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Aktualisiert: vor 2 Stunden 56 Minuten

Profite: Margen und Preise

Mo, 18/03/2024 - 13:28

Die Profit-Spannen der US-Unternehmen befinden sich auf einem Rekordhoch, obwohl sich die Preisinflation verlangsamt und die Löhne steigen.


Betrachtet man die gesamte US-Wirtschaft, so sind die Profit-Spannen des Nicht-Finanzsektors auf dem höchsten Stand des 21. Jahrhunderts (über 16 %) und nicht weit entfernt von den Rekordwerten des "goldenen Zeitalters" des kapitalistischen Wachstums Mitte der 1960er Jahre.


Und ein Blick auf die Netto-Profit-Spannen (d. h. nach Abzug aller Produktionsstückkosten) der 500 größten Unternehmen in den USA zeigt dasselbe Bild.

Es gibt erdrückende Beweise dafür, dass die Inflationsspirale nach der Einführung des COVID es vielen Unternehmen ermöglichte, die Preise für ihre Produkte erheblich anzuheben, so dass die Profit-Spannen stark anstiegen, weil die Lohnerhöhungen nicht mit den Preissteigerungen Schritt hielten.  Die Inflation hat sich in den Lebensstandard der meisten amerikanischen Haushalte eingefressen, nicht aber in die Profit-Spannen der US-amerikanischen Multis und Megafirmen.

Seit Ende 2019 sind die Preise in den USA um 17 % gestiegen, und zwar stärker als die Arbeits- und Nichtarbeitskosten. Das Ergebnis: Die Profite stiegen um 41 %. Wären die Profite  in gleichem Maße wie die Kosten gestiegen, hätte dies zu einem kumulativen Preisanstieg von nur 12,5 % und einer durchschnittlichen jährlichen Inflationsrate geführt, die um etwa 1 Prozentpunkt niedriger gewesen wäre.

Jüngste Untersuchungen haben jedoch bestätigt, dass der Anstieg der Gewinnspannen der Unternehmen "hauptsächlich von einer Untergruppe von Unternehmen mit hohen Gewinnspannen getragen wird".  Die inzwischen wohlbekannte Weber-Wasner-These zur gewinngetriebenen Inflation besagt, dass Engpässe in der Lieferkette den Wettbewerb einschränkten, da einige Unternehmen nicht in der Lage waren, die Nachfrage zu bedienen.  Dies ermöglichte es einigen Unternehmen, ihre Gewinnspannen und Preise zu erhöhen.  Eine Studie der Bank of England ergab, dass die Gewinne zwar nominal stark gestiegen sind. Aber die Kosten stiegen auch. Die Studie kam zu dem Schluss, dass sich die Gewinnspannen außer in den Bereichen Öl, Gas und Bergbau bis zum Jahr 2022 ziemlich normal verhalten. Eine andere Studie des IWF, die sich mit der Eurozone befasst, kommt zu dem Schluss, dass die begrenzten verfügbaren Daten nicht auf einen weit verbreiteten Anstieg der Gewinnspannen hindeuten".  Die profitorientierte Inflation scheint sich stark auf einige wenige Unternehmen und einige wenige "systemrelevante" Sektoren konzentriert zu haben, darunter die Rohstoffindustrie, das verarbeitende Gewerbe sowie der IT- und Finanzsektor.

Dennoch sind die Ökonomen von Goldman Sachs begeistert von der Aussicht, dass die Gewinnspannen weiter steigen werden.  Sie gehen davon aus, dass, obwohl die Durchschnittslöhne derzeit schneller steigen als die Preise, dies die Gewinnspannen nicht beeinträchtigen wird, da mit der Verlangsamung der Inflation auch die Zinssätze (letztendlich) sinken werden und somit die Kosten für den Schuldendienst sinken werden, um einen etwaigen Druck auf die Gewinne durch die Löhne auszugleichen.

Tatsächlich rechnet FactSet, ein Unternehmen, das die Gewinne der 500 größten US-Unternehmen überwacht, für das erste Quartal 2024 mit einer Nettogewinnspanne von 11,5 %, was über der Nettogewinnspanne des vorangegangenen Quartals von 11,2 % liegt und dem Fünfjahresdurchschnitt von 11,5 % entspricht, wobei sieben Sektoren im ersten Quartal 2024 Nettogewinnspannen melden dürften, die über ihrem Fünfjahresdurchschnitt liegen, angeführt vom Sektor Informationstechnologie (25,1 % gegenüber 23,3 %).

Goldman Sachs kommt zu dem Schluss, dass die US-Wirtschaft für 2024 gut aufgestellt ist, da die Gewinnspannen weiterhin stabil bleiben, mehr Investitionen generieren und die Beschäftigung erhalten werden.  Doch während der Technologiesektor mit seinen hohen Gewinnspannen und Gewinnen den Aktienmarkt stützt und den Eindruck eines weit verbreiteten Gewinnsprungs vermittelt, befindet sich der übrige Unternehmenssektor in den USA in einer Flaute.  In den meisten Sektoren sind die Gewinnspannen knapp.

Und, was am wichtigsten ist, es gibt hier eine Definitionsfrage.  Profit-Spannen sind nicht dasselbe wie Profite. Profit-Spannen sind die Differenz zwischen dem Preis pro verkaufter Einheit und den Kosten pro Einheit.  Die Rentabilität des Kapitals sollte jedoch an den Gesamtgewinnen im Verhältnis zu den Gesamtkosten für Anlagevermögen (Anlagen, Maschinen, Technologie), Rohstoffe und Löhne gemessen werden.  Nach diesem Maßstab weisen die übrigen US-Unternehmen - abgesehen von den "glorreichen Sieben" der US-Mega-Tech- und Social-Media-Unternehmen sowie der Energieunternehmen - eine geringe Rentabilität ihres Kapitals auf.  Es wird geschätzt, dass 50 % der börsennotierten US-Unternehmen unrentabel sind.

Und wenn wir die durchschnittliche Profitrate des US-Kapitals im Nicht-Finanzsektor berechnen, stellen wir fest, dass seit 2012 ein allgemeiner Rückgang zu verzeichnen ist (meine Schätzung für 2023).

Quelle: FRED, Berechnungen des Autors (auf Anfrage)

Die Profit-Margen mögen hoch sein, aber die gesamten Unternehmens-Profite des US-Nichtfinanzsektors sind im letzten Quartal 2023 gesunken, und im letzten Jahr ist das gesamte Profitwachstum fast zum Stillstand gekommen.

Und auch das Wachstum der Gesamt-Profite (nicht der Profit-Spannen) der 500 größten US-Unternehmen verlangsamt sich.  FactSet prognostiziert für das erste Quartal 2024 einen Profit-Anstieg von nur 3,3 %, gegenüber fast 6 % im Jahr 2023.

Das erklärt, warum 2024 mehr Unternehmen ihre Schulden nicht begleichen konnten als zu jedem anderen Jahresbeginn seit der globalen Finanzkrise, da der Inflationsdruck und die hohen Zinssätze laut S&P Global Ratings weiterhin auf den riskantesten Schuldnern der Welt lasten. Laut der Rating-Agentur liegt die Zahl der Unternehmensausfälle in diesem Jahr weltweit bei 29 und damit so hoch wie seit 2009 nicht mehr, als im gleichen Zeitraum 36 Ausfälle verzeichnet wurden.

 

Goldmans ist nach wie vor zuversichtlich, dass sich die Ausfallraten aufgrund der verbesserten makroökonomischen Aussichten und der Hoffnung auf sinkende Zinssätze in der zweiten Jahreshälfte stabilisieren werden.  Die Ratingagentur Moody's ist nicht so zuversichtlich.  Sie geht davon aus, dass die weltweite Ausfallquote für spekulative Anleihen bis 2024 weiter ansteigen wird und damit deutlich über dem historischen Durchschnitt liegt. 

Nicht zu vergessen sind die "Zombies", Unternehmen, die ihren Schuldendienst schon jetzt nicht mehr aus den Profiten bestreiten können und deshalb nicht investieren oder expandieren können, sondern wie die lebenden Toten weitermachen.  Sie haben sich vervielfacht und überleben bisher, indem sie mehr Kredite aufnehmen - und sind daher anfällig für hohe Kreditzinsen.

Für die Zukunft wird erwartet, dass sich der Anstieg des realen BIP in den USA nach fast allen Prognosen von 2,5 % im letzten Jahr verlangsamen wird (und dieses Maß ist immer noch zweifelhaft, wenn wir das reale BIP mit dem realen Bruttoinlandseinkommen (BDI) vergleichen).

Die Nowcast-Prognose der New Yorker Fed geht von einem annualisierten Wachstum von 1,78 % für das gerade zu Ende gehende erste Quartal 2024 aus.  Und die Nowcast-Prognose der Atlanta Fed für das BIP liegt bei 2,2 %.  Die Konsensprognosen liegen bei 2 %. Dies deutet darauf hin, dass sich das Wachstum der Unternehmenseinnahmen weiter verlangsamen könnte, was zu einem Rückgang der Profite im ersten Quartal führen würde.

Es ist inzwischen allgemein bekannt, dass in einer kapitalistischen Wirtschaft die Profite die Investitionen und dann die Beschäftigung anführen.  Wo Profite vorangehen, folgen Investitionen und Beschäftigung mit Verzögerung.

Die Rentabilität ist gegenüber dem Niveau vor der Pandemie gesunken, und auch das Wachstum der Profite insgesamt ist nicht mehr gestiegen.  Dies wirkt sich bereits auf das Investitionswachstum und die Beschäftigung aus. Steigende Margen lassen dies nicht erkennen.

               

 

 

 

 

Aktienrente: Unwirksam, unsicher und ein Risiko für die Staatsfinanzen

So, 17/03/2024 - 11:56

"Bei der Aktienrente handelt es sich um ein kreditfinanziertes Spekulationsgeschäft, für das der Bund das Ausfallrisiko trägt."  

 

Arbeitsminister Hubertus Heil (SPD) und Finanzminister Christian Lindner (FDP) präsentierten am 5. März ein Reformpaket, mit dem das Rentenniveau von 48 Prozent des aktuellen Durchschnittsgehalts für Rentner:innen, die 45 Jahre mit Durchschnittsgehalt gearbeitet und in die Rentenversicherung eingezahlt haben, auch für die Zukunft garantiert werden soll.

Kürzungen bei der Rente schloss Bundeskanzler Olaf Scholz aus. "Für mich kommen Kürzungen bei der Rente nicht in Betracht", sagte der SPD-Politiker. Scholz kritisierte Vorschläge zur Anhebung des Renteneintrittsalters auf 70 Jahre und Forderungen nach Renten-Null-Runden. Heil versprach: "Es wird keine Rentenkürzung geben und auch keine weitere Erhöhung des Renteneintrittsalters."

Noch ist das Absicherungsniveau der Rente – aktuell rund 48,2 Prozent – nur bis 2025 festgeschrieben. Bis 2037 dürfte das Rentenniveau nach offizieller Schätzung aber auf 45 Prozent sinken. Der Grund: Millionen Babyboomer:innen mit Geburtsjahren in den 1950er und 1960er Jahren werden in den Ruhestand gehen. Nun soll ein 48-Prozent-Niveau zunächst bis 2040 gesichert werden. Das Reformpaket solle noch vor der parlamentarischen Sommerpause im Juli vom Bundestag beschlossen werden. (1)

Weil das hohe zusätzliche Milliardensummen kostet, die Rentenbeiträge aber nicht zu stark steigen sollen, soll die Finanzierung auf ein zusätzliches Standbein gestellt werden. Um Beitragssprünge in Zukunft zu vermeiden, will die Bundesregierung Milliarden am Kapitalmarkt anlegen und aus den Erträgen ab Mitte der 2030er-Jahre Zuschüsse an die Rentenversicherung zahlen. Damit erhält die Rentenversicherung zusätzlich zu Beiträgen und Zuschüssen aus dem Bundeshaushalt eine dritte Finanzierungsquelle.

Finanzminister Christian Lindner sprach bei der Vorstellung des Rentenpakets davon, dass es "überfällig" sei, "die Chancen der Kapitalmärkte auch für die gesetzliche Rentenversicherung zu nutzen". Da will sich Christian Lindner sogar ausnahmsweise verschulden - nicht für große Investitionen in Deutschlands Infrastruktur oder Bildung, sondern um das Geld an den Finanzmärkten anzulegen.

Aktienrente ist ein Lieblingsprojekt der Liberalen

Das schon immer verfolgte Ziel der Liberalen ist, das kollektive Sicherungssystem zu schwächen und dafür möglichst viel private Elemente zu schaffen, wie eben eine Aktienrente und mehr private Altersvorsorge.

Ein besonderer Dorn im Auge der FDP ist das Umlageverfahren, mit dem die gesetzliche Rente (genauso wie die anderen Zweige der Sozialversicherung) finanziert wird. Denn was die Beschäftigte und Unternehmen an Beiträgen einzahlen, wird nahezu ohne Zeitverzug in Form von Renten an die mehr als 21 Millionen Rentner:innen ausgezahlt. Inklusive des Bundesanteils wurden so im Jahr 2023 rund 375 Milliarden Euro ein- und ausgezahlt oder eben "umgelegt". Grundsätzlich wird nichts im klassischen Sinne angespart und angelegt. Die Befürworter des Umlageverfahrens sehen darin große Vorteile: Es funktioniert unabhängig von der Höhe der Kapitalmarktzinsen. Niedrig- oder gar Nullzinsen, wie sie in den vergangenen Jahren den Lebensversicherungen stark zu schaffen machten, sind kein Problem. Auch Inflation, Wirtschaftskrisen, ja sogar staatliche Umbrüche verkraftet die gesetzliche Rente in der Regel gut. Und sie funktioniert naturgemäß ohne langjährige Ansparphase und mit geringen Kosten in von ungefähr vier Prozent.

Zum Vergleich: Zum Betrieb der Riester-Rente werden bis zu 25 Prozent der eingezahlten Prämien abgezweigt. Wenn diese Betriebskosten ausgeglichen werden sollten, müsste die Rendite schon ausgesprochen hoch sein. Das gilt auch für die jetzt wieder vorgeschlagenen Methode, die "Aktienrente".

Die Aktienrente ist ein Lieblingsprojekt der Liberalen, das gegen den Widerstand insbesondere der linken Sozialdemokraten Eingang in den Koalitionsvertrag fand. In ihrem Wahlprogramm forderte die FDP, dass zwei Prozentpunkte aus dem Rentenbeitragssatz in Höhe von 18,6 Prozent des Bruttolohns der Beschäftigten nicht mehr länger an die Deutsche Rentenversicherung fließen sollen, sondern an einen unabhängigen Fonds gehen, der die Gelder "chancenorientiert" in Aktien investiert. "Durch unser Modell erwerben zukünftig alle Beitragszahlerinnen und Beitragszahler (…) echtes Eigentum für ihre Altersvorsorge und erhalten höhere Altersrenten", verspricht die FDP.

Dieses Ziel hat die FDP verfehlt. Zwar wird der Bundestag wohl noch in diesem Sommer eine Reform der Alterssicherung beschließen, die den Namen "Aktienrente" oder auch "Generationenkapital" trägt, doch der Gesetzentwurf, den Finanzminister Lindner und Sozialminister Heil jetzt gemeinsam vorlegen werden, bleibt deutlich hinter den Wünschen der FDP zurück.

Aber für eine Stabilisierung der Rentenfinanzen taugt der Vorschlag der Ampel wenig. Er wird die Renten nicht erhöhen, die Beiträge wenn überhaupt nur marginal senken und dafür mit Sicherheit die Schulden erhöhen.

Die Akteinrente wird auf Pump finanziert

Anders als es die FDP ursprünglich vorhatte, werden keine Beitragsgelder verwendet und es wird auch kein persönliches Vermögen für einzelne Versicherte in Form von Aktien oder Aktienfonds gebildet. Stattdessen wird der Bund Schulden machen, die nicht auf die Schuldenbremse angerechnet werden. In diesem Jahr sind das erst einmal 12 Milliarden Euro, in den kommenden Jahren soll es jeweils etwas mehr werden. Lindner stellt sich auch vor, Beteiligungen des deutschen Staates an Unternehmen (wie etwa der Deutschen Bahn) in den Fonds zu überführen. Insgesamt sollen so 2035 mindestens 200 Milliarden Euro in Aktien und Fonds angelegt werden. Aus den Erträgen am Aktienmarkt sollen dann ab 2036 jährlich zehn Milliarden Euro an die gesetzliche Rentenversicherung fließen, um Beitragssatzanstiege zu verhindern oder zu dämpfen.

"Deutlich wird: Es dauert zunächst viele Jahre, bis eine kapitalgedeckte Anlage eine Wirkung entfalten kann, und sei sie noch so klein. In den nächsten zehn Jahren, wenn Millionen sogenannter Babyboomer in Rente gehen werden, kann und wird die Aktienrente also nichts bewirken", kritisiert der Rentenexperte Holger Balodis. (1)

Nach Lindners Konzept soll die Aktienrente vom KENFO verwaltet werden – dem öffentlichen Fonds, der bisher vor allem damit betraut war, die Entsorgung von Atommüll zu finanzieren. Nun soll sich dieser Fonds auch um die Rentenbeiträge kümmern, indem er für die Renten am Finanzmarkt spekuliert. Aktuell hat er das Ziel, zu 30 Prozent in "Private Equity, Private Debt und Infrastruktur" zu investieren.

Neben dem Fonds soll auch der gesetzlichen Rentenversicherung ermöglicht werden, ihre Reserven auf dem Kapitalmarkt anzulegen. Staatliche Geldtöpfe sollen also in größerem Umfang auf den Finanzmarkt umgeleitet werden.

Bei der Aktienrente handelt es sich um ein kreditfinanziertes Spekulationsgeschäft, für das der Bund das Ausfallrisiko trägt.

Holger Balodis.(2)

Finanzmärkte sind immer volatil und spekulativ - deshalb sahen vor allem die Grünen die Pläne zunächst skeptisch. Der Grünen-Rentenexperte Markus Kurth brachte im vergangenen Sommer das Beispiel des bereits existierenden Staatsfonds zur Finanzierung der Atommüll-Entsorgung (KENFO), der sich künftig auch um die Rente kümmern soll. Dieser Fonds habe 2022 einen Verlust von 12,2 Prozent eingefahren.

Finanzminister Lindner hat deshalb mehrfach klargestellt, dass die Rentenversicherung kein Risiko tragen solle. Falls Verluste anfallen, wolle der Staat Geld nachschießen. Es handelt sich also um ein kreditfinanziertes Spekulationsgeschäft, für das der Bund das Ausfallrisiko trägt.

Nach 2036, wenn ein Kapitalstock von 200 Milliarden erreicht ist, sollen die Erträge aus Kursgewinnen, Dividenden etc. planmäßig zugunsten einer Beitragsstabilisierung abgeschöpft werden. Das heißt der Wert des Kapitalstocks wird nicht mehr wachsen, ist aber stattdessen beständig von der Inflation bedroht. "Sollte ein Sparvolumen von 200 Milliarden Euro auf eine Geldentwertung von 10 Prozent treffen, wie wir sie in weiten Teilen der Welt in der jüngsten Vergangenheit gesehen haben, so würde sich sein Wert bereits nach wenigen Jahren halbieren", warnt Holger Balodis.

Da der Staat für den Aufbau des Kapitalstocks Kredite an den Kapitalmärkten, d.h. bei Finanzinvestoren und Großbanken, aufnimmt, muss er für diese Fremdfinanzierung Zinsen zahlen. Somit handelt es sich bei der neuen Aktienrente um eine Wette, die darauf baut, dass die Rendite aus der Anlage stets höher ist als der Zins, den der Staat für das aufgenommene Darlehen leisten muss.

Dazu kommt das Risiko, dass Aktien- und Finanzmärkte abstürzen, es also keinen Ertrag aus dem "Generationenkapital" gibt, sondern Verluste. Es gäbe nicht nur keine Zuschüsse für die Rentenkasse, auch der Wert des Kapitalstocks selbst würde sinken. Dann müsste der Staat für die Verluste geradestehen, um für das Folgejahr wieder die Voraussetzungen für die planmäßige Entnahme sicher zu stellen. "Statt wie behauptet mehr Sicherheit für die Rentenkasse, drohen mit der Aktienrente also in schlechten Börsenjahren gewaltige finanzielle Risiken für den Bundeshaushalt", stellt Holger Balodis fest.

Fachleute gehen auch davon aus, dass die Effekte des "Generationenkapitals" gering ausfallen werden. Denn auch bei den guten Renditen, von denen die Bundesregierung voller Optimismus ausgeht, würde der Beitrag um gerade einmal 0,23 bis 0,3 Beitragssatzpunkte sinken. Die Plattform "Finanztip" hat eine Beispielrechnung gemacht. Danach würde diese Senkung bei einem Bruttoarbeitslohn von 3.000 € zu einer Entlastung um gerade einmal 4,50 Euro im Monat jeweils für Beschäftigte und Unternehmen führen.

Eine echte Stabilisierung der umlagefinanzierten gesetzlichen Rente ist also durch die Einführung der Aktienrente nicht zu erwarten. Vor allem gilt: Immer müssen die Leistungen für die Rentnergeneration von der arbeitenden Generation aufgebracht werden.

Aber anstatt gute Arbeit mit guten Löhnen und damit hohen Beiträgen zur gesetzlichen Rentenversicherung zu gewährleisten, wird ein Grundpfeiler des Sozialstaats – die gesetzliche Rentenversorgung – für die Profitlogik der Finanzmärkte geöffnet.

Zudem ist zu befürchten, dass das Generationenkapital in Zukunft noch zu einer "richtigen" Aktienrente ausgeweitet wird. Denn das jetzt verabschiedete Modell ist nur eine abgeschwächte Form des FDP-Vorschlags. Der FDP schwebt nach wie vor vor, dass zukünftig unsere Rentenbeiträge direkt an den Finanzmarkt fließen sollen.

Julia Bernard schreibt in der Zeitschrift Jacobin:

"Warum stecken wir die 12 Milliarden Euro nicht einfach in Bildung und gute, klimagerechte Arbeitsplätze? Bessere Arbeit würde schließlich auch dafür sorgen, dass Arbeitgeber- und Arbeitnehmerseite mehr in die Rentenkasse einzahlen."

"Die Logik der Aktienrente ist völlig verkehrt. Denn sie impliziert, man könne mit Aktienbesitz gesellschaftlichen Wohlstand fördern. Dabei hängen die Renten in Wirklichkeit davon ab, wie produktiv wir sind, wie viel gut bezahlte Arbeit es gibt und wie viel wir auf Grundlage dessen real umverteilen können.
Die eigentliche Frage ist nämlich: Warum sind unsere Rentenkassen eigentlich so leer? Warum sorgen wir nicht auf viel direkterem Wege für eine gute Rente – nämlich durch gut bezahlte Arbeit? Warum stecken wir die 12 Milliarden Euro nicht einfach in Bildung und gute, klimagerechte Arbeitsplätze? Bessere Arbeit würde schließlich auch dafür sorgen, dass Arbeitgeber- und Arbeitnehmerseite mehr in die Rentenkasse einzahlen.
Was eine gute Rente ermöglicht, sind gute und vor allem gut bezahlte Jobs. Umwege über die Finanzmärkte zu gehen, ist reiner Klassenkampf für Finanzinvestorinnen und -investoren. Auch die Aktienrente zeigt es wieder: Der gesellschaftliche und vor allem gewerkschaftliche Einsatz für gute und nachhaltige Arbeit muss unser aller Priorität sein – auch um die Rentenfrage zu lösen." (3)

 

Quellenhinweise

Siehe hierzu die Vorschläge des Sachverständigenrates zur Rentenkürzung , in: isw-wirtschaftsinfo 64, Bilanz 2023, „ Die Planungen zum Rentenabbau gehen weiter“,, https://www.isw-muenchen.de/broschueren/wirtschaftsinfos/217-wirtschaftsinfo-64

Rosa Luxemburg Stiftung, 6.3.2024: Die neue «Aktienrente»: weitgehend nutzlos. Der Kapitalmarkt rettet die gesetzliche Rente nicht
https://www.rosalux.de/news/id/50118

Jacobin, 5.2.2024: Die Aktienrente macht Spekulation zur Staatsräson
https://jacobin.de/artikel/aktienrente-generationenkapital-spekulation

 

 

 

 

 

 

Rüstungstreiber Europa

Mi, 13/03/2024 - 07:55

Europa verdoppelt Rüstungsimporte und ist globaler Treiber bei der Militarisierung. Im Rüstungsexport dominieren die USA – auch den europäischen Markt, zum Nutzen deutscher Konzerne und zu Lasten Frankreichs.



Die Staaten Europas haben ihre Rüstungsimporte im vergangenen Fünfjahreszeitraum nahezu verdoppelt und treiben damit die Militarisierung weltweit an vorderster Stelle voran.
Dies geht aus aktuellen Statistiken des Stockholmer Forschungsinstituts SIPRI hervor.

Demnach sind in allen Großregionen weltweit von Afrika über den Mittleren Osten bis Südostasien die Waffeneinfuhren zuletzt teils deutlich zurückgegangen – nur in Europa schnellten sie um 94 Prozent in die Höhe. SIPRI misst in Fünfjahreszeiträumen, um Schwankungen auszugleichen, die in der Rüstungsbranche beim Kauf besonders teurer Waffen – Kampfjets, Kriegsschiffe – regelmäßig entstehen. Größter Rüstungsexporteur sind die Vereinigten Staaten, die ihren Anteil am Weltmarkt auf 42 Prozent ausbauen konnten; die Bundesrepublik liegt auf der Weltrangliste derzeit auf Platz fünf. Während die USA mehr als die Hälfte der europäischen Rüstungseinfuhren abdecken und nun auch europäische Konzerne – etwa Rheinmetall – in ihre Fertigungsketten einbinden, hält Frankreich in Europa einen Marktanteil von nicht einmal fünf Prozent und ist auf Ausfuhren in den Mittleren Osten und nach Asien angewiesen.

Globaler Rückgang im Waffenhandel

Der globale Waffenhandel lag im Fünfjahreszeitraum von 2019 bis 2023 schon um fast die Hälfte über dem Wert zur Jahrtausendwende; er hatte seinen Wert aus den letzten Jahren des Kalten Kriegs zu knapp drei Vierteln wieder erreicht. Gegenüber dem Fünfjahreszeitraum zuvor (2014 bis 2018) ging er allerdings leicht um rund 3,3 Prozent zurück – dies, weil die Rüstungseinfuhren in allen Großregionen mit Ausnahme von Europa schrumpften.[1] So gingen die Waffenimporte in Nord- und Südamerika um 7,2 Prozent, in Asien und der Pazifikregion um 12 Prozent, im Nahen und Mittleren Osten ebenfalls um 12 Prozent sowie in Afrika um 52 Prozent zurück. Gegenläufig dazu wuchsen die Käufe von Kriegsgerät vor allem in einzelnen Ländern, die sich eng an der Seite der USA für einen möglichen Krieg gegen China rüsten – in Südkorea (plus 6,5 Prozent) und in Japan (plus 155 Prozent). Auch die Philippinen, die sich seit Mitte 2022 den USA als Stützpunkt für den militärischen Aufmarsch gegen China zur Verfügung stellen (german-foreign-policy.com berichtete [2]), steigerten ihre Rüstungskäufe erheblich: um rund 105 Prozent. In Südostasien insgesamt hingegen ging die Einfuhr von Kriegsgerät im selben Zeitraum um 43 Prozent zurück.

Der Westen rüstet auf

Maßgeblich getrieben wird der globale Waffenhandel aktuell von den Vereinigten Staaten sowie vor allem von Europa. Europa steigerte seine Rüstungsimporte im Fünfjahreszeitraum von 2019 bis 2023 um stolze 94 Prozent gegenüber dem Fünfjahreszeitraum zuvor.
Zwar gingen von der nahezu verdoppelten Waffeneinfuhr 23 Prozent kriegsbedingt in die Ukraine.
Doch weiteten die anderen europäischen Staaten ihre Rüstungsimporte gleichfalls um rund ein Viertel aus.
Fünf der acht größten Rüstungsexporteure liegen in Westeuropa;
- Frankreich ist zum zweitgrößten Waffenverkäufer der Welt aufgestiegen,
- Deutschland steht – vor Italien, Großbritannien, Spanien – auf Rang fünf.
Während Russland zurückfiel und sich mit 11 Prozent aller Rüstungsexporte weltweit mit Platz drei begnügen musste – vor China, dessen Anteil auf 5,8 Prozent sank –, konnte Frankreich seinen Anteil um 47 Prozent auf 11 Prozent steigern.

Unangefochtene Nummer eins sind allerdings völlig unverändert die Vereinigten Staaten. Stellten sie im Fünfjahreszeitraum von 2014 bis 2018 noch 34 Prozent sämtlicher Waffenausfuhren weltweit, so konnten sie ihre Spitzenposition im jüngsten Fünfjahreszeitraum ausbauen und lagen nun schon bei 42 Prozent.

Prognosen für den Waffenexport

Die naheliegende Vermutung, die westlichen Staaten dürften auch künftig die Spitzenplätze auf der Rangliste der größten Waffenexporteure weltweit dominieren, lässt sich laut Einschätzung von SIPRI mit einem Blick auf die aktuellen Auftragsbestände der jeweiligen Rüstungskonzerne erhärten. Insbesondere ins Gewicht fallen dabei – wegen ihrer hohen Kaufpreise – Militärflugzeuge und Kriegsschiffe.
Laut SIPRI haben US-Konzerne aktuell Aufträge zur Lieferung von 1.071 Kampfflugzeugen und 390 Kampfhubschrauber in ihren Büchern – weit mehr als alle anderen Staaten zusammengenommen.
Hinzu kommen unter anderem Aufträge für die Lieferung von 561 Kampfpanzern. Französische Konzerne haben die Ausfuhr etwa von 223 Kampfjets und 20 großen Kriegsschiffen zugesagt, deutsche Unternehmen den Export von 25 großen Kriegsschiffen und 241 Kampfpanzern. China und Russland liegen mit 94 beziehungsweise 78 Kampfjets und wenigen Kriegsschiffen klar zurück. Allerdings berücksichtigt die SIPRI-Statistik eine Tendenz noch nicht, die sich zur Zeit abzeichnet, deren Umfang allerdings unklar und die womöglich auch reversibel ist: Mehrere wohlhabende Staaten auf der Arabischen Halbinsel beginnen, sich für chinesische Rüstungsgüter zu interessieren.[3] Das könnte die Gewichte langfristig verschieben.

DIe US-Rüstungsindustrie dominiert

Die dramatische Zunahme der Waffenimporte nach Europa jenseits der Ukraine geht vor allem auf die bereits 2014 beschlossene Steigerung der nationalen Rüstungshaushalte in den NATO-Staaten auf zwei Prozent des Bruttoinlandsprodukts zurück. Mehrere Staaten geben sogar deutlich mehr aus; Polen etwa investiert derzeit 3,9 Prozent seiner Wirtschaftsleistung in seine Streitkräfte. Die gesteigerten Waffenkäufe werden bloß zum Teil durch die jeweils nationale Rüstungsindustrie gedeckt. Dabei stieg in Europa der Anteil der Waffeneinfuhren aus den USA laut SIPRI von 35 Prozent (2014 bis 2018) auf 55 Prozent (2019 bis 2023). In der EU erreichte er laut Angaben der EU-Kommission zwischen dem 24. Februar 2022 und Juni 2023 sogar 63 Prozent.[4] Noch weiter gestärkt werden Einfluss wie auch Absatz der US-Rüstungsindustrie dadurch, dass Washington die partielle Verlagerung der US-Rüstungsproduktion ins Ausland vorantreibt, um zusätzliche Kapazitäten zu erlangen. So produzieren Fabriken in Australien und in Japan in Lizenz US-Munition und US-Patriot-Flugabwehrsysteme.[5] Der polnische Rüstungskonzern PGZ fertigt mit einer Lizenz von Northrop Grumman US-Panzermunition.[6] Die Kooperation gestattet es der US-Rüstungsindustrie, ihren Weltmarktanteil noch weiter auszudehnen.

Teil der Fertigungskette

Daran beteiligt sich auch die Düsseldorfer Waffenschmiede Rheinmetall. Das Unternehmen hat im Sommer 2023 begonnen, im niederrheinischen Weeze eine Fabrik zu errichten, in der Rumpfmittelteile für diejenigen US-Kampfjets vom Typ F-35 produziert werden sollen, die für den Export bestimmt sind.[7] Dazu zählen auch die 35 F-35-Jets, die Deutschland für die sogenannte nukleare Teilhabe kaufen wird.[8] Die Fertigung der Rumpfmittelteile in Weeze setzt in den Vereinigten Staaten Kapazitäten für die Herstellung anderen Kriegsgeräts frei; Rheinmetall wiederum sichert sie Zusatzprofite und den Ausbau der Konzernbeziehungen in die USA. Insgesamt stärkt sie freilich die Marktdominanz der US-Rüstungsindustrie – nicht zuletzt in Europa.

Frankreichs europäische Schwäche

Dies stößt auf Unmut in Paris. Hielten deutsche Konzerne im Fünfjahreszeitraum von 2019 bis 2023 einen Anteil von rund 6,4 Prozent am Waffenimport der europäischen Staaten, so lag derjenige Frankreichs laut den SIPRI-Statistiken bei nur 4,6 Prozent. Dass die US-Branche jetzt auch Konzerne aus EU-Mitgliedstaaten fest in ihre Fertigungsketten einbindet – darunter deutsche –, mindert die Chancen französischer Firmen zusätzlich. SIPRI zufolge gingen in den vergangenen fünf Jahren 42 Prozent aller französischen Rüstungsexporte nach Asien oder in die Pazifikregion, 34 Prozent in den Nahen und Mittleren Osten; nur 9,1 Prozent konnten in Europa abgesetzt werden. Rund die Hälfte der französischen Rüstungsexporte nach Europa bestand allein aus dem Verkauf von 17 Kampfjets des Typs Rafale an Griechenland. Die eklatante Schwäche der französischen Rüstungsindustrie auf dem europäischen Markt wirft ein Licht auf die hohe Bedeutung, die Frankreich der neuen EU-Strategie für die Förderung der europäischen Rüstungsindustrie beimisst – german-foreign-policy.com berichtete [9].

 

[1] Zahlen hier und im Folgenden: Trends in International Arms Transfers, 2023. SIPRI Fact Sheet. Solna, March 2024.

[2] S. dazu Drohnen gegen China.

[3] S. dazu Wonwoo Choi: UAE Receives First Batch Of Chinese L-15. theaviationist.com 08.11.2023.

[4] S. dazu Auf dem Weg in die Kriegswirtschaft.

[5] Damien Cave: Why More American Weapons Will Soon Be Made Outside America. nytimes.com 01.03.2024.

[6] Poland and Weapons Maker Northrop Grumman Sign Deal Worth About $75 Million. usnews.com 20.02.2024.

[7] Rheinmetall baut mit am modernsten Kampfjet. manager-magazin.de 01.08.2023.

[8] S. dazu Festtage für die Rüstungsindustrie (II).

[9] S. dazu Auf dem Weg in die Kriegswirtschaft.

 

Gewerkschaften unter Druck: Streikrecht ja – aber bitte nicht nutzen! Sonst…

So, 10/03/2024 - 07:58

Massive Vorwürfe werden derzeit gegen streikende Gewerkschafter erhoben. „Wer vom Streikrecht Gebrauch macht, der muss auch Verantwortung übernehmen und das heißt: konstruktiv verhandeln.“, fordert Bundesverkehrsminister Volker Wissing .






Und er geht einen Schritt weiter mit den Vorwürfen: Die Befürchtung sei, dass Menschen, die bereit waren umzusteigen, sich wieder dem Auto zuwenden könnten. „Das können wir nicht gebrauchen in einer Zeit, in der wir alle uns anstrengen müssen, klimaneutrale Mobilität und bezahlbare Mobilität für jede und jeden zu gewährleisten.“  https://www.br.de/nachrichten/deutschland-welt/neue-gdl-streiks-wissing-ist-empoert-aber-greift-nicht-ein,U6GKDCw

„Aber nehmt uns nicht als Geisel“, ergänzt BILD-Chefkolumnist Franz Josef Wagner Streikende https://www.verdi.de/++file++65df396440110e37da87f9b5/download/verdi_news_03_2024_web.pdf

Den Lokführer-Streik kritisiert auch der Bundeswirtschaftsminister. „Das muss möglich sein, eine Lösung zu finden und die Interessen, die man hat, jetzt nicht auf Kosten anderer Menschen so radikal auszutragen, das finde ich nicht mehr richtig“, sagte Habeck dem Sender RTL. „Und was passiert, wenn immer mehr gesellschaftliche Gruppen ihre Meinungen per Streik durchsetzen wollen und dafür weite Teile des Landes lahmlegen?“, deutet Gitta Connemann, Bundesvorsitzende der Mittelstands- und Wirtschaftsunion, die Richtung der CDU an  https://www.cdu.de/artikel/braucht-es-andere-streikregeln

„Deutschland hat im Gegensatz zu vielen anderen Ländern kein Streikgesetz, das der Regierung Einflussnahme auf Streiks sichern könnte. Muss das geändert werden?“, fragt bereits der Bayerische Rundfunk. Er sehe im Moment keine politischen Mehrheiten für eine „Eingrenzung des Streikrechts“, bedauert Michael Brenner, Verfassungsrechtler bei der Uni Jena https://www.mdr.de/mdr-thueringen/bahn-streik-122.html

Verzichtsforderungen an die Gewerkschaften aus Ministerien

Der Bundesverkehrsminister setzt noch einen drauf – er erwarte von der GDL, dass „verantwortungsbewusst verhandelt wird“. Tarifverhandlungen finden zwischen zwei Seiten statt. Hat ein Bundesminister diese Forderung auch an die Verhandlungsseite der Unternehmen gerichtet? Etwa wenn diese Tarifverträge verweigern?
Immer weniger Unternehmen schließen Tarifverträge ab. Die Tarifbindung ist seit Mitte der 1990er-Jahre kontinuierlich zurückgegangen. Fielen 1998 noch 73 Prozent unter einen Tarifvertrag, betrug der Anteil 2022 nur noch 51 Prozent.
Je größer ein Betrieb ist, desto wahrscheinlicher ist es, dass er einen Tarifvertrag anwendet. Von den Kleinstbetrieben mit weniger als zehn Beschäftigten tut dies nur knapp ein Fünftel. Die Tarifbindung ist sogar bei den Schwergewichten der deutschen Wirtschaft lückenhaft, meldet die gewerkschaftliche Hans-Böckler-Stiftung: Sieben der Dax-40-Unternehmen sind an einen Tarifvertrag gebunden. https://www.boeckler.de/de/boeckler-impuls-schlechte-vorbilder-55198.htm

Überhaupt keine Tarifverträge haben SAP, die Deutsche Börse, das Biotechnologieunternehmen Qiagen, der Wohnungskonzern Vonovia und der Onlinehändler Zalando: "Tendenzen zur Aufweichung der Tarifbindung seien aber selbst in lange etablierten, milliardenschweren Konzernen unübersehbar", betonen die Wissenschaftler Thorsten Schulten, Marlena Sophie Luth und Malte Lübker.

Das Beispiel Amazon

Dort wird seit über einem Jahrzehnt für einen Tarifvertrag protestiert und gestreikt. Generell lehnt das Unternehmen einen Tarifvertrag ab. Den Gewerkschaftern ist auch klar, warum: Beschäftigte arbeiten im Niedriglohnbereich. „Amazon zahlt in Deutschland je nach Standort einen Einstiegslohn von 11,30 Euro bis 12,70 Euro brutto. Nach 12 und 24 Monaten steige dieser automatisch. Nach zwei Jahren verdienen Amazon-Beschäftigte durchschnittlich 2.600 Euro brutto im Monat.“, meldet Gewerkschaft Verdi. Der Konzern ist in einer starken Position: Ein Teil Belegschaft ist befristet beschäftigt, den Arbeitsvertrag kann das Management auslaufen lassen, ohne Begründung. Konflikte vermeiden betroffene Arbeiter dann eher. Amazon versucht bei Streiks hierzulande, den Versand über andere Länder in Europa zu organisieren.

Davon lässt sich die Gewerkschaft nicht einschüchtern. Inzwischen sind Beschäftigte etwa aus Bad Hersfeld vernetzt mit Arbeitern in Polen oder Tschechien. Als „Amazon Workers International“ organisierten sie eine Tour an mehrere Standorte des Versandmoguls in Polen und der Bundesrepublik
https://mmm.verdi.de/geschaeftsmodelle/kollektiv-produzieren-ganz-nah-dran-93493

 Auch gibt es weltweite Aktionstage „Die Amazon-Beschäftigten haben den Black Friday zum Make Amazon Pay Day umbenannt“. An diesem Tag geht es darum, sich weltweit für bessere Löhne und Arbeitsbedingungen einzusetzen, meldet Verdi.
Amazon will die Tarifverhandlungen weiter aussitzen. Die Beschäftigten treten für ihre Rechte ein, auch ihr Streikrecht. Die Politik vermeidet Konflikte mit großen Unternehmen wie Amazon.
Forderungen von Bundesministern etwa nach einem Schlichtungsverfahren, an dem der Internet-Konzern teilnehmen soll, bleiben aus.

„Volkswirtschaftlicher Schaden“ nur bei Streiks ein Thema – nicht beim Desaster im Bahn-Normalbetrieb

Die Zuverlässigkeit der Bahn ist dafür aber ein Thema für den FDP-Politiker. Die Fahrgäste müssen Planbarkeit haben. „Aber klar ist, dass eine zuverlässige Bahn eine Voraussetzung dafür ist, dass wir auf Wachstum kommen und sich die Wirtschaft in unserem Land gut entwickelt“, formuliert Minister Wissing. Diese Aussage verwundert häufige Bahnfahrer. Denn die Unzuverlässigkeit der Bahn wird seit Jahren dokumentiert, etwa durch die Verspätungszahlen: „Deutsche Bahn verpasst ihr Pünktlichkeitsziel“, meldet tagesschau.de https://www.tagesschau.de/wirtschaft/unternehmen/deutsche-bahn-puenktlichkeit-ziele-verfehlung-100.html

Streikausfälle fallen aus den Statistiken, die Verantwortung für dieses seit Jahren dokumentierte Desaster trägt der Vorstand.

Der Journalist Arno Luik beobachtet seit Jahren die Entwicklung bei der Bahn. Er ist Autor von „Schaden in der Oberleitung: Das geplante Desaster der Deutschen Bahn“. Die Bahn solle Klima-Vorbild sein, fahre aber zu einem großen Teil noch mit Diesel „Hier sind gerade mal 61 Prozent der Strecken elektrifiziert – eine Schande für dieses Industrieland“  https://www.nachdenkseiten.de/?p=110219

Zum Vorwurf, die Streiks sorgen für volkswirtschaftlichen Schaden sagt er: „Wenn es heute mal, was im Winter passieren kann, ein wenig schneit, dann stellt die Bahn häufig den Verkehr ein, hängt ganze Bundesländer vom Verkehr ab. Neulich gab es Schnee in Bayern, in München, fast ganz Bayern fuhren zwei Tage lang keine Züge mehr – ein teurer Witz für die Volkswirtschaft.“. Wie groß die Probleme seien, zeige sich auch im Vergleich zu anderen Ländern: „Der Zustand der Deutschen Bahn ist so desolat, dass die Schweizer häufig keine ICEs, das Vorzeigeprodukt der Deutschen Bahn, mehr nach Zürich fahren lassen“. Dass die Bahn in einem Zustand sei, der „für ein Industrieland überaus peinlich ist, hat Gründe. Und Verantwortliche dafür – und die sitzen im Vorstand der Bahn, aber auch in der Bundesregierung“.

Der Bahnkenner kritisiert auch die Personalpolitik von Bahn-Personalvorstand Martin Seiler:

 „Die Bahn hat 325 000 Mitarbeiter und ist nicht in der Lage, genügend Lokführer anzustellen? Das ist ein eklatantes Versagen dieses Personalvorstands.

Wenn die Bahn ihr Personal ordentlich bezahlen würde, hätte sie genügend Mitarbeiter“.

Mehr als 100 von der Deutschen Bahn ausgebildete Lokführer arbeiten in der Schweiz, so der Journalist https://www.fr.de/wirtschaft/deutsche-bahn-wer-die-bahn-so-ruiniert-kann-sie-nicht-retten-experte-ueber-92870496.html

Luik ist von den heftigen Streikwellen nicht überrascht: „Bahnvorstandschef Richard Lutz bekommt das dreifache Gehalt des Bundeskanzlers und einen Bonus von zwei Millionen. Aber Lutz ist verantwortlich für eine Bahn, die 35 Milliarden Euro in den Miesen ist“, so der Buchautor „Und bei den Eisenbahnern schafft es dieses Gefühl von Ungerechtigkeit: »Die da oben sahen ab!« Diese Stimmung stärkt die Streikbereitschaft“.

„Müssen kritische Infrastrukturen eine Pflicht zur Schlichtung vor dem ersten Streik bekommen?“, legt die CDU-Bundestagsabgeordnete Gitta Connemann ihre Position noch in Frageform offen https://www.cdu.de/artikel/braucht-es-andere-streikregeln

Anregungen könnten sich die Streikgegner möglicherweise bei der faschistischen Regierung in Italien holen. Minister Matteo Salvini, als „Gewerkschaftsfresser“ bekannt, beschränkte dort jüngst das Streikrecht https://www.nd-aktuell.de/artikel/1180572.bahnstreik-und-gdl-angriff-auf-das-streikrecht-salvini-als-vorbild.html.

 

Aus die Maus – Verkauf von E-Autos stürzt ab.

Fr, 08/03/2024 - 18:26

Kommt jetzt das Aus vom Aus für den Verbrenner?
Der Marktanteil von Elektroautos ist in den ersten beiden Monaten des Jahres 2024 in Deutschland regelrecht eingebrochen.
Riskanter Handelskrieg mit China?

 

Der Anteil der verkauften Elektro-Autos fällt auf den niedrigsten Stand seit drei Jahren: Nur noch 11,6 Prozent der Neuwagen waren Stromer, wie aus der Statistik des Kraftfahrtbundesamtes hervorgeht. Im Jahr 2023 hatte der Anteil noch bei fast 20 Prozent gelegen. Der Grund für den Absturz ist mehrdeutig: das abrupte Ende der Subventionen Mitte Dezember trägt einen großen Teil, die verfehlte Modellpolitik sowie die Inflation tragen weitere Teile des Absturzes.
Die Autohersteller kommen unter den gültigen Regeln (Gesetzen) nicht umhin, Elektroautos zu produzieren, weil sie strengere Flottengrenzwerte bei den CO2 - Emissonen einhalten müssen, zur Zeit 95 Gramm pro Kilometer.

Wären die Verbrennermotoren dahingehend weiterentwickelt worden und wären die Autos nicht immer größer und schwerer geworden, wäre ein Verbrauch von drei bis vier 4 Litern Benzin oder Diesel pro 100 Kilometer durchaus möglich und die Debatte heute wäre eine völlig andere.

Die EU (Kommission, Rat und Parlament) hat gerade vor einem Jahr das Aus für Verbrenner bei Neuwagen ab 2035 beschlossen. Manager der Autoindustrie und konservative Politiker wollen die Entscheidung rückgängig machen, die Kommissions-Präsidentin von der Leyen findet eine Prüfung des Vorhabens wichtig: „Technologie-Offenheit und Wahlmöglichkeiten für Verbraucher sollen weiterhin sichergestellt werden. Schließlich muss auch die Industrie wählen können, in welche Mobilität der Zukunft sie investiert.“
Der ursprüngliche Beschluss war schon löchrig: Anders als bei dem Wochen zuvor im EU-Parlament verabschiedeten Plan der Kommission wird es eine Ausnahme für angeblich klimaneutrale, synthetisch hergestellte Kraftstoffe, sogenannte E-Fuels, geben – in Kenntnis dessen, dass die Energiebilanz dieser Kraftstoffe maximal ungünstig ist und diese dementsprechend teuer sind.
 Darauf hatte die deutsche Bundesregierung mit dem dummen Spruch von der „Technologieoffenheit“ und in Absprache mit den Bossen der Autoindustrie gedrängt. Auf die E-Fuel-Regelung hatte die Bundesregierung um Verkehrsminister Wissing gedrängt. Synthetische Kraftstoffe zu verbieten, widerspräche der Technologie-Offenheit. Autofahren würde mit teuren E-Fuels auch von der Treibstoffseite her wieder zum puren Luxus werden.

Die Zeitschrift auto-motor-sport berichtet über das noch nicht veröffentlichte Wahlprogramm der CDU zur Europawahl: „Wir lehnen eine Verbotspolitik – wie das Verbot von Verbrennungsmotoren – ab und werden sie auch so schnell wie möglich revidieren.“ Allen voran Jens Gieseke, CDU-Politiker aus dem niedersächsischen Papenburg, kämpft als Abgeordneter im EU-Parlament in AfD-Manier gegen eine „Verbotsideologie“. Vielmehr solle die EU der EVP zufolge bei ihrer Verkehrsgesetzgebung einen technologieoffenen Ansatz verfolgen. Polen hatte in der EU gegen das Gesetz gestimmt und eine Klage vor dem europäischen Gerichtshof angekündigt.
Der Anteil des Autoverkehrs an Treibhausgasemission und Klimawandel wird ignoriert oder gar geleugnet.
Auch der Focus berichtet über das mögliche Verbrenner aus bzw. zitiert die österreichische Kronenzeitung und fügt folgende interessante Aspekt hinzu:„Nach einer sehr bemerkenswerten Abstimmung in Brüssel am Montagabend steht das Aus für Verbrenner-Motoren vor dem tatsächlichen Aus“.
Der Grund: Statt wie bisher dem Elektroauto automatisch eine CO2-Bilanz von null Gramm zuzuweisen, was von Wissenschaftlern stets kritisiert wurde und die tatsächliche Emissionsbilanz der E-Mobilität komplett ausblendet, soll es nun eine echte Bilanzbetrachtung geben. Damit wäre die E-Mobilität nicht mehr automatisch die beste Antriebsart. In einem Referenzdatenblatt, das der „Krone“ vorliegt, wird festgelegt, wie der CO2-Gehalt der zum Aufladen nötigen Elektrizität angerechnet wird, „inklusive der Verluste bei der Übertragung und Umwandlung“. Die Treibhausgas-Emissionen wären dann also für das E-Auto auch offiziell nicht mehr null, sondern vom Strommix abhängig.

Laut „Krone“ will sich die EU damit auch davor schützen, dass die selbst gewählte „Electric Only“-Strategie eine Welle von chinesischen Elektrofahrzeugen lostritt, die die europäische Autoindustrie quasi plattmachen könnten. Dazu passt die Ankündigung der EU, Zölle auf Autos aus China zu erheben – quasi den Freihandel aufzukündigen und eine Art Wirtschaftskrieg gegen China zu beginnen. In electrive, dem selbsternannten Leitmedium von Elektromobilität, heißt es dazu: „Wie im Amtsblatt der EU zu lesen ist, trifft die Europäische Union zurzeit Vorbereitungen für den Fall, dass festgestellt wird, dass chinesische E-Autos vom eigenen Staat „unfaire Subventionen“ erhalten.
Konkret beginnt die Kommission am 7. März mit der sogenannten zollamtlichen Erfassung chinesischer E-Auto-Importe.“
Offenbar blendet die EU-Kommission dabei aus, dass es z.B. in Deutschland seit Jahren massive direkte Subventionen für Autos gab und gibt. „Die Kommission konstatiert, dass EU-Hersteller einen schwer wieder gut zu machenden Schaden erleiden könnten, wenn die Importe aus China bis zum Abschluss der Untersuchung weiter so stark ansteigen. Aus diesem Grund werden also rückwirkend wirksame Zölle vorbereitet.“

Der Siegeszug des E-Autos fällt vorerst aus, der Hype isch over!

Was geht`s uns an? Die beabsichtigte Beerdigung des Verbrenner-Verbotes und der angekündigte Wirtschaftskrieg mit China führt unmittelbar zu Reaktionen bei den drei großen Autoherstellern in Deutschland, bei VW, Mercedes und BMW. „Der schon proklamierte Sieg des E-Motors über den Verbrenner war nur deswegen ausgemachte Sache, weil man es in Besprechungsrunden in Brüssel und Berlin so beschlossen hatte“, schreibt eine Mercedes Fan-Seite. Mercedes-Benz fürchtet mit E-Autos langsamer zu wachsen und will länger Autos mit Verbrennungsmotoren bauen. Mercedes-Boss Källenius: „Den Zeitpunkt für den letzten Verbrenner kennen wir nicht.“ „Wir reden über eine gigantische Transformation industrieller Strukturen. Man kann nicht von heute auf morgen mit dem Verbrennungsmotor aufhören. Werfen Sie doch mal einen Blick auf die Zulassungszahlen in Deutschland oder Europa“, erklärt ein Manager von BMW. Bei Volkswagen wurde gleich die ganze Zukunftsplanung über den Haufen geworfen, maximale Unsicherheit breitet sich aus in den Werken Zwickau, Emden und Wolfsburg, in denen teils ausschließlich E-Autos produziert werden. Klare Aussagen dazu, wie es beispielsweise für das Stammwerk mittelfristig weitergeht, gibt es nicht. Die Versprechungen aus dem Zukunftspakt für die Standorte sind wieder einkassiert worden.
Der NDR berichtet, dass in Emden länger als geplant Verbrenner-Autos gebaut werden: „Das Unternehmen hat massiv mit dem schwächelnden Absatz der Elektromodelle zu kämpfen. Daher soll die Produktion der Verbrenner länger laufen.“ Und die Wolfsburger Allgemeine berichtet von der Betriebsversammlung am 6. März: Seit einem Jahr verhandeln der Betriebsrat und das Management über die Details des Performanceprogramms, mit dem bis 2026 zehn Milliarden Euro eingespart werden sollen. Entscheidungen, die die Belegschaft direkt betreffen, werden nur nach und nach bekannt. Das ehrgeizige Projekt Trinity wurde vollständig gestrichen, die vorgesehene neue Fabrik dafür oder der Campus Sandkamp der FE werden nicht gebaut. Auch die Produktion des ID.3 auf einer extra umgebauten Montagelinie im Wolfsburger Werk wird gestoppt. Der Absatz des ID.3 erfüllte die Hoffnungen nie. Mit dem Wegfall der staatlichen Subvention muss VW nun selbst den Absatz seiner E-Autos subventionieren. Bezahlt haben das die Arbeiterinnen und Arbeiter bereits mit viel Kurzarbeit, mit dem Wegfall von Nachtschichten und reduzierten Stückzahlen. Zudem ist beschlossen, dass im Personalbereich 20 Prozent Kosten eingespart werden müssen. Zur Rede der Betriebsratsvorsitzenden Daniela Cavallo schreibt das Blatt wenig schmeichelhaft: „Cavallo hat stärker als ihr Vorgänger Bernd Osterloh die Grenzen des Co-Managements im partnerschaftlichen Sinne ausgelotet,“ und zitiert sie:
„Warum ist die Stimmung denn so schlecht in unserer Belegschaft? Na, weil wir uns jetzt seit über einem Jahr über Kosten unterhalten – ohne klare zukünftige Zielbilder zu haben. Wo wollen wir hin? Wo setzen wir technologisch ein Ausrufezeichen? Menschen folgen keinen Budgets. Menschen wollen sich hinter einer gemeinsamen Idee versammeln“, rief sie den Beschäftigten zu und fordert vom Unternehmen solche Zielbilder ein.
 Einziger Fixpunkt bleibt der Ausschluss betriebsbedingter Kündigungen bis 2029 – allerdings gekoppelt an den wirtschaftlichen Erfolg. Noch setzten die VW-Arbeiter*innen ihre Hoffnung auf einen elektrischen SUV, der ab 2027 gebaut werden soll.

Wenn das Management der Autokonzerne, die Bundesregierung und die EU-Kommission ihren Schlingerkurs weiterfahren, wenn sie weiterhin die Verkehrswende blockieren und einen Wirtschaftskrieg gegen China vom Zaun brechen, werden BMW und Mercedes ihre Luxusautos vielleicht noch verkaufen können. Für einen Massenhersteller wie Volkswagen wird es dann aber sehr eng. Denn es ist keineswegs ein Naturgesetz, dass in Wolfsburg immerwährend Autos gebaut werden.
Klug wäre es, jetzt über eine Konversion der Produktion nachzudenken. Und wenn das Autok-Kapital das nicht will, dann muss es eben öffentlich und gesellschaftlich organisiert werden.

 

Die Wirtschaft Chinas im Jahr 2023 – ein schwieriges Umfeld mit einem positiven Ausblick

Do, 07/03/2024 - 09:42

Die chinesische Wirtschaft, die zweitgrößte Volkswirtschaft der Welt, hat das Jahr 2023 mit einem BIP-Wachstum von 5,2 Prozent im Vergleich zum Vorjahr positiv abgeschlossen und das geplante Ziel übertroffen.



Viele Analysten, einschließlich dem IWF, haben ein nationales Wachstumsziel von "rund 5 %" vorausgesagt. Sie waren davon ausgegangen, Chinas Wirtschaft würde sich gemäß ihrer Prognosen für das Jahr 2023 stark erholen, nachdem die Staats-Regierung ihre Nullzinspolitik Ende 2022 zur Wirtschaftsbelebung beendet hatte.
Die Aussagen der Ökonomen bezogen sich weitgehend auf die adaptierten lokalen Ziele, die von den 31 Provinzregionen des chinesischen Festlandes auf ihren Planungs-Meetings im Januar bekannt gegeben wurden.[1]

 

Chinas Wachstum erholt sich

Quelle: National Bureau of Statistics, https://german.cri.cn/2024/01/17/ARTIL1OGcStXNkJUiuJBZCoJ240117.shtml

Die Wirtschaft wuchs im ersten Quartal 2023 um 4,5 % und übertraf dabei die Erwartungen.  im zweiten Quartal setzte sich die wirtschaftliche Erholung mit 6,3 % im Vergleich zum Vorjahr fort. [2]  In diesem Zeitraum war ein Wiederanstieg des Wachstums im Jahresvergleich zu verzeichnen, auch wenn sich die wirtschaftliche Erholung auf Quartalsbasis eher wieder verlangsamte. Nachdem die anfängliche Dynamik des Aufschwungs nur schwer beizubehalten war, verstärkten die politischen Entscheidungsträger ihre Bemühungen zur Unterstützung des Wachstums in der zweiten Jahreshälfte.  Sie erließen eine Reihe von Maßnahmen, darunter Hilfen und Erleichterungen für die Privatwirtschaft sowie eine Lockerung der Beschränkungen für den Erwerb von privatem Wohneigentum und die Finanzierung von Bauträgern, um den sich verschärfenden Einbruch des Immobiliensektors aufzuhalten.[3]

Im Dezember konnte die chinesische Wirtschaft dank der wirksamen Umsetzung der wirtschaftspolitischen Maßnahmen ihre stabilisierende Erholungsdynamik beibehalten. Die relevanten Indikatoren für Wirtschaftsentwicklung zeigten - mit Ausnahme des bis zuletzt stagnierenden Immobiliensektors - in Richtung der zu Jahresbeginn eingeschlagenen wirtschaftlichen Dynamik.
Auf das gesamte Jahr bezogen war der  Aufschwung in der post-Covid-Phase, zwei Jahre nach den sich weltweit ergebenden strukturellen Einschnitten von unterschiedlichen „Revitalisierungen“ und Auf- und-Ab-Bewegungen in einzelnen Wirtschaftsbereichen gekennzeichnet.
Es ist an dieser Stelle angebracht, darauf hinzuweisen, dass bei der Betrachtung der Wirtschaftsentwicklung  eines Landes der weltweite  wirtschaftliche Abschwung eine wesentliche Rolle spielt. Dies ist der Tatsache geschuldet, dass trotz vieler aufgelegten Wirtschaftssanktionen durch westliche Länder die wechselseitigen Beziehungen verschiedener Weltregionen, einschließlich China, in unterschiedlichen Formen miteinander verknüpft sind und  sich gegenseitig bedingen und beeinflussen.
So hat nach Angaben des Internationalen Währungsfonds (IWF) China in den letzten 15 Jahren die Weltwirtschaft gestützt und 35 % des weltweiten nominalen BIP-Wachstums erwirtschaftet, während die USA auf 27 % kamen.
Eine verfügbare Grafik aus dem Jahr 2022 zeigt, dass der Anteil Chinas am kaufkraftbereinigten  globalen Bruttoinlandsprodukt im Vergleich der größten 20 Länder anführt.

 

Die 20 Länder mit dem größten Anteil am kaufkraftbereinigten globalen Bruttoinlandsprodukt (BIP), 2022

Quelle: https://de.statista.com/statistik/daten/studie/166229/umfrage/ranking-der-20-laender-mit-dem-groessten-anteil-am-weltweiten-bruttoinlandsprodukt/

 

Abschwung Europa, Abschwung USA, Abschwung Deutschland

Laut den vorliegenden (noch nicht gänzlich) bestätigten Ergebnissen zum realen BIP für das vierte Quartal 2023 wuchs die US-Wirtschaft 2023 um 2,5 % gegenüber 2022.  Dies wurde von den westlichen Mainstream-Ökonomen mit Begeisterung aufgenommen - die USA seien auf dem Vormarsch und die "Rezessionsprognostiker" hätten sich gründlich getäuscht.  Zum gleichen Zeitpunkt berichteten die westlichen Medien, dass die chinesische Wirtschaft im Jahr 2023 um 5,2 % wachsen wird.  Im Gegensatz zu den USA bewerteten die Mainstream-Ökonomen dies als totalen Fehlschlag einer planwirtschaftlich ausgelegten Wirtschaft und China stecke in großen Schwierigkeiten.
Nun denn, China wächst doppelt so schnell wie die USA, als die mit Abstand leistungsstärkste „boomende“ G7-Wirtschaft, aber China ist der "Versager".  Diese Kritik zielt nach dem engischen Okonomen Michael Roberts darauf ab, von der Realität abzulenken, dass die westlichen kapitalistischen Volkswirtschaften (mit gewisser Einschränkung der USA) in Stagnation und Beinahe-Pleite dümpeln. Dies sei ein Beispiel für die westliche Sichtweise auf China: "Das chinesische Wirtschaftsmodell hat endgültig den Geist aufgegeben und eine schmerzhafte Umstrukturierung ist erforderlich."
Ein Vergleich der Wachstumsrate der USA im Zeitraum 2020-23 und der durchschnittlichen Wachstumsrate zwischen 2010-19, zeigt, dass die US-Wirtschaft unterdurchschnittlich abschneidet.  In den 2010er Jahren lag die durchschnittliche jährliche Wachstumsrate des realen BIP in den USA bei 2,25 %; in den 2020er Jahren liegt sie bisher bei durchschnittlich 1,9 % pro Jahr.

„Vergleicht man Chinas Wachstumsrate von 5,2 % mit dem Rest der großen Volkswirtschaften, so ist der Abstand noch größer als zu den USA.  Japan wuchs im Jahr 2023 um 1,5 %, Frankreich um 0,6 %, Kanada um 0,4 %, das Vereinigte Königreich um 0,3 %, Italien um 0,1 % und Deutschland um -0,3 %.[4]  Selbst im Vergleich zu den meisten der großen so genannten Schwellenländer war die Wachstumsrate Chinas viel höher.  Brasiliens Wachstumsrate liegt derzeit bei 2% im Jahresvergleich, Mexiko bei 3,3%, Indonesien bei 4,9%, Taiwan bei 2,3% und Korea bei 1,4%.  Nur Indien mit 7,6 % und die Kriegswirtschaft Russlands mit 5,5 % sind höher (von den großen Volkswirtschaften).
Der IWF geht sogar davon aus, dass China in diesem Jahr um 4,6 % wachsen wird, während die kapitalistischen G7-Länder etwa 1,5 % erreichen und dabei einige in eine regelrechte Rezession geraten.  Und wenn die IWF-Prognosen bis 2027 zutreffen, wird sich die Wachstumslücke noch vergrößern.“[5]

 

Chinas Wirtschaftsentwicklung

Das Einkommen der privaten Haushalte

Im Jahr 2023 betrug das verfügbare Pro-Kopf-Einkommen landesweit 39.218 Yuan/5.447 $, was einem nominalen Anstieg von 6,3 Prozent gegenüber dem Vorjahr und einem realen Anstieg von 6,1 Prozent entspricht. In Bezug auf städtische und ländliche Gebiete belief sich das verfügbare Pro-Kopf-Einkommen der Stadtbewohner auf 51.821 Yuan/7198 $, was einem Anstieg von 5,1 Prozent entspricht; das verfügbare Pro-Kopf-Einkommen der Landbewohner belief sich auf 21.691 Yuan/ 3013 $, ein Anstieg von 7,7 Prozent.

Mit einem Anstieg von 7,1 Prozent betrug das Pro-Kopf-Einkommen aus Löhnen und Gehältern der Einwohner im Jahr 2023 landesweit 22.053 Yuan/3063 $, was einem Anstieg von 7,1 Prozent entspricht und 56,2 Prozent des verfügbaren Pro-Kopf-Einkommens ausmacht;
das Pro-Kopf-Nettounternehmenseinkommen betrug 6.542 Yuan/908 $, was einem Anstieg von 6,0 Prozent entspricht und 16,7 Prozent des verfügbaren Pro-Kopf-Einkommens ausmacht. Das Pro-Kopf-Nettoeinkommen aus Immobilien betrug 3.362 Yuan/ 467 $, was einem Anstieg von 4,2 Prozent entspricht und 8,6 Prozent des verfügbaren Einkommens ausmacht; das Pro-Kopf-Nettoeinkommen aus Transferleistungen betrug 7.261 Yuan/ 1008 $, was einem Anstieg von 5,4 Prozent entspricht und 18,5 Prozent des verfügbaren Pro-Kopf-Einkommens ausmacht.

Quelle: National Bureau of Statistics in China, 2023

 

Verbrauchsausgaben der Haushalte

Die Binnennachfrage in China ist seit dem vierten Quartal in 2023 nach der Einführung umfassender antizyklischer Maßnahmen und fiskalisccher Unterstützung leicht angestiegen.  
Die Einzelhandelsumsätze mit Konsumgütern stiegen im Jahresvergleich um 7,2 Prozent, der Konsum der privaten Haushalte hat sich leicht erhöht, wobei im weiteren wirtschaftlichen Verlauf in diesem Jahr eine Festigung erforderlich ist.  

Die landesweiten Pro-Kopf-Konsumausgaben betrugen in 2023 mit einem nominalen Anstieg von 9,2 Prozent 26.796 Yuan/ 3722 $ In Bezug auf städtische und ländliche Gebiete beliefen sich die Pro-Kopf-Verbrauchsausgaben der Stadtbewohner auf 32 994 Yuan/ 4583 $, ein Anstieg von 8,6 Prozent; die Pro-Kopf-Verbrauchsausgaben der Landbewohner beliefen sich auf 18 175 Yuan/ 2524 $, ein Anstieg von 9,3 Prozent.

In der folgenden Tabelle sind die Verbrauchsausgaben pro Kopf im Jahr 2023 nach Warengruppen, ihre prozentuale Veränderung zum Vorjahr und der jeweilige Anteil an den gesamten Verbrauchsausgaben dargestellt. Die Angaben sind dem Bureau of Statistics in China, NBS, 2023 entnommen.

Investitionen

Von Januar bis Dezember 2023 stiegen die Anlageinvestitionen im Jahresvergleich um 3,0 %, Die Anlageinvestitionen gliedern sich in drei Hauptkategorien: Produktion, Immobilien und Infrastruktur. Im Jahr 2022 lag der Wert bei 5,1%. Im Produktionssektor ergibt sich für 2023 ein Anstieg der Investitionen von 6,3%; im Vorjahr lag der Wert bei 9,1 %.[6] Die Immobilieninvestitionen waren in  2023 um 9,1 %  rückläufig. Trotz der Anzeichen einer Verbesserung wird für dieses Jahr die Anspannung in diesem Sektor bestehen bleiben.

Industrieproduktion

Das Wachstum der Industrieproduktion hat sich gegen Ende des Jahres  im Vergleich zum Vorjahr erholt. Im Covid-Jahr 2022 war die Industrieproduktion regelrecht eingebrochen. Im Jahr 2023 ist sie um 4,2 Prozent gegenüber dem Vorjahr wieder schneller angewachsen als im Vorjahr.
 Mit rund 39,9 Billionen Yen ist die Industrieproduktion um etwa 400 Milliarden Yen

gewachsen. Der angestoßene Modernisierungsprozess, angegeben als ein Prozess der intelligenten und grünen Transformation, scheint zu wirken.[7]

 

Entwicklung der Industrieproduktion in China
von 2013 bis 2023

Quelle: https://de.statista.com/statistik/daten/studie/205215/umfrage/entwicklung-der-industrieproduktion-in-china/

Die Produktion des Dienstleistungssektors war durch die Covid-19- Beschränkungen besonders getroffen. Der Lockdown und auch die Reiseeinschränkungen gelten als die Hauptursachen für die Einschnitte bei den Dienstleistungen.  Die Erholung des Sektors im Jahr 2023 ist ein Hinweis auf die allgemeine Erholung der chinesischen Wirtschaft. In den ersten drei Quartalen des Jahres 2023 wuchs die Wertschöpfung der Dienstleistungsbranche im Jahresvergleich um 6 Prozent und beschleunigte sich damit von einem Wachstum von 2,3 Prozent im Vorjahresvergleich. Branchen, die unter den COVID-Beschränkungen litten, entwickelten sich in den ersten drei Quartalen besonders gut: Gastronomie und Gastgewerbe legten im Jahresvergleich um 14,4 Prozent zu, während Transport, Lagerhaltung und Postdienste im Jahresvergleich um 7,5 Prozent zulegten.[8]

 

Chinas Beschäftigung auf dem Prüfstand

 Die städtische Arbeitslosenquote in China lag im Jahr 2023 bei durchschnittlich 5,2 Prozent und damit um 0,4 Prozentpunkte niedriger als im Vorjahr, wie offizielle Daten des Nationalen Statistikamtes NBS zeigen. Das NBS hat auch Daten zur Jugendarbeitslosigkeit bekannt gegeben.
Die erfasste Arbeitslosenquote der Bevölkerung im Alter von 16 bis 24 Jahren (ohne Studenten) lag im Dezember bei 14,9 Prozent. Angesichts der  unzureichenden Jobangebote in Relation zu den riesigen Massen an Hochschulabgängern, die  ein Arbeitsverhältnis anstreben, wird in bestimmten Branchen  der Druck  auch in 2024 noch anhalten, laut  Kang Yi, dem Vorsitzenden des  National Buerau of Statistics China auf einer Pressekonferenz am 17. Januar d. J.   Kang fügte hinzu, dass die Beschäftigungslage im Jahr 2024 dank des wirtschaftlichen Aufschwungs, der beschleunigten industriellen Modernisierung und anderer positiver Faktoren wie einer unterstützenden Politik sich stabilisieren wird. Die Beschäftigung werde in  nächsten Zeit weiter  zunehmen, wobei die aufstrebende digitale Wirtschaft und der Technologiesektor ein primäres Bedürfnis für junge Jobsuchende ist und mehr Möglichkeiten bietet. Ein breites Spektrum an Beschäftigungsmöglichkeiten mit unterschiedlichen Einstiegsstufen ist im Entstehen, angefangen von einfachen Anwendungsbereichen der digitalen Technologie bis hin zu einfacheren Tätigkeiten in expandierenden Sektoren wie der künstlichen Intelligenz (KI).   Die digitale Transformation hat nicht nur die Produktions- und Entwicklungsmuster der Unternehmen des verarbeitenden Gewerbes vorangebracht, sondern auch ein wachsendes Potenzial und Raum für junge Bewerber geschaffen, insbesondere in aufstrebenden Sektoren wie der industriellen Automatisierung und den neuen Energien. Die Nachfrage nach Jobs in den eher traditionellen Berufssparten bleibt daher zu einem Teil ungenutzt.

China-Handel

Chinas Exporte waren im Jahr 2023 im Vergleich zum Vorjahr rückläufig. Nicht bestätigte Zahlen gehen von einem Rückgang von 4,6 Prozent aus.  Die rückläufige Auslandsnachfrage mag als Verweis darauf dienen, dass die Auslandsnachfrage das Wachstum weiterhin bremst.
Der folgenden Übersicht sind die Veränderungen der Importe und Exporte Chinas von Januar bis einschließlich November 2023 zu entnehmen. Die Exporte verzeichneten im Allgemeinen einen stärkeren Rückgang als die Importe, wobei die Exporte in die ASEAN, die EU und die USA im Jahresvergleich um 5,5 Prozent, 11 Prozent bzw. 13,8 Prozent zurückgingen. Demgegenüber belief sich Der Handel mit Russland belief sich auf insgesamt 218,2 Milliarden US-Dollar, was einem beachtlichen Anstieg von 26,7 Prozent gegenüber dem Vorjahr entspricht, da westliche Sanktionen das Land näher an China trieben. Darüber hinaus stiegen die Importe aus Australien im Jahresvergleich um 8,3 Prozent dank Durchbrüchen in langjährigen Handelsstreitigkeiten über die Einfuhr australischer Waren.


Ausländische Unternehmen – aufgeschlossen gegenüber dem chinesischenMarkt

Aus einem Bericht der Amerikanischen Handelskammer, AmCham South China, geht hervor, das bei einer Untersuchung mehrheitlich 183 Unternehmen das Wachstum in China für 2024 optimistisch einschätzen. 76 Prozent der befragten Unternehmen planen, im Jahr 2024 erneut in China zu investieren. Von den Unternehmen, die im Jahr 2024 Reinvestitionen in China planen, geben 45 Prozent an, dass sich ihre Investitionen in erster Linie auf Vertrieb, Marketing und Geschäftsentwicklung konzentrieren werden. Andere wichtige Bereiche sind laut dem Bericht Forschung und Entwicklung, Automatisierung und Produktivitätsentwicