SIKO Gegenaktionen München

ISW München

Subscribe to flux ISW München
isw - sozial-ökologische Wirtschafsforschung e.V.
Mis à jour : il y a 4 heures 36 min

Rechtsentwicklung EU-Kommission: Die Brandmauer bricht

jeu, 21/11/2024 - 07:35

Einigung im Europaparlament: Der EU-Kommission gehören künftig zwei ultrarechte Kommissare an. Damit bricht Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen den cordon sanitaire gegenüber der extremen Rechten.

 

 

 Die EU-Kommission unter ihrer Präsidentin Ursula von der Leyen bricht den bisherigen cordon sanitaire gegenüber der extremen Rechten: Sie wird künftig zwei Kommissare aus dem ultrarechten Parteienspektrum umfassen. Dabei handelt es sich um Raffaele Fitto von den Fratelli d’Italia, der Partei von Italiens Ministerpräsidentin Giorgia Meloni, und um Olivér Várhelyi, der der Partei von Ungarns Ministerpräsident Viktor Orbán, dem Fidesz, nahesteht. Die Fratelli d’Italia gehören zur Rechtsaußenfraktion der Europäischen Konservativen und Reformer (EKR), der Fidesz zur Fraktion der Patrioten für Europa (PE), zu der auch der Rassemblement National (RN) von Marine Le Pen und die FPÖ zählen.
Die konservative Europäische Volkspartei (EVP) hat unter der Führung des CSU-Politikers Manfred Weber bereits in der vergangenen Legislaturperiode immer wieder mit der EKR kooperiert und behält sich dies explizit auch in Zukunft vor. Zuletzt hatte sie sogar mehrfach mit den PE, zuweilen gar mit der Fraktion Europa der Souveränen Nationen (ESR), der die AfD angehört, gemeinsam abgestimmt. Die tradierte Abgrenzung gegenüber der extremen Rechten („Brandmauer“) bröckelt damit weiter.

In kleinen Schritten

Die jahrzehntelang übliche Praxis, Parteien der äußersten Rechten von der Macht in der EU fernzuhalten und sie deshalb auch nicht zu Mehrheitsbeschaffern aufzuwerten, ist von der konservativen Fraktion im Europaparlament, der Europäischen Volkspartei (EVP), schon in der vergangenen Legislaturperiode systematisch ausgehöhlt worden. Bereits im Januar 2022 ermöglichte es die EVP, dass ein Abgeordneter der ultrarechten EKR-Fraktion (Europäische Konservative und Reformer) zu einem der Vizepräsidenten des Europaparlaments gewählt wurde.[1] Eine Untersuchung der Grünen-Fraktion ergab, dass sich die EU-Kommission unter Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen bei rund 340 Abstimmungen auf Abgeordnete der EKR oder sogar der noch weiter rechts angesiedelten Fraktion ID (Identität und Demokratie) gestützt hatte, um eine Mehrheit zu bekommen. Gewöhnlich sei es dabei darum gegangen, etwa den CO2-Preis für die Kfz-Industrie zu senken oder Subventionen für fossile Energien abzusegnen, heißt es in der Untersuchung – etwas, wofür von der Leyen die Grünen nicht als Mehrheitsbeschaffer gewinnen konnte.[2] Mit den Stimmen von EKR und ID gelang es der EVP im April 2024 auch, einen Antrag zu blocken, der Maßnahmen vorsah, um die Belästigung von Parlamentsmitarbeitern durch Abgeordnete zu verhindern.[3] Der Bruch des cordon sanitaire wurde demnach in kleinen Schritten sukzessive eingeübt.

Die „Venezuela-Mehrheit“

Größere Aufmerksamkeit erhielt im September eine der ersten Abstimmungen des Anfang Juni neu gewählten Europaparlaments. Die Resolution, die zur Debatte stand, sah vor, den in der venezolanischen Präsidentenwahl vom 28. Juli 2024 unterlegenen Kandidaten Edmundo González als angeblich tatsächlichen Wahlsieger anzuerkennen. Den Schritt hatten zuvor die Vereinigten Staaten vollzogen. Dass der Westen meint, darüber befinden zu dürfen, wer in Venezuela als Präsident amtiert, ist absurd und kaum anders denn als Fortbestand alter Kolonialherrenmentalität zu erklären; es ist aber nicht neu: Schon Anfang 2019 hatten einige westliche Staaten, darunter die USA und Deutschland, den venezolanischen Umstürzler Juan Guaidó freihändig – und erfolglos – zum Präsidenten des Landes erklärt (german-foreign-policy.com berichtete [4]). Die neue Resolution zugunsten von González wurde gemeinsam von der EVP und der EKR vorgelegt; in der EKR sind die Fratelli d’Italia (FdI) von Italiens Ministerpräsidentin Giorgia Meloni stärkste Kraft. Verabschiedet wurde die Resolution letztlich mit den Stimmen der PE (Patrioten für Europa), zu denen der Fidez von Ungarns Ministerpräsident Viktor Orbán, der Rassemblement National (RN) von Marine Le Pen und die FPÖ gehören, sowie mit Stimmen der ESR (Europa der Souveränen Nationen), zu der unter anderem die AfD zählt.[5]

Wechselnde Abstimmungsbündnisse

Die „Venezuela-Mehrheit“, wie die breite Abstimmungsmehrheit von konservativen und extrem rechten Parteien im Europaparlament seitdem genannt wird, ist inzwischen mehrmals zum Tragen gekommen. Dies war etwa im Oktober der Fall, als das Europaparlament über die Modalitäten bei der Präsentation der künftigen EU-Kommissare und bei der Abstimmung über sie entschied.[6] Ebenfalls im Oktober stimmte die EVP für einen Haushaltsantrag der AfD, der die Schaffung umfassender Abschottungsanlagen an den Außengrenzen der EU vorschlug.[7] Auch die Vergabe des diesjährigen Sacharow-Preises des Europaparlaments im Oktober an González und an die rechte venezolanische Oppositionspolitikerin María Corina Machado geschah mit den Stimmen von EVP, ECR und PE.[8]
EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen war im Juli noch auf der Basis eines Abstimmungsbündnisses von EVP, Liberalen, Sozialdemokraten und Grünen gewählt worden; es kam damals nicht zuletzt zustande, um der EKR keine wahlentscheidende Funktion einzuräumen. Allerdings zeigt der mehrmalige Rückgriff auf die „Venezuela-Mehrheit“ nun, dass diese der Kommission ganz ungeachtet der Ursprungsmehrheit der Kommissionspräsidentin jederzeit zur Verfügung steht.

Rechts des cordon sanitaire

Konflikte gab es nun um die Wahl der EU-Kommissare – und zwar, weil einige EU-Staaten Politiker nominiert hatten, deren Parteien rechts der EVP stehen und die, würde der tradierte cordon sanitaire noch gewahrt, nicht auf führende Positionen in Brüssel gehievt werden dürften. Das betraf vor allem Raffaele Fitto, der den Fratelli d’Italia angehört, der Partei von Ministerpräsidentin Giorgia Meloni. Von der Leyen will Fitto, einen der engsten Mitarbeiter von Meloni, zu einem der exekutiven Vizepräsidenten der EU-Kommission ernennen, mit spezieller Zuständigkeit für Kohäsion und Reformen. Ungarn wiederum hatte als seinen Kommissar in Brüssel Olivér Várhelyi benannt, den bisherigen Erweiterungskommissar, der künftig für Gesundheit zuständig sein soll. Várhelyi steht dem Fidesz von Ministerpräsident Orbán sehr nahe. Der Fidesz gehört der dieses Jahr neugegründeten PE-Fraktion an, zu der mit dem RN, der FPÖ und anderen auch Parteien zählen, die bisher klar jenseits des cordon sanitaire eingestuft wurden. Gegen Fitto und gegen Várhelyi regte sich in den Fraktionen der Sozialdemokraten und der Grünen, die ansonsten die von der Leyen-Kommission mittragen, heftiger Protest; bis vor kurzem hieß es, beide Fraktionen würden die Ernennung der zwei Politiker nicht mittragen.

Taktik und Strategie

In den vergangenen Tagen spitzte sich der Streit um die künftigen Kommissare zu. Dabei wurde massiv taktiert; so hieß es etwa, der EVP-Fraktionsvorsitzende Manfred Weber (CSU), der als maßgeblicher Drahtzieher bei der Öffnung seiner Fraktion für Abstimmungsbündnisse mit EKR und PE gilt, könne zwar theoretisch die beiden Rechtsaußenkommissare mit der „Venezuela-Mehrheit“ bestätigen lassen, werde das praktisch aber kaum tun: Stimmten CDU- bzw. CSU-Politiker im Europaparlament jetzt bei einer zentralen Entscheidung gemeinsam mit der AfD, dann gebe das kurz vor der vorgezogenen Bundestagswahl ein unwillkommenes Signal.[9]
Gleichzeitig hieß es – so äußerten sich etwa am Dienstag die früheren italienischen Ministerpräsidenten und Ex-EU-Spitzenfunktionäre Romano Prodi und Mario Monti –, in einer Zeit, in der die EU „gewaltigen Herausforderungen im Osten wie auch im Westen“ ausgesetzt sei – dem Konflikt mit Russland und den drohenden Differenzen mit der künftigen Trump-Administration –, müsse das Staatenkartell geschlossen agieren: ein Hinweis nicht zuletzt an die sozialdemokratische Fraktion im Europäischen Parlament, das Personaltableau von Kommissionspräsidentin von der Leyen nicht weiter zu blockieren.[10]

Primat der Außenpolitik

Am gestrigen Mittwoch haben die Fraktionsspitzen in Brüssel nun eine Einigung erreicht. Demnach dürfen Fitto und Várhelyi die Posten in der EU-Kommission übernehmen, die von der Leyen ihnen zugedacht hat; die sozialdemokratische Fraktion will dem zustimmen.
Im Gegenzug verspricht die EVP, nur mit Parteien zu kooperieren, die proukrainisch – also antirussisch – sind, die EU befürworten und für den Rechtsstaat eintreten.
Damit wird die einstige Abgrenzung gegenüber der extremen Rechten, der cordon sanitaire, durch vor allem außenpolitische Festlegungen ersetzt.
 
Laut Interpretation der EVP steht der Kooperation mit der EKR damit nichts mehr im Weg.[11] Ob die EVP in Zukunft wirklich darauf verzichten wird, auch mit den PE und der ESN-Fraktion zusammenzuarbeiten, wird sich zeigen. Die endgültige Abstimmung im Europaparlament über die neue EU-Kommission einschließlich der beiden ultrarechten Kommissare ist für den kommenden Mittwoch angekündigt.

 

Mehr zum Thema: Die Brandmauer rutscht (II).

[1] S. dazu Europa auf dem Weg nach rechts.

[2] S. dazu Europa auf dem Weg nach rechts (III).

[3] Eleonora Vasques: Right-wing bloc votes against bid to make anti-harassment training mandatory in Parliament. euractiv.com 25.04.2024.

[4] S. dazu Die Weltenherrscher (II) und Heute schon geputscht?

[5] Noemi Morucci: Prove di maggioranza a destra all’Eurocamera: passa la condanna a Maduro con i voti compatti di Ppe, Ecr e sovranisti. eunews.it 19.09.2024.

[6] Eddy Wax, Max Griera: Here’s the final schedule for commissioner hearings in November. politico.eu 10.10.2024.

[7] Eddy Wax, Max Griera, Jacopo Barigazzi: Far-right ‘Venezuela majority’ signals new power balance in European Parliament. politico.eu 28.10.2024.

[8] Csongor Körömi: Venezuela’s opposition wins top EU human rights award. politico.eu 24.10.2024.

[9] Thomas Gutschker: Wer sich bewegt, verliert. Frankfurter Allgemeine Zeitung 15.11.2024.

[10] Alessia Peretti: Former Italian PMs Prodi, Monti want veto on Fitto, Ribera to be lifted. euractiv.com 20.11.2024.

[11] Thomas Gutschker, Hans-Christian Rößler: Am weitesten mussten sich die Sozialdemokraten bewegen. Frankfurter Allgemeine Zeitung 21.11.2024.

 

EU-Parlament verschiebt Gesetz zum Schutz der Wälder und des Klimas

mar, 19/11/2024 - 08:21

Die Ernährungs- und Landwirtschaftsorganisation der Vereinten Nationen (FAO) schätzt, dass zwischen 1990 und 2020
420 Millionen Hektar Wald - eine Fläche größer als die EU -
durch Entwaldung verloren gegangen sind.

 

 

Wenn in Brasilien die Regenwälder brennen, ist die Empörung in Europa groß. Für Rinderweiden, den Anbau von Soja als Tierfutter, aber auch Palmöl, Holz, Kakao und Kaffee werden vor allem in Südamerika und Südostasien riesige Flächen Regenwald abgeholzt und zum Beispiel auch Graslandökosysteme und Savannenwälder im brasilianischen Cerrado in gigantische Ackerflächen umgewandelt. Doch tatsächlich trugen die Handelspolitik der EU und der Fleischhunger der Europäer:innen erheblich zur Waldzerstörung besonders in Brasilien, Indonesien, Paraguay und Argentinien, aber auch in anderen Ländern bei. Für den Konsum an landwirtschaftlichen Erzeugnissen in Europa werden anderswo auf der Welt Wälder zerstört oder geschädigt.

Die Ernährungs- und Landwirtschaftsorganisation der Vereinten Nationen (FAO) schätzt, dass zwischen 1990 und 2020 420 Millionen Hektar Wald - eine Fläche größer als die EU - durch Entwaldung verloren gegangen sind. Der EU-Verbrauch macht etwa 10 % der weltweiten Entwaldung aus. Palmöl und Soja sind für mehr als zwei Drittel davon verantwortlich.

Entwaldungsfreie Lieferketten sind daher ein wichtiger Baustein für den Schutz der Umwelt und des Klimas.

Am 19. April 2023 beschloss das EU-Parlament die Entwaldungsverordnung, die darauf abzielt, den Klimawandel und den Verlust der biologischen Vielfalt zu bekämpfen.

Nach dem Gesetz dürfen Produkte wie Kaffee, Holz, Soja, Kakao,Kautschuk, Palmöl und aus Rindern hergestellte Erzeugnisse künftig nur noch dann in der EU verkauft werden, wenn dafür nach 2020 keine Wälder gerodet wurden. Damit soll auch die Abholzung des Regenwaldes etwa im südamerikanischen Amazonasgebiet deutlich reduziert werden.

Unternehmen müssen künftig eine Sorgfaltserklärung abgeben, dass für ihr Produkt nach dem 31. Dezember 2020 kein Wald gerodet oder geschädigt wurde. Wer sich nicht an die Vorschriften hält, muss mit hohen Strafen von mindestens vier Prozent des Jahresumsatzes in der EU rechnen.

Die Regelungen gelten auch für Landwirte, Waldbesitzer und Händler in der EU, sobald sie die relevanten Rohstoffe und Erzeugnisse auf dem EU-Markt bereitstellen oder exportieren.

Die Verordnung ist am 30. Juni 2023 in Kraft getreten und sollte nach einer Übergangszeit von 18 Monaten ab dem 30. Dezember 2024 angewendet werden.
Für kleine Unternehmen sollte eine Übergangszeit von 24 Monaten gelten.


Grüne Minister: Anwendung der Verordnung verschieben

Doch EU-Mitgliedstaaten und betroffene Unternehmen wehren sich gegen die Verordnung und erklärten, dass sie nicht in der Lage wären, die Vorschriften der EU-Entwaldungsverordnung einzuhalten, wenn sie ab Ende 2024 gelten würden.

Daraufhin haben bereits im April 2024 auf Initiative von Bundeslandwirtschaftsminister Cem Özdemir (Grüne) zusammen mit Bundesumweltministerin Steffi Lemke (Grüne) mehrere EU-Mitgliedstaaten an die Europäische Kommission appelliert, den Anwendungsstart zu verschieben. Die Kommission stimmte Anfang Oktober zu und schlug eine Verschiebung um 12 Monate vor.[1]

EU-Parlament: Verschiebung um ein Jahr

Am Donnerstag, 14. November, hat auch das EU-Parlament die Verschiebung um ein Jahr mit 371 Stimmen gegen 240 Stimmen und 30 Enthaltungen gebilligt.

Das Parlament nahm auch andere Änderungen an, darunter die Schaffung einer neuen Kategorie von Ländern, die hinsichtlich der Entwaldung "kein Risiko" darstellen, zusätzlich zu den bestehenden drei Kategorien "geringes", "normales" und "hohes" Risiko. Für Länder, die als "kein Risiko" eingestuft werden, d. h. für Länder mit stabiler oder zunehmender Entwicklung der Waldfläche, gelten deutlich weniger strenge Anforderungen, da das Risiko der Entwaldung vernachlässigbar sei oder gar nicht bestehen würde.

Eingebracht wurde der Antrag von der Fraktion der Europäischen Volkspartei EVP - der auch CDU und CSU angehören.

Die neue Allianz zur Abschaffung des Green Deal

Weil im EU-Parlament die Grünen sowie die Sozialdemokraten die von einer CDU-Abgeordneten eingebrachten Anträge ablehnten, waren die europäischen Christdemokraten auf die Stimmen der ultrarechten, nationalistischen Abgeordneten angewiesen.
Ohne die Stimmen von mehreren AfD-Abgeordneten wäre keine ausreichende Mehrheit zustande gekommen

Damit hat eine Allianz von Christdemokraten und Ultrarechten eines der prominenteren Umweltgesetze ("Entwaldungsverordnung") der Sozialdemokraten und Grünen gekippt.

Im Jahr 2019 war der Kampf gegen die Klima- und Umweltkrise das Bindeglied zwischen den beiden großen Fraktionen, der Volkspartei und den Sozialdemokraten. Heute haben sich die Dinge geändert: Die Umwelt ist nach wie vor der Klebstoff, aber zwischen der EVP und den ultrarechten politischen Kräften (einschließlich der AfD), die sich zusammengeschlossen haben, um grüne Politik zu verzögern oder zu blockieren

Es lag in der Luft, aber wahrscheinlich hat niemand damit gerechnet, dass es so schnell gehen würde. Die Mehrheit aus christdemokratischer Volkspartei, Sozialdemokraten und Liberalen, die es vor einigen Monaten mit Hilfe der Grünen geschafft hatte, Ursula von der Leyen (CDU) für eine neue Amtszeit als Präsidentin der Europäischen Kommission ins Amt zu hieven, zeigt nun sichtbare Risse.

Die Tatsache, dass die Europäische Volkspartei, nachdem sie ursprünglich die Zustimmung zur Verordnung gegen die Abholzung unterstützt hatte, eine beispiellose Kehrtwende vollzieht und sich mit den Stimmen der Ultrarechten gegen Klima- und Umweltschutz stellt, ist ebenso ein Beweis dafür wie die Pattsituation bei der Anhörung der Kandidatinnen und Kandidaten für die EU-Kommission.

Patt bei der Anhörung der Kandidaten für die EU-Kommission

Die Sozialdemokraten bestehen auf einer gemeinsamen Abstimmung über die fünf Vizepräsidenten, die Ausdruck der "Mehrheitsparteien" sind, und eine separate Abstimmung über den sechsten, den "Außenseiter" Raffaele Fitto von den faschistischen Fratelli d'Italia, der zum Kommissar befördert würde, aber nicht Vizepräsident werden soll. Die französischen und die spanischen Sozialdemokraten drohen: Entweder gibt von der Leyen bei Fitto als Vizepräsident nach oder wir stimmen gegen die gesamte Kommission. Die Christdemokraten Volksparteien stellen als Gegenmaßnahme die spanische Sozialdemokratin Teresa Ribeira als Kommissarin für Green Deal in Frage. Im Moment ist alles eingefroren bis zum 27. November.

Tiefe Übereinstimmung zwischen den Positionen der EVP und denen der Ultrarechten

Die gemeinsame Abstimmung von Christdemokraten und Ultrarechten könne als Drohsignal an die Sozialdemokraten betrachtet werden, um sie in der Frage der Vizepräsidentschaft zu erweichen, meint der italienische Journalist und Kommentator, Andrea Colombo. Das sei zwar nicht ganz unbegründet, aber trotzdem irreführend.

"Es ist nicht so, dass die zweite Ursula-Mehrheit, die um die Grünen erweitert wurde, die im vergangenen Juli für von der Leyens Wiederwahl gestimmt haben, im Sterben liegt. Sie wurde nie geboren. Selbst wenn die Kommission die für den 27. November angesetzte Abstimmung im Europaparlament dank eines Taschenspielertricks bestehen sollte, wäre dies nur eine neue Täuschung. So wie auch das Bündnis vom Juli eine Täuschung war", so Andrea Colombo. Denn in Wirklichkeit gebe es beim Green Deal wie bei der Einwanderung eine echte und tiefe Übereinstimmung zwischen den Positionen der EVP und denen der Rechten, einschließlich ihrer ultrarechten Flügel, Orbáns Patrioten und sogar der AfD-Souveränisten. [2]

Sollte sich diese neue politische Konstellation konsolidieren, wird es nicht nur eine gemeinsame Zerschmetterung von Green-Deal-Projekten geben, sondern angesichts weitgehend identischer Standpunkte wird sie sich auf weitere Bereiche ausdehnen: Rüstungs-, Innen-, Sozial-, Migrations-, Konzern-, Finanz-, Steuer-, Haushalts- und alle Teile der Außenpolitik.

Ein Probelauf fand bereits am 20. September statt, als die Christdemokraten mit den Ultrarechten und Faschisten der Fraktion der Partei Europäische Konservative und Reformer (EKR) unter Vorsitz von Giorgia Meloni und den Patrioten für Europa (PfE mit FPÖ, Lega, Partij voor de Vrijheid, Rassemblement National, Vlaams Belang, Vox, ..) einen gemeinsamen Antrag einbrachten, mit dem der venezolanische Oppositionelle Edmundo Gonzalez Urrutia als Sieger der Wahl in Venezuela im Juli anerkannt wird.

"Anstatt einen Kompromiss mit uns zu suchen, arbeiten die Konservativen mit Rechtsaußen zusammen und ziehen somit eine ultrarechte Mehrheit durch."
Moritz Körner (FDP), Mitglied des Europäischen Parlaments über die gemeinsame Resolution von EVP, EKR und PfE zu Venezuela

"Größere inhaltliche Differenzen können wir zwischen CDU und AfD, EVP und den noch rechteren politischen Gruppierungen im EU-Parlament längst nicht mehr erkennen", sagt der EU-Abgeordnete Martin Sonneborn (Die Partei).

Die Grünen-Abgeordnete Jutta Paulus sieht in dem Vorgehen ein Einreißen der sogenannten Brandmauer. Das Mitte-rechts-Bündnis EVP "baut aus den Trümmern Brücken zur Rechten", so Paulus.

In Straßburg bilden die Christdemokraten bereits eine Schattenmehrheit mit den Ultrarechten und warten darauf, in den einzelnen Staaten in Regierungskoalitionen zu wechseln - mit Italien, wo sie dies bereits tun, als leuchtendes Vorbild. Die Sozialdemokraten wollen genau das Gegenteil erreichen: eine Barriere errichten, hinter der sie versuchen können, die letzte Verteidigung angesichts einer Offensive zu organisieren, die sie immer weiter zurückdrängt.

 

Anmerkungen:

[1] https://eur-lex.europa.eu/legal-content/DE/TXT/?uri=CELEX%3A52024PC0452R%2801%29&qid=1731321503796

[2] il manifesto, 15.11.2024: Commissione Ue, comunque sia sarà un insuccesso
https://ilmanifesto.it/commissione-ue-comunque-sia-sara-un-insuccessone

 

https://www.isw-muenchen.de/broschueren/reports/219-report-138-139

 

 

Schwache Konjunktur – Gehaltssteigerungen deutscher Top-Manager höher als 2,0 % Lohnerhöhung bei Metall

lun, 18/11/2024 - 18:09

Die Konjunktur der deutschen Wirtschaft befindet sich weiterhin in einer Abwärtsbewegung.
 

 



Nach den Konjunkturprognosen von Bundesregierung und Konjunktur-Forschungs-Instituten wie dem ifo-Institut und dem iw-Köln ist für 2024 von einem Bruttoinlandsprodukt (BIP) preisbereinigt zwischen 0,2 Prozent und 0,0 %, also „Null-Wachstum“, auszugehen.[1]
Basierend auf den veröffentlichten Informationen aus den Konjunkturprognosen werden   für den aktuellen Rückgang der deutschen Wirtschaft  strukturelle Faktoren wie die angestrebte  Digitalisierung,  ein demographischer Wandel und eine erklärte Zielsetzung der  Dekarbonisierung  als Begründung dafür angegeben.

„Die deutsche Wirtschaft steckt in der Krise fest. Dabei belasten sowohl konjunkturelle als auch strukturelle Faktoren. Nach einem Rückgang um 0,3% im vergangenen Jahr wird das preisbereinigte Bruttoinlandsprodukt in diesem Jahr wohl nur stagnieren.“[2]

Auffällig ist bei der Angabe der Gründe, dass sich die deutsche Industrie im Hinblick auf die o.g. verbalen ehrgeizigen Klimaziele nicht gerade mit „Meriten“ behängen kann. So haben sich etwa 2 von drei der größten börsennotierten Unternehmen zur Reduzierung ihrer direkten und indirekten CO2-Emissionen verpflichtet. Doch über die Hälfte dieser Gruppe der Unternehmen hängt ihren selbst gesteckten Zielen hinterher.[3]

Im gleichen Atemzug werden die gestiegenen Energiekosten für die energieintensive Industrie, die in Deutschland einen großen Anteil hat, als eine große Beeinträchtigung der unternehmerischen Wirtschaftsleistung.
Hinzu kommt offenbar eine Nachfrageschwäche in nahezu allen Wirtschaftsbereichen, was zu einer unternehmerischen schwachen Investitionstätigkeit, zu Umsatz-Rückgängen und letztlich zu Geschäftsschließungen, Produktionsstilllegungen und -verlagerungen führt.

Die Konjunkturprognosen gehen zudem von einer anhaltenden Exportschwäche des deutschen Außenhandels aus, als Folge einer schwachen globalen Industriekonjunktur und rückläufiger Teilhabe an der verhaltenen Belebung des Welthandels.

Es bleibt abzuwarten, in welchem Maße sich die noch realisierbaren Wirtschaftsbelebungs-Programme der sich auflösenden Ampel-Regierung einen Effekt für die Konjunktur durch staatliche Interventionen im kommenden Jahr konjunkturbelebend niederschlagen werden.

Reallohn-Entwicklung

In den gegenwärtigen Konjunktur-Prognosen spielen auch die Reallöhne insbesondere im Hinblick auf den privaten Konsum und die gesamtwirtschaftliche Nachfrage eine wichtige Rolle.
In diesem Jahr laufen Tarifverträge für knapp zwölf Millionen Beschäftigte in wichtigen Branchen aus. Durch die starke Inflation in den vergangenen Jahren sind die realen Tariflöhne in Deutschland im Schnitt mittlerweile auf das Niveau von 2016 zurückgefallen, wie das Wirtschafts- und Sozialwissenschaftliche Institut (WSI) der Hans-Böckler-Stiftung jüngst mitteilt.[4]  
Die Inflationsrate wird nach den vorliegenden Prognosen weiter sinken, von durchschnittlich 5,9% im vergangenen Jahr auf 2,2% in 2024.
Die Reallohnentwicklung (Nominallohn minus Inflation) dürfte dennoch weit hinter den Vorhersagen von Gesamt 4,7% zurückbleiben. [5]

Steigende Reallöhne erhöhen die Kaufkraft der Lohn-Beschäftigten, eine grundlegende Voraussetzung für gesellschaftlichen Wohlstand der werteschaffenden Produktivkräfte.  Lohnerhöhungen sind zur konjunkturellen Belebung für die Kompensation von Kaufkraftverlusten in den zurückliegenden Jahren unumgänglich.  Dem folgenden Schaubild ist der angegebene Nachholbedarf durch die entstandenen Lücken an Lohnerhöhung der Vorjahre zu entnehmen.

Quelle: Destatis

Die aktuellen Tarifabschlüsse für Metall umfassen für das kommende Jahr eine Gehaltserhöhung von 2,0% und für das darauffolgende Jahr nochmals 3,1, %. Sie sind eine Kompromissformel, die wie zumeist   von allen Seiten beschworen, der „schwierigen wirtschaftlichen Lage“ geschuldet ist. [6]
Von den noch im Herbst vergangenen Jahres dargestellten Prognosen einer Gehaltserhöhung von durchschnittlich 4,7% (siehe weiter oben) ist das Verhandlungsergebnis als ein Ausgleich für versäumte angemessene Lohnerhöhungen weit entfernt. Dadurch kommt das derzeit ungleiche Kräfteverhältnis  beim Ankämpfen gegen den  grundlegenden Konflikt innerhalb des Kapitalismus, des privaten Eigentums an Produktionsmitteln, vollends zum Ausdruck.

Gehaltsentwicklung Top-Manager - mehr als 2,0%

Dafür umso erfreulicher die Nachricht, wer immer es hören mag,  dass  Gehälter der Vorstände von Deutschlands großen Börsenunternehmen  trotz der beschriebenen  Konjunkturflaute auf ein Allzeithoch angestiegen sind.
So erhielten im Geschäftsjahr 2023 Vorstandsmitglieder der börsennotierten Konzerne im Durchschnitt elf Prozent mehr und erreichen eine Vergütung von 2,65 Mio. €
Zu den Einkünften hinzuzurechnen sind die Boni-Zahlungen, Die Angaben stammen aus der „Mixed Compensation Barometer“, eine Studie der Wirtschaftsprüfungsgesellschaft und Großkapital-Berater EY.[7]
Die Vergütungen von Vorstandschefs sind laut EY besonders kräftig um 16 Prozent auf im Durchschnitt gut 3,7 Millionen Euro gestiegen.  Das durchschnittliche Gehalt eines DAX-Vorstandsvorsitzenden wird mit 5,7 Mio. € angegeben.

Als Hauptgrund werden dafür die hohen erzielten Gewinne der Unternehmen trotz der stagnierenden Gesamtentwicklung angegeben.

„Allerdings haben sich die DAX-Konzerne sehr heterogen entwickelt:
Einige Unternehmen hatten mit starkem Gegenwind zu kämpfen, andere haben hingegen hervorragende Ergebnisse abgeliefert – was sich dann auch in der Gehaltsentwicklung der Top-Manager widerspiegelt. Zudem muss eine schwache Entwicklung bei Umsatz, Gewinn- oder Aktienkurs nicht zwangsläufig zu Gehaltsrückgängen in der Vorstandsetage führen. Denn bei Unternehmen, die sich in einer Transformationsphase befinden, lassen sich temporäre Einbußen nicht vermeiden. Wenn ein Management in einer solchen Zeit bessere Ergebnisse als prognostiziert abliefert, kann dies auch zu einem Gehaltsplus führen.“[8]

Am 4. November hatte die Hans-Böckler-Stiftung dargelegt, dass es in der Bundesrepublik in den späten 90er und den frühen 2000er Jahren einen auch im internationalen Vergleich deutlichen Zuwachs der Einkommensungleichheit gegeben hatte. Nach einer Stagnationsphase setzte sich demnach die Umverteilung von unten nach oben seit 2010 wieder fort, die Armutsquote sei »spürbar« angestiegen auf 17,8 Prozent im Jahr 2021, d. h. vor der rasanten Inflation.[9]

Zuzustimmen ist der Aussage, dass das leitende Personal der großen Konzerne mit dazu beigetragen hat, die Einkommensungleichheit und die Zunahme von Armut zu vergrößern.  

 

 

 

 

 


[1] https://www.bundesregierung.de/breg-de/aktuelles/herbstprojektion-2024-2261242

https://www.ifo.de/fakten/2024-09-05/ifo-konjunkturprognose-herbst-2024-deutsche-wirtschaft-steckt-in-krise-fest

https://www.iwkoeln.de/studien/michael-groemling-iw-konjunkturprognose-herbst-2024.html

[2] https://www.ifo.de/fakten/2024-09-05/ifo-konjunkturprognose-herbst-2024-deutsche-wirtschaft-steckt-in-krise-fest

[3] https://www.telepolis.de/features/Dekarbonisierung-der-Industrie-in-Deutschland-kommt-kaum-voran-10024037.html

[4] https://www.boeckler.de/de/pressemitteilungen-2675-reale-tarifloehne-auf-dem-niveau-von-2016-trotz-kaufkraftsicherung-2023-57220.htm

[5] ifo Schnelldienst, 12/2023

[6] https://www.igmetall.de/tarif/tarifrunden/metall-und-elektro/tarifrunde-metall-und-elektro-2024

[7] https://www.ey.com/de_de/newsroom/2024/11/ey-mixed-compensation-barometer-2024

[8] Ebd:

[9] https://www.jungewelt.de/artikel/487794.rekordgeh%C3%A4lter-deutscher-manager-miese-leistung-lohnt-sich.html?sstr=GEh%C3%A4lter

 

Auf ultrarechtem Kurs

ven, 15/11/2024 - 07:58

Die künftige US-Regierung schwenkt mit mehreren designierten Ministern auf einen ultrarechten, hart antichinesischen Kurs ein – in einer Zeit, in der Deutschland in wachsende Abhängigkeit von den USA geraten ist.



Die künftige Regierung der USA, des wichtigsten NATO-Verbündeten der Bundesrepublik, wird neben hart anti-chinesischen auch ultrarechte Minister umfassen. Marco Rubio, designierter Außenminister, behauptet, die Volksrepublik werde „alle Institutionen und alle Normen der Welt unterminieren“, um ihren machtpolitischen Ehrgeiz zu stillen. Pete Hegseth, designierter Verteidigungsminister, prahlt mit Tattoos, die Kreuzritterparolen wiedergeben und die in der äußersten Rechten verbreitet sind. Unter ihm könnte ein Gremium eingesetzt werden, das Säuberungen unter hochrangigen Offizieren vornimmt. Etwaige Widerstände im US-Senat gegen die Ernennung von Hegseth will Trump aushebeln und ihn, wie andere umstrittene Kandidaten auch, ohne die formal nötige Zustimmung ins Amt bringen. Während Washington hart nach rechts schwenkt, hat die Abhängigkeit der Bundesrepublik von den USA in den vergangenen Jahren zugenommen – insbesondere aufgrund der Politik Berlins im Ukraine-Krieg. Selbst wenn sie wollte, wäre die Bundesregierung kaum in der Lage, sich künftigem Druck aus den Vereinigten Staaten zu widersetzen, zumal Deutschland ökonomisch sowie politisch in einer schweren Krise steckt.

Hart anti-chinesisch

Marco Rubio, der seit 2011 dem Senat angehört, gilt dort seit je als einer der maßgeblichen Scharfmacher gegen die Volksrepublik China. So trieb er beispielsweise die Verabschiedung von US-Gesetzen voran, die unter dem Vorwand, Maßnahmen der chinesischen Behörden in Hongkong oder Xinjiang bestrafen zu wollen, bereits während der ersten Amtszeit von US-Präsident Donald Trump Sanktionen gegen chinesische Politiker und Unternehmen einführten. Rubio war einer der ersten Aktivisten der Inter-Parliamentary Alliance on China (IPAC), eines globalen Netzwerks von Parlamentsabgeordneten aus zur Zeit ungefähr 40 Parlamenten, das antichinesische Gesetzesvorhaben auf sämtlichen Kontinenten koordiniert (german-foreign-policy.com berichtete [1]). Der designierte US-Außenminister unterstellt Beijing unter anderem, „alle Institutionen und alle Normen der Welt unterminieren“ zu wollen, um seinen machtpolitischen Ehrgeiz zu stillen.[2] Rubio werde stärker als alle seine Amtsvorgänger gewillt sein, „chinabezogene Angelegenheiten anzugehen“, sagt etwa der Präsident der Jamestown Foundation, Peter Mattis, voraus.[3] Wegen seiner aggressiv gegen die Volksrepublik gerichteten Politik hat Beijing im Jahr 2020 Sanktionen gegen ihn verhängt, darunter ein Einreiseverbot.[4]

Kreuzritter-Parolen

Pete Hegseth, designierter US-Verteidigungsminister, ist ein Quereinsteiger, der bislang über keinerlei politische Erfahrung verfügt. Als Angehöriger der Minnesota National Guard war er in Afghanistan und im Irak im Einsatz; zudem betätigte er sich als Wachmann im US-Lager Guantanamo Bay, das als Symbol für gravierende Menschenrechtsverletzungen wie etwa Folter gilt.[5] Nach Abschluss seiner Militärkarriere arbeitete Hegseth als Moderator bei dem Rechtsaußensender Fox News. In einer Buchpublikation („Der Krieg gegen die Krieger“) hat er sich dafür ausgesprochen, in den Streitkräften „politisch korrekten Nonsens und soziale Gerechtigkeit“ zu beenden; zum Beispiel will er Frauen aus Kampfeinheiten ausschließen.[6] Unter seiner Führung im Ministerium könnte, so wird es in Trumps unmittelbarem Umfeld diskutiert, ein Gremium eingesetzt werden, das Säuberungen unter ranghohen Offizieren vornimmt.[7] Hegseth selbst prahlt mit Tattoos, die nicht nur Waffen, sondern auch Symbole und Parolen („Deus Vult“) der Kreuzritter wiedergeben. Der „Kreuzritter-Schlachtruf“ „Deus Vult“ werde, so heißt es, „von teils rechtsextremen Trump-Unterstützern genutzt“. Hegseth behauptet dazu: „Israel, das Christentum und mein Glaube sind Dinge, die mir sehr am Herzen liegen.“[8]

Ohne jede Kontrolle

Rubio kann voraussichtlich mit einer umstandslosen Bestätigung durch den Senat rechnen, die in den Vereinigten Staaten erforderlich ist. Im Senat haben die Republikaner seit der Wahl mit 53 von 100 Senatoren eine klare Mehrheit. Gegen Hegseths Bestätigung allerdings gibt es Berichten zufolge sogar unter republikanischen Senatoren Widerspruch. Um ihn auszuhebeln, verlangt Trump, der Mehrheitsführer im Senat müsse bereit sein, ein Vorgehen zuzulassen, bei dem der Präsident während einer Sitzungspause des Senats Personalien ohne dessen Zustimmung durchwinken kann. John Thune, Senator aus South Dakota, der inzwischen zum Mehrheitsführer gewählt worden ist, hat Trump vorab zugesagt, diese Forderung zu erfüllen. Damit können sogar Ministerposten für bis zu zwei Jahre ohne die eigentlich erforderliche Zustimmung der Parlamentskammer ernannt werden.[9] Es entfällt also faktisch jede Kontrollmöglichkeit.

