihren Gunsten zu verschieben. Im vergangenen Jahr beschloss die EU schließlich, die Neuzulassung von Autos mit Verbrennungsmotor ab 2035 prinzipiell zu untersagen. In Deutschland ist die Umstellung auf Elektroautos jedoch in jüngster Zeit ins Stocken geraten; das Auslaufen der Umweltprämie, das die Bundesregierung sogar noch kurzfristig von 2024 auf den 18. Dezember 2023 vorzog, hat sie zusätzlich verlangsamt.
Im Juli 2024 erreichte der Anteil der Elektroautos an den Neuzulassungen in Deutschland gerade einmal 12,9 Prozent – deutlich weniger als im Vorjahresmonat (20 Prozent).[2] Dabei lag die Bundesrepublik schon im vergangenen Jahr weit etwa hinter China zurück: Waren dort bereits 7,6 Prozent aller auf den Straßen befindlichen Fahrzeuge Elektroautos, so waren es auf deutschen Straßen gerade einmal 5,4 Prozent.[3]
Zulieferer unter Druck
Bezüglich der schleppenden Umstellung auf Elektromobilität ist die deutsche Kfz-Branche gespalten. Während beispielsweise VW sich offiziell dafür einsetzt, am Verbrenner-Aus im Jahr 2035 festzuhalten und den Erwerb von Elektroautos sogar wieder stärker zu fördern [4], macht sich etwa BMW für eine Verschiebung des Verbrenner-Verbots stark [5]. Letztere wird vor allem aber von zahlreichen Kfz-Zulieferern gefordert. Zum einen tun sich manche der – oft mittelständischen – Zulieferer schwer damit, die notwendigen Investitionen zu tätigen, um eine neue Nische in den Lieferketten der Elektromobilität zu finden. Zum anderen geht die Umstellung auf Elektroantriebe nicht selten mit der Verlagerung von Zulieferfirmen ins ost- und südosteuropäische Ausland einher, wo die Löhne niedriger sind.[6] Dies hat dazu geführt, dass seit 2018 die Zahl der Arbeitsplätze bei den deutschen Kfz-Zulieferern von gut 311.000 auf 273.500 im Jahr 2023 geschrumpft ist.
Aktuell kommt hinzu, dass manche Zulieferer – etwa ZF Friedrichshafen – von der Umstellung in eine nächste Krise geraten, weil die Zahl der verkauften Elektroautos sinkt und ihre erfolgreich auf Elektromobilität umgerüsteten Sparten nun ebenfalls gravierende Absatzprobleme verzeichnen.
ZF hat kürzlich angekündigt, bis zu 14.000 Beschäftigte zu entlassen.[7]
„Falsch abgebogen“
Zu den Kfz-Zulieferern, die öffentlich eine Verschiebung des Verbrenner-Verbots gefordert haben, zählen etwa Bosch, Schaeffler oder Mahle. „Wir müssen das von der EU beschlossene vollständige Verbot für Fahrzeuge mit Verbrenner aufheben“, verlangte im März Mahle-Chef Arnd Franz [8], während Bosch-Chef Stefan Hartung erklärte, „die Welt“ werde noch bis zum Jahr 2060 benötigen, um „alle Autos zu elektrifizieren“ [9]. Ähnlich äußern sich Verbände, die Kfz-Zulieferer vertreten. Das gilt zum Beispiel für Niedersachsenmetall, einen Verband, der vor allem für die Kfz-Zulieferer des Bundeslandes eintritt; VW gehört ihm nicht an.
„Mit dem Verbrennerverbot ist die europäische Politik falsch abgebogen“, behauptete im Mai Volker Schmidt, Hauptgeschäftsführer von Niedersachsenmetall: „Die Entscheidung muss dringend korrigiert werden“.[10] Laut dem Verband werden gegenwärtig – noch – „75 Prozent der Wertschöpfung in der Automobilindustrie ... in der Zulieferbranche“ erzielt.[11]
„Gruselige Energiebilanz“
Um dem Interesse von Teilen der deutschen Kfz-Branche und insbesondere der Kfz-Zulieferer Rechnung zu tragen, hat die Bundesregierung im Frühjahr 2023 in der EU durchgesetzt, dass Pkw in bestimmten Fällen auch nach 2035 mit Verbrennungsmotoren betrieben werden dürfen [12] – und zwar dann, wenn es sich bei den verwendeten Treibstoffen um die sogenannten E-Fuels handelt. Diese dürfen zumindest am Auspuff keine CO2-Emissionen ausstoßen. Allerdings attestierten ihnen Fachleute wie der Kfz-Experte Ferdinand Dudenhöffer bereits im vergangenen Jahr eine „gruselige Energiebilanz“ (german-foreign-policy.com berichtete [13]). Ihr Wirkungsgrad wird mit lediglich 13 Prozent beziffert; der Großteil der Energie, die sie enthalten, verpufft als Wärme.
Mit Blick auf den Strom, der zu ihrer Herstellung nötig ist, konstatiert der Direktor des Center of Automotive Management (CAM), Stefan Bratzel: „Mit der gleichen Menge Strom kann ein Elektroauto etwa viermal weiter fahren als ein Verbrenner, der E-Fuels nutzt.“[14]
Darüber hinaus sind synthetische Kraftstoffe zwar möglicherweise CO2-neutral, stoßen bei ihrer Nutzung in Verbrennungsmotoren aber unter anderem giftige Stickoxide aus – und zwar nicht weniger als traditionelle fossile Kraftstoffe.
Die eFuel Alliance
Dessen ungeachtet setzen sich einige Autohersteller wie Porsche und Mazda, zudem diverse Energieunternehmen – darunter ENI, ExxonMobil und Repsol –, vor allem aber bedeutende Kfz-Zulieferer wie Bosch, Mahle, Webasto oder ZF unter dem Dach der Lobbyorganisation eFuel Alliance [15] für die Nutzung synthetischer Treibstoffe ein. Vorsitzende der eFuel Alliance ist die Sozialdemokratin und einstige Greenpeace-Aktivistin Monika Griefahn, vormals auch Umweltministerin Niedersachsens. Der Lobbyorganisation hat sich zudem Niedersachsenmetall angeschlossen.
Auf dem Weg nach rechts
Zugleich machen sich Teile der deutschen Politik für eine Verschiebung des Verbrenner-Verbots stark. Dies gilt etwa für die Unionsparteien und die Freien Wähler im Bundesland Bayern; so hat sich Manfred Weber (CSU), Partei- und Fraktionsvorsitzender der Europäischen Volkspartei (EVP), mehrfach gegen das Verbrenner-Aus ausgesprochen [16], während etwa Hubert Aiwanger (Freie Wähler) kürzlich bekräftigte: „Das Verbrenner-Aus ist tödlich für die deutsche Autoindustrie.“[17] Auch die FDP setzt sich – nicht zuletzt im Interesse mittelständischer Kfz-Zulieferer – für eine längere Zulassungsdauer von Fahrzeugen mit Verbrennungsmotor ein.[18]
Weil das Verbrenner-Aus auf EU-Ebene festgelegt wurde, also auch auf EU-Ebene gekippt werden muss, ist mit harten Auseinandersetzungen im Europaparlament zu rechnen. Dort beharren vor allem Grüne und SPD auf dem Verbrenner-Aus im Jahr 2035. Eine Mehrheit ist voraussichtlich nur mit den Stimmen der Rechtsaußenfraktion der Europäischen Konservativen und Reformer (EKR) zu erreichen, die von den ultrarechten Fratelli d’Italia (FdI) der italienischen Ministerpräsidentin Giorgia Meloni geführt wird.
Damit treibt die Forderung nach einer Abkehr vom Verbrenner-Aus die Einbindung der äußersten Rechten zur Beschaffung von Mehrheiten auf EU-Ebene voran.[19]
[1] Automobilindustrie. bmwk.de.
[2] Pkw-Neuzulassungen Juli 2024: Weniger E-Autos als im Vorjahr. adac.de 07.08.2024.
[3] Global EV Data Explorer. iea.org 23.04.2024.
[4] VW-Chefin fordert klares Bekenntnis zum Verbrenner-Aus. focus.de 26.03.2024.
[5] Joaquim Oliveira: BMW verrät, welche Fahrzeuge den Kunden nach 2035 angeboten werden. focus.de 05.04.2024.
[6] Christian Müßgens, Henning Peitsmeier, Benjamin Wagener: Endspiel der Autozulieferer. faz.net 25.06.2024.
[7] Martin-W. Buchenau: ZF streicht bis zu 14.000 Stellen in Deutschland. handelsblatt.com 26.07.2024.
[8] Oliver Schmale, Benjamin Wagener: „Wir müssen das vollständige Verbot für Fahrzeuge mit Verbrenner aufheben“. faz.net 12.03.2024.
[9] Bosch-Chef will noch lange an Verbrennertechnologie festhalten. spiegel.de 03.03.2024.
[10] Christian Müßgens: Pläne für Verbrenner-Aus belasten Autozulieferer. faz.net 25.05.2024.
[11] Unser Wirtschaftsstandort benötigt dringend ein umfangreiches Update. niedersachsenmetall.de 02.11.2023.
[12] EU beschließt weitgehendes Verbrenner-Aus. tagesschau.de 28.03.2023.
[13] S. dazu Deindustrialisierung in der Autobranche
[14] Simone Miller: Warum E-Fuels die Klimaprobleme des Verkehrs nicht lösen. greenpeace.de 15.05.2024.
[15] Mitglieder. efuel-alliance.eu.
[16] „Der Anstieg der Importe von chinesischen E-Fahrzeugen ist ein Alarmsignal“. adac.de 17.05.2024.
[17] Julia Meidinger: Aiwanger: Verbrenner-Aus ist „tödlich“ für die Automobilindustrie. br.de 24.07.2024.
[18] Nils Metzger, Nathan Niedermeier: Wie Wissing das Verbrenner-Aus kippen will. zdf.de 17.07.2024.
[19] S. auch Die Brandmauer rutscht
Drohungen, Schikane, Perspektivwerkstatt - wie Unternehmen Personalkosten senken
Das Ifo-Institut warnt vor drohendem Stellenabbau in Industrie und Handel.
„Die Unternehmen in Deutschland korrigieren aufgrund fehlender Kunden und Aufträge ihre Personalplanung“, meldet das Handelsblatt (1).
„Die schwache Wirtschaftsentwicklung schlägt sich auch in einer schwachen Beschäftigungsentwicklung nieder“, sagt Ifo-Umfragenleiter Klaus Wohlrabe. „Der Auftragsmangel bremst die Unternehmen bei Neueinstellungen.“. Eine leicht positive Einstellungstendenz gibt es bei den Dienstleistern, vor allem in der IT-Branche und im Tourismus. In der Industrie sieht es anders aus: „Immer mehr Unternehmen denken über einen Abbau von Arbeitsplätzen nach“, betonen die Forscher.
Personalabbau bei VW
Das Beispiel VW: Bis 2026 will der Volkswagen-Konzern zehn Milliarden Euro einsparen. Gelingen soll dies mit dem intern „Performance Programm“ getauften Vorgehen. Im Rahmen des Programms will VW vor allem die Personalkosten senken. Dazu sollen offensichtlich auch mehrere hundert Arbeitsplätze an Fremdfirmen ausgelagert werden.
Die bisherigen Maßnahmen des Managements um Thomas Schäfer (54) reichen nicht. Also wurden die Beschäftigten über die nächste Eskalationsstufe informiert“ schreibt Marleen Gründel für manager-magazin.de. Wer gehen soll, aber nicht will, wird in die „Perspektivwerkstatt“ geladen. „Das Wort klingt weniger dramatisch, als es ist“, ist sich die m-m-Autorin sicher (2). Denn Beschäftigte, die durch Umstrukturierungen ihren Arbeitsplatz verlieren, werden von ihren Aufgaben freigestellt und wechseln in die Räumlichkeiten und die Kostenstelle einer „Perspektivwerkstatt“. „Prozessbegleiter“ sollen „unterstützen“, „neue individuelle berufliche Perspektiven“ zu entwickeln, zitiert www.businessinsider.de aus einer internen Mail (3).
Die Beschäftigten durchlaufen dann „verschiedene, teils verpflichtende“ Maßnahmen, um ihre eigenen Vermittlungschancen zu erhöhen.
Mobbing als Kostensenkungsmaßnahme
Andere Unternehmen ergreifen noch massivere Maßnahmen – vor 20 Jahren wurde die MobbingLine NRW gegründet, eine Beratungsstelle auf Landesebene (4). Mehr als 60.000 Menschen haben sich seit Gründung der Hotline hilfesuchend an die circa 70 Beraterinnen und Berater gewandt und dort eine erste telefonische Beratung erhalten. Bei Bedarf werden auch weitergehende Hilfsangebote vermittelt. „Durch sie konnte in den letzten beiden Jahrzehnten zehntausenden Menschen geholfen werden. Mein großer Dank gilt daher allen Beraterinnen und Beratern sowie den Partnern der MobbingLine, die mit ihrem ehrenamtlichen Engagement das Beratungsangebot erst ermöglichen“, so NRW-Arbeitsminister Karl-Josef Laumann.
Konflikte, Diskussionen oder Streit gibt es in jedem Betrieb. Gehen Auseinandersetzungen jedoch so weit, dass Kollegen krank werden, darf nicht mehr von Normalität gesprochen werden. Häufig ist dafür Mobbing die Ursache. Mobbing bedeutet, dass eine Person am Arbeitsplatz systematisch und über einen längeren Zeitraum schikaniert, drangsaliert, benachteiligt und ausgegrenzt wird.
Wenn Softwareexperten dazu abkommandiert werden, Akten im Keller zu sortieren, hat diese einzelne Handlung allein schon das Ziel, zu verletzen. Das Signal an den Beschäftigten in Zeiten von Personalabbau ist deutlich: „Du bist nicht mehr erwünscht“. Mobbing kann deshalb auch direkt vom Vorgesetzten ausgehen. Wenn Personalabbau geplant ist, ist es aus Sicht mancher Unternehmen günstiger, Mobbing in der Belegschaft zu dulden oder zu fördern, um Sozialplankosten zu sparen. Einzelne sollen unter Druck gesetzt werden, aber auch Uneinigkeit unter den Beschäftigten hat Vorteile aus Unternehmenssicht, denn so ist Gegenwehr unwahrscheinlich.
Gegen Personalabbau wehren sich die Stahlwerker von ThyssenKrupp. Konzernchef Lopez möchte die Stahlsparte in die Selbständigkeit entlassen, um Risiken für den Mutterkonzern zu minimieren. Betriebsräte und Gewerkschaft verlangen, dass ThyssenKrupp den Stahlbereich vorher finanziell ausreichend ausstattet, um den Umbau auf klimafreundliche Stahlproduktion stemmen zu können.
„Die Belegschaft hat Angst um ihre Arbeitsplätze. Der Vorstand muss gehen, aber die Probleme bleiben, das reicht nicht. Da kommen noch mal 50 Probleme dazu, es hat sich nichts geändert.", äußert sich der Betriebsratsvorsitzende am Standort Duisburg/Beeckerwerth, Ali Güzel, im WDR-Interview (5).
„Stahl ist Zukunft“ ist die Losung der Beschäftigten, nicht erst seit heute. Durch gemeinsame Aktionen protestieren die Arbeiterinnen und Arbeiter jetzt gegen die Pläne des Vorstands.
Nachweise:
- https://www.handelsblatt.com/politik/konjunktur/jobs-ifo-warnt-vor-drohendem-stellenabbau-in-handel-und-industrie/100063892.html
- https://www.manager-magazin.de/ueber-uns/vw-continental-nvidia-telegram-berkshire-hathaway-edeka-brose-das-war-donnerstag-29-08-2024-a-cb7accda-4ebd-4af6-afe6-147d672d8941
- https://www.businessinsider.de/wirtschaft/vw-so-lagert-der-autobauer-mitarbeiter-aus-um-zu-sparen
- https://www.mags.nrw/pressemitteilung/20-jahre-mobbingline-nrw
- https://www1.wdr.de/nachrichten/ruhrgebiet/thyssenkrupp-stahl-stellen-100.html
Die Rechte ist kein Ossi-Problem
Die AfD ist kein Problem des Ostens. So lautete der Titel meiner Kolumne im Februar 2024. Heute kommt Teil 2 – denn auch wenn alle Finger gerade auf den vermeintlich braunen Osten zeigen, ist und bleibt „die Rechte“ kein „Ossi-Problem“.
Sie ist eine deutsche, europäische und globale Aufgabe. Das heißt, die Wahlergebnisse in Sachsen und Thüringen stehen für einen Rechtsruck, der keine Grenzen kennt.
Medial existiert dieser Rechtsruck vor allem in ostdeutschen AfD-Hochburgen. Diese Hochburgen führen oft westdeutsche Politik-Eliten, beispielsweise Thüringens AfD-Landeschef BjörnHöcke. Er kommt aus Nordrhein-Westfalen. Die AfD ist hier keine Ausnahme. Schon im Jahr 2022 beschrieb Denis Huschka in der Berliner Zeitung, Wie der Osten zum Sprungbrett für Politiker aus dem Westen wurde“ Laut Huschka ist der Grund für die mangelnde Teilhabe Ostdeutscher in der Politik nicht deren Unwille. Es gebe strukturelle Gründe, wie ein „Wahlkreisroulette“. Das bevorzuge westdeutsche Politiker:innen, repräsentiere aber kaum die Menschen vor Ort. Diese Lücke nutzt die AfD: Sie gibt sich volksnah, repräsentativ und schlägt Profit aus der ostdeutschen Geschichte.
Blick auf die politische Deutschlandkarte
Das heißt auch, wir sollten die Probleme dort suchen, wo sie liegen – nicht nur in Sachsen und Thüringen, sondern vor unser aller Haustür. Ein Blick auf die politische Deutschlandkarte kann hier helfen. Beispiel Baden-Württemberg: Laut dem Südwestrundfunk verloren alle im Landtag vertretenen Parteien im Jahr 2023 Mitglieder – bis auf die AfD. Nach eigenen Angaben wuchs sie um 44 Prozent. Sie legte bei den Kommunalwahlen zu und war bei der Europawahl 2024 die zweitstärkste Partei im Land. Warum sehen wir das nicht in der Tagesschau?
Beispiel Bayern: Bei der letzten Landtagswahl erzielten die AfD und die rechtskonservativen Freien Wähler zusammen mehr als 30 Prozent. Die erzkonservative CSU schaffte es auf 37 Prozent. Zusammen kamen die Rechtskonservativen in Bayern so auf fast 70 Prozent. Kürzlich machte der AfD-Landesverband in der Süddeutschen Zeitung Schlagzeilen. Neuerdings sollen AfD-Mitglieder die „Verfehlungen anderer Parteien“ per E-Mail melden, inklusive Beweismaterial. „Demokratiewächter“ nennt es die AfD, einschüchternde „Stasimethode“ die CSU. Warum schwingt die CSU die DDR-Keule und vergisst die bayerische Diktaturgeschichte?
Die AfD schüchtert aber nicht nur Politiker:innen ein. Erst am Wochenende forderte der hessische AfD-Landtagsabgeordnete Maximilian Müger mit dem Sturmgewehr im Anschlag den Kampf gegen Migration. Das heißt: mehr Waffen für weniger Migrant:innen. Der hessische AfD-Landeschef Robert Lambrou fand das TikTok-Video toll. Es bringe „inhaltlich vieles auf den Punkt“, sagte er dem Hessischen Rundfunk. Das ist Wildwest-Manier, die man im Osten vergeblich sucht. Sie schafft es immerhin auf tagesschau.de.
