
ISW München
IAA Mobility 2025: Die Autoindustrie zwischen Niedergang und Konversion
Vom 9.-14. September blockiert die IAA große Teile von München und sorgt für enorme Licht- und Luftverschmutzung. Seit mehr als 100 Jahren wird die Messe vom jeweiligen Kanzler eröffnet. Viele Hersteller meiden inzwischen die Ausstellung, Citrëon, Fiat, GM, Peugeot, Tesla und Toyota verzichten auf einen Auftritt, der Glanz und der Hype sind vorbei, die Absätze sind rückläufig, die Partie is over. Dafür reisen mehr als 100 Aussteller aus China an. Was als „Schaufenster für die Zukunft von Verkehr, Technik und urbanem Leben“ gepriesen wird, ist tatsächlich nur die Verkaufsausstellung der Autohersteller, ein verzweifelter Versuch, das verschwundene Interesse der Menschen an dieser ungesunden Art der Fortbewegung wiederzuerwecken. In der City, im open space ohne Eintrittsgeld geht es um die große Show, in der vor allem Kinder mit dem Autovirus infiziert werden sollen. Dieser open space aber auch, „um Proteste von Autoskeptikern schon im Ansatz einzudämmen.“ (1) Auch Rheinmetall ist nicht auf der Messe, weil die ihren Automotive-Sparte zu Rüstungszwecken umbauen“, wie ein Branchendienst berichtet. (2) Die anderen Projekte, in denen Betriebe der Mobilitätsindustrie zu Rüstungsbetrieben werden sollen, wie das Alstom-Werk in Görlitz oder das VW-Werk in Osnabrück, gehören nicht zum PKW-Bereich oder sind noch in der Entwicklung und deshalb nicht bei der IAA vertreten.
Die Krise der europäischen Autoindustrie ist vielfach beschrieben: Technologisch weit zurück hinter China, falsche Modellpolitik, selbst geschaffene Überkapazitäten und keine strategische Industriepolitik seit vielen Jahren. Selbst in den USA ist der Absatz eingebrochen, Volkswagen hat die Produktion des ID 4 in Chattanooga gestoppt. Das Ansehen des Konzerns ist auch wegen seiner gewerkschaftsfeindlichen Haltung auf dem Nullpunkt. Die Unternehmen haben Milliarden in unsinnigen Projekten versenkt. Mercedes-Chef Ola Källenius warnte jüngst vor einem Kollaps des europäischen Automarkts, sollte das Verbot von Neuwagen mit Diesel- und Ottomotoren ab 2035 bestehen bleiben. Die Regierungen hatten mehrere hochkarätige Kommissionen eingesetzt, die allesamt an der Konkurrenz und den Egoismen der großen Konzerne gescheitert sind. Der Niedergang der Autoindustrie kommt einer Deindustrialisierung nahe, wenn mittelgroße Zulieferbetriebe in kleineren Städten die Produktion verlagern oder beenden. (3) „Jetzt werden die Weichen für das gestellt, was in fünf bis sieben Jahren passiert“, warnt der bayerische IG Metall-Bezirksleiter Horst Ott. „Große Zulieferer verlagern Produktion ins Ausland und hier laufen in absehbarer Zeit die Produktlinien der Werke leer.“ (4) Anders als früher wird auch die Forschung und Entwicklung verlagert. Wenn immer mehr verlagert wird, droht ein Dominoeffekt: Je weniger Industrie, desto unattraktiver wird das Land für die Menschen und desto mehr Verlagerung in andere Regionen. Dann wird ein Dilemma entstehen, das betriebsbedingte Kündigungen zur Folge haben wird, aber dadurch wiederum noch schlimmer wird.
Die Begründungen für die Verlagerungen ist immer die gleiche: Bürokratie, Energiepreise, Lohnkosten und so weiter. Aber wenn man es sich genau anschaut, stimmt es bei keinem einzigen Punkt. In den Autofabriken machen die Lohnkosten weniger als 10 Prozent aus - da sind die Löhne nicht das entscheidende Thema. Stattdessen sind es strategische Entscheidungen der Unternehmen zur Steigerung von Gewinnen, ist es das Streben nach maximalen Profiten – nur darum geht es. Wenn mit der Herstellung und dem Vertrieb von Elektronikteilen oder Autos in der Konkurrenz nur sechs Prozent Rendite erzielt werden, könnten auf den gleichen Anlagen vielleicht auch Granaten oder Panzerwagen ohne Konkurrenz gebaut werden mit einer Rendite von 50 Prozent oder mehr. Auch darüber muss im Zusammenhang mit dem Grundgesetz die Debatte geführt werden: Was bedeuten die Artikel 14 und 15 des Grundgesetzes, was bedeuten das Allgemeinwohl und die Möglichkeit der Vergesellschaftung gegenüber der Gier nach maximalen Profiten.
„Es fehlen Leute mit Courage!“Was selbsternannte Autoexperten langatmig kompliziert erklären, klingt aus dem Mund des Kneipenwirtes, der selbst bei VW am Band gearbeitet hat, leicht nachvollziehbar: „Wenn es Volkswagen schlecht geht, geht es der Tunnelschänke auch schlecht. Es gibt immer weniger Schichten bei Volkswagen. Nachtschichten fast gar nicht mehr. Und jetzt sollen viele Arbeitsplätze wegfallen. Ich weiß nicht, wie es hier weitergehen soll. Die Politiker verkaufen uns für dumm. Dann kommen die Aktionäre. Da geht das ganze Geld hin. Die Volkswagen-Vorstände sind natürlich auch verantwortlich – aber die kommen und gehen. Jetzt gibt so eine Scheißegal-Haltung. Dabei müsste man sich aufbäumen. Aber es fehlen Leute mit Courage. (5)“ Die Profite sind im leichten Rückwärtsgang, was für die Börse und für die Aktionäre natürlich eine Katastrophe ist. Die Umsätze sinken und die Gewinne der deutschen Autoindustrie sind im ersten Halbjahr 2025 schmaler geworden. Die Großaktionäre, die eigentlichen Bestimmer in den Konzernen, zweifeln am Geschäftsmodell. Andererseits gibt‘s Gewinnrücklagen von über 300 Milliarden Euro bei Volkswagen (147 Mrd.), BMW (92 Mrd.) und Daimler (75 Mrd.), die wiederum gewinnbringend angelegt sein wollen. „Von einer echten Krise sind die deutschen Automobilhersteller noch weit entfernt“, sagt Frank Schwope, Lehrbeauftragter an der Fachhochschule des Mittelstands in Berlin. (6). Aber die Großaktionäre von VW und Mercedes haben entschieden und wollen ihr Kapital gewinnbringend in der Rüstungsindustrie anlegen.
Bei der Autoindustrie mit 750.000 Arbeiterinnen und Arbeitern in sogenannten Autoclustern (Stuttgart, Süd-Ost-Niedersachsen, Sachsen, München, Köln), geht es um einen Umbau und einen partiellen Ausstieg – weniger Autos, keine Verbrenner mehr, stattdessen Fahrzeuge für den öffentlichen Verkehr und andere, nützliche Produkte. Summarisch um eine Reduzierung von zunächst um die 50 Prozent an Produktion und Arbeit.
Solch eine industrielle Konversion ist nicht einzigartig, sondern hat in verschiedenen gesellschaftlichen Situationen in vielen Ländern stattgefunden: Vor Kriegen hin zur Rüstung, nach Kriegen wieder weg von der Rüstung. Ganze Industriezweige wie Textil, Uhren und Unterhaltungselektronik sind aus unserem Land verlagert worden. In schwach entwickelten Regionen wurde, staatlich gelenkt, eine neue industrielle Struktur geschaffen wie zum Beispiel in der Oberpfalz, im Bayerischen Wald, in Ostfriesland und Nordhessen. Das Opel-Werk in Bochum wurde als Kompensation für den Wegfall des Bergbaues im Ruhrgebiet errichtet.
Atom und Kohle – Blaupause für die Autoindustrie?Atomstrom wurde inklusive der Uranbeschaffung von 1970 bis 2023 mit 190 Milliarden Euro subventioniert, 17 AKW gebaut. Die Endlagerfrage ist weltweit ungeklärt. Es kamen der Fukushima-Schock 2011, der Atomausstieg und der Ausstieg aus dem Ausstieg. Der Rückbau kostet ca. 100 Mrd. Euro, ohne die Rückholung des Mülls aus dem maroden Bergwerk Asse. Die AKW-Betreiber, die Energieversorgungsunternehmen, zahlen 45 Mrd. Euro, die Restverantwortung liegt beim Staat, also bei den Steuerzahlern. Die Konzerne sind so frech und klagen wegen „entgangener Gewinne“: Die Bundesrepublik Deutschland zahlt 1,425 Mrd. Euro an Vattenfall, 880 Mio. Euro an RWE, 80 Mio. Euro an EnBW und 42,5 Mio. Euro an E.ON/PreussenElektra. „Diese Zahlungen dienen einerseits einem Ausgleich für Reststrommengen, welche die Unternehmen nicht mehr in konzerneigenen Anlagen erzeugen können (RWE und Vattenfall), andererseits dem Ausgleich für Investitionen, welche die Unternehmen im Vertrauen auf die 2010 in Kraft getretene Laufzeitverlängerung getätigt hatten, die dann aufgrund der Rücknahme der Laufzeitverlängerung nach den Ereignissen von Fukushima entwertet wurden.“
KohleausstiegSteinkohle ist 300 Millionen Jahre bzw. Braunkohle ist 50 Millionen Jahre alte Biomasse, die seit 200 Jahren, seit der Industrialisierung, in immer größerer Menge für Energiegewinnung verbrannt wird. Steinkohle wird in Deutschland aus wirtschaftlichen Gründen schon länger nicht mehr gefördert, sondern aus Polen, Südafrika und Australien importiert. Nach großen Protesten der Klimabewegung und aus Gründen von Umwelt-, Klima und Gesundheitsschutz wurde der Ausstieg aus der (Braun-)Kohlegewinnung und -verstromung politisch entschieden – in einer breit zusammengesetzten Kohlekommission. Es wurde der sogenannte Kohlekompromiss vereinbart: Ausstieg innerhalb von 20 Jahren bis 2038. Gleichzeitig wurden für die 20.000 Arbeiterinnen und Arbeiter, für die Regionen und Kommunen der drei Kohlereviere (Lausitz, Mitteldeutschland, Rheinland) 40 Milliarden Euro zur wirtschaftlichen Entwicklung, zur Renaturierung sowie mehr als vier Milliarden Euro zur „Entschädigung“ der Kraftwerksbetreiber eingeplant. Die Mittelverwendung ist undemokratisch, bürokratisch, spärlich und oft nicht zielgerichtet.
Umbau der Autoindustrie – Rüstungsproduktion ist keine OptionEs gibt Beispiele für erfolgreiche betrieblich-gewerkschaftliche Aktionen in der Transformation, denen die frühe Einbeziehung der Arbeiterinnen und Arbeiter gemeinsam ist. In den beiden Autozulieferbetrieben Boge in Simmern und Kessler in Aalen wurde die Produktion umgestellt von Autoteilen auf Teile der Bahn oder der Bahninfrastruktur. (7) Der zuständige Gewerkschaftssekretär im IG Metall-Bezirk Mitte spricht von einem „Friedensvertrag“ und ist zuversichtlich, dass die vereinbarten Punkte eingehalten werden. Damit ist auch ein Arbeitskampf vom Tisch, für den sich die IG Metall gerüstet hatte. Dieser hätte Produktionsunterbrechungen in anderen Automobilfirmen zur Folge gehabt. Das hätte zu einem Schaden von bis zu 30 Millionen Euro pro Produktionstag bei Kunden wie VW oder Audi geführt. (8) Solche Konversion ist unter spezifischen Bedingungen auch möglich in der von VW verstoßenen Tochter in Osnabrück, wenn die Gewerkschaft und der Betriebsrat das in betrieblichen Zukunftswerkstätten beziehungsweise Transformationsräten unter Einbeziehung aller guten Ideen der Arbeiterinnen und Arbeiter einschließlich der Ingenieure und des Standortmanagements vorantreiben.
Die Debatte um Rüstungsproduktion ist voll entbrannt. Milliarden – whatever it takes – sollen für Kriegsproduktion zur Verfügung stehen. Die politische Lösung von Konflikten und Diplomatie sind überhaupt kein Thema mehr. Die Lehren des zerstörten Europas, der bedingungslosen Kapitulation der faschistischen deutschen Wehrmacht und die Erfahrungen der Entspannungspolitik im kalten Krieg scheinen vergessen. Egon Bahr sagte: „In der internationalen Politik geht es nie um Demokratie oder Menschenrechte. Es geht um die Interessen von Staaten. Merken Sie sich das, egal, was man Ihnen im Geschichtsunterricht erzählt.“
Die Aktionäre von Rheinmetall, Thyssen-Krupp, Henslod, Diehl, Krauss-Maffei, Heckler & Koch sowie Airbus, aber auch die von VW, Mercedes, Conti und Bosch haben ein Interesse daran, die unbegrenzt frei verfügbaren Rüstungsmilliarden einzusacken. Der Porsche-Piëch-Clan kündigt Investitionen in die Rüstung an, interne Richtlinien bei Bosch wurden so angepasst, dass die Produkte auch für militärische Zwecke verkauft werden können. Das ist aus Sicht vieler Arbeiterinnen und Arbeiter eine Abkehr von den bisherigen Werten der Bosch-Stiftung. Dazu Kriegspropaganda an allen Ecken, im Fernsehen, an der Straßenbahn, vor den Werken der Autoindustrie: „Mach, was wirklich zählt – Jetzt Job fürs Volk wagen.“ Das undenkbare soll denkbar, der Krieg soll vorstellbar und führbar gemacht werden. Der Kontext, der bei einer vernünftigen Entscheidung nicht außer Acht gelassen werden kann: Die Rüstungsmilliarden sorgen für ein paar neue Jobs bzw. als magerer Ersatz für in der zivilen Produktion gestrichene oder verlagerte Jobs. Gleichzeitig fehlen diese Milliarden schon morgen in den nächsten Haushalten von Bund, Ländern und vor allem Kommunen, um die einfachsten sozialen Fragen zu lösen. Aller Erfahrung und Prognosen nach können die verlorenen Jobs in der Autoindustrie nicht annähernd durch Jobs in der Rüstungsindustrie kompensiert werden. Das trifft für das Alstom-Werk in Görlitz, das Conti-Werk in Gifhorn und für das VW-Werk in Osnabrück zu – mehr noch, wenn es um die Werke von VW in Zwickau und Emden, von Ford in Saarlouis und Köln gehen wird.
IG Metall sucht ihre PositionJürgen Kerner, der 2. Vorsitzende der IG Metall, nimmt am 1. September, am Antikriegstag, an einer hochkarätigen Rüstungskonferenz teil – zusammen mit Chefs von Rüstungsbetrieben, Rüstungsberatern, Rüstungsforschern und unter anderem Annette Lehnigk-Emden, der Chefin des Beschaffungsamtes der Bundeswehr. Frau Lehnigk-Emden ist die, die von den Kommunen mehr Unterstützung für die Rüstungsindustrie fordert: "Kommunen sind in der Pflicht, die bürokratischen Hindernisse für die Zeitenwende möglichst gering zu halten", sagte sie ausgerechnet in Osnabrück (NOZ, 16.8.2025). Kerner selbst äußerte sich auf dem letzten Gewerkschaftstag der IG Metall und wies nicht nur auf die Vertretung der Beschäftigten in der Rüstungsindustrie hin, sondern ging weit darüber hinaus: „Ich bin der festen Ansicht, dass wir diese Branche in Deutschland und Europa halten müssen.“ Später sagt er in einer gemeinsamen Erklärung mit dem SPD-Wirtschaftsforum und dem Verband der Rüstungsunternehmen: „2024 ist das Jahr der Entscheidung für die wehrtechnische Industrie in Deutschland. Zwar hebt die Politik ihre Bedeutung für die Sicherheit unseres Landes und Europas hervor. Aber anders als man denken könnte, führt das Sondervermögen Bundeswehr nicht automatisch zur Stärkung der heimischen Industrie.“ (9) Andere Akzente setzen Christiane Benner als Vorsitzende und Hans-Jürgen Urban als Vorstandsmitglieder der IG Metall: Christiane Benner schlägt vor, ein Sondervermögen in dreistelliger Milliardenhöhe aufzumachen für den ökologischen Umbau der Industrie und Urban sagt beim Aktionstag der IG Metall im März 2025: „Unsere Industrie der Zukunft muss ökologisch, sozial und demokratisch sein. … Die Transformation, die wir unterstützen, muss fair und solidarisch sein. Und schließlich: Was soll dieser Überbietungswettlauf bei den Rüstungsausgaben? Wer nur auf Waffen setzt, landet in der Sackgasse eines neuen Rüstungswettlaufs.“ (10)
Die deutschen Autobauer Volkswagen, Mercedes und BMW mit ihren Töchtern hatten zuletzt Gewinneinbrüche verkündet. Dennoch wurden Milliarden an die Aktionäre ausgeschüttet. Bei Volkswagen profitiert hauptsächlich der Porsche-Piëch-Clan, der knapp ein Drittel der Aktien hält, bei BMW fließt die Hälfte der ausgeschütteten 2,7 Milliarden Euro an Stefan Quandt und Susanne Klatten. Das Manager Magazin zitiert Christiane Benner: "Die Probleme einzelner Unternehmen sind unterschiedlich gelagert, aber die Situation für die Industrie und die Beschäftigten ist insgesamt schon prekär.“ Die Absatzzahlen von vor der Corona-Pandemie würden in der EU nicht erreicht. "In der Folge sind Werke nicht ausgelastet, und wir führen harte Auseinandersetzungen darüber, dass Beschäftigte nicht einseitig die Lasten tragen", so Benner. Es brauche Innovationen, aber auch industriepolitische Unterstützung aus Berlin und Brüssel. Zudem seien die Rahmenbedingungen für den elektrifizierten Autoverkehr noch nicht ausreichend. "Kaufanreize, Ladeinfrastruktur, Rohstoffversorgung, Recycling: Das sind die Themen für eine europäische automobile Industriepolitik.“ Die Gewerkschaftsvorsitzende sieht auch hausgemachte Probleme, für die „das Management die Verantwortung übernehmen sollte“. Aktionärinnen und Aktionäre sollten bei der Höhe der Dividenden Abstriche machen, da sie trotz geringeren Gewinnen hohe Dividenden erhalten. „Wir müssen da zusammen durch“, sagt Benner. (11) Diese Position, die Aktionäre sollten sich an der „Sanierung“ beteiligen, wurde schon bei der Auseinandersetzung bei VW Ende 2024 erhoben. Der VW-Chef Blume antwortet belehrend: „Als Investor überlege ich mir, wo mein Geld am besten angelegt ist. Wenn ich den Investoren jetzt erzähle, dass wir ihnen die Renditen kürzen, dann droht ein Vertrauensverlust, Investoren könnten sich zurückziehen. Das muss jeder wissen, der scharfe Einschnitte bei den Dividenden fordert. Wir brauchen gerade jetzt in dieser Phase eine Verbindlichkeit für Investoren, damit sie weiterhin zu uns stehen. (12)“ Zehn Prozent Umsatzrendite sollen es in den nächsten Jahren werden – so haben es die Großaktionäre und das Management entschieden.
Rüstung schafft keine Jobs!Rüstungsproduktion kann für Volkswagen bei seiner eigenen grausamen Entstehungsgeschichte niemals eine Option sein. Das sieht auch der Betriebsrat so: Ein Sprecher des Konzernbetriebsrats erklärt, dass ein Einstieg in die Produktion von Kriegswaffen oder Kampfmitteln aus Sicht der Arbeitnehmervertretung keine Option sei. … „Das hat nicht nur unternehmensstrategische und technologische Gründe, sondern nicht zuletzt auch ethische vor dem Hintergrund der Volkswagen-Unternehmensgeschichte.“ (WAZ, 19.8.2025)
Die Propagandaabteilung des Porsche-Piëch-Clans sieht das ganz anders: Der Kriegsverbrecher Ferdinand Porsche (SS-Oberführer, Vorsitzender der Panzerkommission) sei ein genialer Konstrukteur gewesen und der Reichtum des Clans hierin begründet. Tatsächlich wurde das Unternehmen von den Nazis mit gestohlenem Geld der Gewerkschaften, mit Produktion für die faschistische Wehrmacht und mit brutaler Zwangsarbeit aufgebaut. Treiber dabei neben Ferdinand Porsche sein Schwiegersohn und NSDAP-Mitglied Anton Piëch. Jetzt werden durch den Porsche-Piëch-Clan Autofabriken geschlossen und neue Geldanlagen in der Rüstungsindustrie gesucht: „Die Porsche SE investiert gezielt in Fernbusunternehmen, Drohnentechnik und Software für autonome Lkw …“ (13) Zurück zu den grausamen Wurzeln und wieder Geld machen mit dem Krieg? Der Porsche-Piëch-Clan und die Kopf-ab-Diktatur in Katar, die großen Aktionäre von Volkswagen – vom Land Niedersachsen abgesehen – haben ein Interesse daran, die Profite maximal zu steigern und die frei verfügbaren Rüstungsmilliarden einzusacken. Ihnen geht es weder um Demokratie noch um Menschenrechte.
Wie eine Vielzahl Studien zeigt, führen Investitionen in die Rüstung nicht zum Wirtschaftsaufschwung. Militärausgaben sind aus ökonomischer Sicht keine Investitionen zur Entwicklung der Wirtschaft, sondern „totes Kapital“. Der Multiplikator bei Rüstungsausgaben liegt bei rund 0,5 Prozent. Also ein Euro in Rüstung bedeutet 50 Cent Wachstum. Bei Infrastrukturinvestitionen beträgt der Multiplikator 1,5 und bei Bildung liegt er bei drei. Rüstung zieht Ressourcen aus produktiven Bereichen ab. Wir begeben uns so auf eine ganz schiefe Ebene, auf der es bald kein Halten mehr gibt. Aller Erfahrung und Prognosen nach können die verlorenen Jobs in der Autoindustrie nicht annähernd durch Jobs in der Rüstungsindustrie kompensiert werden. Das trifft auch für das Werk in Osnabrück zu. Vielleicht bleiben ein paar hundert Arbeitsplätze, wenn Rheinmetall einsteigt - aber sich nicht die 2.300 plus Zulieferer, die es heute sind. Andererseits: Der Markt für passende Fahrzeuge für Ridepooling wächst und der Bedarf ist riesig - aber das Geschäft machen dann Holon oder Baidu.
Die Ouvertüre zur Monstermesse in München: Der Sozialstaat ist schuldKurz vor Beginn der IAA drängt die Autoindustrie trotz aller Klimakatastrophen auf eine Abkehr vom sogenannten Verbrennerverbot und eine Abkehr von den CO2-Zielen. Für die Umstellung auf Elektromobilität fordern die Autokonzerne mehr Unterstützung von der Politik. "Wir brauchen ein klares Signal und gezielte staatliche Fördermaßnahmen, um die Skepsis privater Käuferinnen und Käufer abzubauen und die Nachfrage in dieser Gruppe anzukurbeln", sagt ein VW-Vorstand. Derzeit sind es vor allem gewerbliche Kunden, die E-Autos kaufen oder leasen. Vergleichbare Steuervergünstigungen sollen zulasten der Steuereinnahmen auch private Autokäufer erhalten.
Darüber hinaus will die Industrie Reformen „für die Wettbewerbsfähigkeit des Standortes“ – genau das, was Merz und Klingbeil mit dem „Herbst der Reformen“ jetzt umsetzen wollen: Sozialabbau und Arbeitszeitverlängerung. „Die Unternehmen der deutschen Automobilindustrie sind mit ihren Produkten international wettbewerbsfähig, der Wirtschaftsstandort Deutschland ist es aktuell nicht. Entscheidend ist deshalb, dass Wettbewerbsfähigkeit und Standortattraktivität zur politischen Top-Priorität in Berlin und Brüssel werden. Dabei muss klar sein: Die Industrie braucht mehr als nur Symptombekämpfung, sie braucht zielgenaue Maßnahmen für die Behebung der Ursachen der mangelnden internationalen Wettbewerbsfähigkeit des Standortes. Berlin und Brüssel müssen die unterschiedlichen Standortfaktoren — u.a. von Energiepreisen, Bürokratiebelastung, Regulierungsausmaß und Rohstoffversorgung — konkret in Angriff nehmen und so die Wettbewerbsfähigkeit stärken. Gerade mit Blick auf die geopolitischen Entwicklungen ist ein wirtschaftlich starkes Europa von zentraler Bedeutung: Nur ein wirtschaftlich starkes Europa hat auf der politischen Weltbühne eine gewichtige Stimme, nur ein wirtschaftlich starkes Europa hat Einfluss auch auf die Gestaltung der Klimaziele und andere wichtige geopolitische Fragen." (14)
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Fußnoten
(2) https://www.automobil-industrie.vogel.de/iaa-mobility-2025-messe-muenchen
(3) Beispielhaft Bosch in Sebnitz: Im kleinen Städtchen Sebnitz in der Sächsischen Schweiz an der Grenze zu Tschechien lässt Bosch Werkzeuge (Power Tools) produzieren und ist der größte Arbeitgeber, allerdings seit Jahren schrumpfend. Die verbliebenen 280 Arbeitsplätze will der Konzern jetzt kündigen und den Betrieb nach Osteuropa verlagern. Die Folgen eines Rückzugs von Bosch aus der Region Ostsachsen sind fatal. Die AfD erhielt in Sebnitz bei der Bundestagswahl 54 Prozent der Zweitstimmen. Die Menschen sind nicht nur von der Arbeit erschöpft und von Angst geplagt, sondern verzweifeln an der Unerbittlichkeit der Konzerne und an der teilnahmslosen Zuschauerrolle, die die Regierungen auf Landes- und Bundesebene einnehmen. https://stephankrull.info/2025/08/19/die-organisierende-klassenpartei-und-die-sozial-oekologische-transformation/
(4) https://www.zeit.de/news/2025-08/15/ig-metall-in-zweiter-welle-droht-verlust-zehntausender-jobs
(5) Wolfsburger Allgemeine, 30./31.8.2025
(7) https://www.sozialismus.de/detail/artikel/panzer-statt-porsche-nein-sagen-genuegt-nicht/
(9) https://www.igmetall.de/presse/pressemitteilungen/verteidigungsindustrie-zukunftsfaehig-machen
(10) https://hans-juergen-urban.de/wp-content/uploads/2025/03/2025_03_15_Aktionstag_Rede_Urban_final.pdf
(12) Braunschweiger Zeitung, 22.1.2025
(13) Berliner Zeitung, 14.8.2025
Die neue Weltordnung und der Hauptwiderspruch im globalen Kapitalismus
Wir leben, sagen uns Politik und Medien, in einer Epoche sich überstürzender Zeitenwenden. Russland überfällt die Ukraine und stürzt die „europäische Nachkriegsordnung“ um und mit ihr die Nachwendeordnung nach der Implosion des realen Sozialismus. Die Nato sieht voraus, dass Russland spätestens Ende der Zwanziger Jahre in der Lage ist, Nato-Europa zu überrennen und legt eine Aufrüstung von 5% der jährlichen Wirtschaftsleistungen fest. Dabei ist die Nato heute schon die stärkste Militärmacht der Welt. 32 Nationen, eine Milliarde Menschen, 9.400 Kampfpanzer, 4.500 Kampfflugzeuge, 3,2 Millionen Personen Truppenstärke, 22.000 Artilleriegeschütze.
Dass die Führer der „westlichen Wertegemeinschaft“ entschlossen sind, ihre militärische Macht auch einzusetzen, haben sie gerade im Nahen Osten bewiesen: Israel bombardierte systematisch zivile Ziele im Iran, die USA ließen bunkerbrechende Raketen – über zehn Meter lang, Tiefenweite über hundert Meter – auf Atomanlagen herabregnen. Ein zunehmend geistesgestörter US-Präsident, ins Amt gedrückt von offen skrupellosen Tech-Monopolisten des Silicon Valley, feiert die Untat als Triumph der Zivilisation und sich selbst als größten Friedenspräsidenten aller Zeiten. Der deutsche Kanzler lobt die Israelis, sie würden „die Drecksarbeit für uns“ machen. Die politischen Eliten der „transatlantischen Gemeinschaft“ rücken die Welt näher an einen Großen Krieg, sie geben Israels Netanjahu nicht nur das Plazet zum systematischen Völkermord an den Palästinensern, sie haben in Europa keine andere Antwort auf die Aggression Russlands als die eigene Hochrüstung und „Kriegsertüchtigung“. In den Ländern des Westens bringen sich „Rackets“ an die Macht, Kapitalgruppen vor allem um High Tech, Rüstung, Energie, die, wie Max Horkheimer diese Klassenfraktionen nannte, als „Beutegemeinschaften“ den Staat und seine Bevölkerung ausnehmen, ohne Rücksicht auf aktuelle Lebensinteressen und Zukunft der Masse der Bevölkerung.
Über hundert Millionen Menschen sind bereits auf der Flucht vor Krieg und Elend. In den noch lebenswerten Regionen der Erde, längst geplagt von jahrelanger Rezession und wachsender sozialer Ungleichheit, fürchten sich noch mehr Millionen vor dem möglichen Zuzug der Fremden. Das Fremde wird zum Anathema in der politischen Diskussion, die eigene Nation und Racket-Herrschaft soll „great again“ werden und bleiben. Wohin treibt es diesen Welt-Kapitalismus? Auch und gerade für Marxisten eine Frage, die womöglich neue Antworten verlangt, jedenfalls neue Aspekte aufwirft.
Die marxistische Diskussion zur Überwindung des Kapitalismus kreiste immer um die Fragen: Wo ist der Hauptwiderspruch im kapitalistischen Widerspruchsfeld zu sehen? Und daraus ableitend: Welches ist die gesellschaftliche Hauptgegenkraft gegen die Kapitalherrschaft, wer ist der Hauptträger der revolutionären Bewegung?
I. Der Marxismus – immer auf der Suche nach dem HauptwiderspruchDie internationale kommunistische Arbeiterbewegung war sich zu Beginn darüber im Klaren und einig, wo der Hauptwiderspruch im Kapitalismus zu suchen sei. Das Kommunistische Manifest von Marx und Engels schließt 1847 mit dem Aufruf: Arbeiter aller Länder, vereinigt euch! Die Arbeiterklasse war der Gegenpol zum Kapital, das sich international organisierte, weshalb auch die Arbeiterklasse dieses internationale Niveau – „aller Länder, vereinigt euch““ – erreichen musste, um im realen Klassenkampf zur revolutionären Kraft zu werden. Die Dritte Internationale beschloss unter dem maßgeblichen Einfluss von Lenin und Trotzki die neue Formel: „Arbeiter aller Länder, unterdrückte Völker, vereinigt euch“. In den kolonialistisch ausgebeuteten Nationen hatten sich Befreiungsbewegungen gebildet, die von der Internationale als gleichberechtigte Elemente der internationalen Widerspruchsfront begrüßt wurden. Stalin änderte diese Schwerpunktsetzung der Internationale. Für den Stalinismus war der „Rote Oktober“ das entscheidende antikapitalistische Signal. Hier, im ersten sozialistischen Land, steckte für Stalin auch die entscheidende antikapitalistische Kraft. Ein erfolgreicher Sozialismus in der Sowjetunion würde die proletarischen Massen weltweit für den Sozialismus begeistern, den Ausbeutungsradius des Kapitalismus verkleinern. Die Unterstützung der SU gehörte ins Zentrum der internationalen Arbeiterbewegung. Noch 1961 formulierte die KPdSU das so in ihrem Programm.
Mit der Implosion des „realen Sozialismus“ erübrigte sich die Kontroverse der Kommunistischen Parteien Russlands und Chinas. Kurzfristig hofften die Kapitalisten auf ein „Ende der Geschichte“ (so Francis Fukuyama, der damalige offizielle Geschichtsphilosoph der US-Regierung), den ewigen Triumph des Kapitalismus, doch mit den von Lateinamerika ausgehenden Finanzkrisen der Neunziger Jahre und dann der globalen Finanzkrise Krise 2007 brach die Krisenhaftigkeit des Kapitalismus mit Kriegen, Einkommensverlusten und Umweltzerstörung wieder heftig auf. In der Corona-Krise 2021 veröffentlichte die International Manifesto Group (IMG) ihr Manifest: „Durch Pluripolarität zum Sozialismus“. Das tödliche Versagen des kapitalistischen Gesundheitssystems hat nach Ansicht der vorwiegend nord- und südamerikanischen WissenschaftlerInnen um die indisch-kanadische Ökonomin Radhika Desai erneut die dringliche Notwendigkeit erwiesen, die Produktion der Essentials des Lebens aus den Händen des Kapitals zu nehmen und in die eines demokratisch organisierten Volks zu überführen. In dieser Frage werden die IMG-Vertreter unter Marxisten auf keinen Widerspruch stoßen. Aber führt der von Hugo Chavez für eine multipolare internationale Ordnung geprägte Begriff der Pluripolarität wirklich zum Sozialismus? Oder überhaupt zum Abbau der Dominanz des Imperialismus? Untersuchen wir die Kräfte, die heute die Hauptelemente der Pluripolarität darstellen. Sind sie Träger eines kämpferischen Widerspruchs zum globalen Kapitalismus? Oder wollen die Eliten vieler dieser Länder nicht eher selbständiger Teil eines globalen Ausbeutungssystems sein und funktionieren dort, wo sie an der Macht sind, auch so?
II. Die neue internationale Ordnung – BRICS hat den Westen überholtSeit den 1980er Jahren galt für die Länder des Globalen Südens der Washington Consensus, die strikte Ausrichtung der Ökonomien dieser Länder an den Interessen der Investoren aus dem Westen. Dem Chefvolkswirt der Investment Bank Goldman Sachs, Jim O`Neil, fiel auf, dass Schwellenländer umso schneller vorankamen, je weniger sie sich an die Vorgaben der kapitalistischen Kommandos aus Weltbank und Internationalem Währungsfonds hielten. Allen voran Brasilien, Russland, Indien und China. Nach Wachstumsraten verlief die Reihenfolge zwar genau umgekehrt, aber O`Neill wollte auf dieses Kürzel hinaus: BRIC. Denn Brick bedeutet im Englischen Baustein und der New Yorker Banker schien zu ahnen, dass auf diesen Backsteinen eine neue Weltordnung entsteht.
2006 gründeten die vier Länder BRIC, seit 2011 nennen sie sich mit dem neuen Mitglied Südafrika BRICS. Mittlerweile haben die BRICS 10 Mitglieder, 11 Partnerländer und über 30 weitere Länder haben ihr Interesse zu Protokoll gegeben. Auch die Türkei hat 2024 einen Aufnahmeantrag gestellt. Allein die 10 offiziellen Mitglieder stellen 48% der Weltbevölkerung und produzieren 40% des Welt-BIP. Die wirtschaftlichen Wachstumsdaten der BRICS liegen erheblich über denen des Westens. In seiner Video-Botschaft an das diesjährige Treffen der BRICS in Rio de Janeiro stellte Russlands Präsident Putin zu Recht fest, das Modell der neoliberalen Globalisierung werde gerade obsolet, der „Schwerpunkt der weltweiten Geschäftstätigkeit“ verlagere sich in die Schwellenländer.
III. Dominante Kraft bei BRICS ist ChinaDas stärkste Element von BRICS ist die Volksrepublik China. Mit 1,4 Milliarden Einwohnern ist sie neben Indien das bevölkerungsreichste Land der Erde, liegt aber mit ihrem kaufkraftbereinigten BIP fast um das Dreifache vor Indien und liegt in der BIP-Weltrangliste nach Kaufkraftparität noch vor der EU und den USA auf Platz 1. China ist längst nicht mehr bloß „die Werkbank der Welt“, sondern nimmt auch in wesentlichen Rohstoffen und moderner Technologie einen Spitzenplatz ein. Bei Seltenen Erden ist ebenso wie bei Lithium, für die Produktion modernster Informationstechnologie unentbehrlich, der Rest der Welt wie bei Kobalt und Mangan auf China angewiesen. An internationalen Patenten für moderne Technologie meldet China neben den USA die meisten an. Im 2. Quartal 2025 erzielte China ein Wirtschaftswachstum von 5,2 % und die Industrieproduktion wuchs um 6,8 %. Die Chinesen konnten den Zollangriff der Trump-USA bisher souverän abwehren.
Höchst bedeutsam ist der akademische Bereich, dem eine eigene Abteilung der in Peking angesiedelten BRICS-Verwaltung zugeordnet ist. Jährlich werden Zehntausende von Studenten und Wissenschaftlern zwischen den Staaten ausgetauscht. Hier entsteht ein Gegengewicht zur „internationalen Klasse“ des Westens. Es entwickeln sich Forscher und Spezialisten ohne den korrumpierenden Einfluss der internationalen Konzerne und sonstigen imperialistischen Agenturen.
Auch hier ist China die Drehscheibe, das mit seiner „Neuen Seidenstraße“ über ein international breit gefächertes Angebot zu internationaler Kooperation in Handel, Verkehr und Wissenschaft verfügt. 65 Länder arbeiten derzeit bei der Neuen Seidenstraße mit, die China auf dem Land- wie auf dem Seeweg handels- und verkehrsmäßig mit Europa verbindet. Die maritime und die landgestützte Seidenstraße betreffen heute mehr als 60% der Weltbevölkerung und 15% der Weltwirtschaft. Der Handel entlang der Seidenstraße umfasst knapp 40% des Welthandels, der Großteil davon entfällt auf den Seeweg. Dies liegt nicht zuletzt am Krieg Russlands gegen die Ukraine, der den Landweg unsicherer und teurer gemacht hat. Am Ende der Kontinentalbrücke China-Europa der Neuen Seidenstraße liegen die Duisburg-Ruhrorter Häfen mit dem Rhein als wichtigster Wasserstraße Europas. Deutschland ist für China und die BRICS eine Region von hoher Bedeutung.
Es ist die Rüstung, in der China dem globalen Widerpart USA erheblich hinterherhinkt. China bringt es auf jährliche Rüstungsausgaben von 374 Milliarden US-Dollar, ein Drittel der Billion die im Jahr von den USA eingesetzt werden. Diese Billion Dollar liegt um ein Drittel höher als die Summe der Rüstungsausgaben, die die BRICS-Länder China, Russland, Indien und Saudi-Arabien zusammen aufbringen. Ohne Russland, das über die stärkste Atommacht der Welt verfügt, wären die BRICS der kriegerischen und nuklearen Erpressung des USA-Westens weithin hilflos ausgesetzt. Der Im Ukraine-Krieg, den Kriegen Israels und Trumps Drohungen gegen Grönland und Panama sowie dem Nato-Aufrüstungsprogramm (5 Prozent des BIP für Rüstung) aufscheinenden Tendenz großer und mittlerer Mächte, die eigenen Interessen wieder kriegerisch durchzusetzen, will China mit verstärkter Aufrüstung der eigenen konventionellen und nuklearen Streitkräfte begegnen.
IV. BRICS ist keine einheitliche Kraft – von den Öl-Dynastien im Nahen Osten über das sozialistische Kuba bis zum Stalin-Verschnitt der Koreanischen VolksrepublikDie BRICS sind alles andere als ein ideologisch geschlossener Verband. Sie reichen von den extrem reichen Öl-Dynastien im Nahen Osten über das sozialistische Kuba bis zur Mullah-Herrschaft im Iran. Was sie eint, ist ihre Gegnerschaft zum globalen Diktat des westlichen Kapitals. Sie zählen auch, die Öl-Reichen arabischen Länder ausgenommen, geschlossen eher zu Fanons „Verdammten dieser Erde“. Nach dem von den UN entwickelten Index menschlicher Entwicklung, der persönliches Einkommen, Gesundheit, Lebenserwartung, Bildung misst, liegt Russland an Nr. 52 der Länderliste, Iran an 76, China an 79, Brasilien an 87, Ägypten an 97, Indonesien an 112 und Indien an 132. Die VAR, ebenfalls BRICS-Mitglied, figuriert an Nr. 26, mitten unter den kapitalistischen Ländern des Westens, wo sie nach dem Treiben des internationalen Finanzkapitals und nach der skrupellosen Ausbeutung des höchsten Ausländeranteils der Erde auch hingehörte. Doch der Staat der Emirate will ein Gegengewicht schaffen gegen das Diktat von Manhattan und London und sieht seine beste Chance in den BRICS.
Gleichzeitig sind sie, die VAR, „Dialogpartner“ bei der Shanghaier Organisation für Zusammenarbeit (SOZ), einem weiteren regionalen Staatenbündnis, das gegen das Diktat des kapitalistischen Westens in Stellung gegangen ist. Der SOZ gehören an China, Indien, Kasachstan, Kirgistan, Pakistan, Russland, Tadschikistan und Usbekistan. Sie kümmert sich um Handel, Energie und Transport, aber auch – im Zeitalter eines bellizistischen Imperialismus wieder eine entscheidende Frage – um die Gewährleistung und Unterstützung von Frieden und Sicherheit in einer Region, die 40% der Weltbevölkerung umfasst.
Neben der VAR sind u.a. „Dialogpartner“ der BRICS Türkei, Ägypten, Saudi-Arabien, Katar, Bahrain, Kuwait, Myanmar. Die wachsende Entschlossenheit der Entwicklungsländer, sich aus dem Griff des Westens zu befreien, zeigt sich auch in ASEAN, der Association of Southeast Asian Nations, die in Südostasien einen gemeinsamen Wirtschaftsraum nach dem Vorbild der EU schaffen wollen. Ihr gehören an Brunei, Indonesien, Kambodscha, Laos, Philippinen, Malaysia, Myanmar, Singapur, Thailand, Vietnam. Hier zeigen sich zwei Tendenzen. Das internationale Finanzkapital versucht, mit seinem Stützpunkt Singapur einen mächtigen Fuß in die Tür der globalen Neuordnung gerade am Schwerpunkt Pazifik zu bekommen. Und zweitens: Es geht nicht nur um Schutz vor dem West-Kapital, sondern auch, wie im Falle Vietnam, um Selbständigkeit gegenüber China. Je tiefer und vielfältiger die Verbindungen Vietnams zu den Nationen in der Region sind, umso weniger muss sich das Land eventuellen Vorschriften aus China beugen. In der Epoche des De-Coupling können Schwellenländer auch zu Konkurrenten um das Kapital aus dem Westen werden.
Trumps Zollkriegserklärung an 150 HandelspartnerDoch sind nicht nur internationale Handelsbündnisse von Bedeutung für Autonomie und Weltgeltung der Nationen, sondern auch zweiseitige staatliche Handelsabkommen. Die EU verfügt über solche Verträge mit 79 Ländern. Mit Mexico, Chile und den Mercosur-Ländern haben sie neue Verhandlungen begonnen. China, Singapur und Vietnam stehen bevor, mit Japan und Myanmar wird gerade verhandelt. China wickelt 35 % seines Außenhandels über binationale Freihandelsverträge ab, darunter auch mit westlichen Ländern wie Japan, Australien, Schweiz, Neuseeland.
Das wichtigste internationale Handelsland sind nach wie vor die USA. Sie importieren jährlich für 3,1 Billionen Euro die meisten Waren, sie exportieren Güter im Wert von über 2 Billionen Dollar und sind nach China der zweitgrößte Exporteur. Im April 2025 hat US-Präsident Trump die Handelswelt aus den Fugen gehoben, als er ankündigte, die bisher angeblich ungerechten Zölle zu 150 Handelspartnern neu festzulegen, um in Zukunft das die nationale Sicherheit angeblich bedrohende Handelsbilanzdefizit zu vermeiden.
Tatsächlich weisen die USA jährlich seit Jahrzehnten ein gewaltiges Defizit im Warenhandel. auf. Im Dienstleistungsbereich erzielen sie einen Überschuss, der aber mit 72 Milliarden Dollar nur ein Zwanzigstel des Warendefizits ausmacht. Der eigentliche Grund für das permanente Leistungsbilanzdefizit liegt in der Profitkalkulation der Industriekonzerne. Sie verlagern möglichst viele Teile ihrer Produktion ins billigere Ausland, die Schulden ans Ausland können sie mit Hilfe des globalen Dollarregimes wie Inlandsschulden behandeln. Das tut zwar den Konzernprofiten gut, ist aber sehr schlecht für die in der US-Industriegüterproduktion Beschäftigten. Der Anteil der US-Güterproduktion an der Weltgüterproduktion ist von 2001 bis 2023 von 28.4 % auf 17,4 % zurückgegangen. Von 1997 bis 2024 wurden fünf Millionen Arbeitsplätze in der Güterproduktion abgebaut. Für das profitgierige US-Kapital und seine Regierungen war das solange kein Problem, bis die Defizite von Handelsbilanz und Staat – mit 130 % des BIP ist der US-Staat der größte Schuldner der Erde – das internationale Kapital bewogen, sein Geldvermögen nicht mehr bedenkenlos in die USA zu transferieren. Unter den mit Strafzöllen zu belegenden Staaten sind alle G7-Partner der USA. Das Strafzolldiktat mag einzelne Länderbilanzen der USA verbessern, insgesamt schwächt es das West-Kapital.
V. Der Hauptwiderspruch unserer Epoche: Arm gegen ReichDas BIP pro Kopf misst das Bruttoinlandsprodukt eines Landes an seiner Bevölkerungszahl. Es ist mithin keine reale, sondern eine statistische Durchschnittsgröße. Tatsächlich liegen die realen Einkommen der Armen im Globalen Süden wegen der oft miserablen sozialen Kräfteverhältnisse meist noch weit unter diesen statistischen Größen. In der Liste der Länder mit dem höchsten Pro-Kopf-Einkommen liegen Finanzoasen, wo das Finanzkapital wegen der minimalen Steuersätze seine Umsätze und Profite versteuert, weit vorne: 1. Luxemburg, 2. Macao, 3. Irland, 4. Singapur, 5. Katar, 6. VAE, 7. Schweiz, 8. San Marino. Ab Nr. 9 beginnt der reale, dort produzierte Reichtum, mit den USA. Unter den ersten 50 Ländern sind alle G7-Länder und weitere West-Metropolen wie Niederlande, Österreich, Schweden, Belgien, Australien, Finnland, Südkorea. Von den Ländern des Globalen Südens außerhalb oder am Rande von BRICS sind nur die Erdölländer Saudi-Arabien, Bahrain, Kuwait unter den ersten 50 der BIP-pro-Kopf-Liste vertreten. Sie können ihre auf ihrem Ressourcenreichtum an Öl und Gas basierende privilegierte Stellung nur halten oder ausbauen, wenn sie auf ein Gegengewicht gegen den Imperialismus des Westens setzen können. Das sehen sie in den BRICS.
Nun erhebt sich die Frage, wie kann ein Konstrukt wie BRICS oder ähnliche Allianzen des Globalen Südens mit höchst unterschiedliche Gesellschaftsregeln der einzelnen Länder die entscheidende Gegenkraft zur globalen Dominanz des West-Kapitals sein. Wir haben die Koreanische Volksrepublik mit einer autoritären Einparteienherrschaft, die noch von Che Guevara als Vorbild für den Globalen Süden angesehen wurde. Wir haben Indien mit der regierenden rassistischen Bharatiya-Janata Partei des Präsidenten Modi. Wir haben an erster Stelle die Volksrepublik China, deren KP als Partei des Volkes firmiert, in der auch die Gruppe der privaten UnternehmerInnen ihren Platz hat. Wir haben das von kapitalistischen Beutegruppen übernommene Russland, das gegen die Ukraine einen Krieg startete, um der von der Nato anvisierten Umzingelung zu entgehen, und nach innen das Gegenteil von sozialistischer Demokratie praktiziert. In den meisten Ländern des Südens erleben wir tiefe demokratische Defizite und extreme soziale Ungleichheit. Das ändert aber nichts an der Tatsache, dass diese Länder wie alle anderen auch fortschrittlichen sozialen Wandel am ehesten durchsetzen können, wenn internationales Kapital daran gehindert ist, sich einzumischen, wann und wo immer es geht. Solange die westlichen Länder ihr „Right to Protect“ praktizieren können, werden sie stets eingreifen, wenn sie ihre Interessen bedroht sehen. Unter dem Vorwand, die Demokratie vor Ort retten zu müssen, haben sie Jugoslawien zerstückelt, Bosnien-Herzegowina weitgehend zerstört, Afghanistan ruiniert, den Irak bombardiert, Libyen eine Epoche zurückgebombt, im Iran macht jetzt Israel „die Drecksarbeit“, wie der deutsche Kanzler anerkennend feststellte. Solange diese Interventionen stattfinden, werden sich demokratische Wechsel, marxistische gar, im Globalen Süden nicht durchführen lassen. Die Änderung der internationalen Ordnung in eine mehrpolige und damit die Chance, die Sonderprofite des West-Kapitals herunterzufahren, ist erste Voraussetzung für eine eigenständige, an den Bedürfnissen des eigenen Volkes orientierte Entwicklung im Globalen Süden.
Übrigens nicht nur dort. Lin Piaos Feststellung aus den 1960er Jahren, der Klassenkampf sei in den Westlichen Industrieländern „vorübergehend“ zum Stillstand gekommen, ist heute gültiger denn je. Waren es damals, im Golden Age des Kapitalismus, vor allem die Zugeständnisse bei Löhnen und Sozialleistungen, die die Arbeiterklasse an der Seite des Kapitals hielten, so treibt sie heute der Unmut über wachsende Armut und Sozialabbau immer weiter nach rechts. Angesichts von über 120 Millionen Flüchtlingen vor Kriegen und Hunger, von denen viele Millionen zu den vermeintlichen Fleischtöpfen des Westens fliehen, verfängt die rechte Propaganda, das Hauptübel in den „Fremden“ zu sehen, von denen nur noch die „Qualifizierten“, die zu den Versorgungs-, Beschäftigungs- und Ausbildungsnöten der West-Länder passen, in diese hereingelassen werden sollen. Die Fremden greifen die geringer werdenden Sozialmittel ab, die Fremden belegen Sozialwohnungen; die Fremden unterbieten mit ihrer Schwarzarbeit bescheidenste Lohnforderungen, die Fremden werden auf den Arbeitsmärkten zu ernsten Konkurrenten – so die rechte Propaganda. In Deutschland ist jeder Fünfte von Armut bedroht, die neu dazu gekommenen Armen sind für sie selbstverständlich ein Problem. Die richtige Lösung wäre: Weg mit den gewaltigen Einkommens- und Vermögensunterschieden in Deutschland; Nein zu Hochrüstung, Ausbau des Sozialstaates inklusive zügiger Ausbau des sozialen Wohnens; konkrete Hilfe gegen globale Armut und Unterentwicklung, sodass es keine Flüchtlinge wegen Hunger und Not mehr geben muss. Das Problem der Armut in Deutschland und anderer West-Länder sind nicht die Fremden, sondern die Reichen im eigenen Land. 0,1 % der Bevölkerung besitzen über 22 % des Gesamtvermögens, während über 27 % überhaupt kein Vermögen bzw. mehr Schulden als Eigenmittel haben. Der von Trump angestachelte Fremdenhass ist Lebenselixier für Multimillionäre wie Trump. Auch das Denken von Friedrich Merz ist hier zuhause. Er war jahrelang Chef der deutschen Abteilung des Wallstreet-Finanzkonzerns Blackrock, dessen bevorzugte Kunden Mitglieder der globalen Plutokratie sind. Die politische Kaste des Westens, die als „Kraft der Mitte“ firmiert, gehört zum eisernen Bestand des modernen Imperialismus, genauso wie die Rechtsparteien, die mit der Ideologie des Fremdenhasses eine neue Rechtfertigung für Privilegien des nationalen Kapitals verbreiten. Das globale Kapital stößt in den West-Staaten auf wenig soziale Gegenkraft. Die rasant wachsende soziale Ungleichheit wird politisch durch die rechte Propaganda aus dem Klassenkampf herausgenommen. Die Linkspartei kann, seitdem sie dies offensiv aufgreift, an Zustimmung gewinnen. Dies wäre der Weg, um auch die Westländer in den Raum des Hauptwiderspruchs im internationalen Klassenkampf zurückzuführen.
Trumps Zollpolitik – Kapitulationserklärung
Geschichte ist nie das Ergebnis des Willens großer Persönlichkeiten – nicht einmal, wenn es sich dabei um ein „very stable genius“ (Donald Trump über Donald Trump) handelt. Es war Marx, der Ende der 1840er und Anfang der 1850er Jahre gegen Pierre-Joseph Proudhon, Victor Hugo und viele andere Anhänger der great men theory die von ihm und Friedrich Engels entwickelte historisch-materialistische Methode auf die Zeitgeschichte anwandte, um zu zeigen, dass historische Strukturprozesse und Klassenkämpfe verantwortlich für Entscheidungen im politischen Überbau und die gesellschaftliche Ideologie sind.
In diesem Sinne ist auch Trumps Zollpolitik weniger ein Trump-, als ein US-amerikanisches Phänomen. Mehr noch: Es war Joe Biden, der die Schutzzölle gegen chinesische E-Autos und Solaranlagen aus Trumps erster Amtsperiode (2017-2021) von 25 auf 100 Prozent vervierfachte. Zudem findet diese Schutzzollpolitik gegen China eine europäische Entsprechung. Die EU beschloss Ähnliches im Herbst vergangenen Jahres.
Die kanadischen Politökonomen Leo Panitch und Sam Gindin haben in ihrem Hauptwerk The Making of Global Capitalism beschrieben, wie der US-Staat den Kapitalismus zunächst im Westen rekonstruierte und in seiner Globalisierung das Mittel erkannte, die rekordverdächtig streikende US-Arbeiterklasse durch eine neue Mobilität des Kapitals erfolgreich zu disziplinieren und zugleich mit Hilfe der Schuldenkrise in den Entwicklungsländern den mehr oder weniger sozialistisch-antiimperialistisch orientierten, nationalen Befreiungsbewegungen das Wasser abzugraben und sie in den westlichen Freihandelskapitalismus zu zwingen. Seitdem sorgte die bloße Androhung von Kapitalverlagerungen in der Regel für Steuersenkungen und Subventionen von Staatsseite und für Zurückhaltung von Seiten der Gewerkschaften. Warum also wird von den USA aufgekündigt, was so lange nach ihren Spielregeln funktionierte und sich in Form von Tributen aus der ganzen Welt – nicht zuletzt in Form von Gewinnen, die sich aus dem Umtausch in US-Dollar ergeben, – für sie bezahlt machte?
Die westliche Kurskorrektur wirft Fragen auf: Ist die Kritik des Freihandels nun rechts? Ist es heute links, ihn zu verteidigen? Die Kritik am Freihandel war und ist eigentlich links. Als am 1. Januar 1994, dem Tag, an dem das Nordamerikanische Freihandelsabkommen NAFTA inkrafttrat, der Aufstand der indigenen Guerilla EZLN (Zapatistische Armee für die Nationale Befreiung) im mexikanischen Chiapas begann, läutete dieses Ereignis nur fünf Jahre nach der Verkündung des „Endes der Geschichte“ durch den Politikwissenschaftler Francis Fukuyama, das Ende dieses Endes ein. Die Frage des Subcomandante Marcos – „Wer muss um Verzeihung bitten und wer kann sie gewähren?“ – war der Weckruf für eine aus dem Globalen Süden kommende Bewegung gegen die neoliberale Globalisierung.
Die Globalisierung, die heute per Zollpolitik einseitig beendet zu werden scheint, galt damals als Sachzwang, dem die Nationalstaaten machtlos gegenüberstünden, und dem man sich darum, so das Mantra von neoliberalen Sozialdemokraten wie Bill Clinton, Tony Blair und Gerhard Schröder, von Arbeitgeberverbänden und marktradikalen Stiftungen, nur unterwerfen müsse. Die damalige Kritik wandte sich gegen die Außenwirtschaftspolitik der kapitalistischen Zentren im Westen: Die Globalisierung laufe auf einen informellen Imperialismus hinaus. Tatsächlich hat der Westen die durch die erste (1973) und zweite Ölkrise (1979/80) sowie die radikale Leitzinserhöhung der US-Notenbank (1979) verursachte Schuldenkrise der Entwicklungsländer ausgenutzt: Er knüpfte seine Notkredite an Handelsöffnungen, Deregulierungen und Privatisierungen zugunsten westlicher Konzerne. Eine Politik von Imperien, aber ohne formelle Kolonien.
Das Ergebnis war die vertiefte Abhängigkeit des Globalen Südens und die 100-millionenfache Proletarisierung von Klein- und Subsistenzbauern. Seit 1980 hat sich die globale Arbeiterklasse zahlenmäßig verdoppelt – und zwar weit überproportional zum allgemeinen Bevölkerungswachstum. Das Drama der Weltgeschichte lautet: Kapitalistische Durchdringung führt zu „Überschussbevölkerungen“, weil sie traditionelle Lebensweisen zerstört, ohne ersatzweise einen Platz in der neuen profitgetriebenen Wirtschaft zu bieten. Gegen jene, die auf Suche nach Arbeit und Perspektive den Globalen Süden verlassen, schottet sich der Westen ab: Das Mittelmeer ist ein Massengrab, die US-mexikanische Grenze ein Kriegsgebiet.
Gegen die Freihandelsideologie und für die unabhängige Entwicklung des Globalen Südens entwickelten sozialistische Ökonomen verschiedene Konzepte. Etwa den Panafrikanismus und andere Projekte der regionalen Integration. Oder das von Samir Amin erdachte Konzept des „Delinking“: Länder des Globalen Südens sollen sich bewusst aus der Einbindung in die kapitalistische Weltwirtschaft lösen.
Im Westen konnte man dies lange ignorieren. Dann häuften sich jedoch die periodischen, vertieften Finanzkrisen im globalen Finanzmarktkapitalismus und rückten immer näher ins Zentrum, bis zur Enron- und Dot.com-Krise (2000/2001) in den USA. Damals schlug auch im Westen die Stunde der Globalisierungskritik.
Ist Trump also nun Vorkämpfer dieser Globalisierungs- und Freihandelskritik? Oder ist die Linke heute Verteidigerin einer offenen Globalisierung? In der Arbeiterbewegung lehnte man Schutzzölle traditionell ab: Zum einen, weil sich auch mit Wirtschaft Krieg führen lässt und Handelskriege oftmals Vorboten militärischer Kriege waren. Ein Beispiel ist die Fragmentierung des Welthandels nach 1878, die ins Wettrüsten sowie in die Großmächterivalität um Einflusssphären und koloniale Absatz- und Rohstoffmärkte mündete – begleitet von Nationalismus, Chauvinismus und Kriegsideologie. Zum anderen lehnten marxistische Führungsgestalten wie Clara Zetkin oder Rosa Luxemburg den Schutzzoll ab, weil er die Lebenshaltungskosten für die Arbeiterklasse in die Höhe trieb. Die Handelsschranken zum Schutz etwa der Landwirtschaft sah man Ende des 19. Jahrhunderts als den Versuch, die Profite des Großgrundbesitzes trotz nun globalisierter Agrarmärkte aufrechtzuerhalten – auf Kosten der Arbeiter, für die sich dadurch die Lebensmittelpreise verteuerten.
Ist man also aus einer Arbeiterbewegungs- und Imperialismuskritischen Perspektive gegen Schutzzölle, wenn sie die eigenen starken Staaten im Westen errichten, aber für Schutzzölle, wenn sie den schwachen Staaten erlauben, sich vom Druck des Imperialismus zu befreien? Das ist richtig und zugleich zu einfach gedacht. Denn es war ein zentraler Kern der linken Globalisierungskritik, dass der Nationalstaat keineswegs machtlos und auf dem Rückzug oder gar am Ende sei. Der Kern der bahnbrechenden Analysen der kritischen internationalen politischen Ökonomie im allgemeinen und der von Panitch und Gindin im besonderen, war, dass der Staat bei der Globalisierung des Kapitalismus Pate stand, ja schon immer ihr zentraler Akteur war und ist. Der einzige Staat, der in den Prozessen geschwächt wurde, war der Sozialstaat.
Vor diesem Hintergrund birgt die Freihandelskritik von rechts einen wahren Kern und ist deshalb für Arbeiter und Arbeiterinnen in wettbewerbsschwachen Industrien anschlussfähig. Die rechte Freihandelskritik formuliert im Kern, dass geografische Räume, in denen sich Kapital sammelt, von dieser Tätigkeit profitieren. Das ist auch eine linke Überzeugung. Das Ziel, wieder demokratische Kontrolle über die Ökonomie zu erlangen, ist für alle Weltregionen fortschrittlich.
Allerdings bezieht sich die linke Freihandelskritik weniger auf Warenströme, als auf Kapitalströme, zielt also auf die freie Bewegung des Kapitals, seine „strukturale Macht“. Dies auch, weil der Staat im Kapitalismus unabhängig davon, wer ihn gerade regiert, ein kapitalistischer Staat ist, insofern seine Funktionen über die internationalen Finanzmärkte schuldenfinanziert sind und auf Gedeih und Verderb davon abhängen, dem Kapital ein investitionsfreundliches Klima zu schaffen – sonst droht Investitionsstreik. Die linke Antwort heißt folglich nicht Schutzzölle, sondern Kapitalverkehrskontrollen. Diese sind zum Beispiel in China verschärft worden während die Volksrepublik günstige Handelswaren in die Welt exportierte.
Außerdem verkennt die rechte Freihandelskritik aus Arbeiterperspektive, dass der Wirtschaftsnationalismus à la Biden und Trump zwar ausländische Direktinvestitionen anlocken kann, von denen man sich Jobs und Wachstum verspricht. Alerdings nur unter der Bedingung von Subventionen und schlechten Arbeitsbedingungen: Denn das Kapital geht dorthin, wo es möglichst keine Gewerkschaften, niedrige Löhne und wenig Auflagen gibt.
Hinzukommt, dass die rechte Freihandelskritik verkennt, in welchem Maß die westliche Arbeiterklasse und ihr Lebensstandard von den immer noch recht günstigen Konsumgüterimporten aus China und dem Globalen Süden abhängig sind. Trump wurde von den Arbeitern gewählt, die wütend über die Inflation sind – aber der Handelskrieg wird die Teuerung drastisch verschärfen, ja tut es längst. Auch hier ist linke Kritik da, wo sie schon bei Zetkin, Luxemburg und Co. stand.
Am Ende des Tages verkennt die rechte Freihandelskritik die Qualität des internationalen Handels. Die Leistungsbilanzdefizite der USA sind tatsächlich die Stärke und nicht die Schwäche des US-Imperialismus gewesen.
In einem vom Dollar dominierten Weltsystem vermochten die USA Tribute aus der ganzen Welt abzuziehen, die sie letztlich nicht oder unter Wert bezahlen mussten. Aber genau dies erscheint dem ökonomischen Nationalismus tatsächlich als Verlustgeschäft – mit fatalen Folgen für Weltwirtschaft und Proletariat.
Warum also gehen die USA, warum geht der Westen heute diesen Weg? Wie gut ist China darauf vorbereitet und welche Folgen haben die Reaktionen der Volksrepublik? Die Schutzzollpolitik ist eine ökonomische Kapitulationserklärung. Nachdem die zunehmende Wettbewerbsfähigkeit Chinas in wesentlichen Zukunftstechnologien und bei der Herstellung von Industriegütern die Überlegenheit des chinesischen Staatsinterventionismus über die Austeritätspolitik der USA und der EU offenbart hatte, versuchte die Biden-Regierung mit dem „Inflation Reduction Act“ und dem „CHIPS and Science Act“, und die EU mit ihrem „Green Deal“, „NextGenerationEU“ und dem „EU Chips Act“ sowie Deutschland mit der Umwidmung des Coronafonds in den „Klima- und Transformationsfonds“, China mit seinen eigenen industriepolitischen Waffen zu schlagen.
Es gibt viele Gründe, warum diese Strategien scheiterten. Letztlich hat sich wieder einmal gezeigt, dass es keine Lösungen gibt, die sich aus historisch gewachsenen Kontext einfach adaptieren lassen, und dass auch die erhebliche Rehabilitierung des Staates als Krisenakteur und die Zentralisierung von Entscheidungsfunktionen in den USA und in der EU die staatlichen Planungsressourcen Chinas und seiner Kommunistischen Partei (KPCh) nicht imitieren können. Hinzukommt: Der Neoliberalismus hat sich so tief in die Institutionen, Rechtssysteme, Verfassungen und die gesellschaftlichen Mentalitäten und Ideologien hineingefressen, dass der Versuch der grünkapitalistischen Transformation und Elektrorevolution im Westen daran scheitern musste.
Die Zollpolitik zielt nun nach US-Finanzminister Scott Bessent darauf ab, sich einerseits, wie schon unter Ronald Reagan und Trump 1.0, verbesserte Marktzugänge und Tributgarantien für geistiges Eigentum nicht zuletzt der Silicon-Valley-Techkonzerne zu sichern, andererseits Kapital aus der ganzen Welt mit dem US-Binnenmarkt und lokalen Steuersenkungen und Subventionen anzulocken. Zudem will man den US-Dollar als Weltgeld billiger machen, um auch auf diesem Weg die USA zu reindustrialisieren und das Leistungsbilanzdefizit zu reduzieren.
Dies gilt allerdings alles nicht im Verhältnis zu China. Was gegen andere Staaten als Mittel der Erpressung eingesetzt werden kann, Bessent spricht von einer „Verhandlungstaktik“, ist gegenüber China, dessen Aufstieg die USA regierungsübergreifend verhindern will, Selbstzweck. Das Vorbild ist wiederum Reagan und seine Politik gegenüber dem Hochtechnologierivalen Japan. Ihm gegenüber sorgte die US-Politik für mehrere Jahrzehnte stagnatives Wachstum, ja Deflation. Im Verhältnis zu China aber verkennen die USA die Kräfteverhältnisse und Chinas Vergeltungsmacht.
China hat auf die US-Zollpolitik mit Vergeltungszöllen von 125 Prozent, Ausfuhrbeschränkungen für seltene Erden, von denen die US-Auto- und Rüstungsbranche abhängig ist, Importbegrenzung für Hollywoodfilme, Importstopp für Boeing-Maschinen und spezielle Sanktionen gegen US-Unternehmen reagiert. Die Volksrepublik demonstriert Stärke. Denn die KPCh hat sich mit ihren immensen staatlichen Planungsressourcen systematisch auf diesen Moment vorbereitet. Sicher, die Zollpolitik trifft auch die Volksrepublik hart in einer Situation vergleichsweise niedrigen Wachstums, gestiegener (Jugend-)Arbeitslosigkeit und einer schwelenden Immobilienkrise. Aber es gibt Anzeichen, dass China das bessere Blatt in den Händen hält.
In der Volkrepublik wusste man, was von einer zweiten Trump-Präsidentschaft zu erwarten ist. Die Anti-China-Rhetorik war bereits im Wahlkampf 2016 dominant. Es war der rechtsextreme Medienmacher Steve Bannon, der Trump zur wirtschaftsnationalistischen Politik riet, die China für den industriellen Niedergang der USA verantwortlich macht. Damit entschied Trump die Wahl im sogenannten rust belt für sich. Einmal an der Macht überzog schon Trump 1.0 China mit einem Handelskrieg, der China vom Zugang zu jenen Mikrochips abkoppeln sollte, die es noch nicht selbst produzieren kann oder konnte.
Der chinesische Staat hat auf die Strategien der USA, ihre Vormachtstellung zu verteidigen und den chinesischen Aufstieg einzudämmen, ziemlich erfolgreich reagiert: Die Entscheidung, systematisch in erneuerbare Energien zu investieren und sich von fossilen aus dem Mittleren Osten unabhängig zu machen, stand im Zusammenhang mit dem US-Krieg im Irak, der die globalen fossilen Energieressourcen gegen jegliche Konkurrenten, inklusive der sich osterweiternden EU, sichern sollte. Mit dem elften Fünfjahresplan (2006-2011) begann dann das exponentielle Wachstum in der Gigawattproduktion aus Wind- und Solarenergie. Schon zu Beginn des zwölften Fünfjahresplans (2012-2017) überholte China die USA, zum Ende hin auch Europa. Die Grundlagen der E-Revolution Chinas waren gelegt und damit auch das Fundament für eine Außenwirtschaftspolitik, die sich zunehmend auf die BRICS-Staaten und den Globalen Süden konzentriert und von der einseitigen Abhängigkeit vom US- und EU-Binnenmarkt löst.
Dem militärischen forward positioning von Obama nahm China mit drei Maßnahmen den Wind aus den Segeln: 2012 wird auf dem 18. Parteitag der KPCh die stärkere Entwicklung des Binnenmarkts beschlossen, zu der die Anti-Armutskampagne, die mit insgesamt 770 Millionen Menschen die weltweit größte Einkommensmittelklasse hervorbringt, wesentlich beiträgt. Auch heute sieht die KPCh in der „neuen Urbanisierung“, die einen höheren Individualkonsum nicht zuletzt von öffentlichen Dienstleistungen mit sich bringen soll, ein zentrales Antidot zum US-Handelskrieg. Mit der 2013 beschlossenen Belt and Road-Initiative verlagert China seine Handelswege nicht nur zunehmend nach Eurasien, sondern etabliert sein ökonomisches Modell in diesem Wirschaftsraum. Ebenfalls 2013 eingeleitet wurde der Pakistan-China-Wirtschaftskorridor, mit dem sich die Volksrepublik einen direkten Zugang zum Indischen Ozean jenseits der Meerenge von Malakka verschafft.
Kurz, in China weiß man seit langem, dass die USA alles tun, den chinesischen Aufstieg zu behindern. Und China ist, verglichen mit Japan, weniger verwundbar, insbesondere im Hinblick auf die Mikrochipproduktion. Die nachholende Entwicklung in diesem Bereich reduziert nicht die Abhängigkeit von Importen. Der Anteil an Halbleitern, die China selbst produziert, liegt bei unter zwanzig Prozent. Die „Made in China“-Strategie war diesbezüglich nur bedingt erfolgreich.
Trotzdem hat der jüngste US-Handelskrieg seine Ziele nicht erreichen können: Das chinesische Unternehmen BYD hat Tesla mittlerweile als größter E-Auto-Produzent abgelöst, Anfang des Jahres schockte Deepseek die US-KI-Industrie als effizientere und viel günstigere Alternative zu ChatGPT, und auch der „Chip War“ der USA stößt an seine Grenzen: Die Erfolge von Chinas Mikrochipproduktion waren unerwartet. Huawei legte im August 2023 sein neues Sieben-Nanometer-Modell vor, hinzukommen die, allerdings noch nicht profitablen, aber immerhin erfolgreichen 3 Nanometer-Tests. Auch zeigt auch die Auseinandersetzung um TikTok die Grenzen des US-Staats und seiner Macht auf.
China ist im Unterschied zu Japan in den Achtzigern der weltgrößte Industrieproduzent und die zweitgrößte Wirtschaft mit der größten Mittelklasse der Welt und entsprechend weniger verwundbar. Das Land hat zudem sein eigenes De-Risking betrieben und sich um integrierte Produktions- mit lokalen und sichereren Lieferketten bemüht. In der Solarproduktion etwa ist man bei annähernd hundert Prozent.
In den letzten Jahren hat China außerdem seine Abhängigkeit vom US-Binnenmarkt als „consumer of last resort“ reduziert: Nicht einmal mehr 15 Prozent der Exporte gehen noch in die USA, ein Großteil geht heute in den globalen Süden. Gegenwärtig laufen weitere Maßnahmen zur Stärkung des Binnenkonsums.
Das chinesische Selbstbewusstsein resultiert letzten Endes aus dem Wissen, dass die USA bluffen. Dem Rest der Welt präsentiert sich China wiederum als verlässlicher kooperativer Handelspartner auf Augenhöhe, der auch kleineren und schwächeren Staaten mit Respekt begegnet, niemals Kolonialreich war, trotz seines Aufstiegs keine Kriege führt.
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Ingar Solty ist Referent beim 31. isw-forum am 29. November 2025
Erstveröffentlichung: konkret 06/2025
Das Internet der Monopole
Die digitale Transformation hat ein Marktgefüge hervorgebracht, das von einigen wenigen Plattformen dominiert wird. Plattformunternehmen wie Alphabet (Google, YouTube), Meta (Facebook, Instagram, WhatsApp), Amazon, Apple und auch Microsoft kontrollieren heute zentrale Infrastrukturen des globalen Wirtschaftens. Während Microsoft vor 20 bis 30 Jahren als der übermächtige Akteur galt – mit Windows als quasi unverzichtbarem Betriebssystem und Office als Standardsoftware –, steht das Unternehmen heute zwar immer noch für zentrale Basis-Infrastruktur (Betriebssysteme, Cloud-Dienste), aber weniger im Zentrum der plattformgetriebenen Monopolstrukturen.
Einst galten all diese Big Tech Konzerne als Wegbereiter für Innovation, Teilhabe und offene Märkte. Heute ist die Realität durch extreme Konzentrationsprozesse geprägt. Empirische Messungen belegen, dass die Nutzung des deutschen Internets mit einem Gini-Koeffizienten von 0,988 nahezu vollständig ungleich verteilt ist – ein Wert, der faktisch einem Monopol gleichkommt (1). Das bedeutet nicht, dass fast alle denselben Browser nutzen, sondern dass sich der gesamte Datenverkehr (Traffic, also die Ströme an Abrufen und Zugriffen im Netz) auf wenige Domains konzentriert: Mehr als 99 Prozent der registrierten Domains in Deutschland verzeichnen keinerlei nennenswerte Nutzung (2).
Diese Machtkonzentration stellt eine demokratiepolitische Bedrohung dar, da zentrale Mediengattungen in der Hand weniger Akteure liegen. Zugleich hat sie tiefgreifende ökonomische Implikationen, denn das Fundament digitaler Marktkonzentration bilden Netzwerkeffekte. Je mehr Nutzer:innen eine Plattform anzieht, desto wertvoller wird sie für weitere Nutzer:innen und Anbieter:innen. Google ist hierfür das Paradebeispiel: Mit einem Marktanteil von 88 Prozent bei Suchmaschinen (3) bietet es den umfassendsten Index, wodurch alternative Anbieter wie Ecosia oder DuckDuckGo faktisch kaum relevant bleiben.
Die Plattformen nutzen diese Mechanismen gezielt, indem sie zunächst mit niedrigen Preisen oder kostenlosen Diensten locken, um später nach Erreichen einer kritischen Masse die Konditionen sukzessive zu verschlechtern. Amazon etwa akzeptierte in den Anfangsjahren massive Verluste, um Händler und Kunden zu binden. Mit wachsender Dominanz erhöhte das Unternehmen Gebühren, bevorzugte systematisch eigene Marken und machte Sichtbarkeit im „Marketplace“ von kostenpflichtigen Zusatzleistungen abhängig. (4) Cory Doctorow beschreibt diesen Prozess als „Enshittification“: Plattformen beginnen nutzerfreundlich, verschlechtern dann das Angebot für Produzent:innen und am Ende auch für Konsument:innen. Am Ende bleibt für alle (außer Amazon) nur noch das Schlechte. (5)
Der digitale Werbemarkt als ökonomisches NadelöhrBesonders gravierend zeigt sich die Machtstellung von Big Tech im digitalen Werbemarkt. Alphabet, Meta und Amazon vereinen zwischen 80 und 90 Prozent der Werbeeinnahmen auf sich. (6) Für tausende übrige Medienunternehmen bleiben lediglich 10 bis 20 Prozent. Dementsprechend kontrollieren Plattformen nicht nur Inhalte, sondern auch den Zugang zu Märkten. Der gesamte digitale „Sales Funnel“ – von der Aufmerksamkeit (Social Media, YouTube), über die Suche (Google), bis zur Transaktion (Amazon) – ist von Monopolen besetzt. (7) Diese Stellung erlaubt es den Plattformen, Preise und Konditionen nahezu beliebig zu diktieren.
Hinzu kommt die Praxis der Selbstbevorzugung. Messungen zeigen, dass Alphabet-Dienste doppelt so häufig auf eigene Angebote verweisen, wie es einem fairen Marktanteil entspräche; bei Meta ist der Effekt noch ausgeprägter. (8) Anstatt Traffic neutral zu verteilen, leiten die Plattformen ihn systematisch in ihre eigenen Ökosysteme. Amazon bevorzugt seine Eigenmarken und zwingt Händler:innen in ein undurchsichtiges System von Gebühren und Werbezuschlägen. Ein vergleichbarer Mechanismus zeigt sich bei Google, das seine eigenen Dienste in den Suchergebnissen systematisch bevorzugt. Für diese Form der Selbstbevorzugung wurde das Unternehmen von der Europäischen Kommission bereits mit milliardenschweren Kartellstrafen belegt.
Dementsprechend wirkt die Dominanz von Plattformunternehmen in doppelter Richtung: als Monopol gegenüber Konsument:innen und als Monopson gegenüber Produzent:innen. Monopson bedeutet: ein Markt mit nur einem dominanten Nachfrager. Anbieter:innen, Autor:innen oder Musiker:innen stehen also einem „Ein-Abnehmer-Markt“ gegenüber. YouTube etwa schüttet nur 55 Prozent der Werbeeinnahmen an sogenannte Content-Creator (Personen, die Inhalte für Plattformen produzieren, z. B. YouTuber:innen) aus, während klassische Vermarkter im Rundfunk mit 10 bis 20 Prozent auskommen. (9) Autor:innen oder Musiker:innen sind noch stärker von wenigen Gatekeepern (Torwächtern, die den Zugang zu Nutzer:innen kontrollieren) abhängig, etwa Amazon im Buchmarkt oder Spotify im Musikmarkt. Mit der Einführung generativer Künstlicher Intelligenz (KI) verschärft sich diese Asymmetrie zusätzlich: Plattformen können künftig Inhalte selbst erzeugen und damit die Rolle externer Produzent:innen weiter marginalisieren. (10)
Dieses Zusammenspiel aus Monopol- und Monopsonmacht ermöglicht es den Plattformen, sowohl auf der Nachfrageseite (durch schlechtere Konditionen für Konsument:innen) als auch auf der Angebotsseite (durch niedrige Vergütung für Produzent:innen) überproportionale Gewinne abzuschöpfen.
Der Mythos der Effizienz und wirtschaftspolitische KonsequenzenVertreter:innen der Chicago School wie Robert Bork haben Monopole traditionell verharmlost: Solange Verbraucher:innen von niedrigeren Preisen profitieren, seien sie ökonomisch unproblematisch. (11) Auf den ersten Blick scheinen digitale Dienste wie Google oder Facebook diesem Kriterium zu entsprechen, da ihre Nutzung kostenlos ist. Doch dieser Eindruck täuscht.
Tatsächlich zahlen die Nutzer:innen nicht mit Geld, sondern mit ihren Daten und ihrer Aufmerksamkeit. Ökonomisch betrachtet handelt es sich um mehrseitige Märkte, in denen die scheinbare Gratisnutzung durch eine extreme Preissetzungsmacht auf der anderen Seite kompensiert wird. (12) Digitale Plattformen behalten zwischen 45 und 100 Prozent der Werbeerlöse ein, während klassische Vermarkter lediglich 10 bis 20 Prozent beanspruchen. (13) Von Effizienz kann hier keine Rede sein – vielmehr zahlen Unternehmen und Produzent:innen im digitalen Ökosystem erheblich höhere Preise.
Die daraus resultierenden Dynamiken machen deutlich: Digitale Netzwerkeffekte führen systematisch zu Konzentration und verhindern faktisch Markteintritt. Klassische Instrumente des Kartellrechts greifen hier kaum. Eine zukunftsfähige Wirtschaftspolitik müsste deshalb konsequent auf strukturelle Regulierung setzen. Dazu gehören: die Durchsetzung von Interoperabilität (technische Anschlussfähigkeit unterschiedlicher Dienste) und offenen Standards – ähnlich wie im E-Mail-Markt, der trotz dominanter Anbieter bis heute Vielfalt ermöglicht (14); ein Verbot der Selbstbevorzugung in Suchmaschinen und digitalen Marktplätzen; die Regulierung von Plattformen als Inhalteanbieter:innen, anstatt sie weiterhin als „neutrale Intermediäre“ zu behandeln; sowie die Einführung von Obergrenzen für Marktanteile, wie sie das Rundfunkrecht mit einer 30-Prozent-Schwelle bereits vorsieht. (15)
Plattformunternehmen haben Strukturen geschaffen, in denen Wettbewerb systematisch blockiert wird. Die Folgen reichen weit über einzelne Branchen hinaus: Sie betreffen den Journalismus ebenso wie die Kreativwirtschaft und führen zu einer gefährlichen Abhängigkeit der Gesamtökonomie von wenigen privaten Akteuren. Die Kritik an Big Tech ist daher keine theoretische Debatte, sondern eine fundamentale Frage nach der Zukunft unserer Wirtschafts- und Gesellschaftsordnung.
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Literatur
- Andree, Martin / Thomsen, Timo (2020): Atlas der digitalen Welt. Frankfurt a.M.: Campus.
- Andree, Martin (2023): Big Tech muss weg! Die Digitalkonzerne zerstören Demokratie und Wirtschaft – wir werden sie stoppen. Frankfurt a.M.: Campus.
- Bork, Robert H. (1993). The Antitrust Paradox (zweite Ausgabe). New York: Free Press.
- Doctorow, Cory (2023): „Tiktok’s enshittification“. In: Wired, 23. Januar 2023.
- Morozov, Evgeny (2011): The Net Delusion: The Dark Side of Internet Freedom. New York: PublicAffairs.
- Calvano, Emilio / Polo, Michele (2021): „Market Power, Competition and Innovation in Digital Markets: A Survey“. In: Information Economics and Policy 54, 1–18.
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(1) Andree/Thomsen 2020; vgl. auch Andree 2023, S. 96.
(2) DENIC 2022, zitiert in Andree/Thomsen 2020.
(3) Andree/Thomsen 2020, S. 29ff.
(4) Andree 2023; vgl. Fallstudie Amazon in Das Internet der Monopole.
(5) Doctorow 2023.
(6) Hagey/Vrancia 2021; Adgate 2021; Ebiquity 2022, zitiert in Andree 2023.
(7) Andree/Thomsen 2020, S. 200–230.
(8) Andree 2023; empirische Nachweise in The Hunger Games.
(9) Andree 2023, S. 149ff.
(10) Andree 2023; vgl. Diskussion in Das Internet der Monopole.
(11) Bork 1993,
(12) Anderson, Simon P. / Jullien, Bruno (2016): „The advertising-financed business model in two-sided media markets“. TSE Working Paper 16–632.
(13) Andree 2023; empirische Analysen in Das Internet der Monopole.
(14) Andree/Thomsen 2020; vgl. auch The Hunger Games.
(15) Rundfunkstaatsvertrag, § 26. https://lxgesetze.de/rstv/25
Schuldenmachen für die Kriegstüchtigkeit: Es gibt kein Halten mehr
In der Süddeutschen Zeitung vom 29.7.2025 lesen wir unter der Überschrift „Aufrüsten auf Pump“ die folgende Zusammenstellung.
Diese Werte umfassen nicht nur den reinen Verteidigungshaushalt (dieser umfasst aber mehr als 80 % dieser Gesamtsumme), sondern auch Ausgaben für die Ukraine-Hilfe, für die Geheimdienste, für den Zivilschutz usw. Die SZ hat die Daten aus „Regierungskreisen“.
„Steuerfinanziert“ heißt hier: Bis zu 1 % des BIP (das sind in den kommenden Jahren 40 bis 45 Mrd. Euro) werden die Rüstungsausgaben aus dem Normalhaushalt finanziert. Dieser besteht derzeit zu etwa einem Sechstel aus neuen Schulden, zu fünf Sechsteln aus Steuereinnahmen. In „steuerfinanziert“ sind also auch Schulden mit enthalten. „Schuldenfinanziert“ heißt: Alle Kosten dafür, dass wir wieder kriegsfähig und kriegstüchtig werden, die über das 1 % BIP hinaus gehen, sind bereits vorab durch die Schuldenbremsen-Reform im Frühjahr 2025 genehmigt: sie werden pauschal durch Extraschulden finanziert in beliebiger Höhe – also was die Militärs und die Geheimdienste halt so brauchen.
Wir sehen: Wir laufen mit der Hochrüstung in den nächsten Jahren in unfassbar hohe Schulden hinein. Aufsummiert von 2025 bis 2029 sind das rund 420 Mrd. Euro incl. der Schulden-Teilfinanzierung der Basiskosten. Fast 10 % eines deutschen Jahres-BIP macht in fünf Jahren allein die Rüstungs-Mehrverschuldung aus.
Hierzu drei Anmerkungen, weil ja alles mit allem zusammenhängt:
1. Ich will das konfrontieren mit einer anderen Meldung aus diesen Tagen, nämlich der Welthungerhilfe vom 24.7.2025: „Weltweit leiden 733 Millionen Menschen an chronischem Hunger – das ist jeder elfte Mensch. Aufgrund der Klimakrise, Kriegen und zunehmender globaler Ungleichheit ist diese Zahl seit 2019 um 152 Millionen gestiegen. Gleichzeitig kürzen die größten Geber, etwa die USA und Deutschland, drastisch ihre Budgets für Entwicklungszusammenarbeit und humanitäre Hilfe. … Im Jahr 2024 standen der Welthungerhilfe 383,5 Millionen Euro für die Projektarbeit zur Überwindung von Hunger und Armut zur Verfügung.“
Das gilt es zu vergleichen: 383 Millionen Euro zur Hungerbekämpfung, und zwar weltweit, und 420 Milliarden Euro (= 420.000 Mio. Euro) Mehrschulden für Kriegstüchtigkeit allein in Deutschland in 5 Jahren. Dieses Verhältnis drückt besser als jede Sonntagsrede aus, wo die berühmten, die berüchtigten westlichen Werte gelagert sind.
2. Und noch ein Vergleich, die Tagesschau vom 21.6.2024: „Zudem plant Verteidigungsminister Boris Pistorius laut Medienberichten die Anschaffung von 105 Leopard-2A8-Kampfpanzern für knapp drei Milliarden Euro.“
Da will ich mal rechnen: Hätte die Regierung statt 105 Panzer „nur“ 90 angeschafft, dann hätte die gesamte Welthungerhilfe für 2024 mehr als verdoppelt werden können. 15 Panzer: mehr als ein Jahresetat Welthungerhilfe! Rüstung tötet. Schon heute, vor Kriegsbeginn.
3. Am 3.2.2025 berichtete ich unter der Überschrift „Gewinnentwicklung in Deutschland 2024“ hier bei isw über die Entwicklung der Gewinne und ihre Verwendung (Investitionen, individueller Konsum usw.) entsprechend der Statistik der Volkswirtschaftlichen Gesamtrechnung. Ein zentraler Punkt war bzw. ist: „Seit Anfang der 2000er Jahre bleiben Jahr für Jahr mehr als 200 Mrd. Euro übrig, seit einigen Jahren sogar mehr als 300 Mrd. Euro, wofür es keine Verwendungsmöglichkeit gibt für inländische Sachanlagen. Es sind Finanzströme, die für Finanzanlagen, Spekulationen, Aufkäufe von Konkurrenten, Aufkäufe von eigenen Aktien, irgendwelche Auslandsanlagen genutzt werden können.“
Da kann man nur sagen: Hätten wir ein anderes Steuersystem – oder noch besser ein anderes Wirtschaftssystem – dann müssten wir nicht mal für Rüstung Schulden machen. Und den Welthunger beseitigen: das wäre eine kaum spürbare finanzielle Kleinigkeit nebenher.
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Quellen:
SZ: Militärausgaben sollen 2026 weiter steigen, 29.7.2025
Welthungerhilfe Pressemitteilung: Welthungerhilfe stellt Jahresbericht 2024 vor. Budgetkürzungen und Konflikte verschärfen den Hunger, 24.7.2025. https://www.welthungerhilfe.de/presse/pressemitteilungen/welthungerhilfe-stellt-jahresbericht-2024-vor
Tagesschau: Bundeswehr kauft Panzer und Munition für Milliarden, 21.6.2024. https://www.tagesschau.de/wirtschaft/unternehmen/bundeswehr-munition-panzer-100.html
Franz Garnreiter: Gewinnentwicklung in Deutschland 2024, 3.2,2025. https://www.isw-muenchen.de/online-publikationen/texte-artikel/5345-gewinnentwicklung-in-deutschland-2024
EU-Haushalt 2028 – 2034: Verschiebebahnhöfe Richtung Aufrüstung
Der von der EU-Kommission am 16. Juli 2025 präsentierte Vorschlag für den nächsten EU-Haushalt 2028 bis 2034 (Mehrjähriger Finanzrahmen, MFR) hat es in sich: Offensichtlich problematisch ist die drastische Erhöhung des Budgetbereichs „Resilienz und Sicherheit, Verteidigung und Weltraum“ – der Teufel steckt aber wie so häufig im Detail, denn im Kommissionentwurf finden sich darüber hinaus auch noch zahlreiche weitere zumindest potenziell militärrelevante Ausgabeposten, die munter über diverse Budgets verteilt wurden und sich als lukrative Verschiebebahnhöfe in Richtung Aufrüstung entpuppen könnten.
Mehr Budget – Neue StrukturDas Gesamtbudget soll nach dem Willen der Kommission von rund 1.200 Mrd. Euro im laufenden auf 1.984 Mrd. Euro im Haushalt 2028 bis 2034 steigen. Diese auf den ersten Blick saftige Erhöhung fällt bei näherer Betrachtung etwas weniger drastisch aus. Denn die Kommission arbeitet mit laufenden Preisen, die Inflation ist also nicht herausgerechnet. Setzt man das Budget ins Verhältnis zur Wirtschaftsleistung so soll es von 1,1 Prozent auf 1,26 Prozent deutlich moderater ansteigen. Darüber hinaus argumentiert die Kommission, ab 2028 müssten erstmals die Schulden des Corona-Fonds zurückbezahlt werden, würden diese jährlich wohl mindestens 24 Milliarden Euro herausgerechnet, würde sich das Budget um weitere 0,11 Prozent auf 1,15 Prozent der Wirtschaftsleistung reduzieren.
Mindestens ebenso entscheidend wie die Höhe des Budgets, ist natürlich dessen Verteilung, wobei es künftig neben den Verwaltungskosten nur noch drei große Posten geben soll: „Europa in der Welt“ (215 Mrd. Euro); „Wettbewerbsfähigkeit, Wohlstand und Sicherheit“ (590 Mrd. Euro); und „Wirtschaftlicher, sozialer und territorialer Zusammenhalt, Landwirtschaft, ländlicher Raum und Meere, Wohlstand und Sicherheit“ (1.062 Mrd. Euro).
Inwieweit sich die Kommission bei derartigen Makroüberschriften, die sich dann dennoch in zahlreich Unterpunkte auffächern, ernsthaft wie beansprucht die Vereinfachung des Budgets auf die Fahne schreiben kann, sei hier einmal dahingestellt. Wie angedeutet, finden sich jedenfalls in allen drei Bereichen zumindest potenziell militärrelevante Ausgaben, der Löwenanteil entfällt aber auf „Wettbewerbsfähigkeit, Wohlstand und Sicherheit“.
Instrument für den RüstungswettbewerbBereits im März 2025 kam Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen mit ihrem ReArm-Europe-Plan um den Weg, mit dem die Nationalstaaten „motiviert“ werden sollen, mindestens 800 Mrd. Euro zusätzlich für die Aufrüstung zu mobilisieren. Gleichzeitig enthielt er – wie auch das kurz darauffolgende EU-Weißbuch Verteidigung – Forderungen, die EU-Eigenmittel für Militärausgaben mit dem Ziel zu erhöhen, künftig mit USA auf Augenhöhe um Märkte und Aufträge um die Wette rüsten zu können.
Obwohl der EU-Vertrag in Artikel 41,2 die Verwendung von Haushaltsgeldern für militärische Zwecke verbietet, wurden bereits im Haushalt 2021 bis 2027 erstmals im großen Stil derartige Ausgaben – getarnt als Wettbewerbsförderung – verankert. Dazu zählen vor allem rund 8 Mrd. Euro für den Europäischen Verteidigungsfonds (Erforschung und Entwicklung), 1,5 Mrd. Euro für das Verteidigungsinvestitionsprogramm EDIP (Erwerb & Produktion) sowie die Vorläufer EDIRPA (300 Mio.) und ASAP (500 Mio.). Dazu kamen noch 14,88 Mrd. Euro für die EU-Weltraumprogramme, von denen Galileo und Copernicus den Löwenanteil erhalten, die beide ebenfalls militärisch relevant sind.
All das soll nun in einem großen Topf zusammengefasst werden, der im Bereich „Wettbewerb, Wohlstand und Sicherheit“ angesiedelt ist. Insgesamt soll die „Resilienz und Sicherheit, Verteidigungsindustrie und Weltraum“ betitelte Budgetlinie mit 131 Mrd. Euro befüllt werden. Die genaue Verteilung auf die einzelnen Bereiche ist aktuell noch unklar, dass es hier aber zu einer massiven Erhöhung gegenüber dem letzten EU-Haushalt kommen soll, ist offensichtlich – und ebenso, dass die Kommission hierüber erkenntlich zufrieden ist. In ihrer MFR-Pressemitteilung schreibt sie: „Der langfristige Haushalt wird zum Aufbau einer Europäischen Verteidigungsunion beitragen, die sich schützen, in Verbindung bleiben und bei Bedarf schnell handeln kann. Im Rahmen des Politikbereichs ‚Verteidigung und Weltraum‘ des Europäischen Fonds für Wettbewerbsfähigkeit werden 131 Mrd. EUR zur Unterstützung von Investitionen in Verteidigung, Sicherheit und Weltraum bereitgestellt, fünfmal mehr Mittel auf EU-Ebene als im vorangegangenen MFR.“
Ebenfalls bei „Wettbewerbsfähigkeit, Wohlstand und Sicherheit“, allerdings dort im Transporthaushalt verortet, findet sich die Budgetlinie „Militärische Mobilität“. Mit einer drastischen Erhöhung auf 17 Mrd. Euro (2021-2027: 1,69 Mrd. Euro) soll hier buchstäblich gegen Russland mobil gemacht werden: „Der russische Angriffskrieg gegen die Ukraine hat deutlich gemacht, wie wichtig es ist, in militärische Mobilität zu investieren, um sicherzustellen, dass die Streitkräfte der Mitgliedstaaten schnell und mit ausreichender Schlagkraft auf Krisen reagieren können, die an den Außengrenzen der EU und auch weiter entfernt ausbrechen. […] Investitionen im Bereich der Verkehrsnetze ausgerichtet. Entsprechende Investitionen werden den Transport von Truppen und Ausrüstung auf Schiene und Straße, über Flughäfen, Häfen und Binnenwasserstraßen sowie multimodale Terminals erleichtern“, heißt es in der Kommissionsmitteilung zum Haushaltsentwurf.
Militär- bzw. rüstungsrelevant dürfte auch der Forschungshaushalt „Horizont Europa“ sein, der mit 176 Mrd. Euro ebenfalls üppig befüllt werden soll. Hierüber ließen sich in früheren Jahren stets auch sogenannte „dual-use-Projekte“ mit militärischem wie auch zivilem Verwendungszweck finanzieren.
Rüstige RegionalförderungIm Bereich „Europa in der Welt“ könnten vor allem Teile der 3,4 Mrd. Euro für die Budgetlinie „Gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik“ militärrelevante Ausgaben enthalten, da hierüber ein großer Batzen der „zivilen“ EU-Einsätze bezahlt werden, die allerdings häufig durchaus mit recht robusten Elementen daherkommen.
Im größten Bereich, „Wirtschaftlicher, sozialer und territorialer Zusammenhalt…“ fallen sofort die deutlich gestiegenen Posten für „Migration und Grenzmanagement“ mit 34,2 Mrd. Euro (2021-2027: 25,7 Mrd. Euro) sowie für die EU-Grenzschutzagentur FRONTEX mit 11,9 Mrd. Euro (2021-2027: 5,6 Mrd. Euro) unangenehm ins Auge. Am Geld soll die zunehmend militarisierte Grenzabschottung augenscheinlich nicht scheitern.
In diesem Budgetbereich verbirgt sich auch der wohl größte mögliche Verschiebebahnhof in Richtung Aufrüstung – eine nun mögliche Verwendung der Kohäsionsfonds für militärische Belange, wie sie von Kommissionspräsidenten Ursula von der Leyen bereits in ihrem ReArm-Europe-Plan im März 2025 vorgeschlagen wurde. Dabei handelt es sich um Gelder, die bislang stets für die Angleichung der Lebensumstände in den ärmeren Mitgliedsländern vorgesehen waren. Die Kohäsionsfonds sind mit 453 Mrd. Euro der größte Einzelposten im Kommissionsvorschlag, insofern ist es von großer Bedeutung, dass diese Gelder laut FAZ künftig relativ beliebig von der „Sozialpolitik bis zur Förderung der Rüstung und dem Kampf gegen die Wohnungsnot“ eingesetzt werden können sollen. Die Kommission beschreibt dies in ihrer MRF-Pressemitteilung folgendermaßen: „Die Mitgliedstaaten und Regionen werden die Möglichkeit haben, auf freiwilliger Basis und entsprechend den regionalen Bedürfnissen und Prioritäten verteidigungsbezogene Projekte in ihren nationalen und regionalen Partnerschaftsplänen zu unterstützen.“
Haushaltsexterner RüstungstopfAußerhalb des offiziellen EU-Haushalts wurden zudem diverse „Notfallinstrumente“ eingerichtet, vor allem zwei Krisenfonds, über die insgesamt fast 550 Mrd. Euro an EU-Krediten an die Mitgliedsstaaten vergeben werden können. Vermutlich könnten darüber auch Rüstungskredite vergeben werden, nachdem in der MFR-Kommissionsmitteilung explizit auf die 150 Mrd. Euro des SAFE-Instruments verwiesen wird, mit denen den Mitgliedsstaaten zinsgünstige EU-Kredite für Rüstungsankäufe gewährt werden sollen.
Ebenfalls außerhalb des MFR-Budgets sind 100 Mrd. Euro für die Unterstützung der Ukraine angesiedelt. Es hat den Anschein, dass es hier vor allem um nicht-militärische Unterstützungsmaßnahmen gehen soll, da die Kommission aber den „flexiblen“ Charakter des Instruments betont, ist es nicht ausgeschlossen, dass davon auch Militärhilfe bezahlt werden könnte. Vorrangig dürfte für die militärische Unterstützung der Ukraine in Form einer Bezuschussung von Waffenlieferungen aber weiter die Europäische Friedensfazilität zuständig sein, schließlich soll deren Budget auf 30 Mrd. Euro (von 17 Mrd. Euro 2021-2027) ebenfalls deutlich erhöht werden.
FazitAktuell ist noch vieles unklar, besonders auch weil sich der genaue Anteil militärischer Ausgaben für viele Budgetposten ohne die ausstehende Detailplanung kaum seriös prognostizieren lässt. Eins ist jedoch sicher: Der Gesamtbetrag, der in die Aufrüstung gesteckt werden soll, soll nach dem Willen der Kommission massiv ansteigen.
Dem müssen allerdings noch Parlament und Rat zustimmen und es ist mit Sicherheit mit zähen Verhandlungen zu rechnen – ob dies allerdings auch die militärrelevanten Bereiche betreffen wird, bleibt abzuwarten. Im letzten MFR wurden die Militärtöpfe zwar noch gegenüber dem damaligen Kommissionsvorschlag in der Endfassung teils deutlich gekürzt, aber das war vor dem russischen Angriff auf die Ukraine, der Zeitenwende und ReArm-Europe.
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Wir veröffentlichen der Beitrag mit freundlicher Genehmigung der Informationsstelle Militarisierung (IMI) e.V. https://www.imi-online.de/
Kriegstüchtig?
Seit dem Krieg in der Ukraine im Februar 2022 ist in Deutschland eine sicherheitspolitische Zäsur eingetreten. Der damalige Bundeskanzler Olaf Scholz sprach von einer "Zeitenwende“, hat im Eilverfahren milliardenschwere Aufrüstungsprogramme auf den Weg gebracht und hat damit eine grundlegende politische Neuausrichtung entwickelt: Deutschland soll "kriegstüchtig" werden, so die Wortwahl von Verteidigungsminister Boris Pistorius im Herbst 2023. Dieser Begriff markiert einen tiefen Einschnitt in der politischen Kultur der Bundesrepublik
Die Rückkehr des militärischen Denkens"Kriegstüchtigkeit" ist ein Begriff mit schwerer historischer Last. Er stammt aus einer Zeit, in der Nationen ihre Existenzberechtigung in der Bereitschaft zum Krieg sahen. In der Bundesrepublik war dieser Ausdruck jahrzehntelang tabuisiert, ein Relikt aus autoritären, militaristischen Zeiten. Der Verteidigungsminister Pistorius spricht nun von Wehrhaftigkeit, Munitionsreserven Nato-Fähigkeit. Er wurde auch von den Nazis verwendet, als es darum ging die militärischen Restriktionen für Deutschland aus dem Versailler Vertrag zu umgehen.
Dabei hat diese semantische Verschiebung Folgen. Wer Begriffe wie "kriegstüchtig" in die politische Alltagssprache aufnimmt, verändert die politische Vorstellungswelt. Es entsteht ein neues Leitbild: Der Bürger als Teil einer kriegerischen Gemeinschaft, die im Ernstfall bereit sein muss, nicht nur zu zahlen, sondern zu kämpfen. In der „Frankfurter Allgemeinen“ ist die Rede von „der Pflicht, gegebenenfalls (das) Leben für das Gemeinwesen einzusetzen.“ Wissenschaftler der Bundeswehrhochschule in Hamburg empfehlen für eine militärische Auseinandersetzung „den abgestuften Einsatz von Nuklearwaffen auf dem Gefechtsfeld“ und propagieren damit nichts anderes als den atomaren Erstschlag. Die Bundeswehr wird nicht nur technisch aufgerüstet, sondern kulturpolitisch aufgewertet: Sie soll zur Herzkammer einer neuen „nationalen Verantwortung“ werden. Das ist ein zivilisatorischer Rückschritt.
Der Wandel des DiskursesDiese Transformation ist nicht auf die Bundeswehr beschränkt. Sie betrifft den gesamten politischen und medialen Diskurs. Wer heute Waffenlieferungen an Kiew auch nur hinterfragt, sieht sich schnell unter Rechtfertigungsdruck. Friedensappelle, wie sie etwa von Alice Schwarzer oder Sahra Wagenknecht 2023 formuliert wurden, stießen auf üble Beschimpfungen. Die Demonstrationen gegen den Krieg werden pauschal als "Querfront" mit der extremen Rechten diskreditiert. Statt den Diskurs über Friedensoptionen zu führen, wird die Legitimität der Kritiker in Zweifel gezogen.
Auch in den Medien vollzieht sich ein Gleichschritt. In Leitkommentaren wird regelmäßig betont, es gebe keine Alternative zu den Waffenlieferungen an die Ukraine. Andere Stimmen werden als randständig oder wirklichkeitsfremd abgetan, sofern sie überhaupt erwähnt werden. Die alte Unterscheidung zwischen Pazifismus und Appeasement, zwischen Diplomatie und Naivität, wird durch eine Polarisierung ersetzt: Wer nicht für die militärische Linie ist, gilt als moralisch zweifelhaft oder diene der russischen Propaganda.
Militarisierung von Sprache und BildungBesorgniserregend ist auch die sprachliche Militarisierung. Begriffe wie "Frontstaat", "Abschreckung", "Kriegstüchtigkeit" oder "Wehrwille", wenn nicht gleich „Siegfähigkeit“ sind wieder salonfähig. Auch in der Bildungslandschaft mehren sich Stimmen, die eine Rückkehr zur Wehrkunde in den Schulen fordern. Die Debatte über die Wiedereinsetzung der Wehrpflicht ist ein Ausdruck dieser neuen Denkweise. Schulen, Universitäten und kulturelle Einrichtungen geraten unter Druck, sich affirmativ zu dieser neuen Sicherheitslogik zu positionieren.
Gleichzeitig treten kritische Stimmen zurück. Intellektuelle, die früher als Mahner vor militärischer Eskalation galten, wirken verhalten oder schweigen. Habermas ist eine der wenigen Ausnahmen. Er hat sich mehrfach gegen die mentale und materielle Militarisierung gewandt. Die Friedensbewegung, einst ein bedeutender Teil der politischen Kultur in der Bundesrepublik, wurde an den Rand gedrängt. Der Pazifismus wird nicht mehr als moralische Haltung gewürdigt, sondern als feige Realitätsflucht abgewertet.
Der Blick in die GeschichteDie gegenwärtige Mobilmachung hat historische Parallelen. Vor dem Ersten Weltkrieg herrschte in Europa eine ähnliche Mischung aus technokratischer Kriegsbereitschaft und patriotischer Selbsthypnose. Der Historiker Christopher Clark beschrieb die europäischen Eliten als "Schlafwandler" – gebildet, informiert, aber blind für Alternativen zum Krieg. Auch heute wird der politische Spielraum für Diplomatie, Deeskalation und strategische Zurückhaltung bewusst eingeengt. Wer ihn dennoch einfordert, sieht sich dem Verdacht ausgesetzt, naiv, illoyal oder gar ein Putin-Freund zu sein. Wie 1914 wird die Kriegshysterie auch im Deutschland unserer Tage von der sozialdemokratischen Partei kritiklos befördert – nur mit dem Unterschied, dass 2025 kein Karl Liebknecht und eine Rosa Luxemburg lautstark ihre Stimmen erheben.
Historische Parallelen: Durchhalteparolen damals und heuteDer Autor dieses Beitrags, zur Generation der Kriegskinder gehörend, fühlt sich an die Durchhalteparolen des II. Weltkriegs erinnert. „Räder müssen rollen für den Sieg“ hieß es auf den Bahnhöfen des Reiches. Wir wissen heute, dass sie in die Katastrophe rollten.
Wer mit mir einen Blick auf die letzten Monate des Zweiten Weltkriegs wirft, erkennt, wie machtvoll politische Sprache als Instrument der Mobilisierung sein kann. Damals lauteten die Parolen: "Durchhalten! Der Endsieg ist nah!", "Wer kapituliert, verliert alles!" oder "Lieber tot als rot!". Selbst angesichts des sicheren Untergangs appellierte das NS-Regime an die totale Gefolgschaft. Heute ist die Situation unvergleichlich anders – und doch lohnt ein kritischer Blick auf rhetorische Muster:
- Auf das damalige "Durchhalten! Der Endsieg ist nah!" folgt heute ein "Es gibt keine Alternative zur Waffenhilfe" – die Idee der Alternativlosigkeit bleibt.
- "Wer kapituliert, verliert alles!" wandelt sich in: "Ein Waffenstillstand wäre ein Sieg für Putin."
- "Lieber tot als rot!" lebt weiter in Formulierungen wie: "Wenn wir nicht helfen, stehen russische Panzer bald vor Berlin."
- Da alte Diffamierungen wie "Verräter" oder „Fünfte Kolonne“ verbraucht sind finden sich Etiketten wie „Lumpenpazifist“ "Putinversteher" oder "nützlicher Idiot".
Nochmals: Es geht mir nicht um eine Gleichsetzung, wohl aber um das Erkennen von rhetorischen Mechanismen, die Kritik delegitimieren und politische Vielfalt einengen.