Abhängig von den USA

Der rabiate Rechtskurs und die antichinesische Zuspitzung der US-Politik vollziehen sich in einer Zeit, in der sich die Abhängigkeit der Bundesrepublik von den Vereinigten Staaten stark ausgeweitet hat. Der Ukraine-Krieg hat die Bedeutung der NATO, in der die USA klar den Ton angeben, für Deutschland und Europa erheblich erhöht. Das Bestreben, möglichst schnell aufzurüsten, führt dazu, dass Berlin wieder mehr US-Rüstungsgüter kauft; ein Beispiel ist die Beschaffung von US-Kampfjets des Modells F-35, die beschlossen wurde, weil das deutsch-französische Luftkampfsystem FCAS (Future Combat Air System) frühestens in 20 Jahren einsatzbereit ist.[10] Der Versuch, gänzlich aus dem Bezug russischen Erdgases auszusteigen, hat die Abhängigkeit von US-Flüssiggas (Liquefied Natural Gas, LNG) spürbar intensiviert; der Anteil der US-Lieferungen an der LNG-Einfuhr der EU und Großbritanniens zusammen näherte sich im vergangenen Jahr laut Statistiken der US-amerikanischen Energy Information Administration (eia) 50 Prozent.[11] EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen hat bereits angeboten, den Anteil von US-LNG – und damit auch die Abhängigkeit der EU von der Trump-Administration – weiter zu erhöhen.[12] Indem Berlin und Brüssel nun auch noch den Konflikt mit China eskalieren, bringen sie sich in eine noch stärkere Abhängigkeit von den Vereinigten Staaten.

In einer Phase der Schwäche

Zur vergleichsweise leichten Beute für Washington werden Deutschland und die EU dabei auch, weil sie zur Zeit in einer Phase eklatanter Schwäche stecken. Die deutsche Wirtschaft, die 2023 um 0,3 Prozent schrumpfte, wird 2024 laut Prognose des Sachverständigenrats zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung erneut zurückgehen – wohl um 0,1 Prozent.[13] Seine Vorhersage für das nächste Jahr hat der Sachverständigenrat soeben von einem Plus von 0,9 Prozent auf ein Plus von 0,4 Prozent gesenkt. Die EU wiederum, die 2023 ein Wachstum von gerade einmal 0,4 Prozent erreichte, steigerte ihre Wirtschaftsleistung im ersten und im zweiten Quartal 2024 jeweils um magere 0,3 Prozent. Im Innern ist sie zerstrittener denn je; das drückt sich gegenwärtig unter anderem darin aus, dass es der EU-Kommissionspräsidentin offenbar nicht gelingt, die neue Kommission wie geplant Anfang Dezember ins Amt zu bringen.[14] Deutschland wiederum, die Zentralmacht der EU, steckt seinerseits in einer schweren politischem Krise; die Regierungskoalition ist zerbrochen, jetzt stehen Neuwahlen bevor. Zusätzlich muss die Bundesrepublik damit rechnen, wegen neuer Strafzölle der Trump-Administration gravierende Schäden zu erleiden – german-foreign-policy.com berichtete [15]. Die Chancen, erfolgreich Widerstand zu leisten, wären – selbst wenn die Bundesregierung dazu bereit wäre – aufgrund der steigenden Abhängigkeit gering.

 

[1] S. dazu  Der grüne Kalte Krieg

und Drahtzieher gegen China

[2], [3] Micah McCartney: Marco Rubio: Five Times He Spoke Out on China. newsweek.com 12.11.2024.

[4] China sanctions 11 US politicians, heads of organizations. apnews.com 10.08.2020.

[5] Julian Borger: Pentagon stunned after Trump picks Pete Hegseth for defence secretary. theguardian.com 13.11.2024.

[6] Sofia Dreisbach: Ohne politische Erfahrung. Frankfurter Allgemeine Zeitung 14.11.2024.

[7] Vivian Salama, Nancy A. Youssef, Lara Seligman: Trump Draft Executive Order Would Create Board to Purge Generals

[8] René Garzke: Waffen, Krieg, Kreuzritter: Die Protz-Tattoos von Trumps Armee-Chef. bild.de 14.11.2024.

[9] Sofia Dreisbach: Aggressiv vorwärts. Frankfurter Allgemeine Zeitung 12.11.2024.

[10] S. dazu Streit um das Luftkampfsystem

[11] The United States remained the largest liquefied natural gas supplier to Europe in 2023. eia.gov 29.02.2024.

[12] Jamie Smyth, Myles McCormick, Shotaro Tani: LNG exports could provide crucial bargaining chip in US-EU trade talks. ft.com 12.11.2024.

[13] Wirtschaftsweise halbieren Wachstumsprognose. tagesschau.de 13.11.2024.

[14] Josef Kelnberger: Ursula von der Leyen im Wartestand. sueddeutsche.de 14.11.2024.

[15] S. dazu Die transatlantische Rivalitaet

 

"100 Unternehmen sind für 71 Prozent der Emissionen seit 1988 verantwortlich"

mer, 13/11/2024 - 12:03

"Wenn wir die ökologische Krise verstehen wollen, müssen wir die Arbeitswelt verstehen."







Die zitierte Ausgangsthese ist, passend zur Weltklimakonferenz COP29, den Ausführungen von Simon Schaupp aus "Stoffwechselpolitik. Arbeit, Natur und Zukunft des Planeten" entnommen. *)

Am 11. November d. J.  begann die UN-Weltklimakonferenz in Baku (Aserbaidschan) und die über 30.000 Teilnehmenden sehen sich zum Start mit einer Reihe von Hiobsbotschaften konfrontiert: Das aktuelle Jahr wird dem EU-Klimawandeldienst Copernicus zufolge so gut wie sicher das erste Jahr seit Aufzeichnungsbeginn werden, in dem es im Durchschnitt mehr als 1,5 Grad wärmer als im vorindustriellen Mittel war. Auf der Weltklimakonferenz 2015 in Paris hatten die Staaten weltweit vereinbart, die Erderwärmung auf unter 2 Grad zu begrenzen, möglichst aber auf 1,5 Grad.

Der jährliche Klimagipfel der Vereinten Nationen hat in Aserbaidschan begonnen. Zentrales Thema wird die Finanzierung der Kosten für Klimaschutz sein, aber auch für Schäden durch Extremwetter im Globalen Süden, nachdem ein Jahr voller Wetterkatastrophen die Entwicklungsländer in ihren Forderungen nach mehr Mitteln bestärkt hat. Ein von den Vereinten Nationen unterstützter Bericht besagt, dass Schwellenländer, mit Ausnahme von China, bis 2030 Investitionen von weit über 2 Billionen US-Dollar pro Jahr benötigen, wenn die Welt die globale Erwärmung stoppen will.

In seiner Eröffnungsrede sagte der UN-Klimachef Simon Stiell, dass die Staats- und Regierungschefs der Welt zeigen müssen, dass die globale Zusammenarbeit "nicht am Ende ist".

"Hier in Baku müssen wir uns auf ein neues globales Klimafinanzierungsziel einigen. Wenn mindestens zwei Drittel der Nationen der Welt es sich nicht leisten können, ihre Emissionen schnell zu senken, dann zahlt jede Nation einen hohen Preis", warnte er.
Stiell forderte außerdem ein "ehrgeiziges" neues Ziel für die Bereitstellung von Klimafinanzierung für die ärmeren Nationen der Welt und sagte: "Wir sollten uns von der Vorstellung verabschieden, dass Klimafinanzierung Wohltätigkeit ist."

Doch wichtige Spitzenpolitiker:innen aus Europa, den USA und der Welt nehmen diesmal gar nicht teil.

Neben Bundeskanzler Olaf Scholz, Präsident Macron und der EU-Kommissionspräsidentin von der Leyen, fehlen auch andere wichtige Vertreter:innen. Joe Biden reist nach dem Wahlsieg Trumps nicht zur Klimakonferenz. Ursula von der Leyen nimmt wegen der Übergangsphase der EU-Kommission und ihrer Vorbereitung auf die zweite Amtszeit nicht teil. Emmanuel Macron bleibt dem Gipfel aufgrund der angespannten Beziehungen zu Aserbaidschan fern, das den Gipfel ausrichtet. Die Beziehungen zwischen Frankreich und Aserbaidschan sind angespannt, seit Paris im vergangenen Jahr die militärischen Angriffe Aserbaidschans gegen armenische Separatisten in der abtrünnigen Region Karabach verurteilte. Beim kanadischen Premierminister Justin Trudeau wurden keine offiziellen Gründe für seine Abwesenheit bekanntgegeben.

Neben Spitzenpolitiker:innen aus Europa und den USA, fehlen u.a. Narendra Modi, Premierminister in Indien sowie Brasiliens Präsident da Silva. Im vergangenen Jahr bei der Weltklimakonferenz in Dubai hatten sie alle noch teilgenommen.

Keine gute Ausgangslage für die wichtige Konferenz, obwohl zentrale Beschlüsse gefasst werden müssten.

Ursache ist nach Angaben der Weltmeteorologieorganisation (WMO), dass die Konzentration klimaschädlicher Treibhausgase in der Erdatmosphäre einen neuen Rekordstand erreicht hat.
Allein in den vergangenen zwei Jahrzehnten nahm die CO₂-Konzentration um mehr als zehn Prozent zu. Die fortschreitende Erderwärmung geht laut WMO zu 64 Prozent auf den Ausstoß von Kohlendioxid zurück; aber auch Methan und Stickstoffoxid sind bedeutende Treibhausgase. [1]

Die Folgen sind immer mehr spürbar: Taifune und Hurricane wie jetzt um die Philippinen und um Kuba/USA herum bilden sich in immer kürzeren Zeitspannen in den subtropischen Meeren. Und auch die Menschen in Spanien mussten vor wenigen Wochen hautnah am eigenen Leib erleben, was Klimawandel bedeutet: Sturmtief "Boris" verursachte die stärksten Niederschläge, die jemals in Mitteleuropa gemessen wurden; es folgten die durch anhaltende Regenfälle verursachten Überschwemmungen in der Gegend von Málaga bis Valencia mit etwa 250 Toten.

Um 43 Prozent müssten die Treibhausgasemissionen bis 2030 zurückgehen, wenn die globale Erwärmung auf ein gerade noch vertretbares Maß beschränkt werden soll, hat der IPCC, der Weltklimarat, vorgerechnet. Doch die von den Regierungen versprochenen Maßnahmen werden bis 2030 bestenfalls zu einer Reduktion um 2,6 Prozent führen, so die ernüchternde UN-Analyse.

Viele Konferenzen und Publikationen – wenig greifbare Erfolge

Dabei mangelt es nicht an internationalen Klima- und Naturschutzkonferenzen: Vor der 29. UN- Weltklimakonferenz in Baku, fand Anfang November in Cali (Kolumbien) die Weltnaturkonferenz mit rund 23.000 Teilnehmer:innen (und wenigen greifbaren Ergebnissen) statt. Ende November wird in Busan (Südkorea) über ein globales Plastikabkommen konferiert und Anfang Dezember wird Saudi-Arabien Gastgeber der UN-Wüstenkonferenz sein.



 

zum Thema



COP28 und Klima hin oder her: USA, China, Brasilien, Arabien, … bohren weiter nach Öl, ohne Ende

 

 

 

COP28 von Gas- und Öl-Lobby gekapert. 2023 wird das wärmste Jahr seit Beginn der Aufzeichnungen

 

 

COP26: "Das Ergebnis des Gipfels ist erbärmlich." Können wir den Klimawandel noch aufhalten?

 

Es wir also viel verhandelt und konferiert, um den Klimawandel, den Rückgang der biologischen Vielfalt und die Umweltverschmutzung einzudämmen. Daneben gibt es eine unübersehbare Fülle an Veröffentlichungen und Büchern, die faktenbasiert Ursachen und Auswege aus der Klimakatastrophe aufzeigen.

Insgesamt verfestigt sich der Eindruck, dass sich die Debatten um das Thema Klimawandel in einer Sackgasse befinden – trotz jahrelanger "Fridays-For-Future"-Aktivitäten und Aktionen der "Letzten Generation".
Das belegen z. B. auch Zahlen der aktuellen Shell-Jugendstudie. Danach ist die Sorge vor Umweltverschmutzung im Vergleich zu 2019 von 71 Prozent auf 64 Prozent zurückgegangen und rangiert hinter Ängsten vor einem Krieg in Europa (81 Prozent) und Angst vor Armut (67 Prozent).[2]

 

Redaktionelle Anmerkung zu einer folgenden Buchbesprechung:
Simon Schaupp.  Stoffwechselpolitik.  Arbeit, Natur und Zukunft des Planeten

Üblicherweise nimmt die isw-Redaktion keine Buchbesprechungen vor.
In Anbetracht des sich abzeichnenden Klimawandels und der Dringlichkeit des internationalen Handelns halten wir es für angebracht, die Ausführungen von Günther Stamer zu dem Werk zu veröffentlichen.


Trotz der ernüchternden Vorbemerkung  ist ein Buch empfehlen, dessen Autor die Hoffnung noch nicht aufgegeben hat, dass der Planet Erde eine Zukunft hat.

Der Untertitel unter dem etwas sperrigen Headliner "Stoffwechselpolitik" lautet "Arbeit, Natur und Zukunft des Planeten." Dass dabei "Arbeit" als erster Begriff genannt wird, ist durchaus programmatisch. Zwar haben schon zahllose Autor:innen festgestellt, dass in dem kapitalistischen Wachstumsimperativ und der damit einhergehenden immer umfassenderen Ausbeutung der Natur, die strukturelle Ursache der ökologischen Krise liegt. Der Fokus war in den meisten Fällen dabei auf den Konsumtionsbereich gerichtet; Stichwort: "Imperiale Lebensweise".

Der Soziologe Simon Schaupp möchte mit seinem Buch in gewisser Weise einen Perspektivwechsel initiieren. Schaupp, der "Oberassistent" am Lehrstuhl für Sozialstrukturanalyse an der Universität Basel ist, hat sich bisher vor allem kritisch mit Arbeitsverhältnissen beschäftigt. Dem bleibt er auch in seinem aktuellen Buch treu. Mit Karl Marx, für den Arbeit der "gesellschaftliche Stoffwechsel mit der Natur" war, setzt Schaupp Arbeit und Natur ins Verhältnis miteinander und nimmt so eine wichtige Verschiebung in der Betrachtung der ökologischen Krise vor.

So rutscht bei ihm der Konsum, der sonst meist vorrangig die Klima-Debatte dominiert, weitgehend aus dem Blick. Wie wichtig diese Verschiebung seiner Meinung nach ist, zeigt er gleich zu Beginn des Buchs: Der Großteil des Treibhausgas Ausstoßes stammt nämlich von Unternehmen, nicht Privathaushalten: "100 Unternehmen sind für 71 Prozent der Emissionen seit 1988 verantwortlich." Da liegt also das Problem.

"Wer die ökologische Krise verstehen will, muss die Arbeitswelt verstehen"

"Wenn Arbeit der Ort des gesellschaftlichen Stoffwechsels mit der Natur ist, dann bedeutet eine sozialökologische Transformation notwendigerweise eine Transformation der Arbeitswelt."

Die Ausgangsthese seines Buches lautet: Wenn wir die ökologische Krise verstehen wollen, müssen wir die Arbeitswelt verstehen. Soll die Erderwärmung zumindest verlangsamt werden, setzt dies für Schaupp eine Transformation der Arbeitswelt voraus. "Wenn Arbeit der Ort des gesellschaftlichen Stoffwechsels mit der Natur ist, dann bedeutet eine sozialökologische Transformation notwendigerweise eine Transformation der Arbeitswelt."

Der Autor arbeitet an historischen Beispielen der kapitalistischen Produktion die Wechselwirkung von Natur- und Arbeitsverhältnissen theoretisch ambitioniert (mit Marx) und empirisch reichhaltig unterfüttert, heraus. Er spricht von einem "Stoffwechsel" zwischen Natur und Gesellschaft, die in einer widersprüchlichen Einheit und Getrenntheit zueinander stehen. Das Trennende verschärft sich in der kapitalistischen Produktionsweise immer weiter. Das liegt daran, "dass im Zuge der Kapitalakkumulation ökologische Kreisläufe durch Akkumulationsprozesse ersetzt werden. Marx veranschaulicht dies am Beispiel der kapitalistischen Landwirtschaft, die Agrarprodukte kontinuierlich vom Land in die Stadt transferiert. In der Folge stehen die Abfälle nicht mehr vor Ort als Dünger zur Verfügung, sondern sie belasten in den Städten in Form von Müll die Umwelt. Auf diese Weise entsteht ein immer breiter werdender 'Riss' im Stoffwechsel mit der Natur."

Die Trennung zwischen Produktion und Reproduktion ist eine der zentralen Konfliktlinien in der Debatte um die ökologische Krise, bei der die Rolle der "Produktivkräfte" im Mittelpunkt steht. Mit Marx versteht er darunter neben den Produktionsmitteln und der Gesamtheit des menschlichen Arbeitspotenzials auch das gesellschaftliche Wissen sowie Formen der Arbeitskooperationen (MEW 4, Seite 130).

"Deshalb entwickle ich in diesem Buch das vermittelnde Konzept der Re/produktivkräfte, bei dem Produktion und Reproduktion zusammengedacht werden."

Dieses Konzept der Re/produktivkräfte demonstriert der Autor dann im folgenden an ausgewählten Feldern der kapitalistischen Expansionsdynamik, die sich in einer immer weiter ausgreifenden und zunehmend intensiveren Nutzbarmachung von Arbeit und Natur darstellt.

Dabei betont der Autor die Relevanz von Wissen um Naturprozesse in Arbeitskonflikten und - kämpfen sehr plastisch: Angefangen von den Sklav:innen-Aufständen in der Karibik über die Chicagoer Schlachtfabriken bis hin in die Gegenwart der Kämpfe der Automobil- und Bauarbeiter:innen.

An den Wiegen des industriellen Kapitalismus

Am umfangreichsten und gerät ihm dabei im 2. Kapitel die Beschreibung der Wurzeln des industriellen Kapitalismus. Überraschend ist dabei, dass der Autor dies nicht am Beispiel Englands aufarbeitet sondern an dem Schimmelmann-Imperium. Dieses umfasste Ende des 18./Anfang des 19 Jahrhunderts ausgedehnte Ländereien Rum-, Gewehr- und Baumwollmanufakturen in Schleswig-Holstein und Dänemark. An der westafrikanischen Goldküste waren sie als Großaktionäre am Sklavenhandel beteiligt und verschifften dort "ihre Afrikaner:innen" insbesondere auf ihre Plantagen auf den Jungferninseln in der Karibik. Die dort angebaute Baumwolle und der Zucker gingen dann an ihre nordeuropäischem Fabriken.

"In diesem Sinne ist die kapitalistische Weltwirtschaft schon immer eine Art Puzzle gewesen, eine Aneinanderreihung von Zonen, die miteinander auf verschiedenen Ebenen verbunden sind."

Ausführlich und anschaulich beschreibt der Autor in diesem 50seitigen Kapitel das Schimmelmannsche Geschäftsmodell von Handel, Sklavenarbeit und "freier Lohnarbeit" ehe es von dem fossilen Zeitalter mit ihren großen Fabriken (Webereien) und Bergwerken abgelöst wurde.

Die Geburtsstunde der modernen Arbeitswelt des fossilen Zeitalters markieren nach Schaupp die Schlachthöfe von Chicago, wo in Gestalt von Eisenbahn und Fließband qualitativ neue technische und ökonomische Entwicklungen zusammenfließenden. Die Industrialisierung zieht hier ihre Kostenvorteile vor allem aus Skaleneffekten, d.h. aus der Abhängigkeit der Produktionsmenge pro Zeitspanne von der Menge der eingesetzten Produktionsfaktoren. Sobald sich totes Fleisch in den Schlachthöfen anhäufte stieg mit der Gefahr der Verwesung und damit drohende ökonomische Verluste. Die Fleischindustrie stand somit stärker als andere Branchen unter dem Druck, die Produktionsgeschwindigkeit zu erhöhen. Zentrales Instrument der Beschleunigung war dabei das Fließband.

Autofabriken und der "fossile Klassenkompromiss"

Von Mitte der 50er bis Mitte der70er Jahre vollzog sich eine weitere grundlegende Veränderung in der materiellen Produktion – das Erdöl löste die Kohle als "Treibstoff" der Wirtschaft endgültig ab. Hatte Westeuropa seinen Bedarf in der Energieversorgung bisher noch zu 75 Prozent aus Kohle und 23 Prozent aus Öl gedeckt, entfielen 1972 nur noch 23 Prozent auf Kohle, während der Anteil des Öls auf 60 Prozent angestiegen war.

Während sich der Preis der Kohle im Gleichschritt mit der allgemeinen Konjunktur entwickelt hatte, war Öl derart billig, dass Energieverschwendung gang und gäbe wurde.

"Erst dadurch wurde jenes exponentielle Wirtschaftswachstum möglich, das wir heute mit einem funktionierenden Kapitalismus identifizieren. Auf dieser Basis konnten zudem die Konflikte in der Arbeitswelt entschärft werden, waren die Unternehmer doch in der Lage, hohen Profit zu erwirtschaften und gleichzeitig relativ hohe Löhne zu zahlen. Der auf Massenkonsum ausgerichtete fossile Klassenkompromiss materialisierte sich im Automobil."

Der Autor prophezeit, dass dieser Klassenkompromiss angesichts der staatlichen Maßnahmen, die den Klimawandel eindämmen sollen und typischerweise vor allem die lohnabhängige Klasse und die Bauern finanziell trifft, zunehmend erodiert (die französischen Gelbwesten sind hier ein spektakuläres Beispiel).

Er weist nach, dass die modernen Arbeitskämpfe immer mehr mit der ökologischen Krise zusammen gedacht werden müssen. Ein zarter Ansatz, den Schaupp erwähnt, sind die gemeinsamen Streiks der ÖPNV Beschäftigten mit der Klimabewegung "Fridays for Future", die aktuell gemeinsam sowohl für verbesserte Arbeitsbedingungen als auch den Ausbau des Nahverkehrs auf die Straße gehen.

Gegen eine "Expansion in die Nutzlosigkeit"

"Die Relevanz einer proletarischen Umweltpolitik resultiert daraus, dass es die Arbeitenden sind, die den gesellschaftlichen Stoffwechsel mit der Natur vollziehen. Das heißt einerseits, dass sie als Erste von ökologischen Risiken betroffen sind. Andererseits ergibt sich aus der zentralen Stellung der Arbeitenden auch ein besonderer Machthebel. Denn wenn sie den Betrieb einstellen, kommt der gesellschaftliche Stoffwechsel sofort zum Erliegen."

Dabei weist er darauf hin, dass in Deutschland 64 Prozent der gesamten gesellschaftlichen Arbeitszeit auf sogenannte "Care-Tätigkeiten" entfallen wie Erziehung und Pflege. Davon wiederum werden allerdings nur 12 Prozent in Form von Erwerbsarbeit und die restlichen 88 Prozent unentgeltlich in den Haushalten geleistet.

Bei der kapitalistischen Nutzbarmachung handelt es sich um eine "Vernutzung": Die Natur und die Arbeitskörper werden ausgeplündert. Besonders dramatische Folgen in Bezug auf die Umwelt hat dies im Fall fossiler Energieträger, die verbrannt werden, um "die Wirtschaft" anzutreiben – was zu einer Steigerung der CO2-Emissionen führt. Neben der Chemie- und Automobilindustrie ist insbesondere auch die Baubranche eine der zentralen Verursacherinnen der ökologischen Krise. Als Beispiel führt der Autor die Schweizer Holcim AG an, den zweitgrößten Zementhersteller der Welt, der 2.300 Fabriken in 70 Ländern betreibt und zu den weltweit größten CO2-Verursachern gehört.

"Das Problem ist: Die vorherrschende Umweltpolitik setzt auf die Einschränkung des Konsums. Sogenannte Austeritätspolitiken zielen auf höhere Preise, was dazu führt, dass sich nur noch Reiche umweltschädliches Verhalten leisten können. Ärmere Leute bezahlen hingegen die Kosten der Krise. Aber tatsächlich gibt es objektive Grenzen der Naturbelastung. Deshalb brauchen wir eine politische Vision, die diese Grenzen anerkennt.

Wie könnte diese aussehen?

Arbeitszeitverkürzung scheint mir eine zentrale Forderung zu sein, weil sie die zweifellos notwendige Reduktion des Gesamtproduktionsvolumens mit Umverteilung und sozialer Gerechtigkeit vereinbar macht. Es geht darum, weniger Lebenszeit zu verkaufen, weniger Bullshit-Jobs zu machen, stattdessen mehr ökologisch verträgliche Tätigkeiten auszuüben."[3]

Gedanken nach Lesen des Buches

Projekte wie der "Green Deal", die den Kapitalismus ökologisch modernisieren sollen, führen in eine Sackgasse und verschärfen die soziale Ungleichheit, weil sie die Transformationskosten auf die lohnabhängig Beschäftigten und von Armut betroffenen Menschen abwälzen.

Da ökonomisches Wachstum notwendigerweise einen höheren Ressourcenverbrauch und damit eine Zerstörung der Umwelt erfordert, die nach Marx zu "einem Riss" im gesellschaftlichen Stoffwechsel mit der Natur führt, stellt sich also die Frage wie Umgehen mit "Wachstum". Wenn in Schaupps Buch das Wort "Degrowth" auch nicht vorkommt, laufen seine Schlussfolgerungen letztlich aber in Richtung einer "Nullwachstums-Strategie" ohne dass er eine grundsätzliche gesellschaftliche Perspektive formuliert. Das unterscheidet ihn z. B. von Kohei Saito, der einem nebulösen "Degrowth-Kommunismus" das Wort redet.[4]

Schaupp und Saito führen insbesondere den "späten Marx" für ihre Argumentation ins Feld. 1868 exzerpierte Marx mehrere Bücher von Carl Fraas. Dessen umwelthistorische Studien zu den antiken Klassengesellschaften Mesopotamiens, Ägyptens und Griechenlands waren von der These geleitet, dass diese Zivilisationen aufgrund von ökologischen Krisen kollabierten, insbesondere durch Raubbau an den Böden und die flächendeckende Rodung von Wäldern. Darüber hinaus wies er darauf hin, dass gesellschaftliche Landnutzungsänderungen zu lokalem Klimawandel führten, der sich wiederum durch Ernteausfälle und in sozialen Unruhen niedergeschlagen habe.

Wie eine neue postkapitalistische Gesellschaft aussehen, geschweige denn wie der Weg dahin aussehen könnte, ist eine große Lehrstelle in allen Kapitalismus-kritischen Klima-Veröffentlichungen. Das ist bei Saito so und Schaupp verzichtet gleich ganz darauf.

Etwa zur gleichen Zeit, als Marx sich mit den umwelthistorischen Studien beschäftigte, schrieb auch seine "Kritik des Gothaer Programms" (1875)[5]. Darin skizziert er den Übergang in eine kommunistische Gesellschaft als langwierigen, in zwei qualitativ verschiedene Phasen gegliederten Prozess und betont dabei die notwendige Unvollkommenheit der ersten Phase, "wie sie eben aus der kapitalistischen Gesellschaft hervorgeht, also in jeder Beziehung, ökonomisch, sittlich, geistig, noch behaftet ist mit den Muttermalen der alten Gesellschaft, aus deren Schoß sie herkommt. Da die neue Gesellschaft "aus der kapitalistischen Gesellschaft nach langen Geburtswehen hervorgegangen" sein wird, ist auch das Problem der Produktivkräfte als ein langwieriger Prozess der Umformung zu erwarten.

Seit diesen vor 150 Jahren Geschriebenem ist allerdings das Zeitfenster erheblich kleiner geworden, um das Überleben des Planeten und ihrer Bewohner:innen zu sichern. Viel Zeit bleibt uns nicht mehr. Viele Augen richten sich gegenwärtig auf China mit der Hoffnung, dass man sich dort auf den Weg macht, die Produktivkräfte nachhaltig in den Dienst der Menschen und der Natur zu stellen.

 

 

Anmerkungen

*) Siehe die redaktionelle Anmerkung zur Buchbesprechung 

 

[1] https://wmo.int/media/news/greenhouse-gas-concentrations-surge-again-new-record

[2] https://www.shell.de/about-us/initiatives/shell-youth-study-2024/information

[3] Simon Schaupp im Interview mit Guido Speckmann, AK 16.4.24

[4} Der Degrowth-Kommunismus rettet die Welt, meint der japanische marxistische Philosoph Kohei Saito.
www.kommunisten.de: "Der Degrowth-Kommunismus rettet die Welt, meint der japanische marxistische Philosoph Kohei Saito"

[5] MEW 19, Seite 13-32

 


Zur Buchbesprechung

Simon Schaupp
Stoffwechselpolitik. Arbeit, Natur und die Zukunft des Planeten.
Suhrkamp, Berlin 2024,
419 Seiten, 24 Euro

 

Ein bisschen Populismus und Faschismus retten nicht die Demokratie

mar, 12/11/2024 - 16:19

Donald Trump verstehe das Volk besser, daher habe er gewonnen, sagen einige.
Was kann also die deutsche Politik daraus lernen?


 

 

Deutschland feiert 35 Jahre Mauerfall, und die Welt steht kopf.
In Europa ist Krieg, die Ampelregierung ist am Ende und Donald Trump wird (wieder) Präsident der USA. Ein verurteilter Straftäter, Populist und Faschist als politischer Führer der größten westlichen Demokratie. Wer hätte 1989 davon zu träumen gewagt? 

Mit Trumps Amtsantritt wird sich vieles ändern – die Kriege in der Ukraine und in Gaza, die Stabilität Europas und unser aller ökologische Zukunft.
Analysten in Deutschland suchen jetzt nach Antworten auf die Frage, wie es so weit kommen konnte.
 Die einen meinen, Trump verstehe die Amerikaner besser.
Die anderen sagen, er zeige den politischen Eliten Amerikas, wie das Volk wirklich ticke.
Wir alle, so ein Fazit, könnten von Trump einiges lernen.

Hier sind drei Gründe, warum das nicht stimmt: 

Erstens wählten nicht „die Amerikaner“ Trump, sondern rund 74 Millionen Menschen.
Das sind viele, aber rund 70 Millionen wählten die Gegenkandidatin Kamala Harris.
In einem Land mit rund 335 Millionen Einwohnern wählten viele auch gar nicht – beispielsweise die Einwohner von Puerto Rico oder Guam. Diese sogenannten Territorien gehören zu den USA, aber ihre Bürger haben kein Wahlrecht. Auch rund vier Millionen ehemalige Straftäter wählten nicht.
Denn obwohl ein vorbestrafter US-Präsident kein Problem ist, dürfen Vorbestrafte in vielen Bundesstaaten nicht wählen, vor allem Afroamerikaner sind betroffen.
Das heißt, nicht alle Amerikaner haben eine Stimme. 

Zweitens versteht Trump die Amerikaner nicht besser als andere; er schafft nur bessere Informationsblasen. In diesen Blasen wird jede Kritik an Trump zu politisch motivierten Fake News. Selbst seine Verbrechen – wie die Verschleierung von Schweigegeld – werden zu Akten der Revolution. Während viele Medien also kritisch über Trumps Straftaten berichten, feiern ihn rechtskonservative Medien als „Freiheitskämpfer“ und „Rebell“.
Für erzkonservative Megakirchen ist er der Retter der freien Welt.

Solche Informationsblasen sind Kern politischer Kommunikation in den USA und ein wichtiger Teil von Trumps Erfolg. 

Kommt dann, drittens, noch Inflation, wachsende Armut und das Gefühl politischer Alternativlosigkeit hinzu, profitiert Trump.
Seine Stärke ist weniger die eigene als das Versagen seiner Gegner.
Ähnliches gilt wohl auch für die AfD. 

„Wir werden gegen die Medien vorgehen.“ 

Jetzt ist die Frage, was die Zukunft bringt. Seit Jahren schürt Trump Hass gegen alle, die ihn kritisieren, beispielsweise Journalisten. Er nennt sie „Feinde des Volkes“, bezichtigt sie der Lüge. Laut der britischen Zeitung Guardian erklärte Kash Patel, ein möglicher Trump-Kandidat für das Amt des FBI-Direktors: „Wir werden gegen die Medien vorgehen.“ Das Konzept „Projekt 2025“ für Trumps zweite Amtszeit sieht zum Beispiel die leichtere Beschlagnahmung von E-Mails und Telefonaufzeichnungen von Journalisten vor. Im Klartext heißt das: Bye, bye Pressefreiheit! Auch in Deutschland werden wir die Folgen spüren. 

Nein, wir können von Donald Trump nicht lernen, sein Erfolg gibt ihm nicht recht.
Denn ein bisschen Populismus und Faschismus retten nicht die Demokratie.

 Im Gegenteil, wir brauchen kritisch kühle Köpfe, vor allem im Journalismus. Nur sie können Informationsblasen platzen lassen, auch die unserer Politiker. Sonst geht die Welt vor die Hunde und wir sehen im Liveticker dabei zu.

 

Erstveröffentlichung: Berliner Zeitung

Chips: US-Sanktionen haben Chinas Aufholjagd beschleunigt

mar, 12/11/2024 - 12:10

 „Wenn man eine Industrie an China verlieren will, muss man China nur den Zugang zu dieser Industrie verwehren.“


 

 

 

Warum die Zukunft der Halbleiterindustrie weiter in Asien und in China liegt

Unter Kritikern der US-Sanktionspolitik gegen China kursiert der o.g. sarkastische Satz, dass China dann erfolgreich agieren wird, wenn man ihm den Zugang zu diesen Industrien verwehrt.
Im Fall der Halbleiterindustrie scheint sich dieses Muster zu wiederholen.
Noch vor 10 Jahren galt der westliche und insbesondere der US-Vorsprung bei Halbleitern als uneinholbar.
 Dieser technologische Vorsprung ist inzwischen drastisch geschrumpft.

 

Bislang haben die Technologie-Sanktionen, die die US-Regierung schon seit der ersten Trump-Präsidentschaft gegen China und einzelne chinesische Firmen verhängt hat, nicht gewirkt. Nach fast 6 Jahren US-Sanktionen hat China durch vervielfachten Einsatz von Ressourcen große Fortschritte gemacht.
In vielen Zukunftstechnologien und auch in der Halbleiterindustrie, wo China weit zurück lag, ist das Land von westlichen und speziell von US-Inputs zunehmend unabhängig und autark.

Natürlich waren und sind die US-Sanktionen auch ein Treiber für erfolgreiche Umgehungsstrategien von westlichen Konzernen, Zwischenhändlern und chinesischen Abnehmern.
Denn China ist nicht irgendein Kunde, sondern der weltgrößte Absatzmarkt für Halbleiter, Vorprodukte etc. und für Maschinen zur Chipproduktion.
Diesen Riesenmarkt gibt kein kapitalistisches Unternehmen nur wegen politischer Bauchschmerzen freiwillig auf. Aber vor allem hat China in der Halbleiterindustrie technologische Durchbrüche erzielt, wie Berichte aus den einschlägigen deutschsprachigen und angelsächsischen Technologiemedien belegen.

 

Auch China kann ultrafeine Chips produzieren

 

Im Zentrum von Chinas technologischer Aufholjagd steht der Konzern Huawei. Seit Beginn der US-Exportkontrollen 2018, die das lukrative Smartphone-Geschäft von Huawei zerstört haben, hat das Unternehmen mehr als je zuvor in Forschung und Entwicklung investiert, im Jahr 2021 über 22% vom Umsatz.
 Nach Angaben der EU ist Huawei heute das innovativste chinesische Unternehmen. Kurzfristige Profite zählen dabei weniger als die langfristige Profitabilität und die Unterstützung auch durch die chinesischen Regierungsebenen.

 

In einer Untersuchung für die US-Regierung kommen Spezialisten aus der Halbleiterindustrie zum Ergebnis, dass um Huawei inzwischen ein Zentrum der Chipentwicklung und -produktion in China entstanden ist:

“Das Ausmaß und die Geschwindigkeit sind enorm: wir schätzen, dass das Produktionsnetzwerk von Huawei im Jahr 2024 7,3 Mrd. Dollar für ausländische Anlagen zur Chipproduktion ausgeben wird, der viertgrößte Einkäufer in der Welt. Wenn man noch (die Auftragsfertiger) SMIC und CXMT einbezieht, die beide eng mit Huawei zusammenarbeiten, sind das die zweitgrößten Käufer von Anlagen in der Welt, direkt hinter TSMC und weit vor amerikanischen Firmen.
Über die Hälfte dieser Anlagen kommt gegenwärtig von US-Firmen.”
 
(im Netz unter: https://semianalysis.com/2024/10/28/fab-whack-a-mole-chinese-companies

In diesem Jahr hat Huawei zusammen mit dem Shanghaier Chip-Auftragsfertiger SMIC ein neuartiges Lithografie-Verfahren zur Produktion von ultrafeinen 5- und 3-Nanometer-Chips patentiert. Bislang konnte China solche ultrafeinen Chips nicht produzieren. Nur das taiwanesische Unternehmen TSMC und Samsung aus Südkorea sind da weiter. Sie fertigen inzwischen sogar 2nm-Chips.

 

Die Maschinenbau-Technologien für die Produktion von Halbleitern sind hoch komplex: Im Zentrum stehen lithographische Verfahren, mit denen winzigste Leiterbahnen auf die Oberfläche einer Waferscheibe geätzt werden. Aus der Waferscheibe im Format einer Pizza werden später die Chips ausgeschnitten. Je winziger die Leiterbahnen auf einem Chip - gemessen in Nanometern (1 Nanometer = ein millionstel Millimeter) - sind, desto mehr Halbleiter können auf einen Chip integriert werden. Umso geringer ist auch die Leistungsaufnahme, der Energieverbrauch. Auch SiCarrier, ein chinesischer Hersteller von Maschinen für die Chipproduktion und ebenfalls Partner von Huawei, hat 2024 ein neues Lithografie-Verfahren patentieren lassen.

 

Westliche Experten hatten nicht damit gerechnet, dass mit Belichtungsmaschinen einer älteren Technologie (DUV), die bislang nicht unter die US-Sanktionen fällt, Halbleiter mit 5nm- oder 3nm-Leiterbahnen produziert werden können. Denn "state-of-art" sind sogenannte EUV-Maschinen des Monopolisten ASML aus den Niederlanden mit Optiken von Zeiss und mit Lasern von Trumpf zum Stückpreis von weit über 150 Mio Euro.

Aber aufgrund der US-Sanktionen, den sich die EU angeschlossen hat, dürfen diese Anlagen nicht nach China geliefert werden.

 

Für Huawei und die Partnerfirmen ist dieser technologische Durchbruch, mit älteren Generationen von Maschinen und Anlagen trotzdem ultrafeine Chips zu produzieren, entscheidend - trotz der damit verbundenen höheren Stückkosten.
In der chinesischen Halbleiterindustrie wird geschätzt, dass SMIC vergleichbare Prozessoren um 40 bis 50% teurer produziert als der Markt- und Technologieführer TSMC aus Taiwan. Aber Huawei kann auf diesen Anlagen seine ultraschnellen Kirin-Prozessoren für Smartphones, Tablets etc. ebenso produzieren lassen wie die Ascend-Prozessoren für KI-Server.
Der schnellste KI-Prozessor von Huawei, der Ascend 920, wird künftig auch von SMIC in 5nm-Technologie produziert.