Die Liste geht weiter. Sie zeigt: Das Abschieben „der Rechten“ auf „den Osten“ ist keine Lösung. Denn das Abstempeln von Menschen und Regionen verschleiert nur die Gründe für die AfD-Erfolge. Rechtspopulist:innen gewinnen, weil die Volksparteien versagen.
Und Nachrichtenmedien verlieren Vertrauen, weil sie zu oft an der Oberfläche kratzen.
Bis heute scheinen „der Osten“ Stasiland und der AfD-Erfolg die logische Folge zu sein. Es wird Zeit, diese Geschichte endlich umzuschreiben.
Erstveröffentichung: Berliner Zeitung
Festung Deutschland
Polens Regierung protestiert, die Grenzkontrollen, die Deutschland schon seit dem Herbst 2023 durchführe, riefen beträchtliche „Schwierigkeiten beim Grenzverkehr“ hervor. Tschechiens Innenministerium wiederum warnt, es drohe ein „Dominoeffekt“; mit diesem stünde möglicherweise die Einführung von Kontrollen im gesamten Schengen-Raum bevor.
Mit großer Skepsis werden Grenzkontrollen vor allem in der Industrie beobachtet, die bei einer Verlangsamung grenzüberschreitender Lieferketten Milliardenverluste befürchtet.
Bei den Kontrollen, die einige wenige reiche EU-Staaten bereits heute durchführen, lassen sich Verluste noch begrenzen, da Warentransporte in der Regel ausgenommen sind.
Unklar ist jedoch, ob dringend benötigte Pendler aus Osteuropa weiterhin zur Arbeit in die Bundesrepublik fahren werden, sollten Dauerkontrollen ihre Anreise übermäßig erschweren.
Dauerhafte Grenzkontrollen brechen darüber hinaus EU-Recht und erschweren es Berlin, andere Staaten unter Berufung auf EU-Normen zu disziplinieren.
Aktuelle Grenzkontrollen
Kontrollen an den Schengen-Binnengrenzen werden zur Zeit von einer Minderheit reicher EU-Mitgliedstaaten durchgeführt – vor allem von Deutschland. Die Bundesregierung hat sie erstmals im Jahr 2015 in Gang gesetzt, um die Einreise von Flüchtlingen zu bremsen; an der Grenze zu Österreich hält sie seitdem an der Maßnahme fest.
Grenzkontrollen, die im Jahr 2020 während der Covid-19-Pandemie eingeführt wurden, wurden inzwischen wieder beendet. Auch die bundesweiten Grenzkontrollen während der Fußball-EM in Deutschland sind nicht mehr in Kraft, und diejenigen an der Grenze zu Frankreich, die zu Beginn der dortigen Olympischen Spiele eingeführt wurden, sollen nach dem Ende der Paralympischen Spiele aufgehoben werden.
Jedoch gilt eine Verlängerung der Kontrollen an den Grenzen zu Polen, zu Tschechien und zur Schweiz, die im Herbst vergangenen Jahres zur Flüchtlingsabwehr eingeführt wurden und die zumindest bis Dezember 2024 andauern sollen, als ohne weiteres vorstellbar. Grenzschließungen haben neben Deutschland auch Frankreich und Österreich verhängt; Österreich hat, in Reaktion auf die deutschen Grenzkontrollen, schon 2015 eigene Kontrollen an seiner Grenze zu Slowenien eingeführt. Kontrollen nehmen auch Dänemark, Schweden und das Nicht-EU-, aber Schengen-Mitglied Norwegen vor.
„Schurkenregierungen“
Dass Kontrollen an den Schengen-Binnengrenzen dauerhaft durchgeführt werden, ist eindeutig illegal. Grundsätzlich sind sie laut der im Frühjahr verabschiedeten Überarbeitung des Schengen-Kodex lediglich bei einer „ernsthaften Bedrohung der öffentlichen Ordnung oder der inneren Sicherheit“ zulässig; dazu zählen neben Terrorgefahr sowie internationalen Veranstaltungen „großen Umfangs oder mit hoher Öffentlichkeitswirkung“ nicht zuletzt sogenannte Migrationskrisen.[1]
Allerdings dürfen Kontrollen nur als „letztes Mittel“ zum Einsatz kommen; sie sind jeweils auf sechs Monate beschränkt und können auf bis zu zwei, in Sonderfällen auf bis zu drei Jahre [2] verlängert werden. Mehr ist auf legalem Weg nicht möglich.
Mit Blick auf Österreichs Kontrollen an der Grenze zu Slowenien urteilte im April 2022 der Europäische Gerichtshof (EuGH), die Kontrollen seien rechtswidrig; es sei daher legal, sich ihnen beim Grenzübertritt konsequent zu verweigern.[3]
Kritiker äußern sich mittlerweile recht scharf.
Eine kleine Gruppe von „Schurkenregierungen“ weigere sich, EU-Recht zu wahren, erklärte bereits im September 2023 Sergio Carrera vom Brüsseler Centre for European Policy Studies (CEPS); man müsse sie „vor Gericht ziehen“, und die EU-Kommission müsse ihrem Treiben umgehend ein Ende setzen.[4]
Milliardenverluste drohen
Klare Ablehnung gegenüber Grenzkontrollen an den Schengen-Binnengrenzen wird seit je aus Wirtschaftskreisen laut. Ursache ist, dass Kontrollen nicht nur den Export fertiger Waren bremsen, sondern vor allem auch grenzüberschreitende Lieferketten stören; dies kostet die Industrie, die sich die jeweiligen Standortvorteile der unterschiedlichen EU-Staaten zunutze macht, um ihre Profite zu optimieren, viel Geld.
Als mehrere EU-Staaten 2015 zum ersten Mal umfangreiche Kontrollen an den Schengen-Binnengrenzen einführten, wurden eine Reihe von Berechnungen über die dadurch entstehenden Schäden angestellt.
Eine Analyse etwa, die im Mai 2016 im Auftrag des Europaparlaments veröffentlicht wurde, kam zu dem Schluss, Grenzkontrollen in der kompletten Schengen-Zone würden binnen zwei Jahren Kosten in Höhe von bis zu 51 Milliarden Euro verursachen.[5] Zu den Ländern, die davon besonders stark getroffen würden, zähle Deutschland, hieß es. Aktuell bleibt der Protest aus der Wirtschaft über die neuen Vorstöße zur Ausweitung der Grenzkontrollen noch recht verhalten. Ursache ist, dass Warentransporte von den Kontrollen bisher ausgenommen sind; „wesentliche Störungen“ seien derzeitt „nicht feststellbar“, bestätigte erst vor kurzem der Bundesverband Spedition und Logistik (DSLV).[6]
Der Warentransport müsse aber kontrollfrei bleiben.
„Ressource für den deutschen Arbeitsmarkt“
Getroffen werden von Kontrollen an den Schengen-Binnengrenzen allerdings Grenzpendler. Deren Zahl ist seit der Einführung der sogenannten Arbeitnehmer-freizügigkeit für die neuen EU-Mitgliedstaaten in Ost- und Südosteuropa zum 1. Mai 2011 deutlich gestiegen. Lag sie im Jahr 2010 noch bei 66.487 Personen in West- und bei 2.087 Personen in Ostdeutschland, so waren es im Jahr 2023 bereits 144.057 im Westen und 73.193 im Osten der Bundesrepublik – 0,51 Prozent der Beschäftigten in West-, 1,15 Prozent der Beschäftigten in Ostdeutschland. Die meisten kamen aus Polen (94.173) und aus Tschechien (38.244). Sie seien „häufig in Engpassberufen“ tätig, stellten also „eine wichtige Ressource für den deutschen Arbeitsmarkt“, hieß es im April in einer Untersuchung aus dem Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung (IAB); man solle deshalb für Rahmenbedingungen „Sorge“ tragen, die ihre „Erwerbstätigkeit in Deutschland“ auch für die Zukunft sicherten.[7] Mit der Einführung umfassender Grenzkontrollen wäre das womöglich nicht mehr gewährleistet. Auch droht eine Art Kettenreaktion: Führt Deutschland dauerhafte Grenzkontrollen ein, werden Staaten wie etwa Tschechien oder die Slowakei, um nicht zum Auffangbecken für Flüchtlinge zu werden, mutmaßlich nachziehen. Das Schengen-System droht zu kollabieren.
Proteste
Haben nun deutsche Politiker wie etwa Oppositionschef Friedrich Merz (CDU) und der stellvertretende Vorsitzende der CDU/CSU-Bundestagsfraktion Jens Spahn in Reaktion auf das Attentat von Solingen die Einführung dauerhafter Grenzkontrollen gefordert [8], so werden in gleich mehreren Nachbarstaaten Proteste dagegen laut. Solche Kontrollen an den deutschen Außengrenzen seien „eine fundamentale Abkehr von ... dem Schengen-Prinzip“, erklärte eine Sprecherin des tschechischen Innenministeriums; sie würden „zweifellos zu einem Dominoeffekt von Kontrollen“ in der gesamten Schengen-Zone führen.[9] In Polen teilte das Innenministerium mit, schon jetzt riefen die Grenzkontrollen „Schwierigkeiten beim Grenzverkehr“ hervor; Berlin solle sie keinesfalls verlängern, sondern sie „frühzeitig abschaffen“. Unmut äußerte nicht zuletzt die belgische Regierung, die einen Sprecher erklären ließ, für ein Land wie Belgien, „das im Herzen Europas liegt und eine sehr offene Wirtschaft hat“, sei „das reibungslose Funktionieren der Schengen-Zone wesentlich“.[10]
Neue Spannungen
Geht die Bundesregierung tatsächlich zu dauerhaften Grenzkontrollen über, kommt zu den zahlreichen Streitpunkten in der EU, wie schon jetzt die Proteste aus Polen, Tschechien und Belgien zeigen, ein weiterer hinzu.