Was jetzt möglich istEs gibt ermutigende Signale, dass sich angesichts dieses bellizistischen Taumels in Deutschland neue Formationen der Friedensbewegung entwickeln, die sich mit den traditionellen Gruppen zusammenfinden. Sie sind bemüht, den kritischen Diskurs zu erhalten, der mehr kennt als nur militärische Logik. Sie wirken dafür, dass "Kriegstüchtigkeit" nicht das neue Staatsideal der Deutschen wird. Für den Herbst ist eine bundesweite Friedensdemonstration geplant. Eine Publikation, die die geistige Mobilmachung kritisch beleuchtet, befindet sich im Druck.
Das alles bisherige übertreffende Rüstungsprojekt der Europäischen Kommission mit 800 Milliarden Euro ist mit der Initiative StopRearmEurope auf eine unerwartete Resonanz gestoßen. Dem Aufruf, dieser Politik mit einer gemeinsamen Kampagne entgegenzutreten ist ein knappes Hundert von größeren und kleineren europäischen Organisationen und Friedensinitiativen gefolgt, entschlossen, sich stattdessen für „soziale, ökologische und gemeinsame Sicherheit“ einzusetzen.
Wofür kein Geld da ist
Die Schere zwischen Rüstungsausgaben und den Ausgaben für Entwicklungszusammenarbeit geht weiter auseinander. Durch unterschiedliche Prioritätensetzungen erreichen die globalen Militärausgaben neue Höchstwerte, während die Mittel für Hungerbekämpfung und Entwicklungszusammenarbeit, die nur einen Bruchteil der Rüstungsgelder ausmachen, stagnieren oder sogar drastisch zurückgefahren werden.
Dem schwedischen Friedensforschungsinstitut SIPRI zufolge haben die weltweiten Militärausgaben im Jahr 2024 mit 2.718 Milliarden US-Dollar einen neuen Rekordwert erreicht. Dies bedeutet einen Zuwachs von fast 10 Prozent gegenüber dem Vorjahr. Das von Politikern wie dem US-amerikanischen Präsidenten Donald Trump geforderte sogenannte 2 Prozent-Ziel für NATO-Länder, das heißt 2 Prozent des Bruttoinlandproduktes der jeweiligen Staaten für den Verteidigungshaushalt bereitzustellen, scheint in weiten Kreisen der Politik mehrheitsfähig geworden zu sein. Mehr noch, mittlerweile ist sogar bei vielen von 5 Prozent des BIP für die Militärausgaben die Rede. Für die Bundesrepublik würde das einen Militäretat in Höhe von rund 225 Milliarden Euro bedeuten. Damit würde Deutschland selbst Russland überholen und weltweit auf den dritten Rang der Militärausgaben vorrücken.
Es mag erstaunlich wirken, welche gewaltigen finanziellen Mittel – man möchte fast ergänzen, auf einmal – zur Verfügung stehen, wenn der politische Wille vorhanden ist und insbesondere welche finanziellen Lücken sich auftun, wenn der Wille fehlt. Auch im wirtschaftlichen Sektor wurden in den vergangenen Jahren immer wieder höchst umfangreiche Summen bereitgestellt. Im Zuge der Finanzkrise hat Deutschland Bürgschaften zur Bankenrettung in Höhe von insgesamt 500 Milliarden Euro übernommen. Die Kosten der Bankenrettung für Deutschland infolge der Finanzkrise wurden (von der damaligen Bundesregierung) im Jahr 2017 mit 30 Milliarden Euro angegeben. Im Zeitraum Frühjahr 2020 bis Sommer 2022 wurden im Zuge der Corona-Pandemie Wirtschaftshilfen (Zuschüsse, Kredite, Rekapitalisierungen und Bürgschaften) in Höhe von 130 Milliarden Euro ausgezahlt. Im Zuge der Energiekrise durch den Ukraine-Krieg wurden in drei Entlastungspaketen, zu dem auch der 200 Milliarden Euro umfangreiche Wirtschaftsstabilisierungsfonds (sogenannter Doppel-Wumms) gehört, insgesamt fast 300 Milliarden Euro zur Verfügung gestellt. Als Folge des russischen Angriffs auf die Ukraine hat die Bundesregierung die Einrichtung eines Sondervermögens in Höhe von 100 Milliarden Euro für die Bundeswehr bewilligt.
Es sind gewaltige Summen, die bereitgestellt wurden. Verschwindend gering erscheinen daneben die Mittel für Hungerbekämpfung und Entwicklungszusammenarbeit. Während die Welt im Jahr 2024 über 2,7 Billionen Dollar für Rüstung ausgab, hatte die ODA (Official Development Assistance), also die Öffentliche Entwicklungszusammenarbeit aller Staaten, gerade einmal ein Volumen von 212 Milliarden US-Dollar, was nicht einmal 10 Prozent der weltweiten Militärausgaben entspricht.
Ausgaben für Militär, Öffentliche Entwicklungszusammenarbeit (ODA)
und das Budget des UN-Welternährungsprogramms im Vergleich
Deutschlands Militärausgaben betrugen im Jahr 2024 etwa 88,5 Milliarden US-Dollar. Damit rangiert die Bundesrepublik hinter den USA, China und Russland und noch vor Staaten wie den Atommächten Indien, dem Vereinigten Königreich und Frankreich weltweit auf dem vierten Platz. Zum Vergleich: Deutschlands Beitrag für die Öffentliche Entwicklungszusammenarbeit (ODA) sank im selben Zeitraum auf etwa 32 Milliarden US-Dollar. Desillusionierend können in Relation gesetzt auch folgende Zahlen wirken: Deutschland ist Spendenweltmeister. Im vergangenen Jahr spendeten die Deutschen etwa 5 Milliarden Euro für wohltätige Zwecke. Gleichzeitig gaben sie laut Deutschem Reiseverband einen neuen Rekordwert von fast 115 Milliarden Euro für ihren Urlaub aus (eingerechnet die Ausgaben im Zielgebiet). Das geerbte und geschenkte Vermögen in Deutschland stieg 2023 gegenüber dem Vorjahr um fast 20 Prozent auf einen Höchstwert von 121,5 Milliarden Euro. Das Privatvermögen der Deutschen erreichte im letzten Quartal 2024 die Rekordsumme von über 9 Billionen Euro. Vor diesen Zahlen verblassen die Mittel für Entwicklungszusammenarbeit und Hungerbekämpfung. Dabei ist der Bedarf an Hilfe in Katastrophengebieten wie dem Sudan, dem Jemen und in Gaza gewaltig. Im Jahr 2023 litten dem Welternährungsbericht der Vereinten Nationen zufolge schätzungsweise 735 Millionen Menschen auf der Welt an Hunger. Alle 13 Sekunden stirbt ein Kind unter fünf Jahren an den Folgen von Hunger. Das sind jedes Jahr fast 2,5 Millionen Kinder.
Man könnte denken, dass das ein gewaltiges Problem ist, dem man mit einer großen politischen wie auch finanziellen Offensive entgegentreten sollte. Priorität genießen diese Negativzahlen im aktuellen politischen Diskurs aber ganz offensichtlich nicht.
Es ist sehr ernüchternd die oben erwähnten gewaltigen zur Verfügung gestellten Summen beispielsweise dem Jahresetat des Welternährungsprogramms der Vereinten Nationen (World Food Programme, WFP) gegenüberzustellen. Dieses hatte im Jahr 2024 ein Budget von knapp 10 Milliarden US-Dollar, was gerade einmal etwa drei Promille der weltweiten Militärausgaben entspricht (Deutschlands Beitrag zum WFP betrug knapp 1 Milliarde US-Dollar).
Dabei ist das Problem Welthunger, wie Hilfsorganisationen und Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler nicht müde werden zu betonen, keine unvermeidbare Naturkatastrophe, dem man schicksalshaft ausgeliefert ist, sondern menschengemacht. Das WFP bezeichnet Hunger als „das größte lösbare Problem der Welt“, da grundsätzlich alle technischen Voraussetzungen gegeben sind, um alle Menschen auf der Welt zu ernähren. Die Lösung des Globalen Hungers ist eine Frage des politischen Willens.
Je nach konkreter Zielsetzung und Zeitrahmen gibt es hierzu unterschiedliche Berechnungen, allen gemein ist aber, dass ein Bruchteil der weltweiten Militärausgaben ausreichen würden, um den Hunger auf der Welt zu besiegen. Einer bereits im Jahr 2020 publizierten Berechnung zufolge ließen sich mit einer Erhöhung der Mittel zur Hungerbekämpfung um etwa 14 Milliarden US-Dollar innerhalb von zehn Jahren 500 Millionen Menschen aus Hunger und Fehlernährung befreien. Alleine die Erhöhung der weltweiten Militärausgaben von 2024 gegenüber 2023 (circa 275 Milliarden US-Dollar) übertrifft diesen Betrag um ein Vielfaches.
Die Chance den Hunger, den ältesten Feind der Menschheit, zu besiegen, wurde bisher ausgelassen. Im Gegenteil, isolationistisches nationalstaatliches Denken infolge populistischer Bewegungen im „Westen“ lassen eine Stagnierung oder sogar eine Minderung der Gelder für Entwicklungszusammenarbeit erkennen. Jüngstes Beispiel sind die Bemühungen der Trump-Regierung die Mittel für US-Aid einzufrieren oder zumindest drastisch einzuschränken. Aber auch die deutschen Ausgaben für die Öffentliche Entwicklungszusammenarbeit (ODA) werden zunehmend zurückgefahren. Ganz aktuell verwies das Nothilfebüro der Vereinten Nationen auf die größten Finanzierungskürzungen aller Zeiten, von denen Millionen von Menschen auf der Welt betroffen sind. Martin Frick, der Direktor des WFP-Büros für Deutschland, Österreich und Liechtenstein, warnte bereits im Herbst vergangenen Jahres, dass Kürzungen der internationalen Hilfe auch zu politischer Destabilisierung in Ländern des Globalen Südens führen und nicht zuletzt Deutschlands Sicherheit gefährden könnten.
Das Ansehen und die Glaubwürdigkeit des „Westens“ sind in vielen Ländern des Globalen Südens, die politisch und medial vielfach marginalisiert oder sogar ignoriert werden, stark angeschlagen. Hierbei handelt es sich um ein Problem, das sich in Zukunft politisch wie auch wirtschaftlich noch bitter rächen könnte. Der Vorwurf lautet, dass der „Westen“ seinen eigenen rhetorisch in Reden immer wieder so hochgehaltenen Werten nicht entspricht. Welches starke politische Signal und welche ungeheure positive menschliche Wirkung hätten zum Beispiel die Einführung eines Sondervermögens in Höhe von 100 Milliarden Dollar durch die „westlichen“ Staaten zur Bekämpfung des Globalen Hungers. Hätte Deutschland den Mut und auch die politische Weitsicht, mit solch einer Initiative voranzuschreiten – vielleicht mit einer Entschlossenheit, die aktuell für die Erhöhung der Militärausgaben so stark zu spüren ist?
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Stand: 17. Juni 2025
Zuerst erschienen am 20. Juni 2025 auf "freitag.de"
Kontakt:
Dr. Ladislaus Ludescher
Germanistisches Seminar
Ruprecht-Karls-Universität Heidelberg
Hauptstr. 207-209
69117 Heidelberg
E-Mail-Adresse: ladislaus.ludescher@gs.uni-heidelberg.de
Interdisziplinäre Vortragsreihe (IVR) Heidelberg: www.ivr-heidelberg.de
Institut für deutsche Literatur und ihre Didaktik
Johann Wolfgang Goethe-Universität Frankfurtt
Norbert-Wollheim-Platz 1
60323 Frankfurt am Main
Historisches Institut
Universität Mannheim
L 7, 7
68161 Mannheim
Die USA zwischen Zerfall und Widerstand – ein Erfahrungsbericht
Die gesellschaftliche und politische Lage in den Vereinigten Staaten ist durch multiple Krisen gekennzeichnet: politische Radikalisierung, wachsende soziale Ungleichheit, struktureller Rassismus, ökonomische Prekarität und die systematische Aushöhlung demokratischer Institutionen. Mit dem erneuten Amtsantritt Donald Trumps manifestiert sich ein autoritärer Regierungsstil, der weitreichende Folgen für Wissenschaft, Öffentlichkeit und soziale Bewegungen mit sich bringt. Gleichzeitig formieren sich auf lokaler Ebene neue politische Kulturen des Widerstands.
Erst kürzlich konnte ich diese Entwicklungen vor Ort beobachten. Ich besuchte zwei wissenschaftliche Konferenzen – erst in Denver (Colorado), dann in Tacoma (Washington). Beide Städte bieten ein exemplarisches Bild für die Desintegration öffentlicher Räume und institutioneller Strukturen in den Städten der USA. Sichtbare Zeichen der Vernachlässigung sind verfallene Straßen und Gebäude, marode Brücken und verwahrloste und teils dystopisch wirkende Stadtbezirke. Besonders markant ist der dramatische Anstieg der Obdachlosigkeit: Zeltlager entlang von Highways, Parks und Fußgängerwegen sind ein normaler Bestandteil des öffentlichen Raumes. In Städten, die für Autos konzipiert sind, fährt die Mehrheit der Bevölkerung an dieser Realität der Ausgrenzung vorbei.
Konzentration der VermögensverhältnisseDie Urbanisierung alltäglicher Armut und die gleichzeitige Konzentration von Kapital in exklusiven Enklaven markiert einen ökonomischen Strukturbruch, wie ihn Thomas Piketty in seiner Analyse der postindustriellen Vermögensverhältnisse beschreibt (1). Im Jahr 2024 stellten die USA fast 40% der weltweiten Millionäre. Gleichzeitig haben über 80% der Erwachsenen in den USA weniger als 100.000 Dollar, was die ungleiche Vermögensverteilung verdeutlicht. (2) Diese Konzentration von Reichtum in den obersten Prozent der Gesellschaft wirkt sich auf demokratische Prozesse, politische Repräsentation und soziale Kohäsion aus. Die Deregulierungspolitik der letzten Jahrzehnte, Steuererleichterungen für Wohlhabende und die Privatisierung öffentlicher Güter haben ein System geschaffen, das soziale Teilhabe systematisch einschränkt oder sogar verhindert.
Parallel zur materiellen Verarmung vollzieht sich in den USA eine Erosion des sozialen Vertrauens. Menschen, die sich in den wenigen öffentlichen Räumen wie Fußgängerwegen oder öffentlichen Verkehrsmitteln begegnen, tun dies meist mit Abstand und Vorsicht. Zum einen mag das an der medialen Omnipräsenz von Bedrohungsszenarien und dem leichten Zugang zu Schusswaffen liegen. Laut Schätzungen gehen in den USA jeden Monat mehr als eine Million neue Schusswaffen über den Ladentisch. (3) Im Jahr 2025 wurden bis Mitte Juni rund 6.450 Todesfälle durch Schusswaffen (ohne Selbstmorde) erfasst. (4)
Zum anderen liegt die Erosion des sozialen Vertrauens sicher auch an der gesellschaftlichen Polarisierung. Die US-amerikanische Gesellschaft mit ihrem faktischen Zweiparteiensystem, den extrem unterschiedlichen Lebensrealitäten und Kulturen – beispielsweise zwischen Land und Stadt – sowie starken Konfliktlinien entlang polarisierter und profitorientierter Medien bieten kaum Schnittmengen für Diskussionen oder Gespräche. Fakten, Beweise und Argumente hängen von soziokulturellen Faktoren ab, was alltägliche Gespräche, geschweige denn gemeinsame politische Aktionen erschwert. (5)
Ein Gegengewicht boten die „No Kings“-Massendemonstrationen vom 14. Juni 2025. Millionen Menschen nahmen an den landesweiten Protesten gegen autoritäre Tendenzen und plutokratische Strukturen unter der Trump-Regierung teil. In Denver waren es Zehntausende, meine Kolleg:innen und ich waren dabei. Die Proteste waren bewegend, die Transparente der Menschen fantasievoll kritisch. Slogans wie „Deportiert Hass, nicht unsere Nachbarn“ (Deport Hate, not our Neighbors), „Migranten machen Amerika groß“ (Immigrants make American Great) oder „Scheiß Reich“ (Turd Reich), eine Anspielung auf das Dritte Reich (Third Reich), stehen für mehr als den Ausdruck von Unmut. Die USA stehen an einem historischen Wendepunkt, und die Widerstände auf den Straßen sind Versuche, der autoritären Zersetzung etwas entgegenzusetzen. Die Menschen gehen auf die Straße – nicht wegen, sondern trotz alltäglicher Gewalt.
„No Kings“-Demonstrationen, 14. Juni 2025, Denver (Colorado)
Am selben Abend lief ich mit einem Freund in einen Polizeiaufmarsch, der sich nach einer Schießerei gebildet hatte. Solche Vorfälle sind in den USA kein Ausnahmephänomen, sie stehen symptomatisch für den Zustand einer Gesellschaft, in der öffentliche Sicherheit zunehmend privatisiert und Gewalt normalisiert wird.
Wissenschaft unter DruckDiese Themen bewegen auch die Wissenschaft. Auf den Konferenzen überwogen Wut, Ärger und Verzweiflung. Auch wissenschaftliche Institutionen stehen unter starkem politischem Druck. Insbesondere die Forschung in den Bereichen Gender, Rassismus, Klima und sozialer Gerechtigkeit ist unter der zweiten Trump-Regierung massiven Einschränkungen ausgesetzt. Förderstrukturen wurden umgebaut, ideologisch unbequeme Themen marginalisiert oder ganz aus öffentlichen Institutionen verdrängt. Jede:r konnte Geschichten erzählen, wie eigene Forschungsgelder gestrichen und ausländische Studierende bedroht wurden.
Aktuell wird eine lange Liste von Begriffen von Regierungswebseiten und -dokumenten entfernt und zur Überprüfung durch Bundesbehörden markiert. Damit versucht die Trump-Regierung, alle Verweise nicht nur auf Vielfalt, Gleichberechtigung und Inklusion, sondern auch auf den Klimawandel, Impfstoffe und eine Vielzahl anderer Themen zu entfernen. Eine von PEN America zusammengestellte Liste enthält mehr als 250 Wörtern und Ausdrücken, die unter der Trump-Regierung als nicht mehr akzeptabel gelten. Sie reicht von „Abtreibung“ über „Frauen“ bis hin zu ‚Behinderung‘, „ältere Menschen“, „amerikanische Ureinwohner“ und – wenig überraschend – dem „Golf von Mexiko“. (6) So wird Sprache systematisch aus dem öffentlichen Raum entfernt und Wissenschaft politisch manipuliert.
Gleichzeitig werden die Visa internationaler Studierender an US-Universitäten aus verschiedenen Gründen widerrufen – darunter angebliche Verstöße gegen die Visabestimmungen und kriminelle Aktivitäten, sowie vorgeschobene Bedenken hinsichtlich nationaler Sicherheit. Seit kurzem hat das US-Außenministerium auch die Befugnis, Visa zu widerrufen, wobei diese Widerrufe ohne eine formelle Anklage erfolgen können. Außerdem hat die Regierung US-Botschaften auf der ganzen Welt angewiesen, zunächst keine Termine mehr für Studentenvisa zu vereinbaren. (7)
Politischer Widerstand und SolidaritätTrotz – oder gerade wegen – dieser politischen Verschärfungen entstehen auch neue Formen der politischen Organisierung in den USA – in der Wissenschaft und auf lokaler Ebene. Auf beiden Konferenzen wurden Gegenstrategien diskutiert und praktische Tipps des Widerstands geteilt. Wissenschaftler:innen vernetzen sich, suchen rechtliche Hilfe und problematisieren öffentlich die faschistoiden Tendenzen der Trump-Regierung. Gleichzeitig formieren sich in Städten wie Denver und Tacoma Mieter:innenkollektive, Gesundheitskooperativen, feministische Selbsthilfeeinrichtungen und offene Technologieprojekte. Auf lokaler Ebene arbeiten sie jenseits institutionalisierter Machtstrukturen, suchen nach solidarischen Antworten auf die wachsenden prekären Lebensverhältnisse und gehen auf die Straße, trotz der wachsenden Bedrohung durch Staat und Polizei.
„No Kings“-Demonstrationen, 14. Juni 2025, Denver (Colorado)
Am letzten Konferenztag in Tacoma bombardierte die USA den Iran, und wieder saß der Schock tief in einem Land, in dem der Krisenmodus immer normaler scheint. Er ist Ausdruck eines tiefgreifenden Umbaus ökonomischer, politischer und kultureller Ordnungen. Ich verbrachte diese Nacht in einem Airbnb, das seit Jahren internationalen Reisenden offen steht. Die Besitzerin schuf in ihrem Haus ein kleines Refugium des Friedens. Mit Tränen in den Augen sprachen wir über den Irrsinn der Regierung, über Ohnmacht und lokalen Widerstand. Wie kann man seine Menschlichkeit bewahren, fragt sie, wenn die Situation so unmenschlich ist? Sie hält ihr Airbnb offen und umarmt internationale Reisende, die trotz allem ihr Haus besuchen. Außerdem läuft sie regelmäßig mit Wasserflaschen durch die Straßen Tacomas, um sie Obdachlosen anzubieten. Das ist ihr Widerstand: Solidarität durch Herzlichkeiten. In Zeiten des alltäglichen Faschismus braucht es beides – auch in Deutschland.
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Fußnoten
(1) Piketty, Thomas. Capital and Ideology. Cambridge, MA: Harvard University Press, 2020.
(3) http://mdr.de/wissen/psychologie-sozialwissenschaften/schusswaffen-usa-statistiken-100.html
Kriegskasse und Rüstungsbudget – Grundsätzliches zu Geld und Krieg
Ein Krieg kostet Geld. Rüstung kostet, auch in Friedenszeiten, Geld. Im Krieg wird massenhaft getötet und gestorben, werden Infrastruktur, Wohnhäuser und die Lebensgrundlage vieler Menschen zerstört. Die psychischen und physischen Schäden, die Kriege anrichten, sind kaum zu ermessen – Leid entzieht sich einer Quantifizierung. Das Bestreben der Menschen sollte es sein, solche Zustände, Kriege, zu vermeiden… dass dem nicht so ist, kann immer wieder nur erschrecken. Kriege und Rüstung dienen der Umverteilung von Macht und Besitz. Sie sind gebunden an Interessen und Bedrohungsängste, sind bedingt durch soziale und ökonomische Ungleichheiten. An Kriegen, ihrer Vorbereitung und sogar an ihrer angeblichen Verhinderung wird „verdient“. Das „Kriegsgeschäft“ ist nicht nur eines des Tötens, sondern eines, bei dem Gesellschaften enorme Summe aufbringen, um Waffen zu kaufen, Soldaten auszubilden, Infrastruktur auf einen Kriegsfall vorzubereiten und ein geistiges Fundament für die Akzeptanz von Krieg zu legen.
Das ist auch und gerade aktuell der Fall, wie unter anderem der Politikwissenschaftler Christoph Butterwegge kritisiert: „Jedenfalls verstärkt Aufrüstung die soziale Ungleichheit, denn sie macht die Reichen reicher und die Armen zahlreicher. Hauptprofiteure der außen-, energie- und militärpolitischen Zeitenwende sind die Großaktionäre deutscher und US-amerikanischer Rüstungskonzerne. Dass ihr fast zwangsläufig eine sozialpolitische Zeitenwende folgt, wird zur Senkung des Lebensstandards der Bevölkerungsmehrheit führen.“
Kosten eines Krieges?In der Geschichte gibt es immer wieder Versuche, die Kosten eines Krieges zu ermessen. Dabei wird in der Regel versucht, die Kosten eines Krieges als Mehrkosten gegenüber dem Friedenszustand zu berechnen – Kosten für Waffen, Munition und Soldaten, erweitert um die Kosten der Kriegsschäden. Dies geschieht oft aus der Perspektive der einzelnen Kriegspartei und beinhaltet damit immer auch eine Hierarchisierung, wer eigentlich welche Lasten zu tragen hat. Die so entstehenden Summen sind nicht selten ebenso eindrucksvoll wie erklärungsbedürftig. So gibt der Wikipedia-Beitrag zu den Kosten des Deutsch-Französischen Krieges (1870/71) auf deutscher Seite rund 1,024 Mrd. Mark an – grob überschlagen rund 8 Mrd. € – wobei allerdings unklar bleibt, was einberechnet wurde. [1]
Umfangreiche neuere Untersuchungen, wie z.B. die von Joseph E. Stiglitz und Linda J. Bilmes, berechneten z.B. die Kosten für den damals noch laufenden Irakkrieg (2003 – 2011) auf rund 3 Billionen $.[2] Auch wenn Kritik an der Studie geäußert wurde, haben sie damit eine Debatte über die Berechnung der „realen Kosten“ des Krieges angeregt. So hat das Buch umfangreiche weitere Forschung ausgelöst – z.B. die Arbeiten im Umfeld des Projektes Costs of War an der Brown University. [3] Beispielhaft für die Fallstricke und auch Unmöglichkeiten in der Berechnung sei ein vom in München ansässigen Amerika-Institut veröffentlichter Beitrag von Spiros Maraktos zu den US-amerikanischen Kosten des Vietnamkrieges (1955-1975) genannt, der vor 50 Jahren zu Ende ging. Er beschreibt die Involvierung staatlicher Gelder und schlussendlich auch US-amerikanischer Soldaten in den Bürgerkrieg auf dem Subkontinent und berechnet die „Kosten“ für die USA. [4] Angefangen bei der (finanziellen) Unterstützung der französischen Versuche, die Kolonie Indochina zu halten über die destabilisierende „Entwicklungshilfe“ des verbliebenen Regimes in Südvietnam, über die Bereitstellung „militärischer Hilfe und Beratung“ bis hin zu den massenhaft nach Vietnam entsandten US-Soldaten. Dabei führt er nicht nur die jeweils steigenden finanziellen Verpflichtungen für die USA auf, sondern auch deren zum Teil desaströsen Folgen z.B. der verfehlten Hilfspolitik in Form von Lebensmittellieferungen. Auch die unmittelbar zu verbilligten Preisen abgegebenen Waffen haben demnach keineswegs bewirkt, einen „wehrhaften“ südvietnamesischen Staat aufzubauen, sondern vielmehr ein im Unterhalt immer teurer werdendes Militär geschaffen, das den Hang zur Repression nur noch verstärkte. Der direkte Eintritt der USA in die Kampfhandlungen verstärkte diese Tendenzen und führte zu einer beispiellosen Materialschlacht, deren Zynismus sich in der Berechnung von einer Tonne eingesetztem Sprengstoff pro getötetem Vietcong widerspiegelt.
Maraktos kommt so auf nicht weniger als 177,4 Mrd. $ an direkten Kriegskosten sowie weitere Kosten für Veteranen und selbstverständlich für Kredite und die geleistete Militär- und Entwicklungs„hilfe“, womit er eine Gesamtbelastung für den Staat von 424,3 Mrd. $ erhält. Damit nicht genug bewertet er und die von ihm zitierten Autor*innen auch Kosten und Ausfälle für die Gesamtwirtschaft der USA – z.B. die Unterschiedskosten des Solds, den die Soldaten erhielten gegenüber den regulären Einkünften, die sie hätten haben können, die Ausfälle in den Einkommen durch im Krieg verwundete Soldaten, die keiner Arbeitstätigkeit mehr nachgehen konnten und schließlich auch die Verluste, die der US-amerikanischen Wirtschaft in Form von Inflation, Rezession bzw. Außenhandelsverluste entstanden sind. Berechnet wurde so auch der „Wert“ im Krieg gefallener Menschen (US-Bürger) als ein Ausfall nicht erwirtschafteter Einkommen. Hier sind noch einmal insgesamt 371 Mrd. $ zu veranschlagen, womit der Vietnamkrieg Gesamtkosten von 798,4 Mrd. $ verursacht hat – inflationsbereinigt entspräche das einem heutigen Wert von rund 4 Billionen $.
Rüstungsausgaben weltweit – Top 40 sind als Punkte ausgeführt – die schwarzen Kreise bilden die Gesamtheit der Region inkl. der nicht explizit genannten Länder ab. Quelle: SIPRI.
An dieser ggf. sogar plausibel erscheinenden Zahl ist noch vieles Spekulation und Berechnung – es sind viel zu viele Überschneidungen und sicherlich auch noch viel zu viele Lücken festzustellen. Vor allem aber bildet sie die Kosten für die USA ab – die anderen Teilnehmer dieses Krieges dürften sicher noch eigene Berechnungen haben. Für den vietnamesischen Bauern, der Familienangehörige verloren hat, dessen Feld von Mörsergaranten umgepflügt wurde, dessen Haus abbrannte und der an einem Wald wohnte, der dank Agent Orange verseucht und ohne Blätter ist oder durch Napalm niederbrannte, dürfte die Berechnung eines volkswirtschaftlichen Schadens durch entgangene Außenhandelsgeschäfte seltsam anmuten. Es bliebe festzuhalten, dass die größeren Kosten des Krieges sich nicht im Budget der USA abbilden lassen, sondern auf die Menschen in Vietnam zurückfielen.
Die Politikwissenschaftlerin Rosella Cappella Zielinski hat in ihrer Studie „How States pay for Wars“ [5] die Finanzierung von Kriegen durch verschiedene Staaten seit Mitte des 19. Jahrhunderts untersucht. Sie macht drei unterschiedliche Wege aus – erstens durch die direkte Finanzierung mittels Besteuerung und Kriegsanleihen (War Bonds) bei der Bevölkerung, zweitens durch indirekte Besteuerung und die Erhöhung der Geldmenge durch das Drucken neuer Noten und drittens durch eine externe Finanzierung mittels Krediten oder der Mobilisierung externer Werte (Raubzüge). Die Entscheidung, welche dieser drei Optionen bzw. welche Kombination davon in welchem Umfang jeweils in Effekt gesetzt wird, macht sie zudem von politischen Kosten (z.B. Wählergunst, internationales Ansehen, …) und dem Verlauf eines Krieges abhängig. Vor allem aber wird die staatliche Präferenz, so sieht Zielinski sich bestätigt, durch die Kapazitäten des Staates beschränkt, überhaupt Geldmittel aufbringen zu können – je weniger Ressourcen vorhanden sind, desto eher muss ergänzend auf Kredite zurückgegriffen werden. Konsequenterweise gehört demnach der Aufbau einer soliden Wirtschaftsbasis, die dann besteuert werden kann, durchaus mit zu den Kriegsvorbereitungen, wie Zielinski mit Verweis auf Japan im Vorfeld des russisch-japanischen Kriegs von 1905 zeigt. Ganz entscheidend ist selbstverständlich – mit ihrem besonderen Blick unter anderem auf die USA – wo und wie sich ein Krieg physisch entwickelt. So kann ein Krieg die extraktive Kapazität eines Staates durch direkte Zerstörung und Invasion oder indirekt durch Blockaden reduzieren. Somit wird auch die Strategie zur Finanzierung eine andere sein, je nachdem, ob der Krieg im eigenen Land oder jenseits der Grenze gefochten wird.
Ausgaben für Militär – verschiedene Umlagemöglichkeiten. Quelle: SIPRI Fact Sheet, Trends in World Military Expenditure, 2025, April 2025. Eigene Berechnungen. *Länder, die sich 2024 im Krieg befunden haben.
Kosten von Rüstung und anderer Kriegsvorbereitung
Die Aufwendungen für Kriegsgerät, Ausbildung von Soldaten und den Unterhalt einer Armee in Friedenszeiten werden von Vertretern der Rüstungsindustrie und selbstverständlich auch vom Militär als ein wesentlicher Bestandteil der Existenzsicherung eines Staates begriffen. [6] In der Logik gilt, dass das Vorhandensein einer einsatzfähigen Armee in einem Staat die Wahrscheinlichkeit eines Angriffs durch einen anderen reduziert. Staaten trachten demzufolge danach, so viel Waffen und Soldaten zu haben, dass ein Nachbarstaat kein Interesse daran hat, sie zu überfallen – es ist eine Frage des Kräftegleichgewichts. Die „Investition“ in militärische Macht ist somit im Verhältnis zu den Investitionen der anderen zu betrachten. In der Logik bedeutete es also auch, dass wenn ein Staat mehr rüstet als die ihn umgebenden Staaten, sich diese animiert sehen, selbst mehr Geld in das Militär zu stecken. Jede Aufrüstung wird automatisch dazu führen, dass andere angesichts dieser „Bedrohung“ auch mehr rüsten.
Wenn keine Mechanismen zur Eindämmung oder zum Abbau von Bedrohungsängsten etabliert werden, sind Rüstungsspiralen unvermeidlich. Die Frage, wie viel Rüstung angemessen ist, ist keinesfalls einfach zu beantworten. Die Debatte innerhalb der NATO, die sich auf einen Prozentsatz des BIPs bezieht, hat dabei ebenso konzeptionelle Schwierigkeiten, wie eine, die sich an einem Ranking absoluter Ausgaben oder den Ausgaben pro Kopf der Staatsbevölkerung orientiert. Während im absoluten Zahlenvergleich die USA mit über 997 Mrd. $ und 37 % aller Militärausgaben weltweit die Liste von SIPRI für das Jahr 2024 klar anführen, fallen sie mit dem Anteil von BIP in Höhe von 3,4 % auf den achten Rang zurück (siehe Grafik oben). [7] Legt man an diese Ausgabe ein Pro-Kopf-Verhältnis an, so wurde mit 2.887 $ aber wiederum nur in Israel (5.000 $/Kopf) mehr Geld ausgegeben als in den USA. Deutschland, das bei SIPRI für 2024 mit seinen 88,5 Mrd. $ auf den vierten Platz kommt, belegt mit einem BIP-Anteil von 1,9 % den 25. Platz und gibt mit 1.047 $/Kopf schon mehr aus als der errechnete Durchschnitt aller erfassten europäischen Staaten (910 $). Nimmt man hier z.B. die VR China als einen Vergleich, so fällt auf, dass die absolute Zahl die VR China zwar als zweitgrößte Militärmacht der Welt ausweist, sie jedoch gemessen am BIP mit 1,7 % hinter Deutschland und im Pro-Kopf-Vergleich mit ihren 221 $ auf dem 32. Platz landet – würde die VR ähnlich viel wie Deutschland pro Kopf ausgeben, läge ihr Etat ganz grob bei 1.486 Mrd. $ – wäre das angemessen? Würde man das 2 %-Ziel der NATO auf die VR übertragen, würde eine ebenfalls massive Steigerung sichtbar werden – von den derzeit 314 Mrd. $ auf dann 370 Mrd. $. Selbstverständlich lässt sich hier noch zusätzlich einwenden, dass sich die Kaufkraftparitäten von der EU zu China zu einem Land in Südamerika deutlich unterscheiden, [8] doch sind sich auch die Experten nicht einig, wie sich dies auf die Bewertung realer Budgets auswirken wird – zumal der Einkauf von High-Tech-Waffen oft im globalen Norden erfolgt, Kosten für Personal/Soldaten lokal erfolgt etc. Der Militarisierungsindex, der vom Bonn International Centre for Conflict Studies (BICC) aufrechterhalten wird, berücksichtigt z.B. noch weitere Kriterien und errechnet damit eine Rangfolge militarisierter Staaten – dort führen 2022/2023: Ukraine (335), Israel (257) und Armenien (223).[9] Hier wird deutlich, dass sich die Höhe eines Verteidigungsbudgets in gewisser Weise einer (einfachen zahlenmäßigen) Rationalität entzieht und andere Kriterien ausschlaggebend sein müssen. Eine Debatte, die entlang der Budgets „anderer“ mit abstrakten „Verpflichtungen“ oder bloßen Annahmen, was andere an Waffen oder Geld „haben könnten“, läuft, wird kein tragfähiges oder gar legitimes Ergebnis zutage fördern. Die gesellschaftliche Akzeptanz der Aufwendungen für Rüstung und Militär schwindet, sobald andere, von Bürgern und Bürgerinnen als wichtiger empfundene staatliche Ausgaben nicht mehr umgesetzt werden können. Beides ist in der aktuellen deutschen Debatte zu beobachten.
Heilmittel Schulden?Dieser Aushandlungsprozess gesellschaftlicher Finanzprioritäten lässt sich auch mit der Aufnahme von Schulden nicht umgehen – irgendwann sind Schulden fällig und werden dann wiederum aus den laufenden Haushalten bezahlt. Einziger Unterschied: Bei der Rückzahlung wird es keine Debatte mehr geben, wofür das Geld einst ausgegeben wurde. Das heißt, der von der Bundesregierung angestrebte Freibrief für Rüstungsbeschaffungen, für den die parlamentarische Zustimmung mit dem Versprechen erkauft wurde, auch in anderen Bereichen Schulden aufzunehmen, war eine Mogelpackung.[10] Einerseits benannte er die tatsächliche Belastung und Ausgabe nicht, zum anderen wurde (und wird) so auch verschwiegen, dass militärische Beschaffungen langfristige (!) Verpflichtungen über eine oder zwei Legislaturperioden hinaus darstellen. Oder, wie es der Aufrüstung an sich zugeneigte Ökonom Clemens Fuest mit Verweis auf die Aussage von Kanzler Scholz formuliert: „… die Rüstungsausgaben könnten ohne die Belastung der Bevölkerung erhöht werden. Gemeint ist, dass man dafür mehr Schulden aufnehmen kann. Dadurch werden die Lasten aber nur verschoben, sie verschwinden nicht. Die Botschaft, die Bevölkerung könne von den wachsenden Verteidigungslasten abgeschirmt werden, ist schlicht irreführend.“ [11] Die Trennung zwischen dauerhaften – und damit dauerhaft über steuerliche oder andere Einnahmen finanzierten – Ausgaben und temporär beschränkten Ausgaben, die man auch über kurzfristige Kreditaufnahmen finanzieren kann, ist entscheidend für die Spielräume, die der Regierung und dem Parlament bleiben, Akzente zu setzen.
In der aktuellen Debatte wird die deutsche Aufrüstung nicht allein mit dem Argument einer militärischen Vorsorge begründet, sondern auch mit der Unterstützung der Ukraine im Krieg mit Russland. Hier muss die Frage erlaubt sein, ob sich mit der Finanzierung vor allem die (kurzfristige) Erneuerung der an die Ukraine abgegebenen Bestände oder die langfristige (dauerhafte) Aufrüstung verbindet. Die im Kontext der 100-Mrd.-Zeitenwende oder der Aufhebung der Schuldengrenze jenseits von 1% des BIP für Rüstung entstehenden Schulden bleiben insofern ein gesamtgesellschaftliches Problem. Es ist nicht nur eines der unmittelbaren Zinsen, die sich zu beträchtlichen Festschreibungen für zukünftige Haushalte einstellen werden, sondern auch eines der gesellschaftlichen (Um-)Verteilung von Reichtum und Besitz. Die Perspektive, die dauerhafte Aufgabe Rüstung über Kredite zu finanzieren, wird nicht nur von Ökonomen [12] kritisch gesehen, sondern muss auch im Lichte einer schwächer werdenden Wirtschaft insgesamt mehr als nur hinterfragt werden. Rüstung in der angestrebten schuldenfinanzierten Form bedeutet aller Wahrscheinlichkeit eine konkrete Umverteilung von Vermögen. Denn es sind Steuerzahlerinnen, die eine unspezifische Rüstung finanzieren (jetzt sofort und in der Rückzahlung staatlicher Schulden in einigen Jahren), von denen umgekehrt nur einige wenige in der Lage sein werden, durch den Kauf von Bundesanleihen, von den Zinsen zu profitieren. Zum anderen sind es Banken und die Besitzerinnen von Aktien von Rüstungsunternehmen, die dauerhaft von hohen Renditen und der Verzinsung der Schulden profitieren.
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Anmerkungen
[1] Kriegskosten, wikipedia. Die Umrechnung auf € erfolgte nach einer Tabelle der Bundesbank.
[2] Joseph E. Stiglitz, Linda Bilmes, The Three Trillion Dollar War, The true cost of the Iraq conflict, New York 2008.
[3] Neben der genannten Webseite sei auch auf die Aufstellung von Rosella Cappella Zielinski verwiesen, die Daten zu rund 95 Kriegen von 1823 bis 2003 zusammengetragen hat und in dem Projekt „Confronting the Costs of War“ veröffentlicht.
[4] Spiros Maraktos, Die Kosten des Vietnamkrieges, Deutsch-Amerikanischer Almanach, Nr. 9, Money, München 2001, Amerika Institut. Die Arbeit wurde beispielhaft zur Illustration herangezogen.
[5] Rosella Cappella Zielinski, How States pay for Wars, New York 2016.
[6] Zwei beliebige Beispiele: Carsten Breuer, Kriegstüchtige Streitkräfte und eine wehrhafte Gesellschaft sind zwei Seiten einer Medaille; sowie: Hans Christoph Atzpodien, Rüstung als Rückgrat unserer Abschreckungsfähigkeit – die deutsche Industrie kann liefern!, beide in: ifo Schnelldienst, 2/2025, S. 3-9.
[7] Zugrunde gelegt wurde die „Trends in World Military Expenditure, 2024, SIPRI April 2025. Diese gibt detaillierte Angaben zu den Top 40 Ausgeberstaaten – unter diesen vierzig finden sich fast alle EU-Mitglieder aber nur ein afrikanischer Staat. [8] Siehe hierzu auch den Text von Özlem Demirel in diesem Heft.
[9] Global Militarisation Index, gmi.bicc.de. Zur Erklärung siehe auch das Codebook Version 3.0 – Global Militarisation Index sowie den Beitrag im AUSDRUCK 3/2023. Die Zahl in Klammern verweist auf den erreichten Scoringwert.
[10] Dabei soll hier nicht einmal auf den Umstand eingegangen werden, dass ein abgewählter Bundestag über ein Gesetz entschied, dass im bereits gewählten neuen Bundestag keine Mehrheit mehr hätte: keine rechtliche, wohl aber eine moralische Hypothek.
[11] Clemens Fuest, Wie kann Deutschland mehr Wehrhaftigkeit mit wirtschaftlicher Stärke verbinden?, in: ifo Schnelldienst, 2/2025, S. 9-13.
[12] Zu benennen wäre nicht nur der bereits zitierte Clemens Fuest, sondern auch der Tübinger Ökonom Gernot Müller, Wie eine Aufstockung der Verteidigungsausgaben finanziert werden sollte, in: ifo Schnelldienst, 2/2025, S. 14-16.
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Wir veröffentlichen der Beitrag mit freundlicher Genehmigung der Informationsstelle Militarisierung (IMI) e.V. https://www.imi-online.de/
Ausblick der Chef-Ökonomen des globalen Kapitalismus verheißt Instabilität
Der Chief Economists Outlook ist ein regelmäßiger Bericht des Weltwirtschaftsforums, World Economic Forum WEF, der die wichtigsten Trends und Entwicklungen in der Weltwirtschaft zusammenfasst. Ziel ist es, einen Überblick über die wirtschaftliche Lage und Handlungs-Optionen für die kommenden Monate zu geben.
Der aktuelle Chief Economists Outlook vom Mai 2025 untersucht auf der Basis von Bewertungen ausgewählter führender Ökonomen wichtige Trends in der Weltwirtschaft, darunter die sich abzeichnenden Aussichten für Wachstum, Inflation sowie Geld- und Fiskalpolitik. Der Bericht unterstreicht die außergewöhnliche Unsicherheit des aktuellen wirtschaftlichen Umfelds, hebt wichtige Einflussfaktoren und Auswirkungen auf die Wirtschaftsentwicklung hervor und erörtert vor allem den sich verstärkenden Einfluss der künstlichen Intelligenz (KI) auf Wirtschaftsabläufe. Der als Reihe erscheinende Bericht stützt sich auf die individuellen und kollektiven Perspektiven und Meinungen einer elitären Gruppe, die regelmäßig von der Chief Economists Community des Weltwirtschaftsforums ermittelt werden.
Das Elitenforum – eine Kritische Einordnung des Weltwirtschaftsforums (WEF) und ihr AusblickDas Weltwirtschaftsforum (WEF), das regelmäßig im schweizerischen Davos stattfindet, kann als ein Treffen der globalen Elite, ein Forum des globalen Kapitalismus gewertet werden. Das WEF wird als einseitiges Lobbyforum wahrgenommen, bei dem vor allem die Interessen großer Unternehmen und Superreicher und ihre Einflussmöglichkeit auf die weltwirtschaftliche Entwicklung im Vordergrund stehen. Die Partner-Unternehmen des Forums, die sich ihre Teilnahme durch hohe Zahlungen sichern, erhalten privilegierten Zugang zu den Panels und können auch die aktuellen Themen des Forums maßgeblich mitgestalten. Das verstärkt die Machtkonzentration und die Ausrichtung der Empfehlungen des Forums auf die Einflussbereiche von Konzernen auf globale politische und wirtschaftliche Prozesse. So sind auch die Zusammenkünfte, Konsultationen, Gremien und zentralen Berichte, so auch der Chief Economists Outlook des WEF, stets Ausdruck der beabsichtigten Einflussnahme der Kultur-Bewahrer des globalen Kapitalismus.
Die Ergebnisse der im Zeitraum vom 3. bis 17. April 2025 erfolgten Umfrage für den Chief Economists Outlook, May 2025 zu den sich abzeichnenden Konturen des derzeitigen wirtschaftlichen Umfelds lassen sich mit den empfohlenen Prioritäten für erforderliche wirtschaftspolitische Maßnahmen wie folgt darstellen:
Einschätzung der aktuellen wirtschaftlichen LageDie globalen Wirtschaftsaussichten haben sich seit Jahresbeginn verschlechtert, da zunehmender wirtschaftlicher Nationalismus und Zollerhebungen die Unsicherheit schüren und langfristige Entscheidungen erschweren, ein einleitendes Statement des vom WEF herausgegebenen Berichts.
Die zu Wort kommenden Chef-ÖkonomInnen bewerten mehrheitlich (79 %) die aktuellen geoökonomischen Entwicklungen eher als ein klares Zeichen eines bedeutenden Strukturwandels der Weltwirtschaft denn als vorübergehende Störung.
„Politiker und Wirtschaftsführer müssen auf die erhöhte Unsicherheit und die Handelsspannungen mit mehr Koordination, strategischer Flexibilität und Investitionen in das Wachstumspotenzial transformativer Technologien wie künstlicher Intelligenz reagieren.“ Saadia Zahidi, Geschäftsführerin des Weltwirtschaftsforums.
Die empfohlenen Schritte seien unerlässlich, um die aktuellen wirtschaftlichen Herausforderungen zu meistern und langfristige Widerstandsfähigkeit und Wachstum zu sichern.
Geopolitische und wirtschaftspolitische UnsicherheitDie globale Unsicherheit wird von 82 % der Chefökonomen im Chief Economists Outlook als außergewöhnlich hoch eingeschätzt. Etwa die Hälfte prognostiziert zwar eine Verbesserung der Lage im nächsten Jahr, doch ohne eine Lösung der aufgelaufenen strukturellen Probleme zu erkennen resp. anzugeben.
Fast alle Chefökonomen (97 %) sehen die Handelspolitik als einen der Bereiche mit der höchsten Unsicherheit, gefolgt von der Geldpolitik (49 %) und der Fiskalpolitik (35 %).
Die Unsicherheit durch neu erhobene Zölle, insbesondere durch die US-Politik, wird als ein erheblicher Belastungsfaktor für die Weltwirtschaft gesehen. 87 % der befragten Chef-ÖkonomInnen erwarten, dass die US-Politik strategische Unternehmensentscheidungen verzögert und das Rezessionsrisiko erhöht.
Der markanteste Schock für die Weltwirtschaft ergibt sich als Folge einer Reihe von historischen Veränderungen in der US-Handelspolitik, die das Vertrauen in die Dauerhaftigkeit der internationalen Wirtschaftsordnung der Nachkriegszeit erschüttert haben. Am 2. April, kündigten die USA eine drastische Erhöhung der Einfuhrzölle an, darunter einen Basiszollsatz von 10 % auf die meisten Waren weltweit sowie deutlich höhere Sätze für eine Vielzahl von Ländern, die einen Handelsüberschuss gegenüber den USA aufweisen.
Dieser Schock für das globale Handelssystem löste Erschütterungen auf den Finanzmärkten aus. Es folgten die USA mit der Ankündigung einer 90-tägigen Pause für die meisten der angekündigten höheren Zölle, mit der bemerkenswerten Ausnahme der Zölle auf chinesische Importe, die auf 145% angehoben wurden. Die chinesische Reaktion war eine „Accept the Challenge“-Antwort in Form einer Aussetzung der Ausfuhren einer Reihe kritischer Mineralien. Einen Monat später, am 12. Mai, wurden diese Maßnahmen mit der Ankündigung der USA und Chinas einer 90-tägige Senkung ihrer bilateralen Zölle um 115 Prozentpunkte und eine Aufhebung der Ausfuhrbeschränkungen Chinas für Mineralien verändert.
Während die Aussetzung der meisten geplanten Zölle Erleichterung gebracht hat, sind die Aussichten nach Ende der 90-Tages-Frist ungewiss. Zwangsweise führte die Zoll-Politik der Trump-Administration zu Fragen über die anhaltende Zuverlässigkeit und Vorhersehbarkeit der Wirtschaftspolitik der USA.
Da das seit langem erwartete Risiko eines aggressiven Handelskriegs zwischen zwei Wirtschaftssupermächten die Weltwirtschaft inzwischen massiv einschränken, ja teilweise zerstören könnte, war die handelsbezogene Unsicherheit seit Beginn der Aufzeichnungen im Jahr 1960 niemals höher als in den ersten Monaten seit Jahresbeginn.
Die meisten Chef-ÖkonomInnen (87 %) gehen davon aus, dass die Unternehmen auf die Unsicherheit mit einer Verzögerung strategischer Entscheidungen reagieren werden, wodurch sich das Risiko einer Rezession erhöhen dürfte. Auch die Tragfähigkeit der Verschuldung gibt zunehmend Anlass zur Sorge und wird von 74 % der Befragten sowohl für die fortgeschrittenen Volkswirtschaften als auch für die Schwellenländer als Unsicherheit genannt.
Erhöhung der Rüstungsausgaben erwartetEine überwältigende Mehrheit (86 %) erwartet, dass die Regierungen den steigenden Verteidigungsausgaben durch eine höhere Kreditaufnahme begegnen werden, was Investitionen in öffentliche Dienstleistungen und Infrastruktur verdrängen könnte.
Die wirtschaftlichen Folgen der sich verschärfenden geopolitischen und geoökonomischen Spannungen spiegeln sich in diesen Einschätzungen wider, insbesondere im Hinblick auf die Handelspolitik, aber auch in den zu erwartenden Auswirkungen auf die Geldpolitik. Die Ungewissheit hat nach Ansicht der Ökonomen weitere makroökonomische Auswirkungen vor allem auf die Staatsausgaben. Hier sei es schon zu Verschiebungen in der globalen Sicherheitsarchitektur gekommen. Betont wird dabei der stärkste Anstieg der weltweiten Militärausgaben im Jahresvergleich seit dem Ende des Kalten Krieges.
Am deutlichsten sei dies in Europa zu erkennen, wo Deutschland kürzlich seinen finanzpolitischen Handlungsspielraum Rahmen so gestaltet hat, dass höhere Verteidigungsausgaben möglich sind. Wobei aber die 15 größten Ausgabenländer der Welt 2024 alle ihre Militärausgaben erhöht haben. Zum ersten Mal kündigten die USA einen Verteidigungshaushalt von mehr als 1 Billion Dollar an.
Von der wirtschaftlichen Unsicherheit betroffene BereicheAuf die Frage nach den wahrscheinlichsten nachteiligen Auswirkungen der erhöhten wirtschaftlichen Unsicherheit gaben 70 % der Befragten die Beeinflussung des Handels, 68 % das Wachstum des BIP und 62% die ausländischen Direktinvestitionen an.
Die Wachstumsprognosen gehen regional stark auseinander
USAAnfang 2025 waren die Erwartungen für die US-Wirtschaft optimistisch, doch das unerwartete Ausmaß der im April angekündigten politischen Änderungen hat die Aussichten getrübt. Vor der Ankündigung der Aussetzung der Zölle zwischen den USA und China gaben sieben von zehn Chefökonomen an, dass sie für den Rest des Jahres ein schwaches (69 %) oder sehr schwaches (8 %) Wachstum für den Rest des Jahres erwarten. Dies ist eine deutliche Abschwächung gegenüber der Januar-Ausgabe, in der die Ökonomen noch von einem moderaten (47 %) bzw. starken (44 %) Wachstum ausgegangen waren. Nach ersten offiziellen Schätzungen ist das reale BIP im ersten Quartal um 0,3 % gegenüber dem Vorquartal gesunken. Während diese Gesamtzahl eine starke Binnennachfrage verschleiert und einen Anstieg der Importe als Reaktion auf die erwarteten Zölle beinhaltet, deuten frühere Indikatoren auf den Beginn einer Konjunkturabschwächung hin. Ende April lag das Wachstum der US-Unternehmensaktivitäten auf einem 16-Monats-Tief, und die Erwartungen der Unternehmen für das kommende Jahr waren stark gesunken. Auch die Verbraucherstimmung war eingebrochen und die ungewöhnliche Kombination aus steigenden Anleiherenditen und einem schwächeren Dollar deutete auf eine starke Verunsicherung der Anleger hin. Zum Zeitpunkt der Erstellung des Chief Economists Outlook, May 2025 reagierte der Markt eindeutig positiv auf die Ankündigung der Aussetzung der Zölle zwischen den USA und China.
EuropaIm Hinblick auf Europa zeigen sich die befragten Ökonomen vorsichtig optimistisch hinsichtlich der Wirtschaftsentwicklung. Es zeigten sich Anzeichen einer Verbesserung der europäischen Wirtschaft auf einem recht schwachen Niveau, nach Jahren schwachen Wachstums. Die Hälfte der Chef-ÖkonomInnen rechnet weiterhin mit einem schwachen Wachstum für 2025, was sich mit den Prognosen des IWF von 0,8 % Wachstum für die Eurozone deckt; nur 11 % erwarten ein starkes Wachstum. Ein wichtiger Faktor für die Aufhellung der wirtschaftlichen Aussichten in Europa ist die Hoffnung auf eine expansive Wende in der Finanzpolitik, die nun von 77 % der Chefökonomen erwartet wird. Dies hängt mit den politischen Entwicklungen in den USA zusammen, die offenbar die europäischen Entscheidungsträger in ihrer Überzeugung bestärkt haben, Maßnahmen zur Stärkung ihrer Volkswirtschaften, ihrer Sicherheit und ihrer Gesellschaften zu unternehmen. Deutschland hat aus Sicht der Chef-ÖkonomInnen hierin in gewisser Weise eine führende Rolle übernommen. So hat die neue Koalitionsregierung eine dramatische Überarbeitung des fiskalischen Rahmens des Landes eingeführt, einschließlich einer Lockerung der verfassungsmäßigen Schuldenbeschränkungen, um einen starken Anstieg der Infrastruktur- und Verteidigungsausgaben zu ermöglichen. Die Hälfte der befragten Chefökonomen erwartet, dass diese Änderung der fiskalischen Haltung Deutschlands zu einer Beschleunigung des Wachstums auf dem gesamten Kontinent führen wird.
ChinaFür China merkt der Bericht eine eher gedämpfte Entwicklung und einen nur mäßigen Einfluss auf die Weltwirtschaft an. Die Chef-ÖkonomInnen sind allerdings geteilter Meinung, inwiefern das Land, trotz belegbarer Fakten, sein erklärtes Ziel eines BIP-Wachstums von 5 % in 2025 erreichen wird. China blieb und bleibt um den Erhebungszeitraum April 2025 herum bei seinem erklärten Ziel eines BIP-Wachstum von 5 % für das laufende Jahr. Dies war auch das geplante und realisierte Ziel für 2024. Nach Einschätzung des WEF dürfte die Zielmarke 5 % für 2025 angesichts der Turbulenzen schwieriger zu erreichen sein, da der von den USA inszenierte Handelskrieg selbstredend auch China als elementaren Bestandteil der globalen Handelslandschaft wie schon den letzten Monaten weiterhin tangiert. Von den befragten Wirtschaftsexperten erwarten 69 % ein moderates, annähernd aber 5%-Wachstum, während weitere 20% davon ausgehen, dass sich das Wachstum abschwächen wird. Abzuwarten bleibt, in welchem Maße sich die angekündigten Gespräche zwischen USA und China zu einer Deeskalation der Handelsspannungen führt.
Es verbleibe zu vermerken, so der Chief Economists Outlook, dass trotz der vorübergehenden Senkung der bilateralen Zölle um 115 Prozentpunkte die USA immer noch zusätzliche Zölle in Höhe von 30 % auf viele importierte Waren aus China erheben und China weiterhin einen Zoll von 10 % auf US-Importwaren verlangt.
Die große Mehrheit der Befragten erwartet in China eine lockerere Finanz- und Geldpolitik. Der Immobiliensektor belaste trotz der umfassenden Entschuldungsmaßnahmen auch die eingeleiteten Maßnahmen der staatlichen Bekämpfung der Verschuldung. Die Stabilisierungs-Maßnahmen für den Immobilienmarkt hat zu verhaltenen Investitionen und weiterhin bestehenden finanziellen Belastungen des Immobilien-Sektors geführt. Gleichzeitig, so die Befragten, bleibt Chinas Innovations-Ökosystem weiterhin dynamisch mit starkem Wachstum bei künstlicher Intelligenz (KI) und anderen Spitzentechnologien, die ein wirtschaftliches Gegengewicht bilden.
Der Chief Economists Outlook, May 2025 gibt sich im Hinblick die wirtschaftliche Expansion in Südasien äußerst optimistisch. Die einbezogenen Chef-ÖkonomInnen gehen insbesondere von einem starken Wachstum in Indien aus.
Weitere zentrale Erkenntnisse – die Ambivalenz von KIDie Chef-ÖkonomInnen betonen die Notwendigkeit, technologische Innovation gezielt mit einer breiteren wirtschaftlichen Strategie zu verbinden, um Resilienz – die Fähigkeit von Menschen, Gemeinschaften oder Systemen, schwierige Lebenssituationen, Krisen oder Belastungen zu bewältigen, ohne dabei dauerhafte Schäden zu erleiden – und Wachstum in einer Phase tiefgreifender Umbrüche zu sichern.
Die laufende „KI-Revolution“ – gemeint sind die hektischen Aktivitäten und Set ups in nahezu allen wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Bereichen, um die Chancen von Wirtschaftsentwicklung, Optimierung von Prozessen, Produktivitätssteigerungen etc. nicht zu versäumen – wird selbstredend von den Chef-ÖkonomInnen des WEF als ein überaus starker Wachstumstreiber, aber auch als Risiko für Arbeitsmärkte und soziale Stabilität bewertet.
So geben 47% an, dass ihrer Einschätzung nach Künstliche Intelligenz das Wirtschaftswachstum ankurbeln wird, ebenso viele rechnen mit Arbeitsplatz-Verlusten.
Die außergewöhnliche Geschwindigkeit der so bezeichneten KI-Revolution ist eine potenzielle Quelle für eine weitere wirtschaftliche Schwankung, zumindest für kurze Zeit, sowie für längerfristige strukturelle Verschiebungen in der Weltwirtschaft. Es besteht erhebliche Unsicherheit über die positiven und/oder negativen Auswirkungen der KI auf das allgemeine Wirtschaftswachstum, während ehrlicherweise die jüngsten Durchbrüche in der KI weltweit für Aufsehen sorgten. Prognosen geben einen möglichen Markt von 4,8 Billionen Dollar bis zum Jahr 2033 an.
Einschränkend ist allerdings anzumerken, dass der erwartete Anstieg von Produktivität und Wachstum schwer fassbar erscheint und bisher keine verifizierten Belege liefert. Außerdem hat sich trotz sinkender Kosten und immer neueren effizienteren KI-Systemen die breite Akzeptanz in vielen Branchen noch nicht durchgesetzt. Nur 45% der Chef-Volkswirte erwarten, dass KI in diesem Jahr kommerziell nutzbringend eingesetzt werden wird.
Es ist weithin anerkannt, dass KI bestimmte Aufgaben und Rollen in einzelnen Branchen umgestalten wird, Routinefunktionen automatisieren und eine Verlagerung der menschlichen Arbeitskraft hin zu mehr strategischen und ethischen Verantwortlichkeiten bewirken wird. Die Auswirkungen auf die Beschäftigung bleiben zunächst allerdings unsicher. Unter den führenden WEF-ÖkonomInnen erwarten 47 % in den nächsten zehn Jahren Arbeitsplatzverluste, während 19 % von zu erwartenden Nettoarbeitsplatzgewinnen ausgehen. Diese Aufteilung verdeutlicht die Komplexität der Auswirkungen von KI auf den Arbeitsmarkt.
Auf die Frage nach den wichtigsten Kanälen, über die die KI das globale BIP-Wachstum ankurbeln wird, nannten mehr als zwei Drittel (68 %) der Befragten die Automatisierung von Aufgaben. Parallel dazu wird die KI auch bestehende Arbeitskräfte verstärken und als Wachstumsmotor wirken. Davon gehen 49 % der befragten Chefvolkswirte aus. In vielen Branchen gehen Automatisierung und Erweiterung Hand in Hand, wobei Automatisierung es den Arbeitnehmern ermögliche, ihre Aufmerksamkeit auf höherwertige Aufgaben zu verlagern.
Abschließende BemerkungDas Weltwirtschaftsforum und der von ihm organisierte Chief Economists Outlook sieht für 2025 eine angespannte, von Unsicherheit geprägte Weltwirtschaft, in der regionale Unterschiede, handelspolitische Schocks und technologische Umbrüche zentrale Herausforderungen darstellen. Besonders Süd- und Südostasien, allen voran Indien, werden als Lichtblicke hervorgehoben, während die kapitalistischen Industrieländer und auch die Volkswirtschaft China mit seinen intensiven Beziehungen zum kapitalistischen Ausland strukturellen und geopolitischen Unsicherheiten gegenüberstünden.
Der zunehmende Protektionismus, insbesondere durch neue US-Zölle, bremst das Wirtschaftswachstum in den Industrieländern spürbar. Im April wirkte sich der zunehmende Protektionismus weltweit als Konjunkturbremse aus und schwächt das Wachstum. Besonders betroffen sind exportorientierte Volkswirtschaften wie Deutschland und der Euroraum, aber auch die USA-Wirtschaft leidet selbst unter der aggressiven Strategie der US-Administration, die die eigene Volkswirtschaft zu Lasten anderer Volkswirtschaften durch handelspolitische und imperialistische Expansionsbestrebungen (Stichwort Landnahme) sanieren zu wollen.
Für die Weltwirtschaft gehen unter diesen Vorzeichen die Prognosen von einem Rückgang des globalen Wirtschaftswachstums von 3,2 % auf etwa 3 % aus. Sollte der Zollkonflikt eskalieren, wobei die anmaßenden Verstöße der US-Regierung gegen die Entscheidungs-Autorität des US-Kongresses andauern, könnte das Wachstum noch deutlicher sinken.
In den USA überwiegen inzwischen die negativen Effekte deutlich: Die Inflation steigt, die Notenbank Fed kann die Zinsen weniger stark senken, und Unternehmen investieren zurückhaltender. Das BIP-Wachstum rutscht in den Stagnationsbereich und das Risiko einer rezessionsartigen Abwärtsspirale nimmt zu.
Spannend bleibt also zu beobachten, wie sich die aktuelle Zoll-Politik der US-Regierung durch ihre autoritäre Dekret-Politik und irreguläre Anwendung der Notstandsbefugnisse des Präsidenten entwickelt, die gegen die Kongress-Autorität und die eigene rechtsstattliche Gesetzgebung verstößt. Und dabei bleibt vor allem spannend, wie diese Politik weiterhin die Entwicklung der Weltwirtschaft beeinflussen kann:
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Quellenangaben
https://www.weforum.org/publications/series/chief-economists-outlook
https://www.weforum.org/publications/governance-in-the-age-of-generative-ai
https://www.weforum.org/publications/the-global-cooperationbarometer-2025
Weitere Referenzen
Handels- und Entwicklungskonferenz der Vereinten Nationen (UNCTAD). (2025a).
https://www.sciencedirect.com/science/article
https://www.imf.org/en/Publications/WEO/Issues/2025/01/17/world-economic-outlook-update-january-2025
https://www.economist.com/leaders/2025/04/10/trumps-incoherent-trade-policywill-do-lasting-damage.