 

Damit reduziert sich der Entwicklungsrückstand zwischen KI-Chips aus China und den sehr gesuchten KI-Prozessoren vom Marktführer Nvidia, einem auf Grafik- und KI-Chips spezialisierten US-Konzern.
Die von Huawei entwickelten und von SMIC produzierten Ascend-Chips gelten auch unter westlichen Chip Experten als vielversprechende Alternativen zu den KI-Prozessoren von Nvidia. Sie mussten konstatieren, dass Chinas Halbleiterindustrie trotz US-Exportkontrollen weiter aufholt. Die Überraschung war groß, als Huawei im August 2024 sein Mate 60 Pro-Smartphone mit einem 7nm-Prozessor und KI-Fähigkeiten vorstellte.
Spätestens seitdem sieht Apple in China, seinem weltgrößtenAbsatzmarkt, nur noch die Rücklichter der chinesischen Konkurrenz.

 

 

Chinesischer Erfolg beim Chipdesign

 

Der chinesische Smartphone- und Elektronikhersteller Xiaomi, der inzwischen in seinen Läden in China auch ein eigenes Elektroauto vertreibt, hat einen wichtigen Schritt in der Halbleiterindustrie gemacht: Xiaomi hat einen eigenen 3nm-Chip entwickelt (Telepolis  Wirtschaft, 23/10/2024 https://www.telepolis.de/features/Halbleiter-Xiaomi-gelingt-Durchbruch-mit-eigenem-3nm-Chip-9991576.html).

Er soll bereits im ersten Halbjahr 2025 in die Massenproduktion gehen. Die Nachricht wurde sogar im chinesischen Staatsfernsehen bekannt gegeben. Es ist der erste 3-nm-Chip, der von einem chinesischen Unternehmen entwickelt wurde. Bei der Entwicklung des Chips soll Xiaomi mit dem taiwanischen Unternehmen MediaTek zusammengearbeitet haben. MediaTek kontrolliert mit dem US-Konzern Qualcomm bislang den Weltmarkt für Smartphone-Prozessoren.

 

Die Ankündigung von Xiaomi ist ein Meilenstein, weil nicht nur die Produktion, sondern auch das Design, die Entwicklung von Chips äußerst komplex ist. Dabei geht es um das Zusammenspiel von bis zu Milliarden Transistoren auf einem einzigen Chip. Diese Beziehungen müssen dargestellt und getestet werden, bevor das Chip-Design in die Fertigung geht. Das geht nicht mehr an einem oder auch hunderten Zeichenbrettern. Ohne die entsprechende Software ist das unmöglich. Der Gründer und CEO von Xiaomi, Lei Jun, erwähnte einmal, Chip-Design sei ein riskantes Spiel: Große Investitionen können manchmal keinen Ertrag bringen. 2017 brachte Xiaomi einen ersten Smartphone-Chip auf den Markt. Der hatte aber Überhitzungsprobleme. Ein weiterer Versuch mit einem neuen Chip scheiterte dann 2020.

 

Trotz der hohen Entwicklungskosten setzen nicht nur der chinesische Xiaomi-Konzern, sondern auch Apple, Google oder Amazon inzwischen auf selbst entwickelte Prozessoren für Smartphones, Tablets oder auch für die eigenen Rechenzentren. Es geht dabei um Verbesserungen bei der Chipleistung, der Energieeffizienz und der Transistordichte. Durch die Optimierung und Abstimmung von Hardware - also den eigenen Chips statt Chips von der Stange - und Software funktionieren die Smartphones besser, so die Philosophie. Eigene Chipsätze eröffnen zudem Möglichkeiten für innovative Funktionen in zukünftigen Smartphones.

Außerdem sind die Smartphone-Hersteller weniger von Lieferengpässen oder Preiserhöhungen der Lieferanten abhängig. Der Chef von Xiaomi erklärte, die Entwicklung eigener Chips sei entscheidend, da die Prozessoren von Qualcomm immer teurer würden. So kostet ein einziger winziger Grafikchip des US-Konzerns Nvidia, der für KI-Anwendungen eingesetzt wird, derzeit 50.000 $.

Der Xiaomi-Chip wird künftig von dem taiwanesischen Auftragsfertiger TSMC produziert.
 In den USA gibt es deshalb schon Spekulationen über mögliche Sanktionen gegen Xiaomi aufgrund dieses technologischen Durchbruchs in der Chipentwicklung.

 

 

Auch bei Software für Chip-Design holt China auf

Seit August 2022 haben die USA chinesischen Unternehmen den Zugang zu amerikanischer Software für den Chipdesign (ECAD Electronic Computer Aided Design) untersagt. Diese Software wird für den Entwurf komplexer integrierter Schaltkreise, also Halbleiter, verwendet. Bereits seit 2019 darf diese Software nicht mehr an Huawei lizensiert werden.

 

 

Aktuell wird der Markt von einem Oligopol der drei Firmen Cadence, Synopsys und Siemens EDA (vormals Mentor Graphics) dominiert. Alle drei Firmen haben ihren Hauptsitz in den USA und haben zusammen knapp 70 Prozent Marktanteil. Natürlich setzen die USA ihre Dominanz auf diesem technologischen Spezialgebiet gezielt ein, um die chinesische Chip-Design-Industrie zu behindern. Das erklärte unverblümt der frühere Pentagon-Mitarbeiter Gregory Allen vom Center for Strategic and International Studies CSIS (Asia Times, Oktober 2022). Dennoch bekam der Xiaomi-Konzern offensichtlich Zugang zu dieser Software. Wie sich Xiaomi Zugang zu US-amerikanischer EDA-Software verschafft hat, ist noch unklar.

 

Mikrochips für Computer werden schon lange nicht mehr von Hand entworfen. In den Anfängen der Halbleiterindustrie hatten Prozessoren wie der Intel 4004 nur wenige Tausend Transistoren. Einzelne Mitarbeiter waren nicht nur in der Lage, den kompletten Aufbau zu verstehen, sondern sie konnten auch Prototypen, etwa einer ALU (Arithmetic Logic Unit), in größerem Maßstab aufbauen und manuell testen, um Fehler zu beheben.

 

Das ist heute unmöglich, denn moderne Prozessoren haben Hunderte Milliarden Transistoren. Kein Mensch ist mehr in der Lage, den Aufbau vollständig manuell zu planen. Dafür wird EDA-Software verwendet. Erst so wird es möglich, moderne Chips zu entwerfen und den Entwurf zu testen und  auf Machbarkeit zu prüfen. Die Alternative, einen einzelnen Chip als Prototyp zu fertigen, um dann bei im Prototyp gefundenen Fehlern einen ganz neuen Chip zu fertigen, wäre extrem teuer.

 

Die Eintrittsschranken in diesen extrem spezialisierten Markt für das Chipdesign sind extrem hoch: Chinesische (und andere) Neueinsteiger müssen die Komplexität der Software beherrschen. Sie müssen das sehr lukrative Oligopol der drei Marktführer herausfordern und brauchen zudem Entwickler, die schon in die Software der Marktführer eingearbeitet sind. Schließlich muss die vollkommen neue Software für das Chipdesign auch in der Fertigung funktionieren, also reibungslose Prozesse für die kontinuierliche Chipproduktion, deren Anlagen Milliarden kosten, garantieren.

 

China hat deshalb die Entwicklung eigener Software für das Chipdesign im aktuellen Fünfjahresplan priorisiert. Die Regierung investiert in Firmen auf diesem Gebiet. Am weitesten ist wohl die Firma Huada Empyrean mit 6 Prozent Marktanteil im eigenen Land. Deren Software ist aber noch weit davon entfernt, den kompletten Entwicklungsablauf für einen neuen Chip abbilden zu können. (Martin Böckmann, 24. August 2022, in: Golem.de)

 

Chinesische Firmen für Chipdesign-Software werden häufig von ehemaligen Mitarbeitern von Cadence oder Synopsys geleitet. Durch das Bündeln ihrer Erfahrungen bei den Marktführern können solche Startups die Entwicklung in China deutlich vorantreiben. Dem Land kommt dabei zugute, dass über ein Viertel aller Ingenieure im amerikanischen Silicon Valley aus China stammen und/oder einen chinesischen Pass haben.
Die rassistisch kontaminierte Anti-China-Hetze in den USA hat inzwischen zu einem Brain Drain zurück nach China geführt, wie das japanische Wirtschaftsmagazin Nikkei Asia
 https://asia.nikkei.com/Business/Japan-seeks-to-stop-tech-brain-drain

 konstatierte. Es dürfte nur eine Frage der Zeit sein, bis China auch das Oligopol bei der Chipdesign-Software geknackt hat.

 

 

KI-Chips aus China: teilweise (schon) gleichwertig

 

 

 Die meisten im Westen bekannten sogenannten Sprachmodelle der künstlichen Intelligenz oder KI sind trainiert auf ultraschnellen Grafikprozessoren, etwa von Nvidia. So lernte das neueste Sprachmodell der Zuckerberg-Konzerns Meta namens Llama 3 auf 16.000 H100 Chips von Nvidia. Bis zum Jahresende will der Meta-Konzern weitere 600.000 dieser Chips vorhalten.  Doch chinesische KI-Firmen können mit dieser opulenten Hardwareausstattung der US-Konzerne noch nicht nicht mithalten. Sie haben stattdessen das Beste aus ihren begrenzten Ressourcen gemacht - einerseits durch Optimierung der Software und der Trainingsprozesse für die KI-Modelle, andererseits durch konzentrierten Einsatz der in China verfügbaren Chips.

 

Das Ergebnis sind leistungsfähige KI-Modelle, die bei Programmieraufgaben oder bei Sprachaufgaben in Englisch oder Chinesisch mit den Open-Source-Modellen wie etwa Chat GPT mithalten können (Economist, 21.09 24).
So setzt das Startup DeepSeek aus Hangzhou gerade mal 10.000 Nvidia Prozessoren älterer Generationen ein - wenig im Vergleich zu US- oder europäischen Mitbewerbern. Das Sprachmodell besteht aus einer Anzahl verschiedener Netze, die jeweils für spezielle Aufgaben trainiert sind. Außerdem werden die Eingabedaten komprimiert. Obwohl DeepSeek mit über 200 Milliarden (!) Parametern arbeitet, nutzt es für eine bestimmte Aufgabe nur maximal ein Zehntel dieser Parameter. Das spart Zeit, Rechenleistung und Energie. Ein anderes kleines Sprachmodell, an der Pekinger Tsinghua-Universität entwickelt, kann sogar auf Smartphones eingesetzt werden.

 

Aus Sicht eines Experten von SenseTime, ein chinesischer Konzern, in dessen KI-Rechenzentrum in Shanghai KI-Chips von den wichtigsten chinesischen Lieferanten wie Huawei und Biren arbeiten, gibt es zwar nach wie vor Leistungsunterschiede zwischen KI-Chips aus China und denen von Nvidia.
Die US-Chips seien leistungsfähiger für das Training von KI-Modellen. Das ist der Prozess, die KI-Software mit riesigen Datenmengen für den speziellen Einsatzbereich - etwa Steuerprüfung – anzulernen. Aber beim praktischen Einsatz scheinen  die Unterschiede nicht groß zu sein. So bringt ein KI-Prozessor von Huawei namens Ascend 910C eine signifikante Leistungsverbesserung.
Nicht nur Huawei, sondern auch SenseTime und Biren stehen auf der Sanktionsliste des US-Handelsministeriums.

 

Huawei hat sich mit seinen Chips und mit der passenden Software als Chinas #1-Lieferant für KI-Lösungen positioniert, u.a. für den Finanzsektor und für die Telekommunikation.
Dennoch liegt  bei den KI-Chips  auch in China immer noch Nvidia vorne mit einem Marktanteil von 90%. Nach dem US-Exportverbot für die schnellsten KI-Chips von Nvidia hatte Nvidia extra einen Chip mit gedrosselter Leistung für den chinesischen Markt herausgebracht.

 

 

Dominiert China bei “reiferen” Chips?

Allianz für Auto-Chips

Während sich die Schlagzeilen meist auf die ultrafeinen Chips und KI konzentrieren und auf den Versuch der USA, China davon komplett abzuschneiden, machen aber sogenannte reifere Chips mit Leiterbahnen über 12nm Durchmesser sowie Leistungshalbleiter, Sensoren und Analogchips etc. die Masse des weltweiten Geschäfts im Umfang von über 600 Mrd Dollar aus.


Weil China das Weltzentrum der Elektronikindustrie, des Maschinenbaus und künftig wohl auch der Automobilindustrie ist, wurden schon vor 10 Jahren die meisten Halbleiter in Stückzahlen in China verbaut. Das von Ölimporten abhängige China hat viele Jahre wertmäßig mehr für Importe von Halbleitern als von Öl und Gas ausgegeben. Doch China hat massiv in die Chipindustrie investiert. Die Massenproduktion von billigen Chips bringt chinesischen Konzernen auch das Geld, um die kostspieligen Experimente mit der Produktion von ultrafeinen Chips zu finanzieren.
US-Experten warnen jetzt davor, dass die Welt künftig von “reiferen“ Halbleitern aus China abhängig ist, an denen ganze Industrien hängen, aber auch unser Alltagsleben.

Das gilt auch für Autos und für Anwendungen in Elektrofahrzeugen. China importiert heute immer noch rund 90 Prozent seiner Automobilchips. Produzenten sind etwa Infineon, NXP, Bosch oder japanische Unternehmen. Nach Ansicht des chinesischen Automobilverbands (CAAM) ist die Lokalisierung der Chip-Lieferkette entscheidend für die Entwicklung der chinesischen Automobilbranche. Dabei spielen technische Normen eine entscheidende Rolle.

Eine wesentliche Hürde für den Markteintritt chinesischer Anbieter von Automobilchips ist das fehlende Vertrauen in die Sicherheit und Zuverlässigkeit ihrer Chips. Da Automobilchips rauen Umweltbedingungen ausgesetzt sind, müssen sie wesentlich höhere Standards erfüllen als kommerzielle Chips. Um die Zusammenarbeit entlang der gesamten Wertschöpfungskette der Automobilchips zu fördern und Vertrauen zwischen Chip-Anbietern und Autoherstellern zu schaffen, hat das Ministerium für Industrie und Informationstechnologien die „China Automotive Industry Innovation Alliance“ gegründet. Das Bündnis soll Chinas Automobilindustrie unabhängig machen und Substitutionen im eigenen Land fördern.

 

Mitglieder der Allianz sind chinesische Autohersteller wie SAIC, BYD, FAW, Anbieter von Automobilelektronik und -software, Chip-Unternehmen und staatliche Forschungseinrichtungen. Während das Bündnis nach eigenen Angaben allen Branchenteilnehmern offen steht, besteht der technische Ausschuss ausschließlich aus chinesischen Unternehmen. (China.Table # 925 / 25. September 2024). Es besteht die Gefahr, dass auch diese bisherige Domäne vor allem der europäischen Chipindustrie verloren geht.

 

 

Warum die Zukunft der Halbleiterindustrie weiter in Ostasien liegt

 

Nach allen Prognosen wird die Zukunft der Chipindustrie weiter in Ostasien liegen.
Daran ändert der mit Steuermilliarden finanzierte Aufbau von Kapazitäten zur Chipfertigung in den USA und Europa vermutlich nichts.
Entsprechend äußert sich der Chef des niederländischen Maschinenbauers ASML, der die ganze Welt mit den teuersten Maschinen für die Chipindustrie beliefert (Nikkei Asia,9.10.24). Nach seinen Aussagen und nach allen verfügbaren Statistiken wachsen die Kapazitäten der Chipindustrie in Ostasien weiter schneller als im Rest der Welt.
Noch viele Jahre werde Ostasien das Weltzentrum der Chipproduktion bleiben.

 

Die Umsätze des Maschinenbauers ASML zeigen, wohin die Reise geht: 2023 machte der Konzern über 80% seines Umsatzes in Asien. Spitzenreiter war Taiwan, gefolgt von China, Korea und Japan. In den USA machte ASML 12% des Umsatzes, in Europa lediglich  vier Prozent.

 

Nach Statistiken des US-Branchenverbandes SEMI hat China im ersten Halbjahr 2024 sogar mehr Anlagen für die Chipindustrie eingekauft als Taiwan, Südkorea und die USA zusammen. Die Investitionen in die Chipindustrie sind ein  Barometer für die Entwicklung der künftigen Kapazitäten. Gleichzeitig hat China sicher vorausschauend eingekauft, in Erwartung weiterer US-Sanktionen.

 

Mit großer Wahrscheinlichkeit wird es die Aufspaltung der Lieferketten in der Halbleiterindustrie, der technologisch fortgeschrittensten modernen Industrie, in eine US-basierte Lieferkette mit westlichen Anhängseln und in eine um China basierte Chipindustrie mit entsprechenden Clustern aber nicht geben.
Ostasien mit China bleibt Zentrum der weltweiten Chipproduktion und vermehrt auch des Chipdesigns und vielleicht künftig auch des Anlagenbaus. Alle Zahlen über jetzige und künftige Investitionen in dem Sektor deuten darauf hin.

 

Taiwan investiert

Eine Ergänzung: Die USA und der Westen machen zwar viel Getöse um einen künftigen Krieg um die Insel Taiwan, dem Weltzentrum der Chipindustrie.
Deswegen müsse man sich – wegen der Unterbrechung der Lieferketten – unabhängiger von Ostasien und speziell Taiwan machen. Die Politik der taiwanesischen Regierung und die Investitionen von TSMC, UMC, Globalfoundries, Foxconn etc. sprechen aber eine andere Sprache.
Nicht in den USA oder in Dresden wird aus Sorge um einen militärischen Konflikt vorrangig investiert, sondern gerade auf der Insel Taiwan.
Das ist nach der Logik des taiwanesischen Kapitals und der politischen Eliten der Insel der beste Schutz vor einem Krieg.
Die Investitionen von TSMC in Arizona oder in Dresden sind dagegen Peanuts.

 

Schließlich ist in der weltweiten Arbeitsteilung die industrielle Produktion immer mehr in Asien und speziell in China konzentriert. Diese Industrien sind  jetzt und künftig vermutlich noch mehr der Hauptabnehmer der Chipindustrie. Es gibt deshalb wenig Grund, dass sich ausgerechnet die Halbleiterindustrie zusammen mit ihren komplexen Wertschöpfungsketten in den USA ansiedelt - abgesehen von einzelnen Clustern für Chipdesign etc. an der Ost- bzw. Westküste.

 

 

 

 

 

 

Die transatlantische Rivalität

ven, 08/11/2024 - 06:04

Nach Trumps Wahlsieg drohen der deutschen Wirtschaft gravierende Einbrüche aufgrund der angedrohten US-Strafzölle: bis zu 180 Milliarden Euro binnen vier Jahren.
Trump folgt einer veränderten Interessenlage der US-Industrie.

 

Mit der bevorstehenden zweiten US-Präsidentschaft von Donald Trump zeichnen sich gravierende ökonomische Machtkämpfe zwischen den Vereinigten Staaten und der EU bzw. Deutschland ab. Laut Berechnungen des unternehmernahen Instituts der Deutschen Wirtschaft (IW) aus Köln würden die Strafzölle, die der designierte US-Präsident Donald Trump im Wahlkampf angekündigt hat, allein die deutsche Wirtschaft im Vierjahreszeitraum von 2025 bis 2028 bis zu 180 Milliarden Euro kosten. Die deutsche Industrie würde dabei mittelfristig schwer geschädigt. So seien für die Jahre 2027 und 2028 Einbrüche der deutschen Wirtschaftsleistung um jeweils rund 1,5 Prozent zu erwarten, während die US-Konkurrenz sich deutlich schneller vom Schock einer Strafzollschlacht erholen würde.

Die EU hat bereits Gegenzölle gegen US-Strafzölle in Aussicht gestellt. Die Trump’sche Strafzollpolitik, das zeigt eine ausführliche Studie, folgt Verschiebungen in der US-Industrie: War diese lange in der Lage, offene Weltmärkte zu dominieren, so sind mittlerweile immer mehr US-Unternehmen internationaler Konkurrenz unterlegen. Ihren Interessen entspricht die Trump’sche Abschottungspolitik.

Glimpflich davongekommen

Mit Blick auf das deutsche US-Geschäft hatten Ökonomen gerade erst Entwarnung gegeben. So berichtete das unternehmensnahe Institut der Deutschen Wirtschaft (IW) aus Köln, der Biden’sche Inflation Reduction Act (IRA), der mit dreistelligen Milliardenbeträgen die Industrien der Energiewende fördert, habe bisher nicht zu der befürchteten Abwanderung von Unternehmen aus Deutschland in die Vereinigten Staaten geführt.
Zumindest kurzfristig habe die deutsche Industrie sogar profitieren können: Der Export von Maschinen sowie von elektrischer Ausrüstung, von klassischen Vorprodukten beim Bau auch klimafreundlicher Fabriken also, aus der Bundesrepublik in die Vereinigten Staaten sei im vergangenen Jahr um zehn Prozent gestiegen. Dank einer eigens eingeführten Ausnahme für geleaste Fahrzeuge sei auch kein Nachteil für deutsche Kfz-Exporte in die USA zu beklagen.[1]
Denkbar sei es freilich, heißt es weiter beim IW, dass Donald Trump diese Ausnahmeregelung aufhebe, was zu Nachteilen für deutsche Autohersteller führen werde. Mit einem Ausstieg aus dem IRA durch die künftige Trump-Administration rechnen US-Beobachter nicht; sogar Konzerne der US-Erdöl- und Erdgasbranche setzen sich für die Beibehaltung des Programms ein, da sie von ihm erheblich profitieren.[2]

Trumps Strafzolldrohung

Führt der designierte US-Präsident Donald Trump allerdings wirklich die im Wahlkampf angedrohten Strafzölle ein, dann ist mit hohen Einbußen insbesondere auch für die deutsche Industrie zu rechnen. Das IW hat in einer unlängst publizierten Studie Schadensprognosen, die es allein für die Bundesrepublik im Sommer noch auf gut „123 bis 146 Milliarden Euro“ bezifferte [3], auf 127 bis 180 Milliarden Euro nach oben korrigiert [4]. Mit Einbußen in Höhe von 127 Milliarden Euro im Vierjahreszeitraum 2025 bis 2028 ist demnach zu rechnen, sollte Trump auf sämtliche US-Einfuhren Strafzölle von 10 Prozent und auf Importe aus der Volksrepublik China Strafzölle in Höhe von 60 Prozent erheben. Eingepreist ist in die Berechnungen, dass die EU Gegenzölle in gleicher Höhe verhängt.

Sollte freilich zusätzlich der transatlantische Handelskonflikt eskalieren und die Strafzölle beider Seiten auf 20 Prozent nach oben treiben, könnten die Schäden 180 Milliarden Euro erreichen, schreibt das IW.
Zwar müssten auch die USA je nach Szenario Einbußen von 686 bzw. 874 Milliarden US-Dollar für 2025 bis 2028 in Kauf nehmen. Allerdings werde sich die US-Wirtschaft spätestens 2028 wieder einigermaßen konsolidieren können.

„Für Deutschland eine Katastrophe“

Die EU und insbesondere Deutschland aber würden laut dem IW vor allem langfristig hart getroffen. Demnach ist für die EU von einem Anstieg des Wirtschaftseinbruchs von 0,29 bis 0.42 Prozent im Jahr 2025 auf 0,91 bis 1,34 Prozent im Jahr 2027 zu rechnen. Für 2028 sagt das IW einen Rückgang um 0,89 respektive 1,33 Prozent voraus.
Die Bundesrepublik steht vor einem noch größeren Minus, das von 0,34/0,48 Prozent im Jahr 2025 auf 1,08/1,53 Prozent im Jahr 2027 steigt; 2028 verharrt die deutsche Wirtschaft demzufolge bei einem Rückgang um 0,99/1,45 Prozent.[5] Weil die Exporte strafzollbedingt deutlich schrumpften, sei von einem erheblichen Einbruch bei den privaten Investitionen auszugehen, urteilt das IW, das von einem Investitionsminus von 4 Prozent gegenüber dem ohne die Strafzölle zu erwartenden Basisszenario ausgeht. Stark getroffen werden könnten, da sie besonders große Warenmengen in die USA exportierten, „der Maschinenbau, die Pharmaindustrie und die ... Autoindustrie“, urteilt IW-Direktor Michael Hüther.[6]
Der Maschinenbau und die Kfz-Branche leiden schon jetzt unter mutmaßlich bleibenden Einbrüchen im China-Geschäft.[7] Entsprechend erklärt Hüther zu den befürchteten Einbrüchen in den USA: „Für das exportstarke Deutschland wäre das eine Katastrophe.“

Interessen der US-Industrie

Die Trump’sche Strafzollpolitik folgt dabei nicht Launen eines exzentrischen Präsidenten, sondern grundlegenden Interessen der US-Industrie. Dies belegt eine Untersuchung, die von Wissenschaftlern der Vrije Universiteit Amsterdam und der Freien Universität Berlin vorgelegt worden ist.[8] Demnach gründete die weltweite Durchsetzung offener Märkte, der sich die Vereinigten Staaten traditionell verschrieben hatten, primär darauf, dass die US-Wirtschaft stark genug war, sich international durchzusetzen und die Weltmärkte zu erobern. Dies prägte die Politik der jüngeren US-Administrationen bis hin zu derjenigen von Barack Obama. Die Politik der Trump-Administration hingegen wurde, wie die Untersuchung zeigt, vor allem von zwei Fraktionen getragen, für die offene Märkte entweder nachrangig oder sogar schädlich waren. Zum einen handelte es sich dabei um Immobilienunternehmen – also um die Branche, der Trump selbst entstammt –, zum anderen um Konzerne, denen es nicht mehr gelang, sich gegen die internationale Konkurrenz durchzusetzen – etwa Stahlkonzerne. Dabei waren die übermächtigen Konkurrenten, denen US-Unternehmen nicht mehr recht gewachsen waren, oft solche aus China. Die Strafzollpolitik richtete sich daher zunächst vor allem gegen die Volksrepublik.

Handelsüberschüsse im Visier

Da es nicht gelungen ist, die chinesische Konkurrenz niederzuringen, hat Trump angekündigt, die Maßnahmen gegen die Volksrepublik zu verschärfen. In der rasant eskalierenden globalen Rivalität nimmt er nun aber auch die Konkurrenz aus Deutschland und der EU aggressiv ins Visier. Tatsächlich hat die Bundesrepublik zuletzt aus dem Handel mit keinem Land so hohen Profit gezogen wie aus dem Handel mit den USA; im vergangenen Jahr standen Importen aus den Vereinigten Staaten in Höhe von 94,4 Milliarden Euro Exporte in das Land im Wert von 157,9 Milliarden Euro gegenüber. Der Handelsüberschuss erreichte damit 63,5 Milliarden Euro – fast ein Drittel des gesamten deutschen Handelsüberschusses, der sich 2023 auf 209,6 Milliarden Euro belief. Die hohen Erträge aus dem deutschen US-Geschäft trugen stark zur engen außenpolitischen Kooperation Berlins mit Washington bei.
Dass die zweite Trump-Administration sie in Frage zu stellen droht, lässt eine neue Absetzbewegung Deutschlands gegenüber den Vereinigten Staaten erahnen.
Die EU hat bereits mitgeteilt, sie werde auf neue US-Strafzölle mit Gegenzöllen reagieren und habe konkrete Vorbereitungen dafür getroffen.
Damit zeichnet sich eine Phase neuer transatlantischer Konflikte ab.

 

[1] Jürgen Matthes, Samina Sultan, Thomas Obst: US Inflation Reduction Act: Überschaubare Auswirkungen auf Deutschland. IW-Kurzbericht Nr. 83. Köln, 05.11.2024.

[2] Collin Eaton, Benoit Morenne: Big Oil Urges Trump Not to Gut Biden’s Climate Law. wsj.com 06.10.2024.

[3] Hubertus Bardt: Trump oder Harris oder ...? Worauf sich Europa einstellen muss. IW-Policy Paper 5/2024. Köln, 23.07.2024. S. auch -Deutsche Firmen unterstützen Trump

[4], [5] Thomas Obst, Samina Sultan, Jürgen Matthes: Was droht den transatlantischen Handelsbeziehungen unter Trump 2.0? Von Zollerhöhungen und Vergeltungsmaßnahmen. IW-Report 42/2024. Köln, 24.10.2024.

[6] Michael Hüther: US-Präsidentschaftswahl: „Für die deutsche Wirtschaft wäre ein Präsident Trump eine teure Katastrophe“. iwkoeln.de 04.11.2024.

[7] S. dazu Das Ende des deutschen Exportmodells

[8] Bastiaan van Apeldoorn, Naná de Graaf, Jaša Veselinović: Trump and the Remaking of American Grand Strategy. The Shift from Open Door Globalism to Economic Nationalism. Cham 2023.

 

IWF und BRICS: keine Rückkehr nach Bretton Woods

jeu, 07/11/2024 - 11:52

Im Oktober fand in Washington, USA, das halbjährliche Treffen von IWF und Weltbank statt.
Fast gleichzeitig traf sich die BRICS+-Gruppe in Kasan, Russland. [1]
Das Zusammentreffen dieser beiden Treffen fasst zusammen, wie es um die Weltwirtschaft im Jahr 2024 bestellt ist.

 

Nach dem Zweiten Weltkrieg wurden der IWF und die Weltbank zu den führenden Organisationen für internationale Zusammenarbeit und Maßnahmen in der Weltwirtschaft. Sie waren Institutionen, die aus dem Bretton-Woods-Abkommen von 1942 [2]  hervorgingen, das die zukünftige Weltwirtschaftsordnung festlegte, die am Ende des Zweiten Weltkriegs errichtet werden sollte. Damals sprach der damalige US-Präsident Franklin Roosevelt diese prophetischen Worte:
„Der Punkt in der Geschichte, an dem wir stehen, ist voller Versprechen und Gefahren. Die Welt wird sich entweder in Richtung Einheit und weit verbreiteten Wohlstand bewegen oder sie wird sich in notwendigerweise konkurrierende Wirtschaftsblöcke aufteilen.“

Roosevelt bezog sich auf die Spaltung zwischen den USA und ihren Verbündeten und der Sowjetunion. Dieser „Kalte Krieg“ endete mit dem Zusammenbruch der Sowjetunion im Jahr 1990. Aber jetzt, 35 Jahre später, haben Roosevelts Worte einen neuen Kontext: zwischen den USA und ihren Verbündeten und einem aufstrebenden Block von Nationen des „globalen Südens“.

Die in Bretton Woods vereinbarte Weltwirtschaftsordnung etablierte die USA als hegemoniale Wirtschaftsmacht in der Welt.
1945 war das Land die größte Produktionsnation der Welt, verfügte über den wichtigsten Finanzsektor, die schlagkräftigsten Streitkräfte – und dominierte den Welthandel und die Investitionen durch die internationale Verwendung des Dollars.

John Maynard Keynes war maßgeblich an den Verhandlungen in Bretton Woods beteiligt. [3]
Er kommentierte, dass seine „vorausschauende Idee einer  neuen Institution, die die Interessen von Gläubiger- und Schuldnerländern gerechter ausgleichen sollte, abgelehnt wurde“. Keynes' Biograf Robert Skidelsky fasste das Ergebnis zusammen. „Natürlich setzten sich die Amerikaner aufgrund ihrer wirtschaftlichen Macht durch. Großbritannien gab sein Recht auf, die Währungen seines ehemaligen Empires zu kontrollieren, dessen Volkswirtschaften nun unter die Kontrolle des Dollars und nicht des Pfunds gerieten.“ Im Gegenzug "bekamen die Briten Kredit, um zu überleben – aber mit Zinsen. Keynes erklärte dem britischen Parlament, dass der Deal nicht ‚eine Bestätigung der amerikanischen Macht, sondern ein vernünftiger Kompromiss zwischen zwei großen Nationen mit den gleichen Zielen sei, nämlich die Wiederherstellung einer liberalen Weltwirtschaft‘.
Die anderen Nationen wurden natürlich ignoriert.

Die USA und ihre Verbündeten in Europa dominieren seither den IWF und die Weltbank, sowohl personell als auch in der Politik. Trotz einiger geringfügiger Reformen des Wahl- und Entscheidungsverfahrens in den letzten 80 Jahren wird der IWF weiterhin von den G7-Staaten geführt, sodass andere Länder kaum eine Stimme haben. Insgesamt gibt es 24 Sitze im IWF-Vorstand, wobei das Vereinigte Königreich, die USA, Frankreich, Deutschland, Saudi-Arabien, Japan und China jeweils über einzelne Sitze verfügen – und die USA bei wichtigen Entscheidungen ein Vetorecht haben.

Was die Wirtschaftspolitik betrifft, so ist der IWF vielleicht am bekanntesten für die Auferlegung von „Strukturanpassungsprogrammen“. IWF-Kredite wurden Ländern in wirtschaftlicher Notlage unter der Bedingung „gewährt“, dass sie sich bereit erklärten, ihre Defizite auszugleichen, die öffentlichen Ausgaben zu kürzen, ihre Märkte zu öffnen und Schlüsselsektoren der Wirtschaft zu privatisieren. [4]
Die am häufigsten empfohlene IWF-Politik besteht nach wie vor darin, die öffentlichen Lohnkosten zu kürzen oder einzufrieren.
Und der IWF weigert sich nach wie vor, progressive Steuern auf das Einkommen und Vermögen der reichsten Einzelpersonen und Unternehmen zu fordern.
Im Jahr 2024 befinden sich nun 54 Länder in einer Schuldenkrise[5] und viele geben mehr für den Schuldendienst aus als für die Finanzierung von Bildung oder Gesundheit. [6]

Die Kriterien der Weltbank für Kredite und Hilfen an die ärmsten Länder entsprechen auch weiterhin der vorherrschenden wirtschaftlichen Auffassung, dass öffentliche Investitionen lediglich dazu dienen, den Privatsektor zu ermutigen, die Aufgabe von Investitionen und Entwicklung zu übernehmen. Die Weltbank-Ökonomen ignorieren die Rolle staatlicher Investitionen und Planung. [7] Stattdessen möchte die Bank „global bestreitbare Märkte schaffen, die Regulierung der Faktor- und Produktmärkte verringern, unproduktive Unternehmen loslassen, den Wettbewerb stärken und die Kapitalmärkte vertiefen“.

Kristalina Georgieva wurde gerade für eine zweite Amtszeit als IWF-Chefin bestätigt. Und sie spricht jetzt von "integrativen" Wirtschaftspolitiken. [8] Sie sagt, sie wolle die „globale Zusammenarbeit verstärken und die wirtschaftliche Ungleichheit verringern“.
Der IWF behauptet, er kümmere sich nun um die negativen Folgen der fiskalischen Sparmaßnahmen und verweist dabei oft darauf, dass die Sozialausgaben durch Bedingungen, die eine Ausgabenuntergrenze vorschreiben, vor Kürzungen geschützt werden sollten.

Eine Oxfam-Analyse von siebzehn aktuellen IWF-Programmen[9] ergab jedoch, dass der IWF diese Länder dazu ermutigte, für jeden Dollar, den sie für den Sozialschutz ausgeben sollten, vier Dollar durch Sparmaßnahmen einzusparen. Die Analyse kam zu dem Schluss, dass die Untergrenzen für Sozialausgaben „völlig unzureichend, inkonsequent, undurchsichtig und letztlich gescheitert“ seien.

Bis vor kurzem ging der IWF davon aus, dass ein schnelleres Wachstum von einer höheren Produktivität, freiem Kapitalfluss, Globalisierung des internationalen Handels und „Liberalisierung“ der Märkte, einschließlich der Arbeitsmärkte (was eine Schwächung der Arbeitnehmerrechte und Gewerkschaften bedeutet), abhängt.
Ungleichheit spielte dabei keine Rolle. Dies war die neoliberale Formel für Wirtschaftswachstum. Doch die Erfahrungen mit der Großen Rezession 2008/2009 und dem pandemiebedingten Einbruch 2020 scheinen der Wirtschaftshierarchie des IWF eine ernüchternde Lektion erteilt zu haben. Jetzt leidet die Weltwirtschaft unter „anämischem Wachstum“.

  

 

Der IWF ist also besorgt. Georgieva sagte, der Grund für die Verlangsamung und das niedrige reale BIP-Wachstum in den großen Volkswirtschaften sei die zunehmende Ungleichheit von Vermögen und Einkommen:
„Wir haben die Pflicht, das zu korrigieren, was in den letzten 100 Jahren am schlimmsten falsch gelaufen ist – das Fortbestehen der hohen wirtschaftlichen Ungleichheit. Untersuchungen des IWF zeigen, dass eine geringere Einkommensungleichheit mit einem höheren und nachhaltigeren Wachstum verbunden sein kann.“
Klimawandel, zunehmende Ungleichheit und eine verstärkte geopolitische „Fragmentierung“ bedrohen auch die Weltwirtschaftsordnung und die Stabilität des sozialen Gefüges des Kapitalismus.[10]

Während der langen Depression der 2010er Jahre hat sich die Globalisierung entlang geopolitischer Linien fragmentiert – im Jahr 2023 wurden rund 3.000 handelsbeschränkende Maßnahmen verhängt, fast dreimal so viele wie 2019. Georgieva ist besorgt: „Die geoökonomische Fragmentierung verschärft sich, da die Länder Handels- und Kapitalströme verlagern. Die Klimarisiken nehmen zu und wirken sich bereits auf die Wirtschaftsleistung aus, von der landwirtschaftlichen Produktivität über die Zuverlässigkeit des Transports bis hin zur Verfügbarkeit und den Kosten von Versicherungen. Diese Risiken könnten Regionen mit dem größten demografischen Potenzial, wie z. B. Subsahara-Afrika, zurückwerfen.“

Unterdessen belasten höhere Zinssätze und Kosten für den Schuldendienst die Staatshaushalte, sodass den Ländern weniger Spielraum bleibt, um grundlegende Dienstleistungen bereitzustellen und in Menschen und Infrastruktur zu investieren.

Deshalb strebt Georgieva für ihre neue fünfjährige Amtszeit einen neuen IWF- Ansatz an. [11]Das bisherige neoliberale Modell für Wachstum und Wohlstand muss durch ein „integratives Wachstum“ ersetzt werden, das darauf abzielt, Ungleichheiten abzubauen und nicht nur das reale BIP zu steigern. Die wichtigsten Themen sollten jetzt „Inklusion, Nachhaltigkeit und globale Governance sein, wobei der Schwerpunkt auf der Beseitigung von Armut und Hunger liegt.“

Aber können der IWF oder die Weltbank wirklich etwas ändern, selbst wenn Georgieva dies möchte, solange die USA und ihre Verbündeten diese Institutionen kontrollieren?