Darüber hinaus ist nicht ersichtlich, wieso Staaten wie Ungarn es sich weiterhin gefallen lassen sollten, wegen Verstößen gegen EU-Normen gemaßregelt zu werden, wenn die deutsche EU-Zentralmacht ihrerseits nach Belieben das Kernregelwerk des Schengen-Systems bricht. Damit verschärft bereits die Forderung, dauerhafte Kontrollen an den deutschen Außengrenzen einzuführen, die Spannungen in der EU.
[1] Thomas Gutschker, Mona Jaeger: Wie könnten die EM-Grenzkontrollen verlängert werden? faz.net 15.07.2024.
[2] EU erlaubt längere Grenzkontrollen im Schengen-Raum. rsw.beck.de 08.02.2024.
[3] Sigrid Melchior, Pascal Hansens, Nico Schmidt, Amund Trellevik, Ingeborg Eliassen: EU-Staaten brechen den Schengen-Vertrag. investigate-europe.eu 09.09.2022.
[4] Davide Basso, Nikolaus J. Kurmayer: Schengen: How Europe is ruining its ‘crown jewel’. euractiv.com 28.09.2023.
[5] Cost of non-Schengen: the impact of border controls within Schengen on the Single Market. European Parliamentary Research Service, May 2016.
[6] Dietmar Neuerer: Ampelpolitiker wollen Grenzkontrollen nach der EM beibehalten. handelsblatt.com 04.07.2024.
[7] Holger Seibert: Immer mehr Menschen pendeln aus Osteuropa nach Deutschland. iab-forum.de 15.04.2024.
[8] War der Täter von Solingen wirklich untergetaucht? faz.net 26.08.2024.
[9], [10] Oliver Noyan: German neighbours ring alarm bells over potential border controls. euractiv.com 26.08.2024.
Kursk und die Folgen
Verhandlungsbemühungen sind durch den Angriff auf Kursk zunichte gemacht worden.
Die Bundesregierung hat vor kurzem mitgeteilt, über die bereits für Kiew verplanten Mittel hinaus keine neuen Ausgaben zur Unterstützung der Ukraine tätigen zu wollen; das Land soll nun auf Basis der Zinserträge aus den eingefrorenen Auslandsguthaben der russischen Zentralbank finanziert werden. Kiewer Regierungsangaben zufolge reicht das nicht aus; es sollen deshalb die Guthaben selbst beschlagnahmt werden.
Faktisch wäre das ein Präzedenzfall für den Diebstahl fremden Staatseigentums, der weltweit Folgen hätte – wohl auch für Auslandsvermögen westlicher Staaten.
Die Debatte spitzt sich auch deshalb zu, weil die Ukraine faktisch bankrott ist.
Weckten noch kürzlich Äußerungen von Präsident Wolodymyr Selenskyj und die Entsendung von Außenminister Dmytro Kuleba nach China Hoffnung auf Waffenstillstand und Wiederaufbaumaßnahmen, so sind diese nach dem Angriff der Ukraine auf das russische Gebiet Kursk zerstoben.
Der Angriff habe Verhandlungen unmöglich gemacht, werden Diplomaten zitiert.
Anlass zu Verhandlungen
Zur Aufnahme von Gesprächen mit Moskau hatte Kiew aus verschiedenen Gründen Anlass. Zum einen war sein Versuch, auf dem vorgeblichen Friedensgipfel Mitte Juni in der Schweiz eine Reihe einflussreicher Staaten des Globalen Südens auf seine Seite zu ziehen und damit Russland politisch zu isolieren, gescheitert; die Regierungen etwa Indiens, Brasiliens oder Südafrikas hatten sich Abschlusserklärung des Gipfels mit dem Hinweis verweigert, Friedensgespräche mit nur einer Konfliktpartei ergäben keinen Sinn.[1]
War zumindest das Vortäuschen von Verhandlungsbereitschaft also Voraussetzung für weitere Bemühungen, den Globalen Süden für die Ukraine zu gewinnen, so zeichnete sich zusehends auch materieller Druck ab. Die russischen Angriffe auf die ukrainische Energieinfrastruktur, die Kiew zum Einlenken nötigen sollten, haben der Washington Post zufolge mittlerweile neun der 18 Gigawatt vernichtet, die die Ukraine im kalten Winter zu Spitzenzeiten benötigt.[2]
Bereits jetzt ist die Bevölkerung der Ukraine mit schweren Stromausfällen konfrontiert; die ohnehin stark geschädigte Wirtschaft wird durch den Energiemangel zusätzlich beeinträchtigt. Die ukrainischen Angriffe auf Russlands Erdölindustrie dagegen fügen Moskau relativ geringere Schäden zu – und weil sie zeitweise den Ölpreis in die Höhe getrieben haben, stoßen sie in den westlichen Hauptstädten intern auf Unmut.
„Von der Tagesordnung genommen“
Laut der Washington Post ließ sich Kiew deshalb kurz nach dem Schweizer Ukraine-Gipfel auf einen Vorstoß Qatars ein, zu Verhandlungen mit Moskau überzugehen.[3]
Demnach sollte zunächst ein beidseitiger Verzicht auf Angriffe auf die Energie- bzw. die Ölinfrastruktur in Kraft treten – dies mit der Perspektive, zu einem umfassenderen Waffenstillstand ausgeweitet zu werden.
Qatar habe darüber fast zwei Monate lang mit beiden Seiten verhandelt, hieß es unter Berufung auf Diplomaten; die Regierung in Doha habe gehofft, in Kürze eine Einigung zu erzielen. Der ukrainische Angriff auf das Gebiet Kursk habe die Bemühungen jetzt aber umgehend zunichte gemacht. Der liberale russische Politiker Grigori Jawlinski etwa ließ sich von der New York Times mit der Aussage zitieren, in Moskau habe man Hoffnung gehegt, „die Kämpfe könnten dieses Jahr enden“.[4] Der Angriff auf das Gebiet Kursk habe nun aber die Chancen dafür nicht nur reduziert, sondern sie sogar „von der Tagesordnung genommen“. Zwei ehemalige russische Regierungsmitarbeiter schlossen sich gegenüber der US-Zeitung dieser Einschätzung an. Ausdrücklich bestätigte Juri Uschakow, außenpolitischer Berater des russischen Präsidenten Wladimir Putin, angesichts der jüngsten Kiewer „Eskapade“ werde man zumindest vorläufig „nicht verhandeln“.[5]
Vermittler düpiert
Hinzu kommt, dass Kiew mit seinem Vorgehen einmal mehr potenzielle Vermittler verprellt. Erst im Juli hatte China den ukrainischen Außenminister Dmytro Kuleba zu Gesprächen nicht zuletzt mit seinem Amtskollegen Wang Yi empfangen – in der Absicht, Wege zu einer Verhandlungslösung zu bahnen.[6]
Zudem hatte Indien mit der ukrainischen Regierung über einen Besuch von Ministerpräsident Narendra Modi verhandelt – sozusagen als Ausgleich für Modis Besuch im Juli in Moskau.
Während Kiew mit Beijing und New Delhi über Wege zu einer Konfliktlösung diskutierte, bereitete es hinter deren Rücken längst den Angriff auf Kursk vor. Modi trifft am heutigen Freitag düpiert in der ukrainischen Hauptstadt ein. Auch Qatars Regierung muss konstatieren, dass sie mit ukrainischen Gesprächspartnern über Wege aus dem Krieg verhandelte, während Kiew insgeheim bereits die Eröffnung eines neuen Schlachtfeldes auf russischem Territorium plante. Doha, gleichfalls düpiert, sagte die schon in Kürze geplanten Gespräche inzwischen ab.[7]
„Der Topf ist leer“
Gleichzeitig zeichnen sich neue Spannungen zwischen Kiew und Berlin ab. Wie bereits am vergangenen Wochenende berichtet wurde, will die Bundesregierung ab sofort keinerlei neue Mittel mehr für die Ukraine zur Verfügung stellen. Bereits fest verplant sind die knapp acht Milliarden Euro, die der Bundeshaushalt 2024 für die Unterstützung der Ukraine vorsieht. Im Bundeshaushalt 2025 sind weitere vier Milliarden Euro für Kiew enthalten; diese sind aber, wie es heißt, „offenbar schon überbucht“.[8] Für 2026 ist von drei, für 2027 und 2028 jeweils von einer halben Milliarde Euro die Rede. Weitere Mittel sollen – darauf beharren Kanzler Olaf Scholz und Finanzminister Christian Lindner – lediglich dann gewährt werden, wenn für die entsprechenden Vorhaben „eine Finanzierung gesichert“ sei. Hintergrund sind die Berliner Bestrebungen, die Staatsausgaben einzuschränken, um die Neuverschuldung zu begrenzen. Zwar würden bereits getätigte Zusagen noch realisiert, heißt es; doch wird ein Mitarbeiter der Bundesregierung mit der Feststellung zitiert: „Ende der Veranstaltung. Der Topf ist leer.“[9]
Präzedenzfall
Gedeckt werden soll Kiews Finanzbedarf nach dem Willen Berlins nicht mehr aus deutschen Mitteln, sondern stattdessen aus Zinserträgen, die die im Westen eingefrorenen Mittel der russischen Zentralbank einbringen – insgesamt gut 260 Milliarden Euro. Konkret werden zur Zeit die Zinsen der gut 173 Milliarden Euro ins Visier genommen, die der Finanzkonzern Euroclear mit Sitz in Brüssel verwaltet.
Die G7 haben beschlossen, die Zinsen zugunsten der Ukraine zu beschlagnahmen und Kiew auf ihrer Grundlage einen Kredit zu ermöglichen; jährlich könnten damit mehrere Milliarden Euro beschafft werden, heißt es.[10]
Allerdings sind noch diverse Fragen offen. So wird berichtet, Experten rechneten mit einer Laufzeit des Kredits von möglicherweise 20 Jahren. Das setze faktisch voraus, dass die russischen Gelder auch noch nach einem etwaigen Friedensschluss mit der Ukraine eingefroren blieben, sollte ein solcher zustande kommen.
Hinzu kommt das nach wie vor ungelöste Problem, dass ein westlicher bzw. ukrainischer Zugriff auf russisches Staatseigentum als klarer Präzedenzfall gewertet würde.
Westliche Staaten müßten damit rechnen, dass ihr Eigentum im Ausland im Konfliktfall gleichfalls enteignet werden könnte, nicht nur zur Entschädigung von Kriegs-, sondern auch von Kolonial- und insbesondere von NS-Verbrechen.
Finanzdesaster
Umso schwerer wiegt, dass Kiew jetzt, wie die stellvertretende Finanzministerin Olga Zykova aktuell auf einer Videokonferenz des Kiewer Centre for Economic Strategy erklärte, nicht nur die schnelle Freigabe der Kreditmittel auf Basis der Zinserträge des eingefrorenen russischen Staatsvermögens fordert, sondern den Zugriff auf das Staatsvermögen selbst. Das sei nötig, heißt es, um den ukrainischen Staatshaushalt zu stabilisieren, der zuletzt zu mehr als 50 Prozent aus auswärtigen Zuwendungen gespeist worden sei.[11]
Für das Jahr 2025 benötige man Hilfsgelder in Höhe von mindestens 35 Milliarden US-Dollar; 15 Milliarden US-Dollar fehlten noch.
Als einziger Ausweg aus dem zunehmenden Finanzierungsdesaster gilt ein Ende des Krieges und der Wiederaufbau des Landes; beides aber ist nach dem ukrainischen Angriff auf Kursk weniger in Sicht denn je.
[1] S. dazu Ziele klar verfehlt
[2] Isabelle Khurshudyan, Siobhán O’Grady, John Hudson, Catherine Belton: Ukraine’s offensive derails secret efforts for partial cease-fire with Russia, officials say. washingtonpost.com 17.08.2024.
[4], [5] Anton Troianovski, Andrew E. Kramer, Kim Barker, Adam Rasgon: Ukraine Says Its Incursion Will Bring Peace. Putin’s Plans May Differ. nytimes.com 19.08.2024.
[6] S. dazu Diplomatie statt Waffen
[7] Isabelle Khurshudyan, Siobhán O’Grady, John Hudson, Catherine Belton: Ukraine’s offensive derails secret efforts for partial cease-fire with Russia, officials say. washingtonpost.com 17.08.2024.
[8], [9] Peter Carstens, Konrad Schuller: Kein neues Geld mehr für die Ukraine. Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung 18.08.2024.
[10] Christian Schubert: Ein russischer Hebel gegen Putin. Frankfurter Allgemeine Zeitung 21.08.2024.
[11] Andreas Mihm: Kiew: Brauchen Milliarden schnell. Frankfurter Allgemeine Zeitung 22.08.2024.
Marxistische Selbstverständigung. Wege des Antifaschismus: marxistische Studienwoche
Hintergrund: Rechtsentwicklung
Der Faschismusforscher Reinhard Opitz schrieb in seinem Aufsatz »Was ist rechts? Was sind Rechtstendenzen?«, der 1980 im zweiten Heft der Marxistischen Blätter erschien, dass »linksgerichtete Bewegungen oder Kräfte« solche wären, die »zu ihrer Zeit auf den historisch objektiv möglichen nächsthöheren Verwirklichungsgrad von Demokratie hindrängen oder ihm punktuell vorarbeiten«.
Rechtsgerichtete Bewegungen oder Kräfte seien dagegen solche, die »hinter den zu ihrer Zeit jeweils schon erreichten relativen historischen Realisationsgrad von Demokratie oder auch nur Artikulationsspielraum der demokratischen (linken) Kräfte zurückdrängen«.
Auch für die hiesige Linke stellen sich akut zwei Fragen:
Was sind Ursachen der Rechtsentwicklung?
Und wie können Marxisten sie nicht nur analysieren, sondern bekämpfen?
Den Versuch, darauf adäquate Antworten zu finden, hat vom 12. bis 15. August in Frankfurt am Main die marxistische Studienwoche mit über 50 Teilnehmern unternommen. Seit 2008 wird die Tagung von der Zeitschrift Marxistische Erneuerung, der Heinz-Jung-Stiftung und dem Institut für sozialökologische Wirtschaftsforschung, isw, organisiert. Den Auftakt machte am Montag vergangener Woche ein Podium, das die historischen Rechtsentwicklungen diskutierte.
Stefan Bollinger griff dazu mehr als 100 Jahre zurück und referierte über die Konterrevolution von 1848/49 bis Kaiser Wilhelm II. Frank Deppe betrachtete die Weimarer Republik und Silvia Gingold sprach über die Renazifizierung ab 1945 in der BRD sowie die Berufsverbote, von denen sie selbst betroffen war. So forderten Proteste und Solidaritätskomitees für Betroffene demokratische Rechte ein. Aber auch heute bestehe Gingold zufolge die Gefahr von Berufsverboten. Sie verwies dazu auf die anhaltende Repression gegen die Palästina-Solidarität und die Friedensbewegung sowie auf Pläne des Innenministeriums für Berufsverbote für »Extremisten« und »Verfassungsfeinde«. Der einzig wirksame Schutz der Verfassung, sagte Gingold, sei eine breite demokratische Öffentlichkeit.
Philipp Becher erkannte den Rechtsruck in Anlehnung an Faschismusforscher Reinhard Opitz als Ausdruck einer Integrationskrise der bürgerlichen Gesellschaft. Die Liaison von Kapitalismus und parlamentarischer Demokratie sei kein historischer Normalfall, die Klassenherrschaft der Bourgeoisie an keine Staatsform gebunden, erklärte er und erinnerte daran, dass demokratische Elemente der bürgerlichen Gesellschaft von der Arbeiterbewegung erkämpft und von ihr auch verwirklicht werden. Im Bündnis mit Sozialliberalen gelte es, »jeden Keim zu packen« – aber sich als Marxisten seine Unabhängigkeit zu bewahren.
Ein weiteres Podium setzte sich mit internationalen Rechtsentwicklungen auseinander.
So deutete Ingar Solty den Aufstieg des »Bonapartisten« Donald Trump als Folge einer Hegemoniekrise in den USA, die ihre ökonomische Grundlage in der Verarmung breiter Bevölkerungsteile seit dem Volcker-Schock 1978 habe. Trumps mögliche Wiederwahl würde einen verstärkten autoritären Staatsumbau bedeuten. Sabine Kebir wies auf die politische Flexibilität von Italiens Regierungschefin Giorgia Meloni hin, die innerhalb der EU klug laviere, allerdings auch strikt atlantisch gegen Russland und China ausgerichtet sei. Für ihre außenpolitische Treue ließen ihr EU und USA in Italien freien Spielraum gegen den Sozialstaat, Frauenrechte und Geflüchtete.
Andrés Musacchio erklärte den Aufstieg des argentinischen Präsidenten Javier Milei aus der Schwäche einer krisengeplagten, aber auch inkonsequenten peronistischen Linken und einer an Kapitalflucht und Ausverkauf interessierten wirtschaftlichen Elite. Milei zerstöre im Eiltempo soziale, wissenschaftliche und kulturelle Institutionen, während er das Militär und die Polizei ausbaue. Cornelia Hildebrandt gab einen Überblick zur Rechtsentwicklung in der EU.
Für die BRD erläuterte Gerd Wiegel Ursachen und Dimensionen der Rechtsentwicklung hierzulande.
Andreas Fisahn erörterte die Rolle des bürgerlichen Rechts im Kampf gegen Faschismus, konkret anhand der Debatte über ein AfD-Verbot und Rechtsmittel gegen deren Thüringer Landes- und Fraktionschef Björn Höcke. Arbeitsgruppen setzten sich unter anderem mit der politischen Bildung im Kampf gegen rechts, dem Kampf um eine humane Asylpolitik und der Frage nach einer neuen Volksfrontstrategie auseinander.
Ein Abschlussplenum mit Violetta Bock, Andrea Hornung und Wiegel erörterte aktuelle Wege antifaschistischer Politik.
Die marxistische Studienwoche wurde von den TeilnehmerInnen als erkenntnisreich gelobt. Die Analyse antifeministischer Kräfte wäre eine gute Ergänzung gewesen, wie von den TeilnehmerInnen angemerkt wurde. Zudem seien die ökonomischen Ursachen genauer zu untersuchen. Die Vorstellung der nächsten Ausgabe der Zeitschrift Marxistischen Erneuerung am 29. September zum Thema »Zeitenwende: Autoritärer Kapitalismus – BRD-Wirtschaft unter dem Druck geopolitischer Umtriebe« wird daran anknüpfen.
Der Sozialistisch-demokratische Studierendenverband erinnerte in seinem Vortrag an ein Zitat aus Bert Brechts »Leben des Galilei«:
»Wenn die Wahrheit zu schwach ist, um sich zu verteidigen, muss sie zum Angriff übergehen.«
Die Rückkehr der (Atom-) Raketen
Ihr Protest hatte dazu beigetragen, dass am 8. Dezember 1987 die Sowjetunion und die USA den sog. INF-Vertrag unterzeichneten.