Die Bedingungen für IWF-Kredite haben sich kaum geändert. Es gibt vielleicht einen gewissen Schuldenerlass (d. h. eine gewisse Umstrukturierung bestehender Kredite), aber keine Streichung von belastenden Schulden. Was die Zinssätze für diese Kredite betrifft, so verhängt der IWF tatsächlich versteckte zusätzliche Strafzinsen für sehr arme Länder, die ihren Rückzahlungsverpflichtungen nicht nachkommen können! NAchdem es immer mehr Proteste gegen diese Strafen gab, wurden diese Sätze gesenkt (nicht abgeschaftt), wodurch die Kosten für die Schuldner um (nur) 1,2 Mird. US-Dollar pro Jahr gesenkt wurden.

Christine Lagarde, die Leiterin der Europäischen Zentralbank (EZB), war die vorherige IWF-Chefin. Sie hielt im vergangenen Frühjahr eine wichtige Grundsatzrede vor dem US-amerikanischen Council of Foreign Relations in New York. Lagarde sprach nostalgisch über die Zeit nach 1990 nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion, die angeblich eine neue Blütezeit der globalen Dominanz der USA und ihrer „Allianz der Willigen“ einläutete.

"In der Zeit nach dem Kalten Krieg profitierte die Welt von einem bemerkenswert günstigen geopolitischen Umfeld. Unter der hegemonialen Führung der Vereinigten Staaten blühten regelbasierte internationale Institutionen auf und der Welthandel expandierte. Dies führte zu einer Vertiefung der globalen Wertschöpfungsketten und, als China der Weltwirtschaft beitrat, zu einer massiven Zunahme des globalen Arbeitskräfteangebots."

Dies waren die Tage der Globalisierungswelle mit steigenden Handels- und Kapitalströmen; der Vorherrschaft von Bretton-Woods-Institutionen wie dem IWF und der Weltbank, die die Kreditbedingungen diktierten; und vor allem der Erwartung, dass China nach seinem Beitritt zur Welthandelsorganisation (WTO) im Jahr 2001 in den imperialistischen Block aufgenommen werden würde.

Doch es kam anders als erwartet. Die Globalisierungswelle fand nach der Großen Rezession ein jähes Ende und China spielte bei der Öffnung seiner Wirtschaft für die multinationalen Unternehmen des Westens nicht mit. [12]
Dies zwang die USA dazu, ihre China-Politik von „Engagement“ auf „Eindämmung“ umzustellen – und das mit zunhemneder Intensität in den letzten Jahren. Und dann kam die erneute Entschlossenheit der USA und ihrer europäischen Satelliten, ihre Kontrolle nach Osten auszuweiten und so sicherzustellen, dass Russland bei dem Versuch scheitert, die Kontrolle über seine Grenzländer auszuüben, und Russland als Gegenkraft zum imperialistischen Block dauerhaft zu schwächen. Dies führte zur russischen Invasion in der Ukraine.

Dies leitet über zum Aufstieg des BRICS-Länderblocks. BRICS ist die Abkürzung für Brasilien, Russland, Indien, China und Südafrika, die ursprünglichen Mitglieder. Jetzt wird in Kasan das erste Treffen von BRICS-plus mit seinen neuen Mitgliedern stattfinden: Iran, Ägypten, Äthiopien, die Vereinigten Arabischen Emirate (und vielleicht Saudi-Arabien).

Unter Linken wird viel optimistisch darüber gesprochen, dass das Entstehen der BRICS-Gruppe das Gleichgewicht der wirtschaftlichen und politischen Kräfte weltweit verändern wird. Es stimmt, dass das BIP der fünf BRICS-Staaten zusammen genommen 13] inzwischen größer ist als das der G7-Staaten, wenn man die Kaufkraftparität zugrunde legt (ein Maß dafür, was man mit dem BIP im Inland an Waren und Dienstleistungen kaufen kann).
Und wenn man die neuen Mitglieder hinzurechnet, wird der Abstand noch größer.

Aber es gibt auch Einschränkungen. Erstens ist es innerhalb der BRICS China, das den Großteil des BRICS-BIP erwirtschaftet (mit einem Anteil von 17,6 Prozent am globalen BIP), gefolgt von Indien mit großem Abstand (7 Prozent); während Russland (3,1 Prozent), Brasilien (2,4 Prozent) und Südafrika (0,6 Prozent) zusammen nur 6,1 Prozent des Welt-BIP ausmachen.
Die BRICS verfügen nicht über eine gleichmäßig verteilte Wirtschaftskraft. Und wenn wir das BIP pro Person messen, sind die BRICS-Staaten wenig auffällig.
Selbst bei Verwendung von KKP-bereinigten internationalen Dollar beträgt das Pro-Kopf-BIP der Vereinigten Staaten 80.035 US-Dollar, mehr als das Dreifache des BIP Chinas, das 23.382 US-Dollar beträgt.

Die BRICS+-Gruppe wird zunächst eine viel kleinere und schwächere Wirtschaftsmacht bleiben als der imperialistische G7-Block.
Darüber hinaus sind die BRICS-Staaten in Bezug auf Bevölkerung, Pro-Kopf-BIP, geografische Lage und Handelsstruktur sehr unterschiedlich.
Und die herrschenden Eliten in diesen Ländern liegen oft im Streit (Brasilien gegen Russland, Iran gegen Saudi-Arabien, China gegen Indien- wobei das aktuelle BRICS-Treffen Anlass zu einer Lösung des Grenzkonfliktes war).
Im Gegensatz zur G7, die zunehmend homogene wirtschaftliche Ziele unter der festen hegemonialen Kontrolle der USA verfolgt, ist die BRICS-Gruppe in Bezug auf Wohlstand und Einkommen uneinheitlich und hat keine einheitlichen wirtschaftlichen Ziele – außer vielleicht dem Versuch, sich von der wirtschaftlichen Dominanz der USA und insbesondere des US-Dollars zu lösen.

Und selbst dieses Ziel wird schwer zu erreichen sein. Die wirtschaftliche Dominanz der USA ist weltweit zwar relativ zurückgegangen und auch der Dollar hat an Bedeutung verloren, doch ist der Dollar nach wie vor die mit Abstand wichtigste Währung für Handel, Investitionen und nationale Reserven. [14]
Etwa die Hälfte des gesamten Welthandels wird in Dollar abgerechnet, und dieser Anteil hat sich kaum verändert.
Der US-Dollar war an fast 90 % der weltweiten Devisentransaktionen beteiligt und ist damit die am meisten gehandelte Währung auf dem Devisenmarkt.
Etwa die Hälfte aller grenzüberschreitenden Kredite, internationalen Schuldverschreibungen und Handelsrechnungen lauten auf US-Dollar, während etwa 40 Prozent der SWIFT-Nachrichten und 60 Prozent der weltweiten Devisenreserven in Dollar angegeben sind.

 

Der chinesische Yuan gewinnt weiterhin allmählich an Wert und der Anteil des Renminbi am weltweiten Devisenumsatz ist von weniger als 1 % vor 20 Jahren auf jetzt mehr als 7 % gestiegen. Aber die chinesische Währung macht immer noch nur 3 Prozent der globalen Devisenreserven aus, gegenüber 1 Prozent im Jahr 2017. Und China scheint den Dollar-Anteil seiner Reserven in den letzten zehn Jahren nicht verändert zu haben.


"Kurz gesagt, Länder/Unternehmen/Institutionen, die sich für eine Ent-Dollarisierung einsetzen, tragen entweder erhebliche Kosten und Risiken oder laufen Gefahr, diese zu tragen. Im Gegensatz dazu gibt es keine entsprechenden unmittelbaren Vorteile durch die Abkehr vom Dollar. Daher wird die große Mehrheit der Länder/Unternehmen/Institutionen nicht auf den Dollar verzichten, es sei denn, sie werden dazu gezwungen. Der Dollar kann daher nicht als internationale Währungseinheit ersetzt werden, ohne dass sich die globale internationale Situation grundlegend ändert, wofür die objektiven internationalen Bedingungen noch nicht gegeben sind."[15]

Darüber hinaus sind multilaterale Institutionen, die eine Alternative zu den bestehenden (von den imperialistischen Volkswirtschaften kontrollierten) Institutionen IWF und Weltbank darstellen könnten, immer noch winzig und schwach. Zum Beispiel gibt es die 2015 in Shanghai gegründete Neue Entwicklungsbank der BRICS-Staaten. Die NDB wird von der ehemaligen linken Präsidentin Brasiliens, Dilma, geleitet. Es wird viel darüber geredet, dass die NDB den imperialistischen Institutionen IWF und Weltbank einen Gegenpol in Sachen Kredit bieten kann. Aber bis dahin ist es noch ein weiter Weg. Ein ehemaliger Beamter der South African Reserve Bank (SARB) kommentierte: „Die Vorstellung, dass BRICS-Initiativen, von denen die NDB bisher die bekannteste ist, die vom Westen dominierten multilateralen Finanzinstitutionen ersetzen werden, ist ein Wunschtraum.“

Und wie Patrick Bond es kürzlich ausdrückte: "Die Rolle der BRICS in der globalen Finanzwelt, die sich verbal links und in der Praxis rechts positioniert, zeigt sich nicht nur in der energischen finanziellen Unterstützung des Internationalen Währungsfonds in den 2010er Jahren, sondern auch in der Entscheidung der BRICS New Development Bank – angeblich eine Alternative zur Weltbank – Anfang März ihr russisches Portfolio einzufrieren, da sie sonst ihr westliches Kreditrating von AA+ nicht beibehalten hätte. Und Russland ist zu 20 % Anteilseigner der NDB.

Die BRICS sind ein Sammelsurium von Nationen mit Regierungen, die keine internationalistische Perspektive haben, schon gar nicht eine, die auf dem Internationalismus der Arbeiterklasse basiert, und die von autokratischen Regimen geführt werden, in denen die arbeitende Bevölkerung wenig oder gar nichts zu sagen hat, oder von Regierungen, die immer noch stark an die Interessen des imperialistischen Blocks gebunden sind.

Kehren wir zu Bretton Woods und Roosevelts Prophezeiung zurück. Viele moderne Keynesianer halten das Bretton-Woods-Abkommen für einen der größten Erfolge der keynesianischen Politik, da es die Art von globaler Zusammenarbeit ermöglicht, die die Weltwirtschaft braucht, um aus der aktuellen Depression herauszukommen. Es ist nämlich erforderlich, dass sich alle großen Volkswirtschaften der Welt zusammensetzen, um ein neues Handels- und Währungsabkommen mit Regeln auszuarbeiten, die sicherstellen, dass alle Länder zum Wohle der Weltgemeinschaft handeln.
Zwei Keynsianer der Demokratischen Partei in den USA waren kürzlich der Meinung, dass „eine andere Art von Weltanschauung noch nie so klar war. Dies zeigt ein Blick auf eines der Probleme unserer Zeit, vom Klima über Ungleichheit bis hin zur sozialen Ausgrenzung ... Die Gestaltung eines neuen globalen Wirtschaftsrahmens erfordert ein globales Gespräch.“

Das ist in der Tat richtig, aber ist das in einer Welt, die von einem imperialistischen Block kontrolliert wird, der von einem zunehmend protektionistischen und militaristischen Regime (mit Trump am Horizont) angeführt wird, wirklich möglich? Kann ein loses Bündnis von Regierungen, die oft ihre eigenen Völker ausbeuten und unterdrücken, Widerstand leisten? In einer solchen Situation sind Hoffnungen auf eine neue koordinierte Weltordnung in den Bereichen globales Geld, Handel und Finanzen ausgeschlossen. Ein neues und faires „Bretton Woods“ wird es im 21. Jahrhundert nicht geben – im Gegenteil.

Zurück zu Lagarde: „Der wichtigste Faktor, der die internationale Währungsnutzung beeinflusst, ist die ‚Stärke der Fundamentaldaten‘.
Mit anderen Worten:
Einerseits der Trend zur Schwächung der Volkswirtschaften im imperialistischen  Block, die im weiteren Verlauf des Jahrzehnts mit sehr langsamem Wachstum und Einbrüchen konfrontiert sind, [16] und andererseits die anhaltende Expansion Chinas und sogar Indiens.
Das bedeutet, dass die starke militärische und finanzielle Dominanz der USA und ihrer Verbündeten auf den Hühnerbeinen einer relativ schlechten Produktivität, Investition und Rentabilität steht. Das ist ein Rezept für globale Fragmentierung und Konflikte.

 

[1] https://brics-russia2024.ru/en/summit

[2] https://en.wikipedia.org/wiki/Bretton_Woods_Conference

[3] https://thenextrecession.wordpress.com/2016/04/23/keynes-and-bretton-woods-70-years-later

[4] https://actionaid.org/publications/2021/public-versus-austerity-why-public-sector-wage-bill-constraints-must-end

[5] https://debtjustice.org.uk/countries-in-crisis

[6] https://thenextrecession.wordpress.com/2024/08/14/bangladesh-the-global-south-debt-crisis-intensifies

[7] https://www.worldbank.org/en/publication/wdr2024

[8] https://thenextrecession.wordpress.com/2024/04/30/inclusive-economics-and-the-imf

[9] https://oxfamilibrary.openrepository.com/bitstream/handle/10546/621495/bp-imf-social-spending-floors-130423-en.pdf?sequence=4&isAllowed

[10] https://www.imf.org/en/Blogs/Articles/2024/02/26/how-the-g20-can-build-on-the-world-economys-recent-resilience?s=09

[11] https://www.imf.org/en/Blogs/Articles/2024/02/26/how-the-g20-can-build-on-the-world-economys-recent-resilience?s=09

[12] https://thenextrecession.wordpress.com/2022/04/27/has-globalisation-ended

[13] https://theprint.in/economy/led-by-china-india-the-5-brics-nations-now-contribute-more-to-world-gdp-than-industrialised-g7/1490881

[14] https://thenextrecession.wordpress.com/2023/04/22/a-multipolar-world-and-the-dollar

[15] John Ross ist Senior Fellow am Chongyang Institute for Financial Studies der Renmin University of China

 https://mronline.org/2024/06/18/what-is-the-realistic-strategy-for-de-dollarisation

[16] https://www.worldbank.org/en/research/publication/long-term-growth-prospects

 

De-Dollarisierung und BRICS-Gipfel (II/III)

jeu, 07/11/2024 - 10:59

Die Teilnehmer des BRICS-Gipfeltreffens im russischen Kasan vom 22. bis 24. 10. 2024 bekräftigten, am alten Ziel festzuhalten.
Sie wollen die Dominanz des US-Dollars im Weltwirtschafts- und globalen Finanzsystem brechen, verstehen sich dabei aber nicht als ein antiwestliches, sondern als ein nichtwestliches Bündnis.

 

Die Experten spekulierten vor dem Treffen, ob es zu konkreten Maßnahmen führen würde. Wenige erwarteten einen Durchbruch. Ein solcher blieb dann auch aus.
Doch Brasilien, Russland, Indien, China, Südafrika und die neuen Mitglieder des Bündnisses – Ägypten, Äthiopien, Iran, die Vereinigten Arabischen Emirate – sowie 13 assoziierte Staaten (unter ihnen Kuba und Bolivien) wollen sich aus der Abhängigkeit von westlichen, insbesondere von US-amerikanischen Institutionen lösen und eine eigenständige Finanzarchitektur errichten.
Sie streben seit langem eine Entdollarisierung (De-Dollarisierung) der Weltwirtschaft an.

Daran halten sie fest. Die Bestrebungen stoßen auf die Sympathie vieler Staaten. Mehr als 30 wollen sich dem Diktat des Dollars entziehen und sind interessiert, mit dem BRICS-Bündnis zusammenzuarbeiten, Mitglieder oder Partner zu werden.

Dollarisierung bedeutet, dass der US-Dollar als die Leitwährung im internationalen Handel auftritt und sich andere Währungen unterordnet. Tatsächlich ist er die wichtigste Rechnungs- und Reservewährung der Welt, dominiert als Tauschmittel und Mittel der Wertaufbewahrung den Welthandel, hat in beiden Funktionen die nationalen Währungen weitgehend verdrängt.
Noch immer wird das Rohöl zum überwiegenden Teil in Dollar gehandelt. Will ein Land Öl importieren, muss es Dollar besitzen oder sich beschaffen. Zwar musste der Dollar einen merklichen Verlust seines Ansehens hinnehmen. Sein Anteil an den Weltwährungsreserven ging seit 1970 um 25 Prozent zurück, er beträgt aber immer noch 58 Prozent, der des Euro 20 Prozent. Der Anteil des chinesischen Renminbis (Yuan) hat erst gut 2 Prozent erreicht, obgleich China, gemessen am nominalen Bruttoinlandprodukt hinter den USA die zweite, gemessen am kaufkraftbereinigten Bruttoinlandprodukt sogar die mächtigste Volkswirtschaft der Welt ist und von allen Ländern die größten Devisen – und Goldreserven besitzt. Der Name Renminbi bedeutet „Volkswährung“ oder „Volksgeld“, Er ist der Name für die chinesische Währung im Allgemeinen, nicht aber für die Geldeinheit. Die chinesische Geldeinheit ist der Yuan. Ein Euro entsprach im Herbst 2024 etwa acht Yuan. Die chinesische Zentralbank legt ihre riesigen Überschüsse überwiegend in auf Dollar lautende US-Staatsanleihen an.[1] Andererseits hat China im ersten Quartal 2024 US-Anleihen im Wert von 53,3 Milliarden US-Dollar verkauft, ein historischer Höchststand, der als ein Element der De-Dollarisierung gedeutet werden könnte.

Doch Vorsicht:
Trotz eines Bedeutungsverlustes wird der US-Dollar nach wie vor global als Welt- und Leitwährung akzeptiert.
Mit ihm wird die Hälfte aller internationalen Zahlungen verrechnet und beglichen. Daneben haben mehrere Länder ihre Währungen fest an den US-Dollar gebunden, wie die Bahamas, Barbados, Eritrea, Jordanien, Katar, Libanon, Grenada, Saudi-Arabien u.a. Die Ölförderländer Oman, Saudi-Arabien und Katar haben ihre Währungen mit dem US-Dollar verknüpft, weil die USA ihr wichtigster Handelspartner für Öl ist. Die Zentralbank von Oman hat z. B. den Wert des omanischen Rial auf 2,6008 US-Dollar festgelegt und ihn damit fest mit der US-Währung verbunden. Der Kurs des Rial schwankt wie der des Dollar. Auch die Währung der chinesischen Sonderverwaltungszone Hongkong – der Hongkong-Dollar – ist an den US-Dollar gekoppelt, die Währungen von Singapur und Malaysia waren es gewesen. Es gibt sogar Staaten wie die lateinamerikanischen Länder Panama, Ecuador und El Salvador, die den US-Dollar als inländische Hauptwährung eingeführt haben.
 Der Dollar zirkuliert in den nationalen Wirtschaftskreisläufen, wofür die Staaten über entsprechende Dollarreserven verfügen müssen. Länder, in den der US-Dollar die offizielle staatliche Inlandswährung ist, verzichten zwangsläufig auf eine eigene Währungspolitik. In vielen Ländern mit einer schwachen Währung ist eine gute Zweitwährung begehrt und im Umlauf. Inländer und Touristen bevorzugen sie. Als Zweitwährung fungiert meist der US-Dollar, zum Beispiel in Kambodscha, Simbabwe und Liberia, aber auch in Mexiko, in Chile oder in Brasilien und Argentinien, den immerhin achtgrößten Staat der Erde. In Argentinien ist es erlaubt, Verträge in Dollarwährungen abzuschließen und Rechnungen in US-Dollar auszustellen.

In Kuba konnte früher der für Touristen verfügbare konvertible Peso nur gegen Euro getauscht werden. Der US-Dollar wurde dort offiziell nicht akzeptiert. So war es nicht möglich, in den Geschäften und Restaurants in Kuba direkt mit US-Dollar zu bezahlen. Die kubanische Regierung hat die Restriktionen gelockert. Der US-Dollar kann nun offiziell in Kuba verwendet werden. Viele Geschäfte und Anbieter von Dienstleistungen akzeptieren ihn als Zahlungsmittel.

De-Dollarisierung bedeutet, die Dollar-Hegemonie zu beenden, die über Jahrzehnte anhaltende, unangefochtene Dominanz des US-Dollars in den Weltfinanzbeziehungen zu überwinden.
Die Gründe sind leicht einzusehen. Drastische finanzielle Sanktionen, zum Beispiel gegenüber dem Iran oder Russland, zeigen, dass die Weltmacht USA ihre Währung als Waffe gegen unliebsame Staaten einsetzt. Institutionen wie die Weltbank und der Internationale Währungsfonds (IWF) benutzen den US-Dollar als Druckmittel gegenüber Nationen, die den USA und ihren westlichen Verbündeten suspekt sind oder die sich in Not befinden.
Russische Banken wurden von internationalen Zahlungstransaktionen abgekoppelt, die Auslandsreserven der russischen Zentralbank eingefroren. Der Westen verweigert den russischen Gläubigern den Zugriff auf ihre Euro- und Dollarguthaben, der Schuldner bricht sein Versprechen, dem ausländischen Inhaber dessen Geld zurückzuzahlen – „eine kalte Enteignung von gut 300 Milliarden Euro“ gegenüber der russischen Zentralbank, sagt Lucas Zeise.[2]  
US-Dollar und Euro werden „militarisiert“. Von den USA und Westeuropa als Waffen missbraucht, untergraben sie das Vertrauen, das die Geld- und Währungssysteme benötigen, um zu funktionieren. Aaron Sahr spricht von einer „monetären Kriegführung“. Er nennt die Abkopplung russischer Banken vom westlichen Nachrichten- und Zahlungsverkehrssystem SWIFT, sich auf das „Handelsblatt“ beziehend, eine „finanzielle Atombombe“.[3] SWIFT ist die Abkürzung für „Society for Worldwide Interbank Financial Telecommunication“. Die 1973 gegründete und in Belgien ansässige Gesellschaft stellt die technischen Mittel zur Verfügung, damit die Geldinstitute über Landesgrenzen hinweg Banküberweisungen und andere Finanztransaktionen wie Wertpapier- und Edelmetallgeschäfte schnell und sicher abwickeln können.
Mehr als 11 000 Teilnehmer in 210 Ländern nutzen nach Angaben von SWIFT den Dienst. Rund die Hälfte des internationalen Zahlungsverkehrs wird in US-Dollar, gut ein Fünftel in Euro abgewickelt. Der Westen schloss Russland aus dem internationalen Finanzsystem aus und zwingt es, Alternativen zu suchen. Der Vorgang besitzt grundsätzliche Bedeutung, die über die geopolitischen Aspekte finanzieller Sanktionen hinausgehen. Welcher Staat sollte weiter Euro- und Dollarguthaben aufbauen, wenn diese von heute auf morgen für nichtig erklärt werden können? Was einigermaßen funktioniert, solange „die USA mehr oder weniger die unumstrittene Hegemonialmacht waren, wird sich in der multipolaren Welt der Gegenwart wahrscheinlich nicht mehr umsetzen lassen“, schreibt Sahr. „Ansprüche gegen das europäische oder US-amerikanische Bankensystem zu halten, könnte von anderen Ländern zunehmend als geostrategisches Sicherheitsrisiko eingeschätzt werden. Sie werden also womöglich, wie es Russland, Indien oder China bereits versuchen, nach alternativen Arrangements zur Abwicklung internationaler Zahlungen suchen.“[4]

In den BRICS-Staaten lebt fast die Hälfte der Weltbevölkerung, im erweiterten Bündnis sogar 70 Prozent. Sie produzieren 35 Prozent des weltweiten Bruttoinlandprodukts, die G7- Staaten 30 Prozent.

Die Teilnehmerstaaten bekräftigten auf dem 16. Gipfeltreffen in Kasan ihre Intentionen. In ihrer Abschlusserklärung – „Kazan Declaration“ – verurteilen sie die westlichen Sanktionen und sehen Maßnahmen vor, um die wirtschaftliche Kooperation im Bündnis zu fördern und zu stärken. Sie bekennen sich ein weiteres Mal zu der bekannten Absicht, sich vom westlichen, also vom US-Dollar und Euro-zentrierten Finanzsystem zu lösen.

So wollen sie im gegenseitigen Handel und für Kredite verstärkt nationale Währungen nutzen, dabei die Rolle der BRICS-eigenen NEW Development Bank (NDB) stärken sowie analog dem SWIFT-Modell ein grenzüberschreitendes BRICS-Zahlungssystem und einen Clearing-Mechanismus errichten, eine digitale Abwicklungs- und Zahlungsplattform im BRICS-Rahmen.

 


Die NDB soll Kredite zu günstigen Bedingungen in lokalen Währungen ausreichen, um die Infrastruktur zu modernisieren, den Wohnungsbau zu finanzieren und die nationale Produktion der Bündnisländer voranzubringen und zu stärken. Doch konkrete Fortschritte erreichten die Teilnehmer des Gipfeltreffens nicht. In Kasan verabredeten die Mitgliedsländer lediglich zu prüfen, inwieweit eine unabhängige Zahlungs- und Reserveplattform (BRICS-Clear) installiert werden kann. Über den bisherigen Stand kam man nicht hinaus. Es ist daher kaum damit zu rechnen, dass in Bälde ein unabhängiges BRICS-Zahlungssystem errichtet wird, obwohl sich 159 Länder bereiterklärt haben sollen, es zu übernehmen, Länder, die keine guten Beziehungen zu den USA haben und der Ansicht sind, dass die USA das SWIFT-System gegen sie einsetzen.[5] Die geld- und finanzpolitischen Absichtserklärungen waren erwartet worden. Doch Walentina Matwijenko, die Vorsitzende des Föderationsrates in Russland, dem Oberhaus des russischen Parlaments, hatte vor dem Gipfel gehofft und angekündigt, dass die Festlegungen einschlagen würden wie eine Bombe. Auch einige westliche Journalisten hatten Arges befürchtet. Sie spekulierten, die Teilnehmerstaaten könnten sich zu einer gemeinsamen Währung entschließen, über die sie schon viele Jahre diskutiert hatten. Aber die Teilnehmer des Kasaner Treffens ließen keine „Bombe“ platzen. Weitreichende, schnelle und konkrete Fortschritte blieben aus.
Das Interesse der mächtigen Mitgliedstaaten China und Indien ist zu groß, ihre globalen Geschäfte innerhalb des Dollarraums auszubauen. Ein radikaler Bruch mit dem westlich dominierten Weltfinanzsystem würde das sehr erschweren. Er steht für beide Länder nicht zur Debatte.

Wie könnte es weitergehen?
Sicher ist, dass die Zukunft ungewiss ist. Möglich erscheint Vieles.

Der brasilianische Präsident Luiz Inácio hatte 2023 vorgeschlagen, eine BRICS-eigene Währung als Alternative zum US-Dollar zu schaffen. Die Vorstellung über eine eigene Währung – das BRICS-Großprojekt – gibt es schon seit längerem. Sie gedieh, ist kein Hirngespinst, aber keineswegs ausgereift. Die denkbare und erwünschte Einheitswährung wurde zunächst unter dem Arbeitstitel R5 diskutiert. Die Landeswährungen der fünf BRICS-Staaten beginnen mit dem Buchstaben R. Brasilien hat den Real, Russland den Rubel, Indien die Rupie, China den Renminbi-Yuan und Südafrika den Rand. Es war vorgeschlagen worden, die Schwäche und Instabilität der fünf Währungen zu beheben, indem die Einheitswährung an das Gold gekoppelt wird. Gold gilt zwar als politisch neutral und als eine wertvolle, sichere Anlage, jedoch ist es unwahrscheinlich, dass es zu einer goldgedeckten BRICS-Währung kommt, auch wenn die Zentralbanken der BRICS-Länder seit Beginn des Jahres 2023 800 Tonnen Gold erworben haben, China allein 225 Tonnen.[6]
Das Projekt einer gemeinsamen Rechnungseinheit wurde auch unter dem Namen UNIT (United New International Trade) diskutiert. UNIT sollte vergleichbar sein mit dem transferablen Rubel des Rates für gegenseitige Wirtschaftshilfe (RGW). Die Überlegungen gingen davon aus, den Wert der gemeinsamen Rechnungseinheit zu 40 Prozent an den Wert des Goldes und zu 60 Prozent an einen Korb nationaler Währungen der BRICS-Länder zu binden. Der Vorteil wäre, dass die Rechnungseinheit, die in jede nationale Währung umgewandelt werden kann, liquider und praktikabler ist als jede von ihnen. Doch das Projekt der gemeinsamen Währung und Rechnungseinheit wurde auf dem Gipfel nicht weiter verfolgt. Offenbar setzen die Teilnehmer zunächst auf die stärkere Nutzung ihrer nationalen Währungen im gegenseitigen Handel und Kapitalverkehr, um den Dollar aus dem Zahlungsverkehr zwischen ihnen zu verbannen, ohne die Hoffnung auf eine gemeinsame Währung gänzlich aufzugeben.[7] „Banken, Zentralbanken und die Entwicklungsbanken sollen demnach enger zusammenrücken und den Zahlungsverkehr untereinander verstärkt in den Landungswährungen regeln. ‚Eine dringende Aufgabe besteht darin, die Verwendung nationaler Währungen zur Finanzierung von Handel und Investitionen zu fördern‘, fasste Putin auf der Gipfelsitzung im erweiterten Rahmen das Anliegen der Teilnehmer zusammen.“[8] Neue praktische Schritte, eine eigene Währung zu etablieren, unterblieben in Kasan. Lucas Zeise hat recht, dass es schwer ist, eine Währung per Dekret oder Beschluss aus dem Boden zu stampfen, die überall akzeptiert wird.[9] Statt sich auf eine gemeinsame Währung zu einigen, ist zu erwarten, dass die BRICS-Staaten vorerst ein Netzwerk bilateraler und minilateraler Institutionen wie etwa Swap-Linien, Clearing-Banken und Zahlungsinfrastrukturen schaffen, die Transaktionen in lokaler Währung erleichtern und die „Ent-Dollarisierung“ auf andere Weise voranbringen.[10]

 


Es ist davon auszugehen, dass die aktuelle Dollar-Dominanz für eine absehbare Zeit erhalten bleibt, sich aber weiter abschwächen könnte.
Der Dollar wird die internationale Leitwährung bleiben, muss aber weiter verstärkt um seine unangefochtene Position bangen.



Der Euro und der chinesische Renminbi werden wie bereits heute ihren Einfluss in der Nachbarschaft der Eurozone behaupten, aber auf globaler Ebene die Rolle des US-Dollar als internationale Währung erst einmal nicht ernsthaft gefährden.
China wickelt beispielsweise mit dem von westlichen Finanzsanktionen betroffenen Iran Ölexporte in seiner Landeswährung Renminbi ab. Auch mit anderen Staaten ist das denkbar. Erleichtert würde die stärkere internationale Verwendung der chinesischen Währung, wäre sie vollständig konvertibel. Weshalb aber sollte Saudi-Arabien z. B. einen nichtkonvertiblen Renminbi akzeptieren, wenn der Bedarf an chinesischen Gütern überschaubar ist, und warum sollte das Indien tun, das sein Öl aus dem Ausland mit Rupien bezahlen darf?
Solange die BRICS-Staaten starke Handels- und Wirtschaftsbeziehungen mit den Ländern des Dollar-Raums unterhalten, erscheint es realistisch, dass der US-Dollar für viele Länder auch weiterhin das geeignete Mittel zum Tausch und zur Wertaufbewahrung bleiben wird, solange er uneingeschränkt international konvertibel ist und jederzeit gewinnbringend angelegt werden kann, sei es als Direktinvestitionen, Aktien oder Kredite.

Mittel- und langfristig kann nicht ausgeschlossen werden, dass mehrere gegeneinander konkurrierende Währungsblöcke entstehen und sich festigen. Ein Renminbi-Block könnte sich als Gegengewicht zum Dollarblock bilden. Das Szenario stimmt überein mit den Bekundungen der BRICS-Staaten, den Einfluss des US-Dollars in den weltwirtschaftlichen Beziehungen zurückzudrängen.
 Dagegen spricht momentan noch, dass China fest in das globale Dollarsystem eingebunden ist. Sein exportgetriebenes Wachstum baut auf die Nachfrage aus den USA. Ein Ausbrechen aus dem Dollarraum hätte negative Folgen für die chinesische Wirtschaft. Insgesamt führen die unterschiedlichen Interessen der BRICS-Mitgliedsländer, insbesondere die speziellen Chinas, des wirtschaftlich mächtigsten Landes unter ihnen, dazu, dass eine finale De-Dollarisierung in absehbarer Zeit nicht zu erwarten ist.
Doch langfristig ist es möglich, dass sich ein eigenes BRICS-Währungssystem mit einer elektronischen Währung durchsetzen kann und den US-Dollar als Transaktionseinheit des internationalen Handels weiter zurückdrängt.[11]

Trotz magerer Ergebnisse in Kasan, ist die Brics-Gruppe „eine ernstzunehmende Herausforderung für den Westen“, sagt Fredy Gsteiger, diplomatischer Korrespondent des Schweizer Radio und Fernsehen (SRF).
„Der muss erst lernen, wie er damit umgehen will. Eine Totalkonfrontation ist kein taugliches Rezept. Aber will man nicht einfach zusehen, wie der eigene weltweite Einfluss schwindet […], bräuchte es erheblich mehr westliche Einigkeit und Entschlossenheit. Und eine verlässliche Führungsmacht, welche die politisch volatilen USA nicht mehr vollumfänglich sind.“[12]

 

[1] Lucas Zeise, Kampf um den US-Dollar, in: junge Welt, Beilage „Welt im Umbruch“, 23. 10. 2024, S. 5.

[2] ebenda

[3] Aaron Sahr, Waffenfähige Ansprüche. Zur Militarisierung des Geldes im Ukrainekrieg, in: Aaron Sahr (Hrsg.), Geldpolitik im Umbruch, Bundeszentrale für politische Bildung, Schriftenreihe, Band 11064, Bonn 2024, S. 197 f., 201.

[4] Ebenda, S. 112.

[5] https://krypto-guru.de/news/brics-zahlungssystem-de-dollarisierung/, 30.10.2024.

[6] https://www.kettner-edelmetalle.de/news/brics-staaten-setzen-auf-gold-us-dollar-reserven-auf-historischem-tiefstand-04-10-2024, 03.11.2024.

[7] „Wir werden uns trotzdem einer Lösung nähern“, hatte Putin noch auf dem vorangegangen Gipfel 2023 per Videoschalte in Johannesburg trotzig-forsch erklärt. https://www.sueddeutsche.de/wirtschaft/brics-waehrung-dollar-alternative-1.6171793, 31.10.2024. In Kasan war von einer gemeinsamen BRICS-Währung als Alternative zum US-Dollar keine Rede mehr.

[8] https://finanzmarktwelt.de/brics-gemeinsame-waehrung-bleibt-fata-morgana-327579/, 03.11.2024.

[9] Lucas Zeise, a.a.O.

[10] https://www.faz.net/pro/weltwirtschaft/finanzwelt/globales-finanzsystem-die-brics-schleichen-sich-vom-dollar-davon-110074298.html, 03.11.2024.

[11] Wolfgang Elsner, Gefährlicher Machtverlust, in: junge Welt, Beilage „Welt im Umbruch“, 23.10.2014, S.8.

[12] https://www.srf.ch/news/international/gipfel-in-russland-brics-staaten-einig-ueber-wenig-aber-geeint-gegen-den-westen, 31.10.2024.

XVI. BRICS-Gipfel vom 22. bis 24. Oktober 2024 in Kasan/Russland. Welcher Stellenwert ist ihm zuzumessen?

jeu, 07/11/2024 - 10:47

Viele Berichterstattungen der westlichen, selbsternannten „Qualitäts“-Medien lassen  als alleinige Informationsquelle nur ein Ergebnis zu:
Der XVI. BRICS-Gipfel in Kasan war eine reine inszenierte Putin-Show.

 

 

Folgt man einer derartigen Bewertung, so liegt der Eindruck nahe, dass es bei der Einschätzung des Treffens auch darum gehen sollte, BRICS als seit 2009[1] bestehender nicht-westlicher Staatenverbund insgesamt zu diskreditieren. Und schlimmstenfalls bot sich der Gipfel sogar noch an, ein zusätzliches Feindbild für den Westen zu konstruieren.
Dies alles erfolgte entweder aus Arroganz oder Ignoranz gegenüber den sich global - geoökonomisch wie geopolitisch - vollziehenden grundlegenden Wandlungen staatlicher Kooperation in Richtung auf eine eher multipolar verfasste Weltordnung.

Indessen  kommt aber gerade diesem XVI., turnusmäßig in Russland durchgeführten Staaten-Gipfel zumindest in dreierlei Hinsicht eine besondere Bedeutung in der bisherigen,  erst jungen Geschichte des BRICS-Staatenverbundes zu:
Zum einen repräsentiert er dessen eigenes, quantitativ gewachsenes Gewicht,

zum zweiten stellt er wichtige Weichen für Ausmaß und Tempo seines weiteren Wirkens für eine sich an der Multipolarität ausrichtende internationale Ordnung und

zum dritten sucht er sich qualitativ neu heranreifenden Inner-BRICS-Entwicklungserfordernissen zu stellen.

Bevor aber auf diesen Gipfel näher eingegangen wird, sollen erst einmal noch die objektiven Grundlagen für das Entstehen und erklärte Streben des BRICS-Staatenverbundes nach einer multipolaren Weltordnung kurz in Erinnerung gerufen werden.

Eine Antwort auf sich verfestigende transatlantische Unipolaritätsbestrebungen

Dass sich BRICS überhaupt formiert hat, steht zweifellos im Zusammenhang mit dem von den USA – berauscht vom Triumpf über den zusammengebrochenen Ostblock - seit Ende der 1990er Jahre eingeschlagenen Kurs zur rigorosen Durchsetzung ihres alleinigen Hegemonieanspruchs in der Welt.
Gemeint sind dabei in erster Linie folgende Ereignisse: 1998 der NATO-Ost-Erweiterungsbeschluss; 1999 der völkerrechtswidrige Krieg gegen Serbien, dem danach noch eine Reihe weiterer derartiger Kriege gefolgt sind sowie im Jahr 2000 die Verabschiedung der Militärdoktrin „Full Spectrum Dominance“.
Währenddessen begannen sich mit dem etwa zeitgleich erfolgenden wirtschaftlichen Aufschwung von Schwellenländern, insbesondere dem Aufstieg Chinas von einem Entwicklungsland zur zweitstärksten Wirtschaftsmacht in der Welt, die internationalen Koordinaten in Richtung Multipolarität zu verschieben. Das beschreibt einen Trend, der sich seither sukzessive immer weiter verstärkt hat. Und mittlerweile sieht sich eine wachsende Zahl von Staaten, insbesondere des globalen Südens, ermutigt, ihre nationalen Interessen stärker in den internationalen Beziehungen einzubringen und wirken zu lassen. Das geschieht, Indem sie gegenüber den USA undanderen westlichen Ländern selbstbewusster auftreten und ihre außenwirtschaftlichen wie außenpolitischen Beziehungen deutlich multi-vektoraler zu gestalten suchen.

Wenn man so will, hat der Westen mit seinem Beharren auf die alleinige Hegemonie selbst dazu beigetragen, das allmähliche Ende des Zeitalters globaler euroatlantischer Vorherrschaft über die südliche Hemisphäre einzuläuten.
Umso mehr sollten USA- und andere westliche Politiker doch eigentlich auch daran interessiert sein, „ein echtes multipolares System zu schaffen, das auf der gegenseitigen Anerkennung der Kerninteressen jeder Nation beruht“[2], anstatt sich mit allen verfügbaren Mitteln einer weiteren Multipolarisierung der internationalen Ordnung entgegenzustellen. Der BRICS-Staatenverbund versteht sich weder als ausdrücklich anti-amerikanisch oder anti-westlich. Ebenso strebt er nicht danach, sich als nichtwestliches Pendant in der Art einer elitären Steuerungsgruppe fungierenden westlichen G-7 profilieren zu wollen.

Zudem lassen sich noch gewichtige Fakten und Zahlen benennen, die auch im Vergleich zu der G-7 durchaus zugunsten von BRICS zu Buche schlagen. So entfielen auf die G-7 zum Zeitpunkt ihrer Formierung Mitte der 1970er Jahre noch 70 Prozent des Weltbruttosozialprodukts, während sich dieser Anteil inzwischen nahezu halbiert hat.
BRICS steht inzwischen für 39 Prozent der weltweiten Industrieproduktion, im Vergleich zum Anteil der G-7, der noch   31 Prozent beträgt.  Bei der Weltweizenproduktion zeigt sich ein s Verhältnis von 44 Prozent zu 19 Prozent zugunsten Von BRICS.[3]
Überdies repräsentiert BRICS mittlerweile bereits fast die Hälfte der Weltbevölkerung, die G-7 hingegen lediglich etwa ein Zehntel. In der Rangfolge der weltstärksten Wirtschaftsmächte belegen die BRICS-Mitglieder China den zweiten und Indien den fünften Platz und zudem übertrifft Brasiliens Wirtschaft die von Italien und Kanada zusammengenommen.

Dies alles ignorieren zu wollen und stattdessen jene Staaten, die ihre eigenen Entwicklungsinteressen befolgen, der westlichen Hegemonie unterzuordnen versuchen, widerspricht zunächst Buchstaben und Geist der UN-Charta. Darüber hinaus sieht sich BRICS dadurch in seinem Ansinnen gestärkt, auf ein demokratischeres und gerechteres internationales System hinzuwirken.
Der BRICS-Verbund kann sich zunehmender Unterstützung erfreuen, wovon allein das große Interesse eines immer breiteren Kreises von Ländern zeugt, die an einer Mitwirkung in dessen Reihen Interesse bekunden. Da die USA, so die Feststellung in einem Artikel der US-amerikanischen Foreign Affairs vom 24. September 2024 immer weniger in der Lage seien, die globale Ordnung einseitig zu gestalten, versuchten viele Länder, ihre eigene Autonomie zu stärken, indem sie sich alternativen Machtzentren zuwendeten. Und dabei würden die BRICS - Länder als die bedeutendsten, relevantesten und potenziell einflussreichsten hervorstechen.[4]

 

Die Erweiterung um neue Mitglieder

Mit der auf dem XV. Gipfel 2023 in Johannesburg/Südafrika beschlossenen Aufnahme von Ägypten, Äthiopien, Iran, Vereinigte Arabische Emirate (VAE) als neue Mitglieder[5] fungiert BRICS nunmehr als BRICS Plus, als ein Verbund von neun Staaten.  
Saudi-Arabien, welchem gleichfalls eine Mitgliedschaft angeboten worden war, beteiligte sich bislang als eingeladenes, aber nicht formell beigetretenes Mitglied an den verschiedensten Aktivitäten und Programmen. Gemäß der Aussage seines Außenministers wolle es „seine Partnerschaft mit der BRICS-Gruppe weiterhin stärken und die Horizonte der Kooperation in allen Feldern ausbauen, in einer Weise, um Entwicklung und Prosperität auf der internationalen Ebene zu erreichen“[6].

Zwischen quantitativem Wachstum und qualitativ neuen Erfordernissen

Was den jüngsten, den XVI. Gipfel, betrifft, so war er unter das Motto gestellt
„Stärkung des Multilateralismus für eine gerechte globale Entwicklung und Sicherheit“.

Am hervorstechendsten war zweifellos, daß es sich bei diesem um den ersten Gipfel in der quantitativ erweiterten BRICS-Struktur handelte und damit in Kasan erstmalig die Vertreter des nunmehr neun Staaten umfassenden Verbundes auf höchster Ebene persönlich versammelt waren und gemeinsam debattierten.

Beim Gipfel waren insgesamt Delegationen aus 35 Staaten anwesend, 22 davon vertreten durch die Staats- bzw. Regierungschefs, zudem Spitzenvertreter von sechs internationalen Organisationen, darunter die UNO mit ihrem Generalsekretär Antonio Guterres.

Den organisatorischen Rahmen bildeten zwei Formate, die von einer Vielzahl bilateraler Gespräche begleitet wurden. Das eine Format betraf die Beratung im Kreis der neun Vollmitglieder, das andere, „BRICS Plus/Outreach“ war ein Treffen zum Thema „BRICS und der Globale Süden – gemeinsam eine bessere Welt errichten“.

Die Veranstaltungen um BRICS

Dem Gipfeltreffen vorausgegangen waren rund 200 vielfältigste Veranstaltungen, die sich auf 13 russische Städte unter dem BRICS-Logo verteilten.  So erfolgte etwa ein Treffen der BRICS-Außenminister am 10. Juni d.J. in Nishni Nowgorod mit dem Ergebnis einer verabschiedeten 54 Punkte umfassenden „Gemeinsamen Erklärung“; unter den Teilnehmern Saudi-Arabien. Im gleichen Monat fanden in Kasan die 27 Sportarten umfassenden „BRICS-Sportspiele“ statt, ebenso der BRICS-Politische Parteien Dialog in Wladiwostok, im Juli der BRICS-Jugend-Gipfel in Uljanowsk sowie das BRICS-Parlamentarische Forum in St. Petersburg.

Beim Treffen der Vollmitglieder standen als Fortsetzung vorausgegangener Gipfel insbesondere zwei Problemkomplexe im Mittelpunkt der Debatte:
Zum einen ging es um eine tiefere finanzielle Kooperation innerhalb des BRICS Plus-Verbundes. Sich zu einer vertieften Partnerschaft im finanziellen Bereich bekennend, sollen zum einen die Kommunikationen zwischen den jeweiligen Banken verstärkt sowie ein Mechanismus für ein gegenüber äußeren Risiken immunes Bezahlsystem auf der Basis nationaler Währungen entwickelt werden.
Zu einem weiteren erfolgte die Beratung zur weiteren quantitativen Erweiterung der Gemeinschaft. Es ging vor alle darum, wie damit umzugehen sei, dass über 30 Länder in der einen oder anderen Form ihr Interesse an einer Mitwirkung in BRICS anmeldeten, gleichzeitig aber sicherzustellen sei, dass die Effektivität des BRICS-Mechanismus beibehalten wird.  würde. Bereits in Johannesburg hatten sich die damaligen fünf Mitglieder darauf geeinigt, Modalitäten für eine neue Kategorie – und zwar die von Partnerstaaten – auszuarbeiten.[7]
 Zum damaligen Zeitpunkt waren noch explizit Einladungen zu unmittelbarer Vollmitgliedschaft ausgesprochen worden, während es nun um einen möglichen Status einer BRICS-Partnerschaft ging.  Manche sprechen deshalb auch von einer Art Kandidatenstatus. Laut einer bislang nicht autorisierten Liste ist zunächst von 13 Staaten[8] auszugehen, die nahezu über den gesamten Globus, einschließlich Europa, verteilt sind. Jedoch ist dabei eine deutliche Präferenz des zentralasiatisch-/südostasiatischen Raumes zu erkennen sowie das bekundete Interesse weiterer Staaten mit muslimischer Bevölkerungsmehrheit.
Und das geschieht ganz offensichtlich in Übereinstimmung mit dem von BRICS postulierten Prinzip des Respekts gegenüber der religiös-kulturellen und traditionellen Vielfalt.
Außer den drei neueren Vollmitgliedern – Ägypten, Iran, VAE – kämen nun noch weitere partnerschaftlich assoziierte Staaten hinzu, wie beispielsweise Algerien, Indonesien, Malaysia, Usbekistan sowie die Türkei. Deren Assoziierung scheint allerdings wegen ihrer NATO-Mitgliedschaft durchaus nicht unumstritten zu sein.

BRICS präsentiert sich aber nunmehr in Gestalt seiner neun Vollmitglieder plus der 13 partnerschaftlich Assoziierten, eingedenk der noch ausstehenden Entscheidung von Saudi-Arabien, wie es endgültig weiter verfahren will – auf dem XVI. Gipfel in Kasan als quantitativ gestärkter transkontinentaler Staatenverbund.

Und damit erhöht sich natürlich auch seine Autorität als eine gewichtige Stimme der globalen Mehrheit in der Welt und insbesondere des globalen Südens.
Gleichwohl lässt sich dies durchaus auch als ein Indikator für eine sich global in Richtung Multipolarität vollziehende Machtverschiebung begreifen.

Hinzu kommt noch ein unbestreitbar zu beobachtendes Faktum, dass sich verschiedene BRICS-Staaten – und dies in bemerkenswertem Gegensatz zu westlichen Zusammenschlüssen wie beispielsweise der G-7 – im Herangehen an bestehende Konflikte und andere Krisen betont bemühen, um Ausgewogenheit und fairen Interessenausgleich durch Dialog und Verhandlungen zu erzielen.
So haben im Ukraine-Konflikt Brasilien und China konkrete Schritte zur Beendigung der Kampfhandlungen und zur Aufnahme von Friedensgesprächen unterbreitet.

Die beiden BRICS-Gründungsmitglieder China und Indien sind erklärtermaßen nun dabei, ihre Grenzstreitigkeiten in der Himalaja-Region am Verhandlungstisch beizulegen; dafür spricht auch, dass sich bei diesem Gipfel nun nach längerer Zeit der chinesische Präsident Xi Jinping und der indische Ministerpräsident Narendra Modi wieder zu einem direkten Gespräch zusammengefunden haben.
Dank chinesischer Vermittlung nähern sich seit Anfang 2023 auch die beiden als Erzfeinde geltenden Golfstaaten Iran und Saudi-Arabien schrittweise weiter an und ein Normalisierungsprozeß scheint sich abzuzeichnen – ungeachtet der weiterhin bestehenden und zu überwindenden Hindernisse;  im Ergebnis ein insgesamt  positiv auf die gesamte Golfregion auszustrahlender Effekt.

Hinsichtlich der Kriege und Konflikte in der Nah- und Mittelostregion treten die BRICS-Staaten entschieden für eine sofortige Beendigung der Kampfhandlungen und die Überwindung der humanitären Notlage sowie die Freilassung aller Geiseln ein.
Während sich die USA und die meisten ihrer westlichen Verbündeten uneingeschränkt an die Seite Israels stellen, treten die Forums-Teilnehmer nachdrücklich für das legitime Recht des palästinensischen Volkes auf nationale Selbstbestimmung ein. Dementsprechend suchen sie nach gangbaren Wegen für eine dauerhafte Friedenslösung, einschließlich der Überwindung der Spaltung innerhalb der palästinensischen Nationalbewegung.  
Wie schon auf dem vorangegangenen Gipfel stand auch in Kasan die ungelöste Palästina-Frage in einem besonderen Fokus, einschließlich einer dezidierten Lagebeschreibung bisheriger Kriegsfolgen in der einstimmig verabschiedeten Abschlusserklärung.

Kazan Declaration

Diese, zugleich mit dem Gipfel-Motto betitelte „Kazan Declaration“[9], ist eine nachdrückliche Bekräftigung des BRICS-Bekenntnisses zu einer, auf dem Völkerrecht und den Prinzipien der UN-Charta basierenden demokratischen, inklusiven, multipolaren Welt.
Manche Analysten bezeichnen die Declaration auch als das „Manifest einer neuen Weltordnung“.[10]
32 Seiten und 134 Einzelpunkte umfassend, ist sie – in der Einleitung speziell das Bekenntnis zur weiteren, auf der Basis gegenseitigen Respekts und Konsenses beruhenden Stärkung des BRICS-Verbundes bekräftigend - in vier inhaltliche Abschnitte gegliedert:
a) Stärkung des Multilateralismus für eine gerechte und demokratische Weltordnung,
b) Stärkung der Kooperation für globale und regionale Stabilität und Sicherheit,
c) Förderung der wirtschaftlichen und finanziellen Kooperation für gerechte globale Entwicklung und
d) Stärkung des Austausches zwischen den Menschen für soziale und ökonomische Entwicklung.

Mit den darin enthaltenen Positionen stellt diese Deklaration ein realistisches, mit einem optimistischen Blick in die Zukunft gewandtes Grundsatzdokument dar.
Oder anders ausgedrückt: Es ist eine Art Kompendium für eine schrittweise Veränderung der gegebenen internationalen Verhältnisse zugunsten einer gleichberechtigteren Teilhabe auch der Länder der nichtwestlichen Welt, insbesondere jenen des globalen Südens an der globalen Governance.
Dies spiegelt sich in einer auffälligen Balance wider zwischen einer Orientierung auf eine Reformierung bestehender, in der Regel westlich dominierter Institutionen, wie z.B. dem IWF auf der einen Seite und auf der anderen einer Etablierung eigener Körperschaften, so in Gestalt der BRICS-eigenen National Development Bank (NDB).
Dies zeigt sich beispielsweise auch darin, dass der WTO die volle Unterstützung zugesagt wird und gleichzeitig die Ankurbelung des Inner-BRICS-Handels wie etwa die Süd-Süd-Kooperation erfolgen soll.

 

 

Als eine Zusammenfassung der unter den vier Abschnitten der Declaration subsummierten und vom Bekenntnis zum Multilateralismus geleiteten Grundsätzen bieten sich insbesondere die folgenden Erkenntnisse an:

  • Anerkennung der zentralen Rolle der UNO im internationalen System auf der Grundlage der in ihrer Charta verankerten Grundprinzipien bei gleichzeitigem Eintreten für eine umfassende Reform der UNO, einschließlich des Sicherheitsrates durch Gewährleistung einer dortigen ständigen Präsenz aus dem Entwicklungsländerbereich; Ablehnung ungesetzlicher unilateraler Maßnahmen, einschließlich Sanktionen, in der Weltwirtschaft, im Handel und bei der Erreichung nachhaltiger Entwicklungsziele; Forderung nach Reform der Bretton-Woods-Institutionen, einschließlich einer stärkeren Präsenz der Entwicklungs- und Schwellenländer in Führungspositionen; Anerkennung des G-20-Formats als wichtigstes globales Forum für multilaterale Wirtschafts- und Finanzkooperation sowie als Plattform für Dialog zwischen entwickelten und Schwellenländern; Forderung nach einer Menschenrechtspolitik jenseits selektiven und politisierten Herangehens sowie ohne Doppelstandards.
  • Eintreten für friedliche Beilegung von Streitigkeiten durch Diplomatie, Mediation, inklusiven Dialog und Konsultationen in koordinierter und kooperativer Weise; Anerkennung des Prinzips der gegenseitigen Sicherheit sowie von Toleranz und friedlicher Koexistenz als bedeutendste Werte und Prinzipien zwischen Nationen und Gesellschaften; Unterstreichung der Notwendigkeit des Engagements für Konfliktpräventionen insbesondere durch Adressierung der Konfliktursachen; Verurteilung von Terrorismus in allen seinen Formen bei gleichzeitiger Forderung nach dessen Bekämpfung ohne doppelte Standards.
  • Unterstreichung der Schlüsselrolle der NDB bei der Beförderung der Infrastruktur und nachhaltigen Entwicklung der BRICS-Mitgliedsländer. Unterstützung der NDB bei der kontinuierlichen Ausdehnung lokaler Währungsfinanzierungen sowie bei der stärkeren Innovation bezüglich Investments und Finanzierungsinstrumenten; Eintreten für ein faires landwirtschaftliches Handelssystem nach dem Muster der von Russland initiierten Plattform für den Getreidehandel und Implementierung einer resilienten und nachhaltigen Landwirtschaft zur Gewährleistung der Nahrungssicherheit vor allem in den schwach entwickelten Ländern des globalen Südens.

Mag man zu BRICS stehen, wie man will. Aber niemand wird bestreiten können, dass sich dieser erst vor 15 Jahren offiziell formierte Staatenverbund inzwischen zu einem ernst zu nehmenden Machtblock für die westlicherseits beanspruchte alleinige Hegemonierolle in der Welt entwickelt hat. Dem Staatenverbund ist in erster Linie daran gelegen, eine globale Governance zu etablieren, die den heutigen kräftemäßigen Gegebenheiten in der Welt Rechnung trägt und sich nicht allein auf frühere Zeiten, schon gar nicht auf die zu Ende des zweiten Weltkrieges festlegt, als viele der heute aufstrebenden Staaten erst noch dabei waren, sich vom jahrhundertealten Kolonialjoch zu befreien.
Die BRICS  „Mission“ ist in  erster Linie darin zu sehen, die Inner-BRICS-Wirtschaftsbeziehungen wie überdies die Süd-Süd-Kooperation zu befördern und zu deren   sozio-ökonomischen Entwicklung beizutragen; als eine Interessenvertretung für die ehemals kolonial abhängigen Länder des globalen Südens zu fungieren bei deren Streben nach gleichberechtigter Stellung im internationalen Geschehen; den Dialog zwischen den Kulturen und Zivilisationen zu befördern sowie vor allem statt der westlicherseits ausgegebenen konfrontativen Orientierung „Demokratien versus Autokratien“ den Geist von Diplomatie und fairen Interessenausgleichen, von gegenseitig nützlicher Kooperation zu befördern helfen.

So gesehen handelt es sich bei BRICS um ein durchaus unikales Herangehen, welches schon deshalb großen Respekt verdient und das möglicherweise auch als Beispiel für die sich im internationalen Geschehen auszugestaltende Multipolarität dienen könnte.
Mit anderen Worten ausgedrückt:  BRICS  ist quasi als eine Art „Weltexperiment“ anzusehen, als  ein Spiegelbild dessen, was auf internationaler Ebene anzustreben ist,  in vielfältiger Weise plural zu sein und daraus resultierende unterschiedliche Interessenlagen im gegenseitigen Einvernehmen auszubalancieren.
 So verkörpert BRICS eine Gruppe souveräner Staaten, die auf verschiedenen Kontinenten beheimatet sind, unterschiedliche Entwicklungsmodelle verfolgen und sich überdies auch in Bezug auf ihre gesellschaftlichen Verfasstheiten, wirtschaftlichen Potentiale und Naturressourcen, den allgemeinen Lebensstandards, Bevölkerungszahlen und nicht zuletzt durch die sozio-kulturellen Traditionen teilweise erheblich voneinander unterscheiden. Gleich mehrere dieser Staaten unterhalten zeitgleich strategische Partnerschaften sowohl zu ihren BRICS-Partnern als auch zu den USA. Zudem befinden sich einige von ihnen (Russland, Iran) in direkter Konfrontation mit dem Westen, während andere (Ägypten, Indien, VAE) eine enge Zusammenarbeit mit den USA pflegen. Einen derartig heterogenen Mechanismus am Funktionieren zu halten, ist per se schon mit hohen Anforderungen verbunden.
Hinzu kommt, dass dieser strikt auf dem Konsens-Prinzip basiert und keiner der Partner, die Richtung allein zu bestimmen vermag. Im Unterschied beispielsweise zur Gruppe der G-7, in der die USA die uneingeschränkte Führungsrolle beanspruchen und offensichtlich auch in der Lage sind, den übrigen Staaten ihren Kurs vorzugeben.
Schon allein deshalb erweisen sich notwendige Klärungsprozesse innerhalb von BRICS schwieriger und langwieriger, was kaum als Schwäche auszulegen ist; wenngleich sich dadurch auch mancherlei Ansatzpunkte für Störmanöver und abweichende Orientierungen bieten.

Zweifellos sieht sich BRICS seit diesem XVI. Gipfel in der nun neuen Konfiguration von genau genommen 22 Partnern, plus das noch unentschiedene Saudi-Arabien, vor zusätzliche neue Herausforderungen gestellt.
Es geht mit dieser erfolgten zahlenmäßigen Erweiterung zugleich auch um sich verändernde Strukturen und Charakteristika des Staatenverbundes.
So wandelt sich BRICS von einer anfänglichen reinen Schwellenländer-Plattform zu einem Verbund großer, mittlerer und kleiner Länder und mithin auch zu einer immer expliziteren Plattform für den globalen Süden.

Aus alledem erwachsen qualitativ neue Anforderungen an die bisherigen innerstrukturellen-BRICS-Mechanismen. Insbesondere geht es auch um die Frage, inwieweit es jetzt unumgänglich sein wird, eine ständige Niederlassung für den BRICS-Staatenverbund zu etablieren. Ebenso geht es um die Verständigung über einige gravierende inhaltliche Fragen; darunter ist zuallererst der dringende Bedarf nach einem Konzept für ein vom Dollar unbeeinflusstes Inner-BRICS-Handels- und Finanzsystem zu nennen. Es geht um eine De-Dollarisierung https://www.isw-muenchen.de/online-publikationen/texte-artikel/5321-de-dollarisierung, ohne BRICS in eine Anti-westliche Allianz umzuwandeln. 
Diese Aufgabe stellt sich insofern als besonders zwingend dar, weil davon wesentlich die weiteren Spielräume des BRICS-Staatenverbundes im internationalen Geschehen beeinflusst werden. Und das ergibt sich umso mehr, nachdem nach bisherigen Erfahrungen in Rechnung zu stellen ist, dass die USA und ihre engsten Verbündeten ihre Vormachtstellung nicht aufzugeben bereit sind.  Und hierbei ist auf verschiedenste Versuche in der Vergangenheit hinzuweisen, die darauf ausgerichtet waren, an bestehende Differenzen zwischen einzelnen Staaten anzuknüpfen und Druck auszuüben, um den BRICS-Verbund nicht noch weiter erstarken zu lassen,– wie dies anscheinend auch hinsichtlich Saudi-Arabiens der Fall ist. Das könnte auch Bezug auf Brasilien zutreffend sein, welches turnusmäßig 2025 die Rolle als Gastgeber für den XVII. BRICS-Gipfel übernimmt.

Als ein Zwischen-Fazit bleibt festzuhalten, dass die Erreichung einer multipolaren Weltordnung wohl ein dorniger Weg sein wird und sich über eine ganze historische Ära erstrecken kann. Und dennoch hat zumindest der XVI. BRICS- Gipfel in Kasan die Entschlossenheit des BRICS-Staatenverbundes demonstriert, sich weiter dafür zu engagieren.

 

Kazan Declaration

 

[1] Offiziell mit dem I. Gipfeltreffen im russischen Jekaterinburg formiert – allerdings zu diesem Zeitpunkt noch ohne Südafrika, welches erst ein Jahr später dazu gekommen ist -, nachdem es zuvor schon, insbesondere seit 2006 mehrere informelle Treffen zwischen den vier Gründungsmitgliedern (Russland, China, Brasilien, Indien) gegeben hatte

[2] Dmitri Trenin, US-Weltherrschaft oder multipolare Welt: Europa wird sich entscheiden müssen, Globalbridge vom 10. Juni 2024

[3] Siehe dazu Peter Hänseler, Blog eines Schweizers in Moskau, vom 20.10.2024, abzurufen unter https://www.voicefromrussia.ch/brics-fakten-und-zahlen/

[4] Alexander Gabuev, Oliver Stuenkel, Der Kampf um die BRICS-Staaten. Warum die Zukunft des Blocks die globale Ordnung prägen wird, abzurufen unter https://www.foreignaffairs.com/print/node/1132187

[5] Das ebenfalls zur Mitgliedschaft eingeladene Argentinien hatte infolge eines kurz danach stattgefundenen Machtwechsels darauf verzichtet

[6] Siehe dazu https://www.arabnews.com/node/2576648/saudi-arabia

[7] Vgl. dazu die Ausführungen von Putin in dessen Eröffnungsrede vor den BRICS Plus-Mitgliedern, abzurufen unter https://brics-russia2024.ru/en/news/zasedanie-sammita-briks-v-uzkom-sostave/

[8] Konkret handelt es sich dabei – in alphabetischer Reihenfolge – jedoch rund um den Globus verteilt, um Algerien, Belarus, Bolivien, Indonesien, Kasachstan, Kuba, Malaysia, Nigeria, Thailand, Türkei, Uganda, Usbekistan, Vietnam

[9] Abzurufen unter https://cdn.brics-russia2024.ru/upload/docs/Kazan_Declaration_Final.pdf?1729693488349783

[10] Zhao Huasheng/Andrey Kortunow, The Kazan BRICS Declaration – a New World Order Manifesto, abzurufen unter https://russiancouncil.ru/en/analytics-and-comments/analytics/the-kazan-brics-declaration-a-new-world-order-manifesto/

US-Wahlen: Trump`s Wirtschaftspolitik

mer, 06/11/2024 - 08:35

Für die Finanzwelt und die Großunternehmen ist es In gewisser Weise unerheblich, wer letztlich die US-amerikanische Präsidentschaftswahlen gewinnen hat.
Beide Kandidaten sind und waren  dem kapitalistischen System verpflichtet und woll(t)en es für die Kapitaleigner verbessern.




Larry Fink von BlackRock, dem weltweit größten Vermögensverwalter, sagte, er sei es „leid zu hören, dass dies die wichtigste Wahl in Ihrem Leben ist“.

Die Realität, so Fink, „ist, dass es mit der Zeit keine Rolle spielt“.

Und es stimmt, dass die zugrunde liegenden endogenen Kräfte der kapitalistischen Produktion, Investitionen und Gewinne viel mächtiger sind als jede einzelne von einer Regierung verabschiedete und umgesetzte Politik.
Dennoch können sich prokapitalistische Politiker darüber uneinig sein, was zu einem bestimmten Zeitpunkt das Beste für den Kapitalismus ist. Und es gibt einige Unterschiede zwischen Trump und Harris darüber, was in den nächsten vier Jahren zu tun ist.

Zu den wichtigsten Punkten von Trumps Wirtschaftspolitik „ Maganomics“ gehören aggressivere Zölle auf Importe aus aller Welt, insbesondere aus China, und ein drakonisches Vorgehen gegen Einwanderung. In seiner Wahlkampfrhetorik drängte er auch auf einen größeren politischen Einfluss auf die Geldpolitik und die Fed bei Zinsentscheidungen und bei der Manipulation des Dollars.

Trump kündigte an, er werde „niedrige Steuern, niedrige Regulierungen, niedrige Energiekosten, niedrige Zinssätze und eine niedrige Inflation durchsetzen, damit sich jeder Lebensmittel, ein Auto und ein schönes Zuhause leisten kann.“
Seine neuen Steuersenkungen reichen von Einkommen aus Überstunden, Trinkgeldern und Rentenleistungen bis hin zu massiven pauschalen Senkungen für Einzelpersonen und Unternehmen.
Dies wird zweifellos die Steuern für die Superreichen (wieder einmal) senken, aber für fast alle anderen erhöhen.

Trump behauptet, dass diese Steuersenkungen für die Superreichen und Großkonzerne Investitionen und Wachstum ankurbeln werden, basierend auf der diskreditierten
„Trickle-down“-Theorie,
d. h.,  wenn Einkommen und Vermögen der Reichen steigen, werden sie mehr ausgeben und so werden die Vorteile auf den Rest von uns „herunterrieseln“.

Die Beweislage ist jedoch gegenteilig. In den letzten 50 Jahren sind die Steuern für Reiche in den fortgeschrittenen Demokratien drastisch gesunken. Und mehrere Studien zeigen, dass dies nur geringe oder gar keine Auswirkungen auf das Wirtschaftswachstum hat – und viel mehr Auswirkungen auf die zunehmende Ungleichheit. Zwei Ökonomen des Kings College London haben mithilfe eines neu entwickelten Indikators für Steuern auf Reiche alle Fälle von größeren Steuersenkungen für Reiche in 18 Ländern der Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD) zwischen 1965 und 2015 ermittelt und festgestellt, dass Steuersenkungen für Reiche kurz- und mittelfristig zu einer höheren Einkommensungleichheit führen, aber keine signifikanten Auswirkungen auf das Wirtschaftswachstum oder die Arbeitslosigkeit haben.

Das Bruttoinlandsprodukt pro Kopf und die Arbeitslosenquote waren nach fünf Jahren in Ländern, die die Steuern für Reiche gesenkt haben, und in Ländern, die dies nicht getan haben, nahezu identisch, so die Studie.
Die Analyse ergab jedoch eine wesentliche Veränderung: Die Einkommen der Reichen stiegen in Ländern, in denen die Steuersätze gesenkt wurden, viel schneller. Überraschung! Dies mag aus unserer eigenen Erfahrung der letzten Jahrzehnte offensichtlich sein, aber die empirische Analyse bestätigt unsere eigenen Wahrnehmungen.

Was Trumps letzte Amtszeit betrifft, in der er drastische Senkungen der Körperschafts- und Einkommensteuer einführte, so stellten Emmanuel Saez und Gabriel Zucman von der University of California in Berkeley fest, dass die 400 reichsten amerikanischen Familien zum ersten Mal seit einem Jahrhundert niedrigere effektive Steuersätze haben als die unteren 50 % der Einkommensbezieher.

Anleger und die Wall Street befürchten, dass die zu erwartenden Steuersenkungen, so willkommen sie auch sein mögen, das enorme Haushaltsdefizit und die Verschuldung des öffentlichen Sektors nur noch weiter erhöhen könnten – etwas, das dem Finanzsektor ein Gräuel ist.
Trump`s Antort darauf lautet, dass er die Steursenkungen durch eine drastische Erhöhung der Einfuhrzölle "bezahlen" wird.
[1]

Trump plant, eine Abgabe von 10 Prozent auf alle US-Importe und eine Steuer von 60 Prozent auf Waren aus China zu erheben. Tatsächlich spricht Trump davon, Zölle in einer Höhe zu erheben, die es ihm ermöglichen würden, die Einkommenssteuer ganz abzuschaffen!

Das Penn Wharton Budget Model, eine Forschungsgruppe, schätzt jedoch, dass Trumps Pläne das US-Haushaltsdefizit in den nächsten zehn Jahren um 5,8 Billionen US-Dollar erhöhen würden. Selbst die konservative Denkfabrik Tax Foundation schätzt, dass sein neuer Plan, Überstunden von den Bundesabgaben zu befreien, die USA in den nächsten zehn Jahren weitere 227 Milliarden US-Dollar an Einnahmeverlusten kosten würde.

Auch hier deuten empirische Analysen dieser Politik auf eine erhebliche Beeinträchtigung der Wirtschaftsleistung der USA hin.  Eine aktuelle Studie legt nahe,[2]  dass Trumps Politik „stark regressive Änderungen der Steuerpolitik sind, die die Steuerlast von den Wohlhabenden auf die Mitglieder der Gesellschaft mit niedrigerem Einkommen verlagern“.
 In dem Papier von Kim Clausing und Mary Lovely werden die Kosten der bestehenden Abgaben zuzüglich der Zollpläne von Trump für seine zweite Amtszeit auf 1,8 Prozent des BIP geschätzt. Es wird davor gewarnt, dass diese Schätzung „keinen weiteren Schaden durch Vergeltungsmaßnahmen der Handelspartner Amerikas und andere Nebenwirkungen wie den Verlust der Wettbewerbsfähigkeit berücksichtigt“. Diese Berechnung „impliziert, dass die Kosten der von Trump vorgeschlagenen neuen Zölle fast fünfmal so hoch sein werden wie die Kosten, die durch die Zollschocks von Trump bis Ende 2019 verursacht wurden, und allein auf diesem Weg zusätzliche Kosten für die Verbraucher in Höhe von etwa 500 Milliarden Dollar pro Jahr verursachen werden“, heißt es in dem Papier. Der durchschnittliche Schaden für einen Haushalt mit mittlerem Einkommen würde 1.700 US-Dollar pro Jahr betragen. Das verfügbare Einkommen der ärmsten 50 Prozent der Haushalte, die in der Regel einen größeren Teil ihres Einkommens ausgeben, würde um durchschnittlich 3,5 Prozent sinken.

Trumps Zollmaßnahmen werden vorassichtlich die Abgaben auf Importe auf ein Niveau anheben, das zuletzt in den 1930er Jahren nach der Verabschiedung des wegweisenden protektionistischen Smoot-Hawley-Tariff Act erreicht wurde. Trump behauptet, dass die Handelsbarrieren nicht nur die Einnahmen erhöhen, sondern auch zur Wiederherstellung der US-Fertigung führen werden.
Wenn Importzölle zum Schutz eines aufstrebenden und jungen Fertigungssektors eingesetzt werden, wie es in den USA im späten 19. und frühen 20. Jahrhundert der Fall war, mögen sie geholfen haben.
Aber jetzt, im 21. Jahrhundert, ist die US-Fertigung relativ rückläufig, ein Trend, der sich durch protektionistische Maßnahmen nicht umkehren lässt – dieses Pferd ist nach Asien durchgegangen.

Stattdessen geht der Thinktank Peterson Institute for International Economics in Washington davon aus, dass pauschale Zölle in Höhe von 20 Prozent in Kombination mit einem Zoll von 60 Prozent auf China zu einem Anstieg der jährlichen Ausgaben eines Durchschnittshaushalts für Waren um bis zu 2.600 US-Dollar führen würden, da die Inflation entsprechend steigen würde. Die leitenden PIIE-Stipendiaten Obstfeld und Kimberly Clausing sind der Meinung, dass die Regierung durch die Erhebung eines 50-prozentigen Zolls auf alle Waren maximal 780 Milliarden US-Dollar an zusätzlichen Einnahmen erzielen kann.

"Wenn wir die [durch die Einkommensteuer erzielten] Einnahmen vollständig durch einen Zoll ersetzen wollten, bräuchten wir einen Zollsatz von mindestens zwei Dritteln.
Und dann muss man bedenken, dass die Menschen anfangen werden, Importe zu ersetzen, und dann wird es Vergeltungsmaßnahmen geben und so weiter“, sagt Tedeschi vom Yale Budget Lab.
“Es ist unmöglich, die Rechnung aufgehen zu lassen. Man kann [die Zölle] wahrscheinlich nicht hoch genug ansetzen.“


Der andere Hauptpunkt von Maganomics ist die drastische Reduzierung der Einwanderung. Trump hat Einwanderern vorgeworfen, “das Blut unseres Landes zu vergiften“. Trotz dieses grotesken Rassismus sind viele Amerikaner davon überzeugt, dass ihr Lebensstandard und ihr Leben durch „zu viele Einwanderer“ beeinträchtigt werden. Laut Gallup ist 2024 das erste Jahr seit fast zwei Jahrzehnten, in dem eine Mehrheit der Bevölkerung weniger Einwanderung in die USA wünscht. Allein im vergangenen Jahr ist der Wunsch, die Zahl der Einwanderer zu reduzieren, bei den Demokraten um 10 Punkte und bei den Republikanern um 15 Punkte gestiegen.

Trump fordert sogar die massenhafte Abschiebung von Millionen von Einwanderern. Einem aktuellen Bericht des American Immigration Council zufolge  würden die Kosten für die Abschiebung von etwa 13 Millionen Menschen, die ab 2022 keinen dauerhaften Rechtsstatus mehr haben und abgeschoben werden könnten, mit etwa 305 Milliarden US-Dollar enorm hoch ausfallen.

Dabei sind die langfristigen Kosten einer anhaltenden Massendeportation oder die unkalkulierbaren zusätzlichen Kosten, die für den Erwerb der institutionellen Kapazität zur Abschiebung von über 13 Millionen Menschen in kurzer Zeit anfallen würden, noch nicht berücksichtigt. „Um das Ausmaß der Inhaftierung von über 13 Millionen Einwanderern ohne Papiere in einen Kontext zu setzen: Die gesamte Gefängnis- und Haftinsassenbevölkerung der USA im Jahr 2022, die alle Personen umfasst, die in örtlichen, regionalen, bundesstaatlichen und bundesweiten Gefängnissen und Haftanstalten festgehalten werden, betrug 1,9 Millionen Menschen.“ [3]
Wenn man die Kosten über mehrere Jahre verteilt, würden sie sich auf durchschnittlich 88 Milliarden US-Dollar pro Jahr belaufen, was Gesamtkosten von 968 Milliarden US-Dollar über einen Zeitraum von mehr als einem Jahrzehnt entspricht, wenn man die langfristigen Kosten für die Einrichtung und Instandhaltung von Hafteinrichtungen, provisorischen Lagern und Einwanderungsgerichten berücksichtigt. Außerdem leben etwa 5,1 Millionen Kinder von US-Bürgern mit einem Familienmitglied ohne Papiere zusammen. Die Trennung von Familienmitgliedern würde zu enormem emotionalem Stress führen und könnte auch wirtschaftliche Schwierigkeiten für viele dieser Familien mit gemischtem Status verursachen, die ihre Ernährer verlieren könnten.

Aber auch der wirtschaftliche Gesamtschaden wäre erheblich. Wie an anderer Stelle bereits dargelegt , [4] hat die Nettozuwanderung dazu beigetragen, dass die US-Wirtschaft schneller wächst als andere G7-Volkswirtschaften. Der Verlust dieser Arbeitskräfte durch Massenabschiebung würde das BIP der USA um 4,2 bis 6,8 Prozent senken. Dies würde auch zu einer erheblichen Verringerung der Steuereinnahmen führen. Der Wegfall von Arbeitsmigranten würde alle Sektoren beeinträchtigen, von Privathaushalten über Unternehmen bis hin zur Basisinfrastruktur. Wenn die Industrie leidet, könnten Hunderttausende in den USA geborene Arbeitnehmer ihren Arbeitsplatz verlieren.

Trumps Maganomics drückt aus, dass sie darauf abzielt, dem durchschnittlichen in den USA geborenen Amerikaner zu helfen, aber in Wirklichkeit wird seine Politik wohl nur die sehr Reichen wie ihn selbst auf Kosten der übrigen Bevölkerung bereichern und auch das Wirtschaftswachstum gefährden und die Inflation in die Höhe treiben. Er wird stark von einzelnen Multimilliardären wie Elon Musk unterstützt.
Sie besitzen etwa 4 % des US-Privatvermögens, haben aber ein Drittel der Wahlkampfgelder beigesteuert, die Trump, selbst Milliardär, gesammelt hat.  Die Ironie dabei ist, dass 74% der befragten Amerikaner eine jährliche Vermögenssteuer [5] von 2 % auf Privatvermögen über 50 Millionen US-Dollar befürworten würden; 65 % befürworten eine Erhöhung des Körperschaftsteuersatzes und 61 % befürworten eine Erhöhung der Spitzensteuersätze – das genaue Gegenteil von Trumps Politik.

Aber Großunternehmen und Megabanken brauchten sich ohnehin  keine Sorgen zu machen, denn die demokratische Kandidatin Kamala Harris hatte nicht die Absicht, eine Vermögenssteuer einzuführen oder die Unternehmenssteuern oder die Steuern für Spitzenverdiener zu erhöhen. Im Gegenteil, Biden hatte die Steuersenkungen beibehalten, die Trump in seiner Amtszeit von 2016 bis 2020 eingeführt hat und die bis 2025 gelten werden, und Harris hätte  daran nichts geändert.  

 

Klimapolitik

Was das Klima betrifft, so hat Trump deutlich gemacht, dass er die Vorschriften lockern und die weitere Erkundung und Förderung fossiler Brennstoffe zulassen wird – schließlich sind er und Tesla-Chef Elon Musk sich einig, dass die globale Erwärmung wahrscheinlich nicht vom Menschen verursacht wurde und ohnehin keine ernsthafte Gefahr für Lebensgrundlagen und Leben darstellt – fraglich, ob die Hurrikan-Opfer in Florida dem zustimmen..

Was die öffentlichen Dienstleistungen betrifft, so sagten beide Kandidaten angesichts des steigenden Haushaltsdefizits und der Staatsverschuldung von weit über 100 % des BIP nichts.
Das kann jetzt nach den Wahlen aber nur bedeuten, dass eine massive Sparmaßnahme auf dem Weg ist.
Die Steuereinnahmen werden nicht erhöht – im Gegenteil.
Die Ausgaben für „Verteidigung“ und Rüstung zur Finanzierung der Kriege in der Ukraine und im Nahen Osten haben Rekordhöhen erreicht und werden weiter steigen.
Was gekürzt werden muss, sind die öffentlichen Ausgaben für Bildung, Verkehr und Sozialfürsorge usw. Dies wäre, unabhängig vom Wahlausgang, so oder so zu erwarten gewesen.
 In diesem Sinne hat Larry Fink von BlackRock also recht:


Es spielt keine Rolle, wer gewinnt. Der Gewinner aller „Wahlen“ in den USA ist die Wall Street.

 

 

[1] https://thenextrecession.wordpress.com/2024/05/20/tariffs-technology-and-industrial-policy/

[2] https://papers.ssrn.com/sol3/papers.cfm?abstract_id=4834397

[3] https://www.americanimmigrationcouncil.org/research/mass-deportation

[4] https://www.isw-muenchen.de/online-publikationen/texte-artikel/5317-der-zustand-der-us-wirtschaft-und-die-parlamentswahlen

[5] https://thehill.com/hilltv/what-americas-thinking/428747-new-poll-americans-overwhelmingly-support-taxing-the-wealth-of

 

Northvolt: Irritationen um Batteriefabrik-Pläne

lun, 04/11/2024 - 23:04

Nicht nur vor der Ampel-Regierung steht ein „Herbst der Entscheidungen“ an. Ebenfalls für das Leuchtturm-Projekt „Northvolt“ bei Heide werden im Herbst die Karten neu gemischt.
Heide könnte ein ähnliches Schicksal drohen wie jüngst Magdeburg.    

  

 

In Magdeburg  hatte der US-Chiphersteller Intel unlängst den geplanten Bau einer Fabrik vorerst auf Eis gelegt. Mitte September hatte der Konzern mitgeteilt, dass sich das Projekt, mit dessen Bau in diesem Jahr hätte begonnen werden sollen, voraussichtlich um zwei Jahre verzögern werde. An dem geplanten Standort sollten zwei Chipfabriken mit rund 3000 Arbeitsplätzen entstehen.
Die Bundesregierung hatte dafür knapp zehn Milliarden Euro in Aussicht gestellt.

Ein ähnliches Szenario ist auch für die Giga-Batteriefabrik Northvolt denkbar.
Wie im September vom Konzernchef Carlsson angekündigt, will Northvolt im Herbst weitreichende Entscheidungen über die Zukunft des Konzerns verkünden. An den Plänen für das schleswig-holsteinische Werk bei Heide halte man zwar grundsätzlich fest, über „mögliche Anpassungen der Zeitpläne“ werde man aber im Herbst entscheiden. (FAZ 9.9.2024). "Wir brauchen diese Fabrik in Heide." Das hat auch der Deutschlandchef von Northvolt, Christofer Haux, Anfang Oktober vor dem Wirtschaftsausschuss des Landtages erneut bekräftigt. Er war per Video aus Schweden zugeschaltet. Er betonte: Auch wenn Northvolt in Schweden Stellen abbauen müsse, sei die Fabrik in Heide weiterhin ein Grundpfeiler ihrer Expansionsstrategie. Er schloss allerdings ebenfalls nicht aus, dass sich der Zeitplan für die Ansiedlung verändern könnte. (KN 2.10.2024).

Probleme bei Northvolt   

Die Irritationen und Unsicherheiten über Umfang und Zeitplan der projektierten Giga-Fabrik in Dithmarschen halten also weiterhin an. Anfang Juli wurde erstmals öffentlich über massive Probleme bei Northvolt berichtet.
Ende Juni hatte BMW einen Großauftrag storniert; eine Bestellung von Batteriezellen im Wert von zwei Milliarden Euro wurde zurückgezogen.
Weiterhin gab es Berichte, dass sich der Konzern-Verlust im vergangenen Jahr auf eine Milliarde Dollar verdreifacht habe.
 Northvolt kämpfe demnach - offenbar mit mäßigem Erfolg -  unter anderem gegen die nach wie vor übermächtige Konkurrenz der Batterien aus China; außerdem seien die Aussichten für Elektroautos nicht mehr so rosig wie bisher. „Dabei zeigen Zahlen, wie weit das Unternehmen – gemessen an den eigenen Ansprüchen - zurückliegt. Northvolt wollte ursprünglich schon im Jahr 2023 eine Produktionskapazität von insgesamt 16 Gigawattstunden erreichen. Ende Juli lag der Output noch unter einer Gigawattstunde.“

 Zudem hatten auch ungeklärte Todesfälle am schwedischen Northvolt-Standort für Aufsehen gesorgt und Fragen nach der Betriebssicherheit aufgeworfen.[1]

Anfang September wurde mitgeteilt, dass Personal „abgebaut“ werde (Entlassung von etwa 1.600 Mitarbeitenden in Schweden. Das entspricht knapp einem Viertel der Northvolt-Belegschaft in dem skandinavischen Land) und man sich von Standorten trennen wolle. Im schwedischen Borlänge will das Unternehmen eine Fläche verkaufen, auf der eine weitere Fabrik geplant war. Die Arbeit eines Entwicklungszentrums in den USA wird nach Schweden verlagert. Für einen Standort in Polen werden Investoren gesucht, die die Produktion unterstützen sollen.

Gleichzeitig teilte Northvolt mit: Der Aufbau einer Batterieproduktion in Europa hat weiterhin unverändert Priorität. Bundeswirtschaftsminister Robert Habeck (Grüne) hatte der schwedischen Wirtschaftszeitung "Dagens Industri" am 23.9. am Rande des sogenannten „Autogipfels“ gesagt, man stünde "in dauerndem Kontakt mit Northvolt" und gehe davon aus, dass das Vorhaben in Heide wie geplant realisiert werden würde. Anders Hägerstrand, der als Journalist von der "Dagens Industri" regelmäßig über Northvolt berichtet, sagte dagegen im Gespräch mit NDR Schleswig-Holstein (ndr-online 24.09.2024), dass er einen Produktionsbeginn in Heide in zwei Jahren für fast unmöglich halte.
Northvolt konzentriere sich nun darauf, seine Produktion im Werk im schwedischen Skellefteå zu steigern. 

„Europas Batteriepläne kommen unter die Räder“  

Die weltweit größten Lithium-Ionen-Batteriehersteller sind die chinesischen Firmen CATL und BYD, die beide mit einem Marktanteil von insgesamt über 50 Prozent die Batteriewelt dominieren.

Unter den weiteren Top 10 sind weitere vier chinesische, drei südkoreanische und ein japanisches Unternehmen zu finden. Fakt ist: Aktuell haben sich mittlerweile weltweit Überkapazitäten entwickelt, weil der Absatz von E-Autos - insbesondere in Europa - nicht wie erhofft nach oben schnellt. Selbst das Werk des Weltmarktführers CATL in Thüringen ist zur Zeit nicht ausgelastet.

Zusätzlich verbreiteten zwei Ankündigungen den europäischen Batterieherstellern Sorgen. Zum Einen wurde Anfang des Jahres in China eine Industrieallianz für die Entwicklung und Produktion von Feststoffbatterien gebildet. Zum Zweiten:  Kurze Zeit darauf folgte die Meldung des größten chinesischen Autoherstellers (SAIC), schon in zwei Jahren mit der Massenproduktion von Feststoffbatterien beginnen zu wollen.

Feststoffbatterien haben im Gegensatz zu Lithium-Ionen-Batterien eine viel größere Energiedichte, sodass man länger mit einer Ladung fahren kann – der Wunsch eines jeden E-Auto-Besitzers.
Angesichts dieser Situation „macht sich in Europa immer stärker Ernüchterung breit. Eine Batteriehoffnung nach der anderen stutzt ihre Pläne, ob Start-ups oder Großkonzerne. Die Fabriken hierzulande drohen Rohrkrepierer zu werden“ [2]

Dazu passt auch die jüngste Meldung vom weltweit größten Chemiekonzern, der Ludwigshafener BASF. Der dort mit großen Hoffnungen gestarteter Aufbau einer Produktionslinie um Batteriechemikalien für Elektroantriebe wird zunächst einmal auf Eis gelegt.
„Angesichts der hohen Markt-und Technologierisiken, gerade in Europa, sei der Aufbau einer Wertschöpfungskette für Batteriechemikalien schwierig,“ wird der Konzernchef Markus Kamieth zitiert (FAZ 27.9.2024).

Zu den zarten Pflänzchen der europäischen Batterieindustrie zählt auch Northvolt und muss sich nun in einem zunehmend schwierig werdenden Marktumfeld behaupten. Und die jüngsten Beschlüsse der EU-Kommission über Strafzölle für E-Autos aus chinesischer Produktion sind gewiss für Northvolt u.a. kein Stimmungsaufheller. Deutsche Auto-Konzerne lassen in Joint Venture Kooperationen (deutsche und chinesische Unternehmen), in China für den Export produzieren und müssten durch die „Schutzzoll“-Maßnahmen mit einem Absatzrückgang der chinesischen Import-Fahrzeuge in Deutschland rechnen.
Sollte China seinerseits Einfuhrzölle auf Autos einführen, würde dies die deutschen Autohersteller hart treffen. Im Jahr 2023 ist etwa ein Drittel der in Deutschland produzierten Fahrzeuge nach China exportiert worden.[3]


Carlsson und seine „klare Mission“

Ziel von Northvolt, des 2016 von Peter Carlsson gegründeten Batterieunternehmens ist, die chinesische Dominanz auf dem Batteriemarkt zu brechen. Damit das gelingt, muss man schnell, innovativ und vor allem groß sein – so Carlssons Philosophie. Klingt irgendwie bekannt. Und das kommt nicht von ungefähr; arbeitete der Wirtschaftsingenieur zunächst für den schwedischen IT-Konzern Ericsson und wechselte dann zum us-amerikanischen Start-up namens Tesla, wo er in Nevada eine Batteriefabrik aufbaute. Die Zeit unter Elon Musk habe ihn sehr geprägt, betont er immer wieder: „Ich hätte Northvolt nie gegründet, wenn ich nicht durch seine Schule gegangen wäre“. Doch anders als der bisweilen exzentrisch auftretende Musk verströmt Carlsson eher nordische Gelassenheit – doch auch er steht für eine „Mission“: „Wir haben eine klare Mission: Leute, die zu uns kommen, arbeiten nicht nur in einer neuen Industrie. Sie haben die einmalige Chance, einen Beitrag zu leisten im Kampf gegen die größte Bedrohung unserer Zeit. Den Klimawandel. Zudem bieten wir allen Beschäftigten an, Shareholder zu werden an unserem Unternehmen.“ [4] 

War die Ansiedlung des Tesla-Werkes in Grünheide (bei Berlin) von Anfang an und bis heute von Protesten der Bevölkerung begleitet, findet das Großprojekt in Dithmarschen durchweg wohlwollenden Zuspruch. Das hängt auch damit zusammen, dass Carlsson der Region ein „Gesamtkonzept“ anbietet, das nicht nur die Schaffung tausender Arbeitsplätze inmitten eines „grünen“ Wirtschaftsareals beinhaltet, sondern viele weitere Annehmlichkeiten bereit hält wie z.B. die Nutzung der Abwärme für die örtlichen Fernwärmenetze.

Vor allem wirbt Northvolt damit, dass in Heide eine neue Batterietechnologie auf der Basis von Natrium-Ionen zum Einsatz kommt. Diese kommen ohne Kobalt, Nickel und Lithium aus und gelten deshalb als wichtig für Energiewende und Nachhaltigkeit.
Die Natrium-Ionen-Batterie wird   mit Mineralien wie Eisen und Natrium hergestellt, die auf den Weltmärkten reichlich vorhanden sind. Die Energiedichte dieser neuen Zelle soll nahe an die von Lithiumbatterien, die üblicherweise in Elektroautos verwendet würden, heranreichen, so die Aussagen von Northvolt. Lithiumbatterien haben eine Energiedichte von etwa 250 bis 300 Wattstunden pro Kilogramm. Wegen ihrer geringeren Energiedichte war die Verwendung der Natrium-Ionen-Batterie als Autobatterie bislang nur bedingt geeignet - sie ist größer und schwerer, was für den Einsatz in Automobilen nachteilig ist. Diesen Nachteil wollte Carlsson mit seinem Batteriewerk bei Heide wettmachen – so seine Ankündigung im Jahre 2022. Doch diese Perspektive steht inzwischen auf wackligen Beinen. Einerseits entwickelt sich auch die Lithium-Batterie-Technologie weiter (und nicht umsonst hat sich Deutschland gerade in Serbien einen umfangreichen Litihiumabbau gesichert); zum anderen drängt aus China eine neue Feststoffzellen-Technologie auf den Markt.                                                                                                                                                                 

Umweltverbände und die Batteriefabrik

Das Verhältnis der Umweltgruppen zur Ansiedlung der Mega-Fabrik auf der grünen Wiese war von Anfang an im Großen und Ganzen von Wohlwollen geprägt - mit kritischen Einwänden im Detail. Die Kritik richtete sich dabei weniger an das Unternehmen selber sondern vor allem an Politik und Verwaltung.

Northvolt betont, dass der BUND und andere Umweltverbände von Anfang an eingebunden waren, um Planung und Bau der Fabrik kritisch zu begleiten und Vorschläge für eine ökologische Gestaltung des Ansiedlungsgebiets zu machen. So erklärte Northvolt gegenüber dem BUND, dass etwa die Hälfte der Dachfläche aller Gebäude für eine Begrünung zur Verfügung stehen sollen. Auf der anderen Hälfte sollen Solarkollektoren zusätzlichen Strom produzieren.

„Nach Auffassung des BUND ist der Bau einer hocheffizienten und umweltfreundlichen Fabrik für Batterien für E-Autos grundsätzlich ein sehr gutes Projekt. Zurzeit mangelt es aber an einer stringenten, raumübergreifenden Planung, die sicherstellt, dass die Vorteile aus der räumlichen Nähe zu Erzeugern nachhaltiger Energie nicht z.B. durch eine ungünstige Verkehrsanbindung von der Fabrik und ggf. auch Zulieferern und Defiziten bei Umweltschutz und Umweltsicherheit gleich wieder zunichte gemacht wird,“ heißt es in der Erklärung des BUND Schleswig-Holstein vom 11.7.2022.

Und eineinhalb Jahre später heißt es in einer umfangreichen Stellungnahme an den Kreis Dithmarschen:

 „Diese zwingend notwendige Gesamtbetrachtung und nachhaltige Beurteilung des Projektes wurde bislang unterlassen. Für die Entscheidungsträger*innen und die Menschen der Region werden die Gesamtauswirkungen des Projektes weder im Einzelnen noch nachhaltig in der Gesamtheit deutlich und erkennbar. Stattdessen werden in Form einer scheibchenweisen Betrachtung einzelner Teilelemente die Gesamtauswirkungen vernebelt und intransparent gemacht. (…) Der BUND SH bedauert es außerordentlich, dass aufgrund der wiederholt kritisierten mangelhaften und wenig nachhaltigen Planungsweise ein grundsätzlich positives Ansiedlungsprojekt, welches bei einer sachgerechten Planung ein ökologisch, sozial und wirtschaftlich vorteilhaftes Leuchtturmprojekt im Lande hätte werden können in ein derartig intransparentes ‚Planungschaos‘ getrieben wird.
Es besteht ein überragendes öffentliches Interesse daran, dass die Gesamtauswirkungen einer Planung auf die Region, die Umwelt und die Menschen nachhaltig betrachtet, bewertet und in transparente Entscheidungen umgesetzt werden können. Stattdessen fällt ein möglicher guter Ansatz hier der Intransparenz und Salamitaktik in auch rechtlich fragwürdiger Form anheim.
Diese Praxis wird weder den Menschen der Region gerecht noch genügt sie den Grundanforderungen nachhaltiger umwelt- und klimagerechter Planung.“ [5]

Auf Grundlage dieser Einschätzung hatte der BUND im April 2024 Klage vor dem Verwaltungsgericht in Schleswigs eingereicht. Dabei ging es um zwei wasserrechtliche Genehmigungen, die der Kreis Dithmarschen erteilt hatte - und die laut BUND ohne vorherige Umweltverträglichkeitsprüfung erfolgt seien. Die erteilten Genehmigungen erlauben laut BUND das Zuschütten, Verlegen und Kanalisieren von Gewässern, um das Baugrundstück zu erschließen. In der Folge könne sich die Wasserqualität verschlechtern, so die Kritik.                                                                                                     Ende Juni zog der BUND diese Klagen zurück. Viele Fragen hätten ausgeräumt werden können, so ein BUND-Sprecher.
Northvolt betont, dass das Wasserkonzept für die Fabrik besonders nachhaltig sei - die neuen Gewässer würden sogar naturnäher als die ursprünglichen. Auch die Wasserqualität werde, im Gegensatz zu den Befürchtungen des BUND, nicht beeinträchtigt.

Wie sieht es aktuell vor Ort aus? Probleme und Herausforderungen

Im März 2022 wurde im Foyer der Fachhochschule Westküste (FHW) in Heide der Bau einer Batteriezellenfabrik des schwedischen Unternehmens offiziell verkündet. Ende Februar 2024 fand im Berufsbildungszentrum in Heide ein Treffen unter dem Motto "Northvolt trifft Wirtschaft" statt. Northvolt hatte zusammen mit der Industrie-und Handelskammer, der Kreishandwerkerschaft Dithmarschen, dem Unternehmensverband Unterelbe-Westküste und der Entwicklungsgesellschaft Region Heide (EARH) zu dem Treffen eingeladen. Ziel der Veranstaltung: Die Betriebe aus Handwerk, Handel und Industrie aus der Region sollen beim Bau der Batteriefabrik tatkräftig mithelfen. Über 500 Handwerksmeister und Vertreter von kleinen und mittelständischen Unternehmen aus ganz Schleswig-Holstein waren gekommen. Viele von ihnen stehen jetzt in den Startlöchern und hoffen, dass es mit dem Bau zügig voran geht.

Am 25. März 2024 erfolgte dann der medienwirksam inszenierte „Spatenstich“ in Form eines gemeinsamen Boßel-Werfens. Angereist waren Bundeskanzler, Wirtschaftsminister, Ministerpräsident, Botschafterin und Firmenchef. Die Anwesenden hoben hervor, dass es sich hier um eines der größten Industrieprojekte Deutschlands handelt. Die erste Zellmontage ist für das Jahr 2026 geplant. Im Endausbau von 2029 an sollen mit 3000 Beschäftigten jährlich Batteriezellen für eine Million E-Autos hergestellt werden. Das Versprechen „grüner Batterien“ knüpft das Unternehmen vor allem an die Verwendung erneuerbarer Energien. Dass es in Dithmarschen Windstrom im Übermaß gibt, war angeblich entscheidend für die Standortentscheidung, Northvolt-Chef Carlsson rechne dabei mit Strom zu Preisen von 5 bis 6 Cent je Kilowattstunde (c/kw) um wettbewerbsfähig zu sein (zum Vergleich: der durchschnittliche Industriestrompreis in Schleswig-Holstein beträgt 2024 etwa 17 c/kw).

Seit Ende März wird auf dem Gelände der zukünftigen Batteriefabrik gebaut. Das 170 Hektar große Areal gehört zu den drei Gemeinden Norderwöhrden, Wesseln und Neuenkirchen; alle drei Dörfer gehören zum Amt Heider Umland. Die Mitarbeitenden des Amtes beraten die ehrenamtlichen Gemeindevertreter und bereiten die notwendige Bauleitplanung vor. Derzeit laufen die Arbeiten für die Pfahlgründung. Bagger und schwere Lkw bereiten auf dem Gelände die Fläche für die weiteren Bauarbeiten vor.                                                                                                                                        Vor allem werden noch weitere Flächen benötigt, damit Zulieferer sich so schnell wie möglich nahe der Batteriefabrik ansiedeln können. Aus der Sicht des Beratungsunternehmen CIMA aus Lübeck ist auch für Northvolt entscheidend, dass bestimmte Komponenten und Services in einem nahen Umfeld angesiedelt werden können. Eine entscheidende Rolle komme nun der neuen Grundstücksgesellschaft des Kreises zu. „Es fehlten aber noch einige wichtige Punkte, damit die Gesellschaft ins Arbeiten kommt,“ so Dithmarschens Landrat Schütt. „Die Gesellschaft soll ja über einen Fonds des Landes finanziert werden, und dazu brauchen wir noch die rechtlichen Rahmenbedingungen." Diese Punkte müsse man sorgfältig abarbeiten, denn Kreis und Land seien schließlich den Steuerzahlern verpflichte.  Er hofft, dass alles bis Ende des Jahres geklärt ist, damit die Grundstücksgesellschaft dann ihre Arbeit aufnehmen und Gespräche mit Landbesitzern in den Gemeinden führen kann.[6]

Neben den Gewerbeflächen für Zuliefererbetriebe stehen die Mammutaufgaben Ausbau des Schienennetzes für die Güterzüge in Richtung Hamburg, Schaffung neuer Wohnungen und zusätzlicher Kita- und Schulplätze auf der Tagesordnung. Federführend hierfür zeichnet die Entwicklungsgesellschaft Region Heide (EARH), deren Fachleute den gesamten Ansiedlungsprozess von Northvolt von Anfang an begleitet haben.

Zum Beispiel Wohnungsbau:  7.100 Wohneinheiten müssen nach deren Berechnungen in der Stadt Heide und den elf umliegenden Gemeinden gebaut werden. Die Bürgermeister gehen davon aus,  dass ein bestimmter Prozentsatz des neu zu schaffenden Wohnraums den „Einheimischen“  vorbehalten ist. Es soll nämlich nicht das Gefühl entstehen, alle Maßnahmen würden sich nur um Northvolt drehen.

Verkehrsanbindung: „Die Realität gleicht eher einem Albtraum“

Weder der Zustand der Schienennetze im Güter- noch im Personenverkehr ist für ein Projekt wie das Batterie-Werk ausgelegt. Northvolt wirbt damit, die „grünste Batterie der Welt" zu produzieren. Um diesem Anspruch gerecht zu werden, müssen die Produkte möglichst per Bahn zu den Kunden gebracht werden. Auch die bis 3.000 Mitarbeitenden sollen möglichst mit der Bahn zur Arbeit kommen können - auch wenn sie eher am Hamburger Rand wohnen werden als in Heide und Umgebung.  

„Doch so schön der Traum des schwedischen Start-Ups von einer solchen Infrastruktur in Schleswig-Holstein ist, die Realität gleicht eher einem Albtraum.
Um nach Hamburg zu kommen, müssten die Züge über den Nord-Ostsee-Kanal. Die Hochbrücke Hochdonn auf der Hauptroute, der sogenannten Marschbahnstrecke, ist für solche Lasten gar nicht ausgelegt. Das Land lässt im Moment nach eigenen Angaben prüfen, ob die Brücke so verstärkt werden könnte, dass die Northvolt-Züge sie nutzen können. Eine Alternativroute wäre die Strecke über die Grünentaler Hochbrücke zwischen Heide und Neumünster. Doch die Regionalbahn-Strecke über die Dörfer hat nur ein Gleis und ist nur für maximal 80 Stundenkilometer zugelassen - zu wenig für die 24 Northvolt-Züge. Beide Strecken sind nicht elektrifiziert. So oder so können also - wie bisher auch - nur Loks mit alter Diesel-Technik zum Hightech-Unternehmen fahren.
Nicht nur Güter müssen das Northvolt-Werk erreichen und verlassen können, sondern auch die 3.000 Mitarbeitenden. Nicht alle werden direkt in der Region wohnen. Es wird zum Beispiel auch Pendlerinnen und Pendler geben, die aus Hamburg, dem Kreis Pinneberg und dem Kreis Steinburg zur Fabrik fahren. Wer heutzutage in Hamburg-Altona in die Bahn steigt und nach Heide fährt, braucht eine Stunde und 30 Minuten. Das sei zu lang, sagt Northvolt. Eine Voraussetzung für die Schweden, sich hier anzusiedeln, war damals auch, dass Menschen aus Hamburg in weniger als einer Stunde mit der Bahn in Heide sind. Damit das funktioniert, müsste ein neues Gleis zwischen Horst im Kreis Steinburg und Itzehoe gebaut werden. Ein neuer Abschnitt entlang der Marschbahnstrecke, eine verstärkte oder neue Hochbrücke in Hochdonn oder eine ausgebaute Strecke zwischen Neumünster und Heide - all diese Vorhaben würden in normalen Verfahren Jahrzehnte dauern.“ [7]

Satte Fördermittel für Northvolt von EU, Bund und Land

Der Investitionsbedarf für die Northvolt-Batteriefabrik wird auf etwa 4,5 Milliarden Euro beziffert. Aufgrund eines EU-Programms werden dem Unternehmen knapp eine Milliarde Euro an Fördermitteln von EU, Bund und Land zugesprochen. Das Bundeswirtschaftsministerium stellt Northvolt 564 Euro Millionen zur Verfügung, der schleswig-holsteinische Landtag hat einen Förderungsbetrag von 136 Millionen Euro bewilligt. „Viel Geld für Northvolt trotz Haushaltssperre“ befand selbst die eben nicht besonders wirtschaftskritische FAZ. (4.12.2023).     Im Januar 2024 genehmigte die EU-Kommission abschließend die vorgesehenen Fördermittel. Ohne die Subvention hätte sich Northvolt nach Angaben der Kommission für einen Standort in den USA entschieden. „Diese Maßnahme im Umfang von 902 Millionen Euro ist die erste Einzelbeihilfe, die genehmigt wurde, um zu verhindern, dass eine Investition in ein Land außerhalb Europas verlagert wird", sagte die seinerzeit für Wettbewerb zuständige EU-Kommissarin Margrethe Vestager. Die EU will strategisch wichtige Technologien wie Batterien und Halbleiter verstärkt selbst produzieren, um unabhängiger von Drittstaaten wie China und den USA zu werden.

Das Kieler Institut für Weltwirtschaft (IfW) sieht diese Subventionen kritisch und fürchtet, dass Konzerne letztendlich Regierungen gegeneinander ausspielen.

„Es ist ein Irrweg, sich in diesen Subventionswettlauf hineinziehen zu lassen. Vermutlich wäre Northvolts Investment auch mit weit weniger Subventionen lohnend gewesen, was nur die Anteilseigner freut. Das Geld muss nun vom Steuerzahler aufgebracht werden und fehlt an anderer Stelle, etwa bei Investitionen in Bildung oder Infrastruktur.“[8]

Wenn im Zusammenhang mit Northvolt mitunter immer noch etwas verniedlichend von einem „Start-Up“ gesprochen wird, verkennt das die reale Konzernstruktur. Größter Anteilseigner von Northvolt ist Volkswagen (21,1 Prozent). Weiterhin sind an dem Unternehmen BMW, Scania und Volvo beteiligt. Die US-Bank Goldman Sachs und die Investmentgesellschaft Blackrock gehören ebenfalls zu den Investoren. Staatliche Subventionen in Millionenhöhe für Konzerne, Banken und Investment-Heuschrecken, die Milliarden Gewinne machen und ihren Aktionär:innen satte Dividenden ausschütten?

Vom Elend staatlicher Subventionspolitik für Konzerne

In Politikerporträts über Olaf Scholz wird gern (und etwas hämisch) daran erinnert, dass er als Juso-Aktivist strammer Stamokap-Anhänger war. Was besagt die Stamokap-Theorie? Lenin prägte um 1917 herum den Begriff „staatsmonopolistischer Kapitalismus“, den er als allerletzte Weiterentwicklung des faulenden, parasitären Imperialismus betrachtete. Wenige große Konzerne und Banken verwachsen mit den staatlichen Organen, daraus resultiere eine alles durchdringende politisch-ökonomische Herrschaftsstruktur. Vor allem in den 70er Jahren fand diese Theorie insbesondere in der DKP, ihnen nahestehenden Ökonomen, einzelnen Sozialdemokraten (Klose: „Der Staat als Reparaturbetrieb des Kapitalismus“) und Jungsozialisten Zustimmung.                                                                                   

In den 80er Jahren geriet dieser theoretische Ansatz ein wenig aus dem Blickfeld angesichts der Fokussierung auf die neoliberale vom Shareholder- und Finanzkapital dominierte Ökonomie. Doch spätestens mit der Finanzkrise (2007ff) meldete sich „der Staat“ auch wieder sichtbar als ökonomischer Akteur zurück. Der Ökonom Jörg Huffschmid wies in diesem Zusammenhang darauf hin, dass die Stamokap-Theorie (SMK) also nicht obsolet sei. „Die Interessen der Automobilindustrie müssen sich zwar nicht zwangsläufig und aufgrund der Logik des SMK durchsetzen“, schrieb er: „Nur: Faktisch tun sie es.“[9]    

Subventionierung von Großkonzernen, die ihre Profitziele verfehlen und dann dem Staat mit Abwanderung und Vernichtung von Arbeitsplätzen drohen, wenn staatliche Subventionen ausbleiben sollten, sind seither auf der Tagesordnung (besonders ausgeprägt seit der Corona-Zeit).
Der Soziologe Klaus Dörre schreibt dazu zutreffend:                                                                                                                           

„Der Kapitalismus muss zur Stabilisierung seiner Herrschaft immer aufwendigere Investitionen tätigen. Man muss nur anschauen, was die Gesellschaft leisten muss, um Tesla die Produktion von E-Autos zu ermöglichen (oder Northvolt den Bau der Batteriefabrik, G.St.). Angefangen vom Bahnhof, der da hingebaut wird, über die Lade-Infrastruktur und so weiter. Würde man das alles den Konzernen in Rechnung stellen, würde es schwierig werden mit der Profitproduktion. Die Befürworter des Kapitalismus betonen ja immer, ihr System sei sehr effizient bei der Produktion gesellschaftlichen Reichtums. Aber das kann man mittlerweile wirklich nicht mehr behaupten. Der Kapitalismus ist ein System, das, um fortzubestehen, viele Bereiche regelrecht ausplündern muss.
Wir können uns den Kapitalismus nicht mehr leisten – das wäre meine These.“
[10] 

 

[1]manager-magazin 9.9.2024

[2]Europas Batteriepläne kommen unter die Räder, FAZ 18.7.24

[3]     https://de.statista.com/statistik/daten/studie/238001

[4]„Wir nehmen es mit den Asiaten auf“, FAZ 1.7.2023

[5]   Stellungnahme zum wasserrechtlichen Plangenehmigungsverfahren im Zuge der Errichtung einer Batteriefabrik in den Gemeinden Lohe-Rickelshof und Norderwöhrden, gerichtet an den Kreis Dithmarschen, Fachdienst Wasser, Boden Abfall.  BUND SH 18.1.2024

[6]   ndr-online 10.8.2024

[7]   ndr-online 23.2.24

[8]  FAZ 26.3.2024

[9]  Huffschmid, Jörg: Die Rückkehr des Staates. In: Blätter für deutsche und internationale Politik, November 2008

[10]  Interview mit dem Soziologen Klaus Dörre, ND 14.6.24

Der Zustand der US-Wirtschaft und die Parlamentswahlen

sam, 02/11/2024 - 16:17
Der US-Aktienmarkt boomt, der Dollar ist auf den Devisenmärkten hoch im Kurs, die US-Wirtschaft verzeichnet ein reales BIP-Wachstum von etwa 2,5 %, die Arbeitslosigkeit liegt bei nicht mehr als 4,1 %.  Es scheint, als würde die US-Wirtschaft eine "sanfte Landung", ohne Rezession, erreichen.

 

Tatsächlich scheint es überhaupt keine Landung zu geben.

Manche   nennen es due Benjamin-Button-Wirtschaft:  Die US-Wirtschaft wird immer jüger und besser. [1]

Warum liegt die Kandidatin der amtierenden demokratischen Regierung, Kamala Harris, in den Umfragen nur Kopf an Kopf mit dem republikanischen ehemaligen Präsidenten Donald Trump? Tatsächlich rechnet die Wettwelt damit, dass Trump gewinnen wird.
Wie kann das sein, wenn es der US-Wirtschaft so gut geht?

Es scheint, dass ein ausreichender Teil der Wählerschaft nicht so sehr von einer prosperierenden und besseren Zeit für sie überzeugt ist. In der jüngsten Umfrage des WSJ bewerteten 62 % der Befragten die Wirtschaft als „nicht so gut“ oder „schlecht“, was den Mangel an politischer Dividende für Präsident Biden oder Harris erklärt.

Ich denke, dass es dafür zwei Gründe gibt. Erstens mag das reale BIP der USA zwar wachsen und die Preise für Finanzanlagen boomen, aber für den durchschnittlichen amerikanischen Haushalt, von dem kaum jemand Finanzanlagen besitzt, mit denen er spekulieren könnte, sieht die Sache anders aus.
Während reiche Investoren ihr Vermögen vermehren, haben die Amerikaner unter den Regierungen Trump und Biden eine schreckliche Pandemie erlebt, gefolgt vom größten Einbruch des Lebensstandards seit den 1930er Jahren, der durch einen sehr starken Anstieg der Preise für Konsumgüter und Dienstleistungen verursacht wurde.

 

 

Die durchschnittlichen Lohnerhöhungen konnten bis vor etwa sechs Monaten nicht Schritt halten. Und offiziell sind die Preise immer noch um etwa 20 % höher als vor der Pandemie, aber viele andere Posten, die nicht im offiziellen Inflationsindex erfasst sind (Versicherungen, Hypothekenzinsen usw.), sind in die Höhe geschossen. Nach Steuern und Inflation sind die Durchschnittseinkommen also so gut wie gleich hoch wie zu Beginn der Amtszeit von Biden.

 

US real disposable personal income

Kein Wunder, dass in einer kürzlich durchgeführten Umfrage 56 % der Amerikaner der Meinung waren, dass sich die USA in einer Rezession befinden, und 72 % dachten, dass die Inflation steigt. Die Welt mag für Börseninvestoren, die „Magnificent Seven“-Hightech-Social-Media-Unternehmen und die Milliardäre großartig sein, aber für viele Amerikaner ist sie es nicht.

Diese Diskrepanz zwischen den optimistischen Ansichten der Babyboomer-Generation der Mainstream-Ökonomen und den „subjektiven“ Gefühlen der meisten Amerikaner wird als „Vibecession“ bezeichnet. Die Stimmung der amerikanischen Verbraucher ist seit Bidens Amtsantritt deutlich schlechter.

 

Die Amerikaner sind sich der Kosten bewusst, die in den offiziellen Indizes und von den Mainstream-Ökonomen ignoriert werden. Die Hypothekenzinsen haben den höchsten Stand seit 20 Jahren erreicht und die Immobilienpreise sind auf Rekordniveau gestiegen. Die Prämien für Kfz- und Krankenversicherungen sind in die Höhe geschossen.

Tatsächlich wird die Einkommens- und Vermögensungleichheit in den USA, die zu den höchsten der Welt gehört, immer schlimmer. Die obersten 1 % der Amerikaner verfügen über 21 % aller persönlichen Einkommen, mehr als doppelt so viel wie die untersten 50 %! Und die obersten 1 % der Amerikaner besitzen 35 % des gesamten Privatvermögens, während 10 % der Amerikaner 71 % besitzen; die untersten 50 % besitzen jedoch nur 10 %!

 

Shares of US personal income

Shares of US personal wealth

 

Wenn man sich die viel gepriesenen realen BIP-Zahlen genauer ansieht, wird deutlich, warum die meisten Amerikaner kaum davon profitieren. Die BIP-Rate wird von den Gesundheitsdiensten bestimmt, die in Wirklichkeit die steigenden Kosten der Krankenversicherung messen, nicht eine bessere Gesundheitsversorgung, und diese Kosten sind in den letzten drei Jahren in die Höhe geschossen. Und dann gibt es steigende Lagerbestände, d. h. unverkaufte Warenbestände, mit anderen Worten: Produktion ohne Absatz. Und dann gibt es erhöhte Staatsausgaben, hauptsächlich für die Rüstungsindustrie, was kaum ein produktiver Beitrag ist.

Wenn wir uns die Wirtschaftstätigkeit im verarbeitenden Gewerbe der USA ansehen, basierend auf der sogenannten Umfrage unter Einkaufsmanagern, zeigt der Index, dass das verarbeitende Gewerbe in den USA in den vier Monaten vor der Wahl im November geschrumpft ist (jeder Wert unter 50 bedeutet Schrumpfung).

US Manufacturing PMI

 

Die Regierung und die Mainstream-Medien verkünden die niedrige Arbeitslosenquote in den USA. Ein Großteil des Nettoanstiegs der Arbeitsplätze entfällt jedoch auf Teilzeitbeschäftigung oder auf staatliche Stellen auf Bundes- und Landesebene. Die Vollzeitbeschäftigung in wichtigen produktiven Sektoren, die besser bezahlt werden und eine Karriere ermöglichen, hinkt hinterher. Wenn ein Arbeitnehmer einen Zweitjob annehmen muss, um seinen Lebensstandard aufrechtzuerhalten, ist er möglicherweise nicht mehr so optimistisch, was die Wirtschaft angeht. Tatsächlich haben Zweitjobs erheblich zugenommen.

 

Und der Arbeitsmarkt beginnt sich zum Schlechten zu wenden. Der monatliche Nettozuwachs an Arbeitsplätzen ist rückläufig, mit zuletzt nur +12.000 im Oktober (teilweise beeinflusst durch Hurrikane und den Boeing-Streik).

 

Month-over-month change in total nonfarm employment

Sowohl die Zahl der Stellenangebote als auch die der Kündigungen ist auf ein Niveau gesunken, das normalerweise in Rezessionszeiten zu beobachten ist. Unternehmen zögern, Vollzeitkräfte einzustellen, und Arbeitnehmer zögern, zu kündigen, da sie sich Sorgen um die Sicherheit ihres Arbeitsplatzes machen und es immer weniger offene Stellen gibt.

US Job Offers

Job Quits

 

Die etablierten Ökonomen loben die zweifellos bessere Leistung der US-Wirtschaft im Vergleich zu Europa und Japan und im Vergleich zum Rest der kapitalistischen G7-Volkswirtschaften insgesamt. Aber eine durchschnittliche reale BIP-Wachstumsrate von 2,5 % ist im Vergleich zu den 1960er Jahren oder sogar den 1990er Jahren oder vor der Großen Rezession von 2008 oder vor dem pandemiebedingten Einbruch von 2020 kaum ein Erfolg.

Die großen Volkswirtschaften befinden sich nach wie vor in einer Situation, die ich als „lange Depression“ bezeichnet habe, d. h. nach jedem Einbruch oder jeder Kontraktion (2008-9 und 2020) folgt ein niedrigerer Verlauf des realen BIP-Wachstums – d. h. der vorherige Trend wird nicht wiederhergestellt. Die Trendwachstumsrate vor dem globalen Finanzcrash (GFC) und der Großen Rezession ist nicht zurückgekehrt; und der Wachstumspfad ist nach dem pandemiebedingten Einbruch von 2020 noch weiter gesunken. Kanada liegt immer noch 9 % unter dem Trend vor der globalen Finanzkrise, die Eurozone 15 %, das Vereinigte Königreich 17 % und selbst die USA liegen immer noch 9 % darunter.

 

Darüber hinaus ist ein Großteil der überdurchschnittlichen Wirtschaftsleistung der USA auf einen starken Anstieg der Nettozuwanderung zurückzuführen, der doppelt so schnell ist wie in der Eurozone und dreimal so schnell wie in Japan. Laut dem Congressional Budget Office wird die Zahl der Arbeitskräfte (nicht der Beschäftigten) in den USA bis 2033 um 5,2 Millionen Menschen gestiegen sein, was hauptsächlich auf die Nettozuwanderung zurückzuführen ist. Die Wirtschaft wird in den nächsten zehn Jahren voraussichtlich um 7 Billionen US-Dollar mehr wachsen als ohne den neuen Zustrom von Einwanderern.

Es ist also eine große Ironie, dass der zweite Grund, warum die Harris-Kampagne nicht weit vor Trump liegt, die Frage der Einwanderung ist. Es scheint, dass viele Amerikaner die Eindämmung der Einwanderung als ein zentrales politisches Thema betrachten – d. h. sie machen zu viele Einwanderer für das geringe Realeinkommenswachstum und schlecht bezahlte Arbeitsplätze verantwortlich, obwohl das Gegenteil der Fall ist. In der Tat werden das Wirtschaftswachstum und der Lebensstandard der USA leiden, wenn das Einwanderungswachstum nachlässt oder wenn eine neue Regierung die Einwanderung stark einschränkt oder sogar verbietet.

Die einzige Möglichkeit, wie die US-Wirtschaft in diesem Jahrzehnt ein reales BIP-Wachstum von 2,5 % pro Jahr aufrechterhalten könnte, wäre eine sehr starke Steigerung der Produktivität der amerikanischen Arbeitskräfte. Doch im Laufe der Jahrzehnte hat sich das Produktivitätswachstum in den USA verlangsamt. In den 1990er Jahren lag das durchschnittliche Produktivitätswachstum bei 2 % pro Jahr und in den kreditfinanzierten 2000er Jahren der Dotcom-Ära sogar noch schneller bei 2,6 % pro Jahr. In den Jahren der langen Depression in den 2010er Jahren rutschte die durchschnittliche Rate jedoch auf den niedrigsten Stand von 1,4 % pro Jahr ab. Seit der Großen Rezession von 2008 bis 2023 ist die Produktivität nur um 1,7 % pro Jahr gestiegen. Wenn die Zahl der Erwerbstätigen nicht weiter steigen würde, weil die Einwanderung gebremst wurde, würde das reale BIP-Wachstum wieder unter 2 % pro Jahr fallen.

US-productivity of labour growth

Die allgemeine Hoffnung, dass die enormen Subventionen, die die Regierung in die großen High-Tech-Unternehmen pumpt, die Investitionen in produktivitätssteigernde Projekte ankurbeln werden, insbesondere die massiven Ausgaben für KI, werden letztendlich zu einem anhaltenden, sprunghaften Anstieg des Produktivitätswachstums führen.  Aber diese Aussicht bleibt ungewiss und zweifelhaft - zumindest angesichts des Tempos, mit dem diese neuen Technologien in die US-Wirtschaft einfließen.
Bisher ist das Produktivitätswachstum hauptsächlich in der klimaschädlichen und umweltschädlichen fossilen Brennstoffindustrie zu verzeichnen, und es gibt kaum Anzeichen für eine Ausweitung auf andere Sektoren.

Energy Sector leads productivity gains

 

 

Seit 2010 hat sich die Öl- und Gasproduktion in den USA fast verdoppelt, und dennoch ist die Beschäftigung im vorgelagerten Sektor zurückgegangen. Die Produktivitätssteigerungen in diesem Sektor wurden also durch sinkende Beschäftigung erzielt.

Es besteht die ernsthafte Gefahr, dass eine riesige Investitionsblase entsteht, die durch erhöhte Verschuldung und staatliche Subventionen finanziert wird und die zusammenbrechen könnte, wenn die Kapitalrenditen für den US-Unternehmenssektor aus KI und Hightech ausbleiben. Die Realität sieht so aus, dass abgesehen vom Gewinnboom der sogenannten Magnificent Seven der Hightech-Giganten aus dem Bereich Social Media die durchschnittliche Rentabilität der produktiven Sektoren des US-Kapitalismus auf einem historischen Tiefstand ist.

 

US non-financial sector rate of profit

 

 

Ja, die Gewinne der Magnificent Seven sind sehr hoch und die Gewinnspannen sind hoch, aber das Gesamtgewinnwachstum des nichtfinanziellen Unternehmenssektors der USA ist fast zum Stillstand gekommen.

 

US non-financial sector corporate profits

 

 

Und denken Sie daran, es ist mittlerweile allgemein bekannt, dass Gewinne in einer kapitalistischen Wirtschaft Investitionen und dann die Beschäftigung anführen. Wo Gewinne hinführen, folgen Investitionen und Beschäftigung mit Verzögerung.

Us non-financial profits and business investment % yoy

 

Kein Bild

 

 

Wenn das Investitionswachstum sinkt, wird das erwartete Produktivitätswachstum nicht eintreten.

Darüber hinaus sind die Gesamtgewinndaten in zweierlei Hinsicht verzerrt. Erstens konzentrieren sich die Gewinne stark auf die großen Megakonzerne, während die kleinen und mittleren Unternehmen mit der Last hoher Zinssätze für ihre Kredite und gedrückten Kosten für Rohstoffe und Arbeitskräfte zu kämpfen haben.

 

Exhibits 4 Borrow costs

Kein Bild

 

 

 

Rund 42 % der Small-Cap-Unternehmen in den USA sind unrentabel, der höchste Wert seit der Pandemie im Jahr 2020, als 53 % der Small Caps Geld verloren.

 

Percent of unprofitable companies

 

 

Zweitens ist ein Großteil des Gewinnanstiegs fiktiv (um Marx' Begriff für Gewinne zu verwenden, die durch den Kauf und Verkauf von Finanzanlagen erzielt werden, die angeblich reale Vermögenswerte und Gewinne von Unternehmen darstellen, dies aber nicht tun). Nach der Methode von Jos Watterton und Murray Smith, zwei marxistischen Ökonomen aus Kanada, schätze ich, dass fiktive Gewinne inzwischen etwa die Hälfte der Gesamtgewinne im Finanzsektor ausmachen. Wenn diese bei einem Finanzcrash verschwinden würden, würde dies den amerikanischen Unternehmen ernsthaft schaden.

 

 

Us-financial sector profits-real and fictious §bn

 

Und das bringt uns zum Thema steigende Verschuldung, sowohl im US-Unternehmenssektor als auch im öffentlichen Sektor. Wenn die KI-Blase platzen würde, wären viele Unternehmen mit einer Schuldenkrise konfrontiert. Laut S&P Global Ratings sind im Jahr 2024 bereits mehr US-Unternehmen ihren Schulden nicht nachgekommen als jemals zuvor zu Jahresbeginn seit der globalen Finanzkrise, da der Inflationsdruck und die hohen Zinssätze die risikoreichsten Unternehmenskreditnehmer weiterhin belasten.

 

 

Us Chapter Bankruptcy fillings

Kein Bild

 

 

 

Und vergessen Sie nicht die „Zombies“, d. h. Unternehmen, die bereits jetzt nicht in der Lage sind, ihre Schuldendienstkosten aus Gewinnen zu decken, und daher nicht investieren oder expandieren können, sondern einfach so weitermachen wie die lebenden Toten. Sie haben sich vermehrt und überleben bisher, indem sie sich noch mehr Geld leihen – und sind daher anfällig für hohe Kreditzinsen.

 

 

The zombie apocalypset

Kein Bild

 

 

 

Wenn die Unternehmensinsolvenzen zunehmen, wird dies die Gläubiger, d. h. die Banken, erneut unter Druck setzen. Im vergangenen März gab es bereits eine Bankenkrise, die zum Zusammenbruch mehrerer kleiner Banken führte, während die übrigen Banken durch Notfinanzierungen der staatlichen Regulierungsbehörden in Höhe von über 100 Milliarden US-Dollar gerettet wurden. Ich habe bereits auf die versteckte Gefahr von Krediten hingewiesen, die von sogenannten „Schattenbanken“ gehalten werden, d. h. von Nichtbanken, die große Summen für spekulative Finanzinvestitionen verliehen haben.

Und nicht nur der Unternehmenssektor gerät unter Druck, seinen Schuldendienst zu leisten. Während des Präsidentschaftswahlkampfs in den USA in den letzten Monaten haben beide Kandidaten, Kamala Harris und Donald Trump, ein Thema ignoriert. Es geht um die Höhe der Staatsverschuldung. Aber diese Verschuldung ist von Bedeutung.

Die US-Regierung hat in diesem Jahr bisher 659 Milliarden Dollar für die Zahlung der Zinsen auf ihre Schulden ausgegeben, da die Zinserhöhungen der Federal Reserve die Kreditkosten der Bundesregierung dramatisch in die Höhe getrieben haben. Die Verschuldung des öffentlichen Sektors, die derzeit auf 35 Billionen US-Dollar oder rund 100 % des BIP geschätzt wird, kennt nur eine Richtung: nach oben. Die Schuldenlast wird voraussichtlich weiter steigen und könnte laut einer Prognose des Congressional Budget Office (CBO) der USA innerhalb der nächsten 10 Jahre 50 Billionen US-Dollar erreichen.

Das CBO berichtet, dass die von der Öffentlichkeit gehaltenen Bundesanleihen (d. h. die „Nettoverschuldung“) im letzten halben Jahrhundert durchschnittlich 48,3 % des BIP ausmachten. Das CBO prognostiziert jedoch, dass die Nettoverschuldung bis zum nächsten Jahr, 2025, zum ersten Mal seit dem militärischen Aufrüstungsprogramm der USA im Zweiten Weltkrieg größer sein wird als die jährliche Wirtschaftsleistung und bis 2034 auf 122,4 % steigen wird.

 

Us government debt is expected to rise signifinactly

 

Aber ist diese steigende Staatsverschuldung von Bedeutung? Der Vorschlag, dass die US-Regierung irgendwann aufhören muss, Haushaltsdefizite zu machen und die steigende Verschuldung einzudämmen, wurde von Vertretern der Modern Monetary Theory (MMT) entschieden abgelehnt. MMT-Befürworter argumentieren, dass Regierungen permanente Haushaltsdefizite machen können und sollten, bis die Vollbeschäftigung erreicht ist. Und es besteht keine Notwendigkeit, diese jährlichen Defizite durch die Ausgabe von mehr Staatsanleihen zu finanzieren, da die Regierung die Rechnungseinheit, den Dollar, kontrolliert, den jeder verwenden muss. Die Federal Reserve kann also einfach Dollar „drucken“, um die Defizite zu finanzieren, wie es das Finanzministerium verlangt. Vollbeschäftigung und Wachstum werden dann folgen.

Ich habe die Schwachstellen des MMT-Arguments in anderen Beiträgen ausführlich erörtert, aber das Hauptanliegen hier ist, dass die Staatsausgaben, wie auch immer finanziert, möglicherweise nicht die notwendigen Investitionen und Beschäftigungszuwächse erzielen. Das liegt daran, dass die Regierung dem kapitalistischen Sektor die Entscheidungsgewalt über Investitionen und Arbeitsplätze nicht aus der Hand nimmt. Der Großteil der Investitionen und der Beschäftigung bleibt unter der Kontrolle kapitalistischer Unternehmen, nicht des Staates. Und wie ich oben argumentiert habe, bedeutet dies, dass Investitionen von der erwarteten Rentabilität des Kapitals abhängen.

Lassen Sie mich die Worte von Michael Pettis, einem überzeugten keynesianischen Ökonomen, wiederholen: "Das Fazit lautet: Wenn die Regierung zusätzliche Mittel so ausgeben kann, dass das BIP schneller wächst als die Verschuldung, müssen sich Politiker keine Sorgen über eine galoppierende Inflation oder eine Anhäufung von Schulden machen. Wenn dieses Geld jedoch nicht produktiv eingesetzt wird, ist das Gegenteil der Fall.„ Das liegt daran, dass “die Schaffung oder Kreditaufnahme von Geld den Wohlstand eines Landes nicht erhöht, es sei denn, dies führt direkt oder indirekt zu einer Erhöhung der produktiven Investitionen ...Wenn US-Unternehmen nicht deshalb zögern zu investieren, weil die Kapitalkosten hoch sind, sondern weil die erwartete Rentabilität niedrig ist, ist es unwahrscheinlich, dass sie ... mit höheren Investitionen reagieren."

Darüber hinaus nimmt die US-Regierung Kredite hauptsächlich zur Finanzierung des laufenden Verbrauchs auf, nicht für Investitionen. Wenn man also die Federal Reserve dazu bringt, das Geld zu „drucken“, das zur Deckung der geplanten Staatsausgaben benötigt wird, wird dies nur zu einer starken Abwertung des Dollars und einem Anstieg der Inflation führen.

Steigende Schulden erhöhen die Nachfrage der Anleihekäufer nach höheren Zinssätzen, um sich gegen Zahlungsausfälle abzusichern. Für die USA bedeutet dies, dass jeder Anstieg der Schuldenquote um einen Prozentpunkt die längerfristigen Realzinsen um ein bis sechs Basispunkte erhöht. Je mehr die Schulden wachsen, desto mehr muss die Regierung an Zinsen für den Schuldendienst aufbringen – und desto weniger Geld hat die US-Regierung für andere Prioritäten wie die Sozialversicherung und andere wichtige Teile des sozialen Sicherheitsnetzes zur Verfügung. Die Zinskosten haben sich in den letzten drei Jahren fast verdoppelt, von 345 Milliarden US-Dollar im Jahr 2020 auf 659 Milliarden US-Dollar im Jahr 2023. Die Zinsen sind jetzt das viertgrößte Regierungsprogramm, nach der Sozialversicherung, Medicare und der Verteidigung. Im Verhältnis zur Wirtschaft stiegen die Nettozinskosten von 1,6 Prozent des BIP im Jahr 2020 auf 2,5 Prozent im Jahr 2023.

In seiner jüngsten Prognose geht das CBO davon aus, dass die Zinsen in den nächsten zehn Jahren mehr als 10 Billionen US-Dollar kosten und bis 2027 den Verteidigungshaushalt übersteigen werden. Seitdem sind die Zinssätze weitaus stärker gestiegen als vom CBO prognostiziert. Wenn die Zinssätze etwa 1 Prozentpunkt über den vorherigen Prognosen bleiben, würden die Zinsen für die Staatsverschuldung in den nächsten zehn Jahren mehr als 13 Billionen US-Dollar kosten, bereits im nächsten Jahr, 2025, den Verteidigungshaushalt übersteigen und 2026 zum zweitgrößten Regierungsprogramm werden und Medicare übertreffen.

Amerikas wirtschaftliche Stärke gibt dem Land einen beträchtlichen Spielraum. Die Rolle des Dollars als internationale Reservewährung bedeutet, dass die Nachfrage nach US-Schulden allgegenwärtig ist, und KI-gesteuertes Produktivitätswachstum könnte tatsächlich dazu beitragen, die Schuldenprobleme zu verringern. Aber die Höhe der Staatsverschuldung kann nicht ignoriert werden. Die neue Regierung wird bald höhere Steuern und Kürzungen bei den Staatsausgaben einführen. Wenn sie dies nicht tut, werden die „Vigilanten“ der Anleihenmärkte ihre Käufe einschränken und den neuen Präsidenten ohnehin zu einer strengen Haushaltsdisziplin zwingen. Wie der Chefökonom des IWF, Pierre-Olivier Gourinchas, kurz vor dieser Wahl sagte: „Es muss sich etwas ändern.“ Bidenomics wird mit seinem Namensvetter vergehen.

 

[1] Anstelle des typischen vierstufigen Konjunkturzyklus - Anfang, Mitte, Ende und Rezession -, den wir seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs erlebt haben, scheint die Wirtschaft von den Merkmalen des späten Zyklus, der durch eine straffe Geldpolitik und steigenden Kostendruck gekennzeichnet ist, zur Mitte des Zyklus zurückzukehren, wo die Unternehmensgewinne ihren Höhepunkt erreichen, die Kreditnachfrage anzieht und die Geldpolitik im Allgemeinen neutral ist.

4-Tage-Woche erfolgreich getestet – Klare Positionierung der Gewerkschaften wichtig

ven, 01/11/2024 - 17:24

Die Erfahrungen mit der 4-Tage-Woche sind positiv - wie bereits in anderen Ländern.
Bundesweit hatten seit Anfang des Jahres 45 Firmen an einem Pilotprojekt teilgenommen, 41 haben die Testphase inzwischen abgeschlossen oder stehen kurz davor.



Nach den Aussagen der Unternehmensberatung Intraprenör haben sich 73 Prozent der beteiligten Unternehmen entschlossen, die Vier-Tage-Woche beizubehalten.
Der Umfang der praktizierten Arbeitsverkürzung war unterschiedlich: 20 Prozent weniger Wochenarbeitsstunden bei gleichem Lohn oder nur zehn Prozent oder noch weniger.
Bei 85 Prozent der beteiligten Unternehmen habe es jedoch einen vollen freien Tag pro Woche gegeben, sagt Intraprenör.

Nach Angaben der Initiatoren wurde die zusätzliche Freizeit als positiv wahrgenommen. Die Zahl der Stress- und Burnout-Meldungen sei deutlich zurückgegangen. Außerdem schliefen die Beschäftigten mit reduzierter Arbeitszeit durchschnittlich 38 Minuten pro Woche mehr als die Kontrollgruppe ohne Verkürzung.

Die Unternehmensberatung Intraprenör hat bei dem Test mit der Organisation „4 Day Week Global“ zusammenarbeitet, die schon in Großbritannien ein Experiment bei 61 Unternehmen mit insgesamt 2.900 Beschäftigten.dazu durchgeführt hat,

4-Tage-Woche als Modell in den Betrieben

Unabhängig von diesem Test gibt es derzeit unterschiedliche Ansätze, die 4-Tage-Woche umzusetzen:

  1. Verkürzte Wochenarbeitszeit bei gleichem Lohn (100-80-100-Modell)

Dabei verringern Unternehmen die wöchentliche Arbeitszeit, zahlen aber das volle Gehalt weiter, zum Beispiel im 100-80-100-Prinzip: 100 Prozent Lohn für 80 Prozent der Arbeitszeit bei 100 Prozent erreichten Produktivitätszielen. Bei einer 40-Stunden-Woche (8 x 5 Tage pro Woche) würde sich die Arbeitszeit auf 32 Stunden reduzieren (8 x 4 Tage pro Woche). Beispiele: Test-Modelle in Island oder Großbritannien.

  1. 4-Tage-Woche bei gleichbleibender Wochenarbeitszeit (Belgisches Modell):

Bei diesem Ansatz bleibt die Wochenarbeitszeit gleich, verteilt sich aber auf vier Tage. Dieses Modell kommt in Belgien zum Einsatz: Wenn aus betrieblichen Gründen nichts dagegenspricht, können Beschäftigte dort beantragen, an vier Tagen die Woche zu arbeiten. Am Gehalt ändert sich in diesem Modell durch die Neuverteilung der Arbeitszeit nichts. Beispiele hierzulande: Hotels in Hamburg, als Gegenmaßnahme zu Fachkräftemangel.

  1. Verkürzte Wochenarbeitszeit mit niedrigerem Lohn (Teilzeitarbeit):

Eine 4-Tage-Woche ist auch als Teilzeitmodell möglich, auf Antrag des einzelnen Beschäftigten.

 

Klare Positionierung der Gewerkschaften wichtig

Aus Sicht der Beschäftigten ist das Risiko der Arbeitsintensivierung durch diese Modelle groß.
Die gewerkschaftliche Position zur 4-Tage-Woche kann nur im Zusammenhang mit einer Arbeitszeitverkürzung (plus Lohnausgleich) glaubwürdig sein. Angesichts aktueller Drohungen von Managern, Arbeitsplätze abzubauen, ist dies die passende Antwort, um sinkendes Arbeitsvolumen zumindest betrieblich etwas auffangen zu können.

Aber auch der steigende Leistungsdruck durch die neue Technik ist ein Argument für die Verkürzung der Arbeitszeit. Die Einbindung der Beschäftigten über IT oder mobile Endgeräte führt zu einer enormen Verschärfung des Arbeitsdrucks. Jeder Schritt kann überwacht werden, Arbeiter sind – wie beim Versandkonzern Amazon – stets lokalisierbar und so beobachtbar. Der Technikeinsatz erfordert eher eine Begrenzung der Arbeitszeit, um den Stress nicht weiter auszuweiten.

Personalbemessung – eine  wichtige Voraussetzung

Die Personalplanung bleibt der entscheidende Faktor: Wieviele Kollegen werden in der Schicht oder im Team benötigt, um die Aufgaben erledigen zu können? Kernstück der Personalplanung ist die Personalbedarfsplanung. Diese kann nur aus den Unternehmenszielen abgeleitet werden und steht deshalb in engen Zusammenhang mit der Produktions-, der Absatz- und der Investitionsplanung. Diese Informationen sind deshalb auch für den Betriebsrat von Bedeutung. Die Höhe der geplanten Produktion hat großen Einfluss auf die erforderliche Anzahl der Beschäftigten.

Vereinbarung zur Entlastung der Beschäftigten

Wie die Personalbemessung zum Thema wird, zeigt sich an Tarifvereinbarung in Krankenhäusern.
An diesen Erfahrungen müssen gewerkschaftliche Tarifkommissionen aller Branchen anknüpfen.
Für die Belegschaft geht es bei Arbeitszeiten auch um die Planbarkeit.
Dies setzt eine seriöse Planung des Personalbedarfs voraus.
Personalplanung und Personalbedarfsplanung sollten deshalb Bestandteil jedes Tarifvertrages zur Arbeitszeit sein.

Das jüngste Beispiel ist die Medizinischen Hochschule Hannover (MHH). Das Klinikum ist eine Dienststelle des Landes Niedersachsen. Nach monatelangen Verhandlungen und mehreren Streiktagen hat die Gewerkschaft Verdi jetzt eine Vereinbarung zur Entlastung der Beschäftigten erreicht.

In der Einigung ist ein Personalschlüssel festgelegt, der bestimmt, wie viel Pflegekräfte auf den Stationen zur Verfügung stehen müssen. Wird die Vorgabe unterschritten, erhält das betroffene Personal einen Belastungspunkt. Die Folge ist mehr Freizeit: Ab sieben Punkten steht den Beschäftigten ein zusätzlicher freier Tag zu. Die sind jedoch auf zehn Tage ab dem Jahr 2025, zwölf ab 2026 und vierzehn Tage ab 2027 beschränkt (www.nd-aktuell.de/artikel/1186316.gewerkschaften-hannover-entlastung-an-der-mhh.html). Eine erfolgreiche Einigung, bei der Erfahrungen der Beschäftigten in der Berliner Klinik Charite genutzt wurden, die einen Tarifvertrag dazu errungen haben.

Die positiven Stimmen vieler Beschäftigter zur 4-Tage-Woche sollten die Gewerkschaften aufgreifen, um deutlich zu machen: Arbeitszeitverkürzung bei vollem Lohnausgleich dient der Arbeitsplatzsicherung und der Verbesserung der Lebensqualität.

Ausrottung und Vertreibung: Israel hat in Gaza mit der Endlösung begonnen

ven, 18/10/2024 - 15:12

Die israelische Armee hat eine neue Etappe in ihrem Vernichtungskrieg eingeleitet.
Sie setzt den "Plan der Generäle", um:
Vertreiben, Aushungern, Töten.





In 12 Monaten sind in Gaza über 42.000 PaläsinenserInnen durch Bomben-und Raketenangriffen, Artillerie und Panzern getötet worden.
Ein Ende ist nicht in Sicht.
Nun hat die israelische Armee eine neue Etappe in ihrem Vernichtungskrieg eingeleitet.
Medien in Israel berichten,  dass es Beweise für einen Plan zur ethnischen Säuberung des nördlichen Gaza-Streifens und zur Tötung aller verbliebenen Palästinenser gibt. "Das Ziel ist es, den Bewohnern, die nördlich des Gebiets Netzarim leben, eine Frist zu setzen, um in den Süden des Streifens zu ziehen. Nach diesem Datum wird jeder, der im Norden bleibt, als Feind betrachtet und getötet", zitiert die liberale israelische Zeitung Haaretz im Netzarim-Korridor stationierte israelische Soldaten.

Sie schreiben, dass jetzt der "Plan der Generäle", auch bekannt als Eiland-Plan, umgesetzt wird. Vereinfacht gesagt sieht dieser Vorschlag vor, den nördlichen Gazastreifen ethnisch zu säubern und die Region dann zu belagern, einschließlich der Blockade von humanitären Hilfsgütern, um alle verbliebenen Menschen, palästinensische Kämpfer und verbliebene Zivilisten, auszuhungern und zu töten.

"Das entspricht keinem Standard des Völkerrechts. Die Leute saßen zusammen und schrieben einen systematischen Befehl mit Diagrammen und einem Einsatzkonzept, an dessen Ende jeder erschossen wird, der nicht bereit ist zu gehen. Allein die Existenz dieser Idee ist unfassbar", so die Soldaten gegenüber Haaretz.

Der Plan wurde Ende September 2024 vom Forum der Kommandeure und Soldaten in der Reserve veröffentlicht, einem Berufsverband mit mehr als 1.500 Armeeoffizieren, und dem Parlament vorgelegt.

Der "Plan der Generäle"

Der Kern des Plans besteht darin, die humanitäre Hilfe für den Norden des Gazastreifens zu stoppen und den Hunger als Waffe einzusetzen. Er besteht aus zwei Phasen.

Die erste ist die "Evakuierung der Bevölkerung aus dem nördlichen Gazastreifen", einschließlich Gaza-Stadt. Dies war bereits vor dem Plan Teil der Überlegungen des israelischen Militärs. Im November 2023 gab die Armee bekannt, dass 95 Prozent der Bewohner des nördlichen Gazastreifens in den Süden vertrieben worden seien und nicht zurückkehren würden.

Die meisten von ihnen suchen Schutz in Gebieten im Süden des Gazastreifens, die von der israelischen Armee als "humanitäre Zonen" ausgewiesen wurden – was sie aber nicht daran hindert, auch diese Zonen zu bombardieren. Viele Flüchtlinge sind mehr als zehn Mal umgezogen.

Auf ihrem Weg nach Süden durchqueren die Palästinenser den Netzarim-Korridor, eine von Israel geschaffene Militärzone, die von Osten nach Westen verläuft und den Gazastreifen in zwei Hälften teilt.

Dennoch verbleiben schätzungsweise 400.000 Palästinenser im nördlichen Gazastreifen.

Nach dem Plan sollen jetzt die verbliebenen Palästinenser aus dem nördlichen Gazastreifen vertrieben werden. Dann beginnt die zweite Phase: die Umwandlung des nördlichen Gazastreifens in eine geschlossene Militärzone.

Der Plan sieht vor, dass das Gebiet einer "vollständigen und strengen Blockade" unterliegt, die die Verhinderung von Bewegungen in das Gebiet und aus dem Gebiet sowie die Verhinderung der Einfuhr von Versorgungsgütern, einschließlich Lebensmitteln, Treibstoff und Wasser, umfasst. Jeder, der sich dort aufhält, wird als Kämpfer behandelt.

"Sie werden sich entweder ergeben oder verhungern müssen. Das bedeutet nicht unbedingt, dass wir jeden Menschen töten werden. Das wird nicht nötig sein. Die Menschen werden dort (im Norden) nicht leben können. Das Wasser wird dort versiegen."

Giora Eiland, zitiert nach Associated Press, 14. OktoberEthnische Säuberung

Die Idee hinter dem Plan, nämlich die Vertreibung der Palästinenser von ihrem Land, war bei den Rechten in Israel schon immer beliebt. Für sie, wie z.B. Sicherheitsminister Itamar Ben Gvir oder Finanzminister Bezalel Smotrich ("Es dürfte zwar gerecht und moralisch vertretbar sein", zwei Millionen Bewohner des Gazastreifens verhungern zu lassen, aber "niemand auf der Welt würde uns das durchgehen lassen."), war die ethnische Säuberung seit Beginn des Krieges eines der erklärten Ziele.

Bereits im Oktober 2023 war ein Dokument des israelischen Geheimdienstministerium an die Öffentlichkeit gelangt, in dem die "Evakuierung der Bevölkerung des Gazastreifens in den Sinai ... und die Verhinderung der Rückkehr der Bevölkerung zu Aktivitäten oder zum Aufenthalt in der Nähe der israelischen Grenze" empfohlen wurde. (siehe  wieder-eine-nakba

Wer ist Giora Eiland?

Die zentrale Figur hinter dem Plan ist Giora Eiland, ein pensionierter Generalmajor der Reserve, der Leiter der Einsatz- und Planungsabteilung der Armee war und später den Nationalen Sicherheitsrat leitete.

Eiland, der am arabisch-israelischen Krieg von 1973, der Invasion des Libanon 1982 und der Operation Entebbe 1976 beteiligt war, gilt in Israel als Mitte-Links-Politiker. Während des aktuellen Krieges machte er mehrfach Schlagzeilen, weil er die Armee zu Handlungen aufrief, die ein Kriegsverbrechen darstellen könnten.

In einem Interview am 29. Oktober 2023, nur wenige Wochen nach Kriegsbeginn, sagte Eiland, dass Israel viel stärkeren Druck ausüben müsse. "Die Tatsache, dass wir angesichts der humanitären Hilfe für Gaza nachgeben, ist ein schwerwiegender Fehler ... Gaza muss vollständig zerstört werden: schreckliches Chaos, schwere humanitäre Krise, Schreie zum Himmel ..."

Er legte zwei Optionen dar: entweder eine groß angelegte Bodeninvasion oder den nördlichen Gazastreifen ethnisch zu säubern und die Region dann zu belagern, einschließlich der Blockade von humanitären Hilfsgütern, um alle verbliebenen Menschen, einschließlich palästinensischer Kämpfer, auszuhungern. Eiland war strikt gegen die Idee einer Bodeninvasion: "Als Militärexperte glaube ich, dass es keine vorsichtige Möglichkeit für Israel gibt, 20.000 Hamas-Kämpfer zu vernichten und zu töten, die sich in Hunderten von Kilometern Tunneln verstecken." Zu viele israelische Opfer, sagte er.

Im Dezember schlug er vor, dass die humanitäre Hilfe eingestellt werden sollte. "Der gesamte Gazastreifen wird verhungern", argumentierte Eiland, "und wenn der Gazastreifen verhungert, werden Hunderttausende Palästinenser wütend und verärgert sein. Und hungrige Menschen sind es, die einen Putsch gegen [Yahya] Sinwar herbeiführen werden."

Israel brauche dabei auch keine Rücksicht auf Zivilisten nehmen, denn "schließlich sind die älteren Frauen von Gaza dieselben Mütter und Großmütter der Hamas-Kämpfer, die am 7. Oktober die schrecklichen Verbrechen begangen haben."

Zudem wären Epidemien günstig für die Erreichung des Kriegszieles. "Wenn eine solche Situation eintritt, wird dies den Kampfgeist der Hamas tatsächlich brechen und die Kämpfe verkürzen."

Doch entgegen den Vorschlägen der Gruppe um Giora Eiland entschied sich die Netanjahu-Regierung und die israelische Militärführungen für eine Bodeninvasion.

Jetzt erklärten die Verfasser des Plans: "Heute, zehn Monate oder mehr nach dem 7. Oktober, kann man mit Sicherheit sagen, dass diese Strategie gescheitert ist." Die Hamas habe zwar schwere Verluste erlitten, sie könne sich aber dennoch erholen, sobald die israelische Armee das Gebiet verlässt.

"Wir befehlen Ihnen, das Gebiet zu verlassen."
Israel setzt Plan zur Vertreibung der Palästinenser aus dem Norden des Gazastreifens um.
 

Giore Eiland: "Wir befehlen Ihnen, das Gebiet zu verlassen. In einer Woche wird das gesamte Gebiet zur Militärzone. Es wird kein Nachschub mehr hineinkommen."
Video: https://x.com/QudsNen/status/1834249695125774678

Das israelische Militär setzt nun eine "abgespeckte" Version vom "Plan der Generäle" im Flüchtlingslager Jabalia nördlich von Gaza um, wie aus einem am Freitag (11.10.) in der israelischen Tageszeitung Yedioth Ahronoth veröffentlichten Bericht hervorgeht. Auch Associated Press berichtete am 14. Oktober, dass dies von einem israelischen Beamten bestätigt wurde, "dass Teile des Plans bereits umgesetzt werden".

"Der gesamte nördliche Teil des Gazastreifens wird gemäß dem Plan der Generäle gesäubert – die gesamte Bevölkerung wird evakuiert ... und der gesamte nördliche Teil des Gazastreifens wird zum militärischen Sperrgebiet erklärt", berichtete der öffentlich-rechtliche israelische Sender KAN am Samstag (5.10.).

Die Vereinten Nationen alarmierten am 11. Oktober, dass "seit dem 1. Oktober keine Nahrungsmittelhilfe mehr in den nördlichen Gazastreifen gelangt ist". Die "lebenswichtigen Versorgungswege in den nördlichen Gazastreifen sind abgeschnitten" und "in vielen Krankenhäusern im Norden geht der Diesel aus". (https://news.un.org/en/story/2024/10/1155646)

Das dicht besiedelte Gebiet ist seit Anfang Oktober umzingelt und belagert, ohne dass Lebensmittel oder Wasser hineingelangen.

"Mindestens 400.000 Menschen sind in dem Gebiet gefangen", schrieb Philippe Lazzarini, Leiter des UN-Hilfswerks für palästinensische Flüchtlinge UNRWA, am 10. Oktober. Da es fast keine Grundversorgung gibt, breitet sich der Hunger aus.

Nordgaza: Die Hölle hat kein Ende. Mindestens 400.000 Menschen sind in dem Gebiet gefangen. Die jüngsten Evakuierungsanordnungen der israelischen Behörden zwingen die Menschen immer wieder zur Flucht, insbesondere aus dem Lager Jabalia. Viele weigern sich, weil sie nur zu gut wissen, dass nirgendwo in Gaza ein sicherer Ort ist.
UNRWA Unterkünfte und Dienste müssen geschlossen werden. Manche zum ersten Mal seit Kriegsbeginn. Da die Grundversorgung kaum noch gewährleistet ist, breitet sich der Hunger erneut aus und verschärft sich. Diese jüngste Militäroperation gefährdet auch die Umsetzung der zweiten Phase der Polio -Impfkampagne für Kinder. Wie immer sind die Kinder die Ersten und die am meisten darunter leiden. Sie verdienen so viel Besseres, sie verdienen ein #CeasefireNOW Sie verdienen eine Zukunft.
Philippe Lazzarini, https://x.com/UNLazzarini/status/1843892602757669067

Am Montag (7.10.) hatte die israelische Regierung einen der größten Zwangsumsiedlungsbefehle seit Oktober 2023 erlassen. 400.000 Palästinenser im Norden des Gazastreifens wurden aufgefordert, ihre Unterkünfte zu verlassen und in den Süden zu fliehen. Der Evakuierungsbefehl betraf auch die Krankenhäuser Kamal Adwan, al-Awda und das indonesische Krankenhaus.

Hohe Krankenquoten als Folge der Arbeitsbedingungen

ven, 18/10/2024 - 08:26

Kranke Arbeiter gefallen Tesla-Boss Elon Musk gar nicht.
Beschäftigte der Brandenburger Tesla-Fabrik erhalten unangekündigt Kontrollbesuche zu Hause.



Ausgesuchte Mitarbeiter von Tesla erhielten zu Hause einen Besuch von Geschäftsführer André Thierig und Personalchef Erik Demmler.

„......wir mussten zu den Leuten fahren. Und das haben wir gemacht. Das hat nichts mit Generalverdacht zu tun. Wir haben uns einfach mal 30 Mitarbeiter ausgesucht, die entsprechende Auffälligkeiten hatten, die sich ziemlich lange im Krankenstand befinden, aber auch viele Erstbescheide“, so Demmler auf der Betriebsversammlung. (1)

Auch für andere Unternehmenslenker ist die Krankenquote ein Thema.
Ein großes Problem der Bundesrepublik sei „unser chronisch erhöhter Krankenstand“, erklärt Oliver Bäte, Vorstandsvorsitzender der Allianz SE (2). „Die Krankmeldungen in Deutschland liegen damit weit über dem Niveau von Ländern wie den USA, Kanada oder der Schweiz“, bemängelt der Versicherungsboss. 

Die Zahlen sind erschreckend. Seit den Corona-Jahren befinden sich die Krankenstände hierzulande im Aufwärtstrend und liegen nun auf einem im historischen Vergleich hohen Niveau.
Bei den Schlagzeilen darf nicht übersehen werden: In vielen Unternehmen werden Methoden eingesetzt, um Druck auf Kranke auszuüben. Oft werden regelmäßig „Krankenrückkehrgespräche“ geführt.
Es wird nicht nach Ursachen gesucht, sondern der Einzelne aufgefordert, sein Verhalten zu ändern. Dies suggeriert Betroffenen, sie tragen Schuld an einer Krankheit.  

Bei den Ursachen setzt die gewerkschaftliche Hans-Böckler-Stiftung an:
 Belastende Arbeitsbedingungen führen aus Sicht der Forscherin Elke Ahlers zu steigenden Krankenständen. In vielen Betrieben komme es zu Arbeitsverdichtung. Pausen werden eingeschränkt, der Feierabend ist nicht mehr sicher. Viele Arbeitende könnten abends schlechter von der Arbeit abschalten.
„Das alles wirkt sich auf die Arbeitszufriedenheit, auf das Betriebsklima und letztendlich auf die Gesundheit aus“ (3).


Mehrfachbelastungen am Arbeitsplatz machen krank

Der Arbeitsschutz ist nach wie vor ein „Sorgenkind“, etwa im Dienstleistungssektor. Das belegt die 17. Ausgabe der ver.di-Arbeitsberichterstattung mit dem Titel „Arbeitsbelastung hoch, Arbeitsschutz mangelhaft“ (4).

Ausgewertet wurden Angaben von 4.600 Beschäftigten, die im Dienstleistungssektor arbeiten.

Die Arbeitsberichterstattung basiert auf einer Sonderauswertung des DGB-Index Gute Arbeit. Nur knapp über die Hälfte aller Befragten meint, dass sie unter den derzeitigen Arbeitsbedingungen bis zur Rente durchhalten. Die Befragung zeigt auch warum:
Mehrfachbelastungen sind bei Belegschaften im Dienstleistungssektor an der Tagesordnung.
Ein hohes Tempo und Intensität der zu erledigenden Aufgaben zeigen sich in Gesundheitswesen und digitalisierter Verwaltung. Starke körperliche Belastung nennen Beschäftigte bei Paketdienstleistungen oder in der Logistik.

Fast 90 % der Beschäftigten sind von mindestens zwei der vier in der Studie untersuchten Belastungsarten betroffen.


Ursachen angehen? Fehlanzeige!

Zentrales Instrument zum Gegensteuern ist aus Sicht des Gesetzgebers die Gefährdungsbeurteilung. Sie ist im Arbeitsschutzgesetz festgeschrieben (§ 5 Abs. 1 ArbSchG). Dennoch sagt fast jeder zweite befragte Beschäftigte, dass die Gefährdungsbeurteilung im Betrieb nicht stattfand. 

Eine Gefährdungsbeurteilung ist nur vollständig, wenn psychische Belastungen einbezogen werden. Denn sie wirken vielfach auf den Körper. Lang andauernde psychische Fehlbeanspruchungen können nicht nur psychosomatische Erkrankungen auslösen, sondern Beschwerden des Herz-Kreislaufsystems, der Verdauung sowie Schlafstörungen zur Folge haben.

Auch wird zunehmend unternehmerische Verantwortung auf Beschäftigte verlagert. Viele Arbeitsprozesse sind in der heutigen Arbeitswelt nicht mehr mit einer zentral durchdachten Steuerung regelbar.
Die Arbeitsorganisation erfordert eine andere Ausrichtung der Unternehmen, um digitalisierte Arbeitsprozesse besser im Firmensinne steuern zu können: Eine prozessorientierte Projektmanagementmethode ist PRINCE2 (Projects IN Controlled Environments). Sie bietet eine strukturierte Vorgehensweise für das Management von Projekten und konzentriert sich darauf, Projekte in kontrollierten Umgebungen durchzuführen.
Durch definierte Rollen und Verantwortlichkeiten wird Transparenz und Verantwortlichkeit gefördert. So können dezentral Aufgaben von Beschäftigten übernommen werden. Entscheidend ist dabei nicht der „Weg“, sondern nur das Ergebnis. Agile Teams arbeite in „Sprints“, die in der Regel zwei bis vier Wochen dauern. Es gibt regelmäßige Meetings wie tägliche „Stand-up“-Treffen oder „Sprint Reviews“.
 Scrum fördert die Teamarbeit und Transparenz, ermöglicht schnelle Anpassungen und regelmäßiges Feedback. Die Methode wurden anfangs nur in der Softwareentwicklung verwendet, ist aber auch in anderen Bereichen einsetzbar.
Heute werden Entwicklungsabteilungen danach organisiert, die im Unternehmensinteresse neue Produktkonzepte erarbeiten, mit denen Profite gesteigert werden sollen. Die Folge für die Beschäftigten sind dabei häufig psychische Belastungen.

Statt sich über eine vermeintlich weniger leistungsbereite arbeitende Bevölkerung zu beklagen, müsse an den relevanten Ursachen der hohen Fehlzeiten angesetzt werden, fordert deshalb Gesundheitsexpertin Ahlers.
Die Bosse der Unternehmen klagen lieber über die Belegschaften.

 

(1) www.electrive.net/2024/09/25/tesla-kontrollbesuche-bei-krankgeschriebenen-angestellten

(2) www.handelsblatt.com/meinung/gastbeitraege/krankmeldung-teilzeit-wie-wir-den-wohlstand-in-deutschland-nicht-sichern-02/100070229.html.

(3) www.bund-verlag.de/betriebsrat/aktuellesbr~Ungesunde-Arbeitsbedingungen-treiben-Krankenstan ~.html

(4) https://innovation-gute-arbeit.verdi.de/++co++7749254e-0215-11ef-b306-1b1aa92a88c1

 

Die industrielle Basis der transatlantischen Militär-Allianz

jeu, 17/10/2024 - 09:00

Rheinmetall gründet mit Leonardo (Italien) ein Joint Venture zum Panzerbau und sucht seine Position auf dem US-Rüstungsmarkt zu stärken. Der Konzern zählt zur rüstungsindustriellen Basis der transatlantischen Militär-Allianz.

 

 

Die deutsche Rheinmetall gründet ein Joint Venture mit dem italienischen Rüstungskonzern Leonardo und will Italiens Streitkräfte für bis zu 23 Milliarden Euro mit mehr als tausend Kampf- und Schützenpanzern beliefern. Wie die Firma am Dienstag mitteilte, handelt es sich dabei um den Kampfpanzer KF51 Panther und um den Schützenpanzer Lynx. Der Panther soll zu gleichen Teilen von italienischen Unternehmen und von Rheinmetall und seinen Tochterfirmen gefertigt werden.

Der Deal ist der nächste Schritt des deutschen Unternehmens auf dem Weg zu seinem Ziel, zu einem der weltgrößten Rüstungskonzerne aufzusteigen. Um den dazu unverzichtbaren größeren Anteil am US-Rüstungsmarkt zu erhalten – dem mit Abstand größten Rüstungsmarkt der Welt –, hat Rheinmetall erst vor kurzem für 950 Millionen US-Dollar den US-Fahrzeugspezialisten Loc Performance Products übernommen. Der Deal erweitert die Rheinmetall-Kapazitäten in den USA, die der Konzern benötigt, um Aufträge für den Bau von Schützenpanzern und Militär-Lkw für die US-Streitkräfte für 60 Milliarden US-Dollar zu erhalten. Rheinmetall wird zu einem Hauptträger der rüstungsindustriellen Basis der transatlantischen Militärallianz.

Der größte Rüstungsmarkt der Welt

Rheinmetall hat soeben erst auf der US-Rüstungsmesse AUSA, die am gestrigen Mittwoch zu Ende gegangen ist, nachdrücklich für seine Waffensysteme geworben. Hintergrund ist, dass die Vereinigten Staaten der mit erheblichem Abstand größte Rüstungsmarkt weltweit sind und der deutsche Konzern seinen Marktanteil dort massiv steigern muss, will er in der globalen Rüstungsbranche weiter aufsteigen und in der Tat zum „Worldwide Player“ werden, wie er es im Frühjahr angekündigt hat.[1] Als größte Konzernhoffnung gilt die Ausschreibung für den Bau eines neuen US-Schützenpanzers, der dem Bradley nachfolgen soll. Rheinmetall ist in der Endauswahl für die Herstellung von etwa 4.000 Schützenpanzern für rund 45 Milliarden US-Dollar. Zudem bewirbt sich der Konzern um das Common Tactical Truck-Programm, in dessen Rahmen 40.000 Lkw für 16 Milliarden US-Dollar gefertigt werden sollen.[2] Bereits erhalten hat er kürzlich einen kleineren Auftrag: Er soll bis 2025 acht Prototypen für ein sogenanntes besatzungsloses Bodenfahrzeug (Uncrewed Ground Vehicle, UGV) produzieren, das fähig ist, „Nachschubgüter und Ausrüstung zur Unterstützung von Kampfeinsätzen effizient über unwegsames Gelände zu transportieren“.[3] Zudem kooperiert Rheinmetall mit dem US-Konzern Honeywell in der Entwicklung neuer Sichtsysteme und Hilfsaggregate für Rad- und Kettenfahrzeuge.[4]

„Das Pentagon beliefern“

Seine Chancen, die gewünschten Aufträge zu erhalten – darunter die gewaltigen Aufträge für den Bau der Schützenpanzer und der Militär-Lkw –, hat Rheinmetall im August erheblich verbessern können, als es ihm gelang, eine Vereinbarung zur vollständigen Übernahme von Loc Performance Products LLC zu unterzeichnen, eines in der Branche renommierten Fahrzeugspezialisten. Dieser verzeichne „mit seinen rund 1.000 qualifizierten Mitarbeitern ... beträchtliche und wachsende Umsätze“, teilte Rheinmetall mit.[5]
Besonders wertvoll ist die Übernahme für den deutschen Konzern, weil er damit nicht nur neue Fähigkeiten, sondern auch neue Produktionskapazitäten erhält – mit Blick darauf, dass die Schützenpanzer wie die Militär-Lkw komplett in den Vereinigten Staaten hergestellt werden müssen. Die Übernahme erschließe Rheinmetall „wichtige Fähigkeiten in den USA“ und versetze die Konzerntochter American Rheinmetall Vehicles „in die Lage, das US-Verteidigungsministerium effektiver und umfassender zu beliefern“, heißt es bei dem Konzern. American Rheinmetall Vehicles mit Sitz in Sterling Heights, einem Vorort von Detroit (US-Bundesstaat Michigan) ist, wie es in einem Bericht heißt, „praktisch zu 100 Prozent amerikanisch“: „Dort arbeiten keine Deutschen“ – ein Zugeständnis an Vorgaben der US-Regierung.[6]

Der zweitgrößte Rüstungsmarkt der Welt

Fortschritte hat Rheinmetall zuletzt auch in seinem Bestreben erzielt, seine Stellung auf dem Heimatmarkt Deutschland bzw. Europa zu stärken.
Der Düsseldorfer Konzern kann allein aus den 100 Milliarden Euro umfassenden Berliner Sonderschulden („Sondervermögen“) für die Bundeswehr zwischen 30 und 40 Milliarden Euro einstreichen; unter anderem liefert er Artilleriemunition für 8,5 Milliarden Euro, 6.500 Militär-Lkw für 3,5 Milliarden Euro sowie 123 Fahrzeuge mit der Projektbezeichnung „schwere Waffenträger Infanterie“ für rund 2,7 Milliarden Euro.[7]
Hinzu kommen Aufträge aus anderen EU-Staaten, zum Teil direkt infolge des Ukraine-Kriegs. So hat Rheinmetall Ende Juli zugesagt, den Streitkräften Tschechiens, die Waffen an die Ukraine weiterreichen, im Rahmen eines sogenannten Ringtauschs 14 Kampfpanzer Leopard 2A4 sowie einen Bergepanzer 3 Büffel zu liefern. Die Rede ist von einem Auftragswert „im niedrigen dreistelligen MioEUR-Bereich“.[8] Litauen hat erklärt, es werde – passend zur Stationierung der deutschen Litauen-Brigade, die über Leopard 2A8 verfügen soll – seinerseits teure Kampfpanzer dieses Modells erstehen, an deren Herstellung Rheinmetall beteiligt ist.[9] Zuletzt hat Dänemark bei Rheinmetall insgesamt 16 Skyranger 30-Türme für seine Flugabwehr bestellt. Auch in diesem Fall ist von einem Volumen „im niedrigen dreistelligen MioEUR-Bereich“ die Rede.[10]

Panzer für Italien

Am Dienstag hat Rheinmetall nun den nächsten Schritt angekündigt, der ihm ein weiteres Vordringen auf dem internationalen Panzermarkt ermöglichen soll: Das Unternehmen hat ein Joint Venture mit dem italienischen Rüstungskonzern Leonardo zum Bau von Kampfpanzern des neuen, noch in der Entwicklung steckenden Modells KF51 Panther geschlossen.[11] Ziel ist es, das italienische Heer mit neuen Panzern auszustatten – nicht nur mit dem Panther, sondern auch mit dem Rheinmetall-Schützenpanzer Lynx. Insgesamt sollen mehr als tausend Panzer an die italienischen Streitkräfte geliefert werden. [12] Die Rede ist von einem Auftragsvolumen von bis zu 23 Milliarden Euro. An dem Joint Venture halten beide Seiten je 50 Prozent. Der Panther soll zu 60 Prozent in Italien gefertigt werden, zu 40 Prozent in deutschen Rheinmetall-Werken; allerdings entfallen dabei 10 Prozentpunkte von Italiens 60 Prozent auf italienische Rheinmetall-Ableger, sodass auch beim Umsatz Parität hergestellt wird.

Innerdeutsche Konkurrenz

Mit dem Joint Venture von Rheinmetall und Leonardo vollzieht Rom einen Kurswechsel. Italien hatte ursprünglich geplant, Leopard-Kampfpanzer zu erwerben. Diese werden – unter Nutzung wichtiger Teile von Rheinmetall, darunter die Glattrohrkanone – von KNDS gebaut, einem Zusammenschluss der deutschen Waffenschmiede Krauss-Maffei Wegmann (KMW) mit dem französischen Panzerbauer Nexter. KNDS ist 2015 gegründet worden, um einen Kampfpanzer der nächsten Generation zu entwickeln, der eng vernetzt mit anderen Waffen – darunter unbemannte Landfahrzeuge – kämpfen soll (Main Ground Combat System, MGCS, german-foreign-policy.com berichtete [13]). Das Projekt, das wegen deutsch-französischer Streitigkeiten schon jetzt stark verzögert wurde, wird frühestens 2040 einsatzbereit sein – zu spät für möglicherweise schon bald bevorstehende Kriege. Die eigentlich geplante Lieferung von 132 Leopard 2A8 und von Schützenpanzern an das italienische Heer durch KNDS scheiterte kürzlich jedoch – dem Vernehmen nach, weil KNDS nicht bereit war, italienischen Rüstungsfirmen einen größeren Anteil an der Produktion zu gewähren. KNDS sieht sich nun neuer, mächtiger Konkurrenz ausgesetzt – aus Deutschland bzw. der EU.

Transatlantische Anteilseigner

Mit der Stärkung seiner Rolle auf dem europäischen Panzermarkt und dem parallelen Streben nach Dutzende Milliarden US-Dollar schweren Aufträgen in den USA treibt Rheinmetall nicht nur seinen eigenen Aufstieg voran; der Konzern entwickelt sich auch zu einer tragenden Säule der rüstungsindustriellen Basis der transatlantischen Militär-Allianz.
Dem tragen auch US-Rüstungskonzerne Rechnung; so wird Rheinmetall im Rahmen eines in der Branche üblichen Gegengeschäfts zum deutschen Kauf von US-Kampfjets F-35 sich in Zukunft an der Produktion des Jets beteiligen und F-35-Rumpfmittelteile herstellen.
Der transatlantischen Rolle des Konzerns entspricht, dass Aktionäre von beiden Seiten des Atlantiks Anteile an ihm halten. Die französische Bank Société Générale etwa hält 10,97 Prozent, der US-Investor BlackRock 5,54 Prozent, die US-Banken Goldman Sachs sowie Bank of America 4,69 bzw. 4,64 Prozent, die Schweizer UBS 3,83 Prozent. Der US-Finanzdienstleister FMR LLC bringt mit seinen 4,99 Prozent den Gesamt-US-Anteil auf rund ein Fünftel – entsprechend der Bedeutung, die das US-Geschäft für Rheinmetall besitzt.

 

[1] S. dazu „Worldwide Player“

[2] Rheinmetall auf der AUSA 2024: Innovative Verteidigungslösungen für moderne militärische Herausforderungen. rheinmetall.com 14.10.2024.

[3] American Rheinmetall Vehicles erhält Zuschlag für das S-MET Inc II-Programm der US-Armee. rheinmetall.com 07.10.2024.

[4] Rheinmetall und Honeywell unterzeichnen Memorandum of Understanding zur Entwicklung neuer Technologien. rheinmetall.com 30.09.2024.

[5] Strategischer Zukauf in den USA: Rheinmetall vereinbart Übernahme des Fahrzeugspezialisten Loc Performance. rheinmetall.com 14.08.2024.

[6] Jonas Jansen, Roland Lindner: Rheinmetall wittert Milliardenaufträge in Amerika. Frankfurter Allgemeine Zeitung 15.08.2024.

[7] Martin Murphy, Frank Specht, Roman Tyborski: Das Sondervermögen weckt die deutsche Rüstungsindustrie auf. handelsblatt.com 22.08.2024.

[8] Hilfe für die Ukraine: Zweiter Ringtausch mit Tschechien – Rheinmetall liefert weitere Kampf- und Bergepanzer. rheinmetall.com 12.08.2024.

[9] S. dazu weit gekommen

[10] Großauftrag aus Dänemark: Rheinmetall liefert Skyranger 30 für die mobile Flugabwehr. rheinmetall.com 30.09.2024.

[11] Neuer Player im europäischen Panzerbau: Leonardo und Rheinmetall gründen Joint Venture. rheinmetall.com 15.10.2024.

[12] Christian Schubert: Rheinmetall und Leonardo gegen Leopard. Frankfurter Allgemeine Zeitung 16.10.2024.

[13] S. dazu Deutsch-französische Konflikte und Schlechte Signale

 

 

„Näher denn je seit der Kubakrise“

mer, 16/10/2024 - 14:50

Die NATO übt in ihrem aktuellen Atomkriegsmanöver Steadfast Noon den Einsatz
von US-Nuklearwaffen.
Atomstützpunkte in Europa werden modernisiert.
Gefahr eines Atomkriegs gilt als „größer“ denn je seit der Kubakrise.

 

Die NATO hat ihr diesjähriges Atomkriegsmanöver Steadfast Noon gestartet und verschärft damit die ohnehin weiter steigenden Spannungen mit Russland. In die Übung, bei der der Einsatz von Atomwaffen trainiert wird und an der sich bis Ende nächster Woche ungefähr 2.000 Soldaten aus 13 Staaten beteiligen, ist auch die Bundeswehr involviert, unter anderem mit Tornados und Eurofightern.
Der Tornado ist für den Einsatz von Atombomben zertifiziert. Hauptübungsschauplätze bei Steadfast Noon sind Belgien sowie die Niederlande, wo US-Atombomben gelagert sind, aber auch der Luftraum über der Nordsee. Das dortige Manövergebiet sei nur 900 Kilometer von Russland entfernt, heißt es. Zwar gibt die NATO kein konkretes Manöverszenario bekannt. Doch hieß es im vergangenen Jahr bei Steadfast Noon 2023, man sei bestrebt, „auf realistische Weise zu üben“, und man habe daher die Fähigkeiten des Feindes, den man in der Übung atomar angreife, den Fähigkeiten der russischen Streitkräfte nachempfunden. In einem im Frühjahr publizierten Fachbuch heißt es, das Potenzial eines Atomkriegs sei zur Zeit „größer“ denn je seit der Kubakrise – auch, weil das „Bewusstsein für eine nukleare Bedrohung“ schwinde.

Steadfast Noon

Die NATO hat am Montag ihr diesjähriges Atomkriegsmanöver Steadfast Noon gestartet. An der zweiwöchigen Übung sind ungefähr 2.000 Soldaten aus 13 Staaten, darunter Deutschland, mit rund 60 Luftfahrzeugen beteiligt. Die deutsche Luftwaffe stellt laut Berichten Kampfjets der Modelle Tornado und Eurofighter sowie Transportflugzeuge A400M bereit.[1] Andere Streitkräfte entsenden zum Beispiel US-Kampfjets der Modelle F-16 und F-35 sowie Langstreckenbomber B-52 (Vereinigte Staaten) oder auch Gripen-Jets (Tschechien). Die NATO weist darauf hin, dass die Niederlande mit F-35-Jets teilnehmen, die in diesem Jahr offiziell für fähig erklärt wurden, Atomwaffen einzusetzen.[2] Die Hauptübungsgebiete sind die Niederlande und Belgien sowie Lufträume über der Nordsee, vor allem dänisches und britisches Hoheitsgebiet. Die Niederlande sowie Belgien wurden ausgewählt, weil dort – wie auch in Deutschland (Büchel), Italien und der Türkei – US-Atombomben eingelagert sind. Eingesetzt werden sollen sie im Ernstfall im Rahmen der sogenannten nuklearen Teilhabe; niederländische, belgische, deutsche, italienische oder türkische Kampfjets brächten sie dann an den Einsatzort. Beobachter weisen darauf hin, dass erstmals Finnland an Steadfast Noon teilnimmt, also nur rund eineinhalb Jahre nach seinem Beitritt zur NATO gleich für den Atomkrieg übt.

„Auf realistische Weise üben“

Die NATO behauptet wie üblich, die Übung richte sich nicht gegen einen bestimmten Staat. Anders als im vergangenen Jahr hat das Militärbündnis über das konkrete Kriegsszenario, das es erprobt, nicht informiert. Im Jahr 2023 hatte die NATO dies erstmals getan und bei einem Exklusivgespräch mit gut vernetzten Journalisten dreier Zeitungen einige Details zu Steadfast Noon 2023 bekanntgegeben.[3] Da man bemüht sei, „auf realistische Weise zu üben“, habe man – das ergab sich aus dem Gespräch – die Fähigkeiten des Feindes, gegen den im Manöver Atomwaffen eingesetzt werden sollten, den Fähigkeiten der russischen Streitkräfte nachempfunden. Die Übungseinsätze fänden, so hieß es, in einer „hoch umkämpften Umgebung“ statt; deshalb habe man, um sicherzustellen, dass das atomar bestückte Flugzeug „sein Ziel erreicht und wieder sicher zurückkommt“, ein äußerst „umfassendes Paket in der Luft und am Boden“ vorgesehen, etwa Begleitschutz mit Jagdflugzeugen oder mit Jets, die in der Lage seien, feindliche Radaranlagen zu erkennen und zu zerstören. Auch habe man eine Art „Stresstest“ eingebaut; es komme „zu simulierten Ausfällen“. Das erinnert daran, dass auch bei Atomangriffen eine Menge schiefgehen kann – mit womöglich verheerenden Konsequenzen für das eigene Land.

Mehr Geheimhaltung

Steadfast Noon findet, wie eine Analyse der Federation of American Scientists (FAS) festhält, in einer Zeit statt, in der mehrere Atomstützpunkte in Europa umfassend modernisiert werden – darunter Büchel (Deutschland), aber auch die beiden Stützpunkte, die nun im Zentrum der diesjährigen Atomkriegsübung stehen: Kleine Brogel (Belgien) und Volkel (Niederlande). Dort werden laut der FAS jeweils Anlagen errichtet, die eine schnellere Versorgung mit Ersatzteilen oder auch einen rascheren Transport der Bomben ermöglichen und zugleich alle Operationen auf den Basen noch besser gegen Einblicke von außen abschirmen als zuvor. Die FAS berichtet, im Lauf des vergangenen Jahres seien die Atomstützpunkte außerdem auf Google Earth unkenntlich gemacht worden – ein Element zunehmender Geheimhaltung, die mit dem dramatischen Anwachsen der politischen wie auch der militärischen Spannungen einhergeht.[4]

Mehr US-Bomben

Zudem richtet die FAS die Aufmerksamkeit darauf, dass Großbritannien an Steadfast Noon teilnimmt, während zugleich an der ehemaligen US-Atomwaffenbasis Lakenheath nordöstlich von Cambridge umfangreiche Arbeiten getätigt werden. In Lakenheath gab es in der Zeit des Kalten Kriegs einen bedeutenden US-Atomstützpunkt, an dem wohl 100 US-Atombomben lagerten. Die letzten davon waren im Jahr 2008 abgezogen worden. Jetzt sind die Vereinigten Staaten dabei, die dortigen Anlagen zu renovieren; laut Medienberichten wird darauf hingearbeitet, in Lakenheath wieder Kernwaffen zu stationieren.[5] Details sind noch nicht bekannt. Die FAS weist allerdings darauf hin, dass die Kapazitäten der Anlagen, die offenbar in Lakenheath renoviert und modernisiert werden, der Zahl der Bomben entspricht, die im türkischen İncirlik eingelagert sind.[6] Der Verbleib der dortigen Bomben ist aufgrund der politischen Entwicklung in der Türkei ungewiss. Der FAS zufolge käme Lakenheath als Ersatzstandort in Betracht.

Das Atomkriegspotenzial

Das NATO-Atomkriegsmanöver Steadfast Noon findet in einer Zeit rasant eskalierender Spannungen zwischen dem Westen und Russland statt. Dabei sind nicht nur die Notfalldrähte zwischen Washington und Moskau erheblich schlechter als im Kalten Krieg, was die Gefahr eines durch Missverständnisse ausgelösten Atomkriegs beträchtlich erhöht. Es habe auch ganz allgemein „das Bewusstsein für eine nukleare Bedrohung ... an Brisanz verloren“, urteilt die Journalistin Annie Jacobsen, die in einem im Frühjahr erschienen Buch vor der Gefahr eines Atomkriegs warnt.[7] Darüber hinaus sei aufgrund der größeren Anzahl von Atommächten, aber auch aufgrund der weiterentwickelten Technologie die Lage mehr oder weniger „unkontrollierbar“ geworden – „und das Potenzial eines Atomkriegs ist größer, als es je war seit der Kubakrise“, urteilt Jacobsen, damit US-Präsident Joe Biden zitierend.[8] Statt energisch Abrüstungsgespräche einzufordern – Jacobsen konstatiert: „Die Hoffnung ist die Diskussion“ –, verstärkt die NATO den nuklearen Druck und führt nun auch in diesem Herbst ihre Atomkriegsübung Steadfast Noon durch – dies mit aktiver Beteiligung der Bundeswehr.

 

[1] Dino Carrara: Exclusive: Nuclear Exercise Steadfast Noon participants revealed. key.aero 16.08.2024.

[2] NATO holds annual nuclear exercise: Steadfast Noon. nato.int 14.10.2024.

[3] S. dazu Das Atomkriegsszenario

[4] Hans Kristensen: NATO Tactical Nuclear Weapons Exercise and Base Upgrades. fas.org 14.10.2024.

[5] Marc Bennetts: Poland is ready to host nuclear weapons. thetimes.co.uk 23.04.2024.

[6] Hans Kristensen: NATO Tactical Nuclear Weapons Exercise and Base Upgrades. fas.org 14.10.2024.

[7] Annie Jacobsen: 72 Minuten bis zur Vernichtung. München 2024.

[8] Annika Keilen: „Im 21. Jahrhundert ist die Atombombe kurz davor, die Welt zu zerstören“. handelsblatt.com 12.04.2024.

 

Shell-Jugend-Studie 2024: Balance zwischen Sorgen und Zuversicht

mer, 16/10/2024 - 13:19

Die Shell Jugend-Studie ist eine empirische Untersuchung, finanziert vom Mineralöl-Konzern Shell, die darauf abzielt, aktuelle Trends und Veränderungen in der Jugendkultur zu identifizieren. Die Studie untersucht, wie sich die Einstellungen, Werte, Gewohnheiten und Verhaltensweisen der Jugendlichen im Laufe der Zeit entwickeln und wie sie auf die gegenwärtige gesellschaftliche Situation reagieren.  

Im Abstand von etwa vier Jahren erfolgt eine repräsentative Befragung mit über 2.400 jungen Menschen  die seit der 14. Welle von Wissenschaftlern der U'niversität Bielefeld in Zusammenarbeit mit der Kantar Public (das ehemalige Forschungsinstitut Infratest) durchgeführt wird.  Mit der aktuellen 19. Ausgabe der Shell Jugendstudie wird das Standardwerk der Jugendforschung in Deutschland fortgeschrieben.
Nicht zu übersehen ist die Intention der Studien-Reihe, das Vertrauen der Jugendlichen in staatliche Institutionen und den Medien zu erheben, um daraus gegfls. politische Maßnahmen ableiten zu können.


Zentrale Untersuchungsergebnisse

Aus den jüngsten Ergebnissen der 19. Untersuchungswelle ergibt sich, dass die Mehrheit der befragten Jugendlichen zwischen 12 und 25 Jahren die Meinung vertreten, dass den erkannten Krisen und Sorgen entgegengewirkt werden muß. Ein großer Teil der
Jugendlichen sorgt sich um die langfristige Finanzierung des Alltags.
Dennoch bleibt zum Glück der jugendliche Optimismus und ein positives Zukunftsbild, trotz aller Krisen und Sorgen, bestehen.

Der Umgang der meisten jungen Menschen mit den vielfältigen Herausforderungen ist weiterhin bemerkenswert pragmatisch: Zentral für sie bleiben der soziale Nahbereich und die Orientierung an Leistungsnormen. Sie passen sich auf ihrer Suche nach einem gesicherten und eigenständigen Platz in der Gesellschaft den Gegebenheiten an und
wollen ihre Chancen ergreifen. Dabei nehmen sie Zukunftsfragen deutlich bewusster wahr und artikulieren ihre Ansprüche offensiver.[1]

Das Interesse an Politik ist im Vergleich zu früheren Studien deutlich gestiegen. Mehr als die Hälfte der jungen Menschen bezeichnet sich als politisch interessiert. In der zurückliegenden Befragungswelle 2019 lag der vergleichbare Wert bei 39 %. Die Jugendlichen signalisieren heute eine gesteigerte Bereitschaft, sich politisch und gesellschaftlich zu engagieren. 
Die politische Ausrichtung junger Menschen ist gemäß den Befragungsergebnissen von inzwischen 41% als tendenziell „leicht links“ einzuordnen.  (2019: 38 Prozent) während sich von den jungen Männern inzwischen ein Viertel als rechts beziehungsweise eher rechts bezeichnet. [2]
Von den weiblichen befragten Jugendlichen liegt dieser Wert der rechtslastigen politischen Ausrichtung bei 11 Prozent.  In Summe geben weitere 14% der Befragten an, politisch nicht positioniert zu sein.


Kritische Haltung gegenüber politischen Institutionen

Trotz des gestiegenen politischen Interesses bleibt eine ausgeprägte Skepsis gegenüber Parteien und Parlamenten bestehen. Das Vertrauen in Parteien ist weiterhin unterdurchschnittlich, und 69% der Jugendlichen stimmen der Aussage zu, dass Politiker sich nicht um Belange junger Menschen kümmern.  Dennoch läßt sich der 19. Befragungs-Welle entnehmen, dass Jugendliche mehrheitlich positiv auf die Möglichkeiten blicken, die ihnen Staat und Gesellschaft bieten, trotz vieler Krisen und Zukunftssorgen.[3]
So zeigt sich treffenderweise auch das Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend höchst zufrieden mit dem Befragungsergebnis, keine allzu großen Irritationen bei den Jugendlichen gegenüber dem Staat und der praktizierten Gesellschaftspolitik zur Kenntnis nehmen zu müssen.[4]

 Das ließe sich auch so interpretieren, dass die aktuelle Shell-Studie als ein renommierter Gradmesser für die Stimmung bei jungen Menschen für das zuständige Ministerium für Jugend keinen Anlaß dazu liefert, das gesellschaftskritische Potential bei den Jugendlichen nicht innerhalb der aktuellen Bildungs- und Arbeitsmarkt-Politik abwickeln zu können.

 
Ängste und Sorgen

Der folgenden Tabelle sind die Angaben zu Ängsten und Sorgen aus der aktuellen Befragung zu entnehmen, im Vergleich zu den Ergebnissen der Studie von 2019. Dabei sind insbesondere die Ängste bezüglich eines Krieges in Europa und der zunehmenden Armut hervorzuheben.[5]
 

Quelle: https://www.shell.de/about-us/initiatives/shell-youth-study-2024


Stellungnahme zum Ukrainekrieg und Gaza-Krieg

Angst machen einer großen Mehrheit der Jugendlichen demnach die Kriegsgefahr (81 %) sowie die wirtschaftliche Lage und womöglich steigende Armut (67 %). Die Sorge, selbst arbeitslos zu werden, hat dagegen im Vergleich zu den Ergebnissen von 2019 abgenommen (2024: 35%, 2019: 29 %).

In der Einschätzung des Krieges zwischen der Ukraine und Russland sehen zwei Drittel der Jugendlichen Russland als den Hauptschuldigen. Aber insgesamt belegt das Befragungsergebnis einen Rückgang bei der Zustimmung zur fortdauernden Militärhilfe für die Ukraine. Ein bemerkenswerter Unterschied ergibt sich dabei zwischen den Jugendlichen in Ost und West:  21 % der ostdeutschen Jugendlichen sind nicht dafür, dass Russland für seinen Angriff auf die Ukraine bestraft werden solle, während im Westen ein solches Ansinnen nur von 13 % abgelehnt wird.  Einer andauernden militärischen Unterstützung der Ukraine stimmen im Osten 44 % der Jugendlichen zu, im Westen dagegen 52 %.  
Ein weniger eindeutiges Bild zeigt sich bei der Bewertung des Krieges in Gaza.
Ein Drittel der Jugendlichen hält die deutsche Unterstützung für Israel nach dem Hamas-Überfall für richtig, ein ebenso großer Anteil lehnt sie hingegen ab. Die verbleibenden 30 % äußerten Keine Meinung zur Frage des Gaza-Krieges.[6]

 

Berufliche Aussichten und die Bedeutung des materiellen Nutzens

Mehr als vier Fünftel der Jugendlichen (84%) sind zuversichtlich, ihre beruflichen Wünsche verwirklichen zu können. Bei den Erwartungen an die Berufstätigkeit dominiert das
Bedürfnis nach Sicherheit. Für 91% der Jugendlichen ist ein sicherer Arbeitsplatz (sehr) wichtig.[7] Ein hohes Einkommen (83% zu 76% im Vergleich zu 2019) und gute Aufstiegsmöglichkeiten (80% zu 74%) nehmen an Bedeutung zu. Auch der Wunsch, beruflich von zu Hause aus arbeiten zu können, hat gegenüber 2019 zugenommen (69% zu 61%).[8]

Das Geschlecht hat laut der Studien-Ergebnisse bei nahezu allen Dimensionen die größte Erklärungskraft:

Männlichen Jugendlichen ist der materielle Nutzen in ihrem Beruf wichtiger als den weiblichen.
Jungen Frauen sind vor allem sozialer Nutzen und eine hohe Vereinbarkeit von Arbeit und Privatleben wichtig. Mit Blick auf die Erwartung einer persönlichen Erfüllung unterscheiden sich junge Frauen und Männer nicht.
Das heißt: Unabhängig vom Geschlecht streben die meisten Jugendlichen nach einem erfüllenden Berufsleben, das unter anderem in einer hohen Anerkennung durch andere gesehen wird.[9]

Aktualität von Themen

Generell beschreiben die Studien-Ergebnisse die Jugend- Generation, die trotz vielfältiger Herausforderungen und Sorgen aktiv und engagiert an der Gestaltung ihrer Zukunft mitwirken möchte und dabei ein hohes Maß an Pragmatismus und Optimismus an den Tag legt.

Soziale Gerechtigkeit und Antidiskriminierung

Junge Menschen setzen sich verstärkt für Gleichberechtigung und gegen Diskriminierung ein. Die Shell Jugendstudie 2024 zeigt, dass Jugendliche besonders für Gender-Gerechtigkeit sensibilisiert sind und sich demonstrativ offen für non-binäre Geschlechterdefinitionen zeigen.

Globale Solidarität

Junge Menschen engagieren sich verstärkt für globale Themen wie Frieden, Menschenrechte und internationale Zusammenarbeit. Die Vernetzung über soziale Medien fördert ein Bewusstsein für globale Herausforderungen. Diese neuen Themen weisen darauf hin, dass die Jugendlichen sich mit den globalen Herausforderungen befassen und sich für eine nachhaltige, gerechte und inklusive Zukunft einsetzen wollen.

Medialer Einfluss auf die Meinungsbildung Jugendlicher

Nicht zu übersehen ist allerdings, dass trotz der Zunahme der Nutzung digitaler Medien für Kommunikation, Unterhaltung und Informationsbeschaffung die klassischen Medien wie ARD und ZDF-Fernsehnachrichten (83 Prozent) und überregionale Tageszeitungen (80 %) die Meinungsbildung, wie auch in anderen Altersgruppen, stark beeinflussen. [10]

Insofern verwundert es nicht, dass das Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend in seiner Stellungnahme zu den Shell-Studien-Ergebnissen sich recht gelassen zeigt, ob der etablierten und funktionierenden Wege der Einflussnahme auf die Meinungsbildung Jugendlicher. Für weiterführende Ausführungen wäre auf einschlägige medienkritische Literatur zu verweisen, die an dieser Stelle kaum vollständig abbildbar wäre. [11], [12]

 

Kritische Anmerkungen

Die Shell-Jugend-Studie 2024 zeigt einerseits auf, dass die Sorgen und Ängste bei Jugendlichen deutlich zugenommen haben und die kritischen Äußerungen zur gesellschaftlichen Entwicklung und der aktuellen Politik in Deutschland ebenfalls angestiegen sind.  Es ist unklar, inwieweit die Ergebnisse der aktuellen Studie mit denen früherer Jahre vergleichbar sind. Die gesellschaftlichen und politischen Rahmenbedingungen haben sich in den letzten Jahren stark verändert, was die Interpretation von Trends eher erschwert.
Andererseits ist die Stimmung unter Jugendlichen, vielleicht auch ein Privileg für junge Menschen, durchaus optimistisch geprägt, weil dadurch auch Potentiale erkannt werden, die auf eine Beeinflussbarkeit hinweisen. Die durchaus kritisch zu bewertende politische Polarisierung entspricht dem Zeitgeist, der Rechtsentwicklung in der gesellschaftlichen Auseinandersetzung, was aber keine politische Sonderstellung bei Jugendlichen bedeuten muss. Die Studie wurde in einem von Krisen geprägten Zeitraum durchgeführt. Es ist zu hinterfragen, inwieweit aktuelle Ereignisse wie der Krieg in der Ukraine, die Inflation oder die Klimakrise die Antworten der Jugendlichen beeinflusst haben und ob diese als langfristige Trends oder als kurzfristige Reaktionen zu interpretieren sind.

 

 

Quellen

[1] https://www.shell.de/about-us/initiatives/shell-youth-study-2024

[2] Ebd.

[3] Ebd.

[4] https://www.bmfsfj.de/bmfsfj/aktuelles/alle-meldungen/19-shell-jugendstudie-veroeffentlicht

[5] Siehe hierzu aktuell:  https://www.isw-muenchen.de/online-publikationen/texte-artikel/5309-armut-global-und-ihre-messung

 [6] Ebd.

[7]Ebd.

[8] Ebd.

[9] Ebd.

[10] https://www.bmfsfj.de/bmfsfj/aktuelles

[11] https://media-bubble.de/wie-die-medien-unsere-wahrnehmung-praegen;

[12]   https://www.rosalux.de/veranstaltung/es_detail/RKZ82/medienkritik-von-links

 

 

Pages