Im INF-Abkommen (Intermediate-Range Nuclear Forces) verpflichteten sich die beiden atomaren Supermächte auf Entwicklung, Besitz und die Stationierung landgestützter Atomraketen (damals Pershing II und cruise missiles „Tomahawk“) mit einer Reichweite von 500 bis 5.500 Kilometern zu verzichten. Der INF-Vertrag war bislang das einzige Abkommen, das zu einer realen Atom-Abrüstung geführt hat; insgesamt 2692 Raketen wurden verschrottet.
Die Atomkriegs-Gefahr in Europa schien weitgehend gebannt.
Der fast vierzigjährige „Atom-Friede“ ist nun gefährdet.
Der damalige US-Präsident Donald Trump kündigte am 20. Oktober 2018 einseitig den INF-Vertrag; zum 1. Februar 2019 stiegen die USA aus dem Vertragswerk aus. Russland zog nach. Damit konnten wieder Mittelstrecken in Europa stationiert werden.
Dies soll nun 2026 geschehen. Eher beiläufig gaben Kanzler Scholz und Präsident Biden am Rande der NATO-Jubiläumskonferenz im Juli 2024 in Washington bekannt, dass ab 2026 auf deutschem Boden wieder Mittelstrecken-Raketen aufgestellt werden, und zwar Cruise missiles vom Typ „Tomahawk“ mit einer Reichweite von etwa 2.500 – also bis tief nach Russland hinein. Dazu ist die Installation von SM 6-Flugabwehr-Raketen mit einer Reichweite von 370 KM und 3,5-facher Schallgeschwindigkeit plus neue Hyperschall-Raketen verabschiedet.
Die Marschflugkörper können konventionelle wie atomare Sprengköpfe tragen. Angeblich werden sie nur konventionell bestückt, was ein Beschwichtigungsmanöver sein dürfte. Denn kein Militär schießt eine konventionelle Rakete 2500 KM weit, nur um ein Loch in einen Bunker zu sprengen. Zudem kann keine deutsche Behörde die Bestückung überprüfen, da die Raketen auf US-Militäreinrichtungs-Geländen in Deutschland stationiert werden, auf denen deutsches Hoheitsrecht endet.
Auf Deutschland fällt die erste Bombe
Wenn es noch eines Beweises für die enge Verzahnung des deutschen MIK mit dem Militär- und Kriegsgeflecht der USA bedurfte, hier ist er: Die neuen Mittelstrecken-Raketen werden in Europa diesmal allein in Deutschland stationiert. Mit den neuen Raketen wird das Pulverfass Deutschland weiter hochexplosiv aufgeladen. Sie kommen zu den deutschen Atombombern mit US-Atombomben auf den Fliegerhorst Büchel dazu, zur Ramstein Air Base, der größten US-Luftwaffenbasis im Ausland, zur Kommandozentrale für US-Drohnen-Killer- und Kampfeinsätze insbesondere im Nahen Osten und in Afrika, zu diversen US-Hauptquartieren, Truppenübungsplätzen, usw. usf.
Kein Land der Welt ist so intensiv und massiv mit US-Soldateska und -Militäreinrichtungen bestückt, wie Deutschland.
Wann immer es in Europa zu kriegerischen Auseinandersetzungen kommen sollte, wäre Deutschland im Fokus.
Kein Zweifel: Auf Deutschland fällt die erste Bombe!
Unser Land würde zum atomaren Schlachtfeld. Die USA aber würden dagegen von Mittelstrecken-Raketen nicht erreicht.
Die ganz große Raketenkoalition aus Ampel-Regierung und CDU/CSU-Opposition sieht darin kein Problem. Sie giert geradezu nach den neuen Waffen. Das SPD-Präsidium preist sie gar als Friedenstauben speziell für Kinder (s.u.). Der SPD-Vorsitzende Klingbeil ließ noch in der Sommerpause im Eilverfahren eine Zustimmungserklärung durch das SPD-Präsidium peitschen, um die Diskussion in der Partei im Keim zu ersticken. Ihm selbst wird Affinität zum MIK nachgesagt. Jahrelang war er in den Präsidien der Rüstungs-Lobbyorganisationen Deutsche Gesellschaft für Wehrtechnik und Förderkreis Deutsches Heer aktiv.
In dem SPD-Präsidiumsbeschluss heißt es u.a.
„Als SPD übernehmen wir Verantwortung dafür, dass kein Kind, das heute in Deutschland geboren wird, wieder Krieg erleben muss. Die Vereinbarung der SPD-geführten Bundesregierung mit der
US-Administration, ab 2026 US-amerikanische Raketen mit größerer Reichweite in Deutschland zu stationieren, ist dafür ein wichtiger Baustein“.
Erstschlag-Option
Weshalb sind die geplanten Mittelstrecken so gefährlich? Sie würden für Russland eine tödliche Bedrohung darstellen: aufgrund der geringen Vorwarnzeit und der Zielgenauigkeit dieser Systeme. Aufgrund der längeren Flugzeit gilt bei Interkontinentalraketen eine Vorwarnzeit von etwa 30 Minuten. Der Angegriffene ist in der Lage, seine Raketen aus den Silos abzuschießen und so den Gegenschlag zu führen. Dieses „Gleichgewicht des Schreckens“ wurde auf die Formel gebracht: „Wer als erster schießt, stirbt als zweiter“.
Kurze Vorwarnzeiten würden einen Atomkrieg aus Versehen wahrscheinlicher machen, könnten aber auch zum atomaren Überraschungsangriff verleiten.
Bei Mittelstrecken-Raketen verkürzt sich diese Vorwarnzeit auf wenige Minuten. Marschflugkörper haben zwar eine längere Flugzeit, da sie aber in geringer Höhe operieren, unterfliegen sie das gegnerische Abwehr-Radar. Dazu kommt die hohe Präzision bei modernen Raketen; sie können ihre Ziele fast punktgenau treffen.
Das kann zu neuen Szenarien des „fürbaren Atomkrieges“ verleiten, wie sie die USA nach dem Abwurf der Atombomben immer wieder anstrebten. Durch präventive „chirurgische Erstschläge“, so genannte Enthauptungsschläge, sollen militärische Kommandozentralen vernichtet und die gegnerischen Atomraketen noch am Boden bzw. noch in den Silos zerstört werden. Die wenigen übrigen Raketen, die vom Angegriffenen noch auf die Flugbahn gebracht werden können, sollen dann durch die Raketen-Abwehrsysteme abgefangen und unschädlich gemacht werden.
Die Raketenabwehr ist kein defensives System, sondern Teil einer atomaren Offensivstrategie.
„Fähigkeitslücke“ oder Gedächtnis-Lücke
Der Vorwand für den damaligen einseitigen Ausstieg der USA aus dem Vertrag (Russland hat lediglich nachgezogen): Russland habe gegen den Vertrag verstoßen, indem es neue Raketenstellungen installiert habe. Beweise? Keine!
An der Beweislage hat sich bis heute nichts geändert. Häufig werden die in Kaliningrad installierten Iskander-Raketen als „Beweise“ angeführt, auch von den „Militärexperten“ der Stiftung Wissenschaft und Politik (Claudia Major) und den Bundeswehr-Professoren (z.B. Carlo Masala) wird das immer wieder erzählt. Es ist schon peinlich, wenn so genannte und selbst ernannte „Militärexperten“ offensichtlich nicht zwischen Kurzstrecken-Raketen bis 500 KM – z.B. die in Kaliningrad installierte Iskander - und Mittelstrecken-Raketen unterscheiden können.
Zudem: Zu etwaigen Verstößen gab es im INF-Vertrag klare Verifizierungsmechanismen, die von den USA nicht genutzt wurden. So schreibt die NaturwissenschaftlerInnen-Initiative: „Wenn es Verletzungen des INF-Abkommens gegeben haben sollte, hatte das INF-Vertragswerk dazu klare Regelungen. Die entsprechende Kommission der beiden Unterzeichnerstaaten muss einberufen werden. Dieses ist seit 2017 nicht mehr geschehen. Propagandistische Anklagen helfen nicht weiter und lenken von den wahren Motiven ungehemmter Aufrüstung ab“. (natwiss.de, 22.10.18).
Und die regierungsnahe Stiftung Wissenschaft und Politik wies bereits im März 2018 darauf hin: „Um die gegenseitigen Vorwürfe auszuräumen, wären wechselseitige Informationen und Inspektionen notwendig. Dazu müsste das 2001 beendete INF-Inspektionsregime reaktiviert und modifiziert werden“ (SWP-aktuell, 15. März 2018).
2001 ist auch das Jahr, in dem die USA einseitig den ABM-Vertrag (Anti-Ballistic-Missile: Vertrag über die Begrenzung von Raketenabwehrsystemen) kündigten und in der Folgezeit mit der Errichtung von ABM-Stellungen in Europa begannen.
Die USA verweigerten jede Inspektion vor Ort.
Eine russische Vertragsverletzung wird einfach behauptet und daraus eine „Fähigkeitslücke“ (Scholz) der westlichen Raketenrüstung abgeleitet, die wieder einmal zur „Nachrüstung“ herhalten soll. Als Juso-Fuktionär und Nachrüstungsgegner in den 80er Jahren, wusste Scholz es besser, was von solchen behaupteten Waffen-„Lücken“ zu halten ist.
Schade, dass sich bei ihm da eine Gedächtnislücke auftut.
Ein „Mittleres Einkommen“ oder ist es die Rentabilitätsfalle?[1]
Die Realität ist, dass im 21. Jahrhundert fast alle Länder und Bevölkerungen des so genannten „Globalen Südens“, d. h. der armen Peripherie außerhalb der fortgeschrittenen kapitalistischen Volkswirtschaften des Globalen Nordens, nicht aufholen.
Diese Realität wird von Mainstream-Ökonomen und insbesondere von den Ökonomen der internationalen Organisationen wie dem IWF und der Weltbank oft geleugnet.
Daher war es überraschend, dass die Weltbank in ihrem jüngsten Weltentwicklungsbericht,2024 einräumte, dass die meisten Volkswirtschaften des Globalen Südens die Lücke beim Pro-Kopf-Einkommen oder der Arbeitsproduktivität gegenüber den fortgeschrittenen kapitalistischen Volkswirtschaften nicht schließen. In der Vergangenheit erkannte die Bank an, dass es viele sehr arme Länder wie die afrikanischen Länder südlich der Sahara gibt, die in verzweifelter Armut verharren. Die Ökonomen der Bank waren jedoch im Allgemeinen optimistischer für die so genannten „Volkswirtschaften mit mittlerem Einkommen“, d. h. die Länder mit einem jährlichen Pro-Kopf-Einkommen zwischen 1.136 und 13.845 Dollar (und das soll „mittel“, sein, wohl eher nicht).
In ihrem jüngsten Bericht schätzt die Weltbank die Zukunft der 108 Länder, die sie als Länder mit mittlerem Einkommen“ einstuft, pessimistischer ein. Auf sie entfallen fast 40 Prozent der weltweiten Wirtschaftstätigkeit, mehr als 60 Prozent der Menschen, die in extremer Armut leben, und mehr als 60 Prozent der weltweiten Kohlendioxidemissionen (CO2).
Die Weltbank drückt es so aus: "Die Länder mit mittlerem Einkommen befinden sich in einem Wettlauf mit der Zeit. Seit den 1990er Jahren haben viele von ihnen genug getan, um das Niveau der Niedrigeinkommen zu verlassen und die extreme Armut zu beseitigen, was zu der allgemeinen Auffassung geführt hat, dass die letzten drei Jahrzehnte für die Entwicklung großartig waren. Dies ist jedoch auf die abgrundtief niedrigen Erwartungen zurückzuführen - Überbleibsel aus einer Zeit, als mehr als zwei Drittel der Weltbevölkerung von weniger als einem Dollar pro Tag lebten. Die 108 Länder mit mittlerem Einkommen haben sich zum Ziel gesetzt, innerhalb der nächsten zwei oder drei Jahrzehnte den Status eines Landes mit hohem Einkommen zu erreichen. Gemessen an diesem Ziel ist die Bilanz düster: Die Gesamtbevölkerung der 34 Länder mit mittlerem Einkommen, die seit 1990 den Status eines Landes mit hohem Einkommen erreicht haben, beträgt weniger als 250 Millionen Menschen, was der Bevölkerung Pakistans entspricht.
Das durchschnittliche jährliche Einkommenswachstum in diesen Ländern mit mittlerem Einkommen ist in den ersten beiden Jahrzehnten dieses Jahrhunderts um fast ein Drittel gesunken - von 5 Prozent in den 2000er Jahren auf 3,5 Prozent in den 2010er Jahren.
Und die Weltbank kommt zu dem Schluss, dass "eine baldige Trendwende nicht wahrscheinlich ist, weil die Länder mit mittlerem Einkommen mit immer stärkerem Gegenwind konfrontiert sind. Sie haben mit zunehmenden geopolitischen Spannungen und Protektionismus zu kämpfen, die die Verbreitung von Wissen in Ländern mit mittlerem Einkommen verlangsamen können, mit Schwierigkeiten bei der Bedienung von Schulden und mit den zusätzlichen wirtschaftlichen und finanziellen Kosten des Klimawandels und der Klimaschutzmaßnahmen“.
In der Tat, so ist es. Aber wer ist daran schuld? Ganz klar sind es die imperialistischen Länder des Nordens, die im letzten Jahrhundert Milliarden an Profiten, Zinsen, Mieten und Ressourcen aus dem Süden gezogen haben, die am meisten zur globalen Erwärmung beigetragen haben (siehe Tabelle oben) und die Kriege um die Kontrolle des Südens oder gegen jedes Land geführt haben, das sich ihren Interessen widersetzt.
Jüngste Arbeiten von marxistischen und sozialistischen Ökonomen haben das Ausmaß dieser imperialistischen Ausbeutung offengelegt.[2]
Dies wird von der Weltbank ignoriert. Die Erklärung für das Versäumnis, aufzuholen, liegt darin, dass die Länder mit mittlerem Einkommen nicht die richtige „Entwicklungsstrategie“ anwenden. Diese Länder haben sich nämlich zu lange darauf verlassen, nur den Kapitalstock aufzubauen, was allmählich „abnehmende Erträge“ erbringt. In der Sprache der neoklassischen Ökonomie meinen die Ökonomen der Weltbank, dass „Faktorakkumulation allein die Ergebnisse stetig verschlechtern wird - ein natürlicher Vorgang, da die Grenzproduktivität des Kapitals sinkt.“
Mit marxistischen Begriffen läßt sich dies deutlicher darstellen. Adalmir Marquetti drückt es folgendermaßen aus:
„Ja, die Ökonomen der Weltbank erkennen an, dass die Grenzproduktivität des Kapitals, die Profitrate in der neoklassischen Tradition, aufgrund der Kapitalakkumulation während des „Aufholprozesses“ sinkt. Aber es ist die sinkende Profitrate, die die Hauptursache für den Rückgang der Kapitalakkumulation und der Investitionen ist. Das Problem ist, dass sich die Profitrate viel schneller dem Niveau der Vereinigten Staaten annähert als die Arbeitsproduktivität. Im Wesentlichen ist die Falle der mittleren Einkommen eine „Profitratenfalle“.
Gulglielmo Carchedi und ich kommen zur gleichen Einschätzung:
„In einer kapitalistischen Wirtschaft gerät eine geringere Rentabilität in Konflikt mit dem Produktivitätswachstum“. [3]
Marxistisch ausgedrückt: Wenn diese Länder versuchen, sich zu industrialisieren, wird das Verhältnis zwischen Kapital und Arbeit steigen[4] und damit auch die Produktivität der Arbeit. Wenn die Arbeitsproduktivität schneller wächst als in den „führenden Ländern“, dann wird ein Aufholprozess stattfinden. Allerdings wird die Rentabilität des Kapitals tendenziell schneller sinken, was schließlich den Anstieg der Arbeitsproduktivität verlangsamt.
Guglielmo Carchedimir und ich haben in einer gemeinsamen Arbeit unter Verwendung marxistischer Kategorien festgestellt, dass die Rentabilität der „beherrschten Länder“ aufgrund ihrer geringeren organischen Zusammensetzung des Kapitals zunächst höher ist als die der imperialistischen Länder, ABER „die Rentabilität der beherrschten Länder ist zwar dauerhaft höher als die der imperialistischen Länder, fällt aber stärker als die des imperialistischen Blocks.“[5]
Die Weltbank hat also die „Rentabilitätsfalle“ erkannt, aber im Format der neoklassischen Ökonomie schlägt sie eine Entwicklungslösung vor, bei der die Volkswirtschaften mit „mittlerem Einkommen“ bessere Technologie aus dem Globalen Norden „einfließen“ lassen und dann die „Innovation“ durch private Unternehmen erfolgt.
"In der ersten Variante werden die Investitionen durch Infusionen ergänzt, so dass sich die Länder (vor allem die Länder mit niedrigem mittlerem Einkommen) auf die Nachahmung und Verbreitung moderner Technologien konzentrieren. Im zweiten Fall wird die Mischung aus Investitionen und Infusion durch Innovation ergänzt, so dass sich die Länder (vor allem die Länder mit mittlerem Einkommen) auf den Aufbau inländischer Fähigkeiten konzentrieren, um den globalen Technologien einen Mehrwert zu verleihen und letztlich selbst zu Innovatoren zu werden. Im Allgemeinen müssen Länder mit mittlerem Einkommen die Mischung der drei Triebkräfte des Wirtschaftswachstums - Investitionen, Infusionen und Innovationen - neu kalibrieren, wenn sie den Status eines Landes mit mittlerem Einkommen erreichen.
Aha, Marx hat sich geirrt: Diese Länder mit mittlerem Einkommen sind nicht zu ständiger Armut und Kontrolle durch imperialistische Volkswirtschaften verurteilt, oder „dass marktwirtschaftliche Volkswirtschaften von einer wachsenden Konzentration des Reichtums und von Krisen heimgesucht werden, bis der Kapitalismus durch den Kommunismus ersetzt wird.“
1942 zeigte der österreichische Wirtschaftswissenschaftler Joseph Schumpeter in seiner Abhandlung „Kapitalismus, Sozialismus und Demokratie“ den kapitalistischen Ausweg auf: durch „schöpferische Zerstörung“. Aus Krisen können Wiederherstellung und Wachstum entstehen.
Ja, die Krisen des Kapitalismus sind schmerzhaft, aber sie schaffen auch die Voraussetzungen für Wohlstand.
Die Ökonomen der Weltbank kommen in ihrer Weisheit zu dem Schluss, dass „fast ein Jahrhundert später viele von Schumpeters Erkenntnissen bestätigt zu sein scheinen“. Und worauf stützen sie diese Schlussfolgerung, nachdem sie gerade erklärt haben, dass die große Mehrheit der armen Länder (Entschuldigung: Länder mit mittlerem Einkommen) in relativer Armut gefangen ist?
Nun, sie wenden sich einigen Länderfallstudien zu, die offenbar den Weg weisen.
In Lateinamerika ist das Chile. Die Weltbank berichtet, dass Chile im Jahr 2012 als erstes lateinamerikanisches Land den Status eines Landes mit hohem Einkommen erreicht hat. "Chile hat seine Exporte seit den 1960er Jahren, als der Bergbau etwa vier Fünftel seiner Ausfuhren ausmachte, gesteigert und diversifiziert. Heute beträgt dieser Anteil etwa die Hälfte. Der Wissenstransfer aus den fortgeschrittenen Volkswirtschaften wurde sowohl von öffentlichen als auch von privaten Einrichtungen unterstützt." Tatsächlich wird dann auf öffentliche Investitionen als Hauptantrieb für bessere Technologie und diversifizierte Exporte verwiesen; durch die öffentliche chilenische Agentur für Exportförderung (ProChile) und die gemeinnützige Fundación Chile, die den Technologietransfer für inländische Unternehmen fördert.
Die Weltbank erwähnt nicht den schrecklichen Militärputsch in Chile durch Pinochet im Jahr 1973, der die sozialistische Allende-Regierung gewaltsam absetzte und Zehntausende von Menschen tötete und damit die Grundlage für eine verstärkte Ausbeutung der Arbeitskräfte legte. Ironischerweise lag die durchschnittliche reale BIP-Wachstumsrate in Chile von 1951 bis 1973 bei 4,3 % pro Jahr; nach Pinochet und den nachfolgenden pro-kapitalistischen Regierungen lag sie jedoch bei 4,1 % pro Jahr. Trotz der Unterdrückung der Arbeitseinkommen sank die Kapitalgewinnrate in Chile Anfang der 1980er Jahre auf einen Tiefstand, stieg dann (wie in vielen anderen Ländern) während der neoliberalen Erholungsphase an, ist aber seit dem globalen Finanzcrash und der Großen Rezession (wie auch anderswo) rückläufig.
Also eigentlich keine kapitalistische Erfolgsgeschichte.
In Asien verweist die Weltbank auf Korea als erfolgreiches Entwicklungsmodell. Die Ökonomen der Bank formulieren es folgendermaßen: "Während Brasilien im eigenen Land strauchelte, raste Korea um die Welt und machte die Infusion ausländischer Technologie zum Eckpfeiler der heimischen Innovation. Im Jahr 1980 lag die durchschnittliche Produktivität eines koreanischen Arbeiters bei nur 20 Prozent der Produktivität eines durchschnittlichen US-Arbeiters. Bis 2019 hatte sie sich auf mehr als 60 Prozent verdreifacht. Im Gegensatz dazu waren brasilianische Arbeiter, die 1980 40 Prozent so produktiv waren wie ihre US-Kollegen, 2018 nur noch 25 Prozent so produktiv." Der Erfolg Koreas ist offenbar auf eine „Infusion ausländischer Technologie“ zurückzuführen. Die Bank verweist nicht auf die massiven staatlichen Anstrengungen zur Industrialisierung in den 1980er Jahren oder die ausländischen Investitionen der USA zur Unterstützung einer kapitalistischen Wirtschaft als Bollwerk gegen die Sowjets und China nach dem Koreakrieg. Und dann war da noch die massive Ausbeutung der koreanischen Arbeiter durch ein Militärregime über Jahrzehnte hinweg. Dies erklärt in hohem Maße den Unterschied zwischen der Entwicklung Koreas und Brasiliens, dessen industrielle Strategie vom amerikanischen Kapital abgewürgt wurde.
Dann ist da noch Polen, die europäische Erfolgsgeschichte der Weltbank. Der Beitritt zur Europäischen Union mit massiven Subventionen für den Agrarsektor, riesige Kapitalinvestitionen der deutschen Industrie und eine umfangreiche Auswanderung von Arbeitslosen waren der Schlüssel zu Polens relativem Aufstieg. Die Weltbank drückt es bescheiden aus:
„Gebildete Polen setzten ihre Fähigkeiten (Fähigkeiten aus der Sowjet-Ära - MR) in der gesamten Europäischen Union ein und eröffneten damit einen weiteren Kanal, um globales Wissen in die polnische Wirtschaft einzubringen.“
Das ist die Gesamtheit der Erfolgsgeschichten der Weltbank, die auf dem „Schumpeter-Modell“ der Entwicklung basieren. Und die Ökonomen der Bank sind gezwungen zuzugeben, dass der Aufstieg dieser Länder in den Status eines Landes mit hohem Einkommen von Wirtschaftskrisen durchsetzt war... die Verschiebungen in definierten Phasen, von 1. Investment zu 2.Investment plus Infusion und dann zu 3., Strategien mit Investment plus Infusion plus Innovation keinesfalls glatt noch linear verlaufen."
Der „Elefant im Raum“ des Entwicklungsmodells der Weltbank wird nicht erwähnt: China.
Warum hat China, das in den 1950er Jahren zu den ärmsten Ländern der Welt gehörte, in den 1990er Jahren schnell den Status eines Landes mit mittlerem Einkommen erlangt und schließt im 21. Jahrhundert?. Warum sind Länder wie Vietnam und sogar Laos ebenfalls erfolgreich dem chinesischen Entwicklungsmodell gefolgt? Die Ökonomen der Weltbank sagen dazu nichts. Wie Marquetti hervorhebt: "Unser Buch enthält eine Zahl, die zeigt, dass China, Vietnam und Laos trotz sinkender Rentabilität ein hohes Investitionsniveau beibehalten haben. Dies ist eine Grundvoraussetzung für den Aufholprozess."
Die Weltbank ignoriert das chinesische Entwicklungsmodell der staatlich gelenkten Investitionen, der staatlichen Finanzierung von Infrastruktur und Technologie auf der Grundlage von nationalen Plänen mit Zielvorgaben, wo die „Rentabilitätsfalle“ der Volkswirtschaften mit mittlerem Einkommen nicht gilt.
In unserem Buch zeigen wir, dass es in China im Vergleich zu anderen Volkswirtschaften, insbesondere zu denen mit mittlerem Einkommen, nur eine minimale Korrelation zwischen Veränderungen der Rentabilität und dem realen BIP-Wachstum gab.
China hat keine Produktions- und Investitionskrisen aufgrund sinkender Rentabilität erlitten, wie dies bei den Favoriten der Weltbank der Fall war.
Die Ökonomen der Weltbank ignorieren die Rolle der staatlichen Investitionen und Planung. Stattdessen will die Bank „global anfechtbare Märkte schaffen, Faktor- und Produktmarktregulierungen abbauen, unproduktive Firmen entlassen, den Wettbewerb stärken, die Kapitalmärkte vertiefen“.
Doch welches Entwicklungsmodell hat Aussicht auf Erfolg?
Das von Schumpeter, das auf Krisen und Rentabilität basiert, oder das marxistische, das auf öffentlichem Eigentum und Planung beruht?
Wir können die Abbildung der Weltbank vom Anfang dieses Beitrags wiederholen, um China einzubeziehen und so die Fortschritte der beiden Modelle zu vergleichen, d. h. China und die Erfolgsgeschichten der Weltbank (deren drei, wie zuvor ausgeführt).
Wir stellen fest, dass Chiles Aufholprozess zum Stillstand gekommen ist: Das Verhältnis des Pro-Kopf-Einkommens zu den USA ist von 29,9 % im Jahr 2000 auf jetzt 28,6 % gefallen. In Korea hat sich das Verhältnis im letzten Jahrzehnt (auf hohem Niveau) eingependelt. Polen hatte am Ende der Sowjetära das höchste ratio im Vergleich zu den USA, fiel dann drastisch ab, stieg aber nach dem EU-Beitritt wieder an.
Polens Pro-Kopf-Verhältnis zu den USA ist seit 2000 um über 74 % gestiegen.
Im Vergleich dazu ist das Pro-Kopf-Einkommen Chinas im Verhältnis zu den USA um unglaubliche 314 % gestiegen.
Betrachtet man den globalen Süden als Ganzes, so holt er den globalen Norden nicht ein. Mit Ausnahme von China ist eher eine zunehmende Divergenz als eine Konvergenz zu beobachten.
Darüber hinaus wird die Ungleichheit von Vermögen und Einkommen innerhalb der Länder mit mittlerem Einkommen nicht erwähnt, die insbesondere seit den 1980er Jahren zugenommen hat (siehe dazu die World Inequality Database).[6]
Der Weltbankbericht endete mit der Bemerkung des neoklassischen Ökonomen Robert Lucas, der die Entwicklungsstrategie, die zu dem spektakulären Wirtschaftswachstum in Korea führte, mit einem „Wunder“ verglich.
Der Bericht schloss: "In Anbetracht der Veränderungen in der Weltwirtschaft seit der Zeit, in der Korea eine Volkswirtschaft mit mittlerem Einkommen war, wäre es ein Wunder, wenn die heutigen Volkswirtschaften mit mittlerem Einkommen in 50 Jahren das schaffen würden, was Korea in nur 25 Jahren geschafft hat. Es wäre sogar ein Wunder, wenn sie die beeindruckenden Erfolge anderer erfolgreicher Länder wie Chile und Polen wiederholen könnten."
Es wäre wohl ein Wunder.
[1] Eine "Profitability Trap" oder Rentabilitätsfalle beschreibt eine Situation, in der Unternehmen oder Investoren aufgrund einer zu starken Fokussierung auf kurzfristige Rentabilitätskennzahlen in die Irre geführt werden können. Dies kann zu Fehleinschätzungen und suboptimalen Entscheidungen führen.
[2] https://www.academia.edu/66353020/The_Economics_of_Modern_ImperialismRicci:
https://thenextrecession.wordpress.com/wp-content/uploads/2021/09/wp_ricci_unequal_exchange_and_global_inequality-1-1.pdf;
Jason Hickel: https://www.nature.com/articles/s41467-024-49687-y?sfnsn=scwspmo
[3] https://www.plutobooks.com/9780745340883/capitalism-in-the-21st-century
[4] Das Verhältnis zwischen Kapital und Arbeit ist definiert als der gesamte Kapitalstock geteilt durch den gesamten Arbeitseinsatz, der in der Regel in Form von Arbeitsstunden oder der Zahl der Beschäftigten gemessen wird.
[5]https://www.academia.edu/66353020/The_Economics_of_Modern_Imperialism
[6] https://inequalitylab.world/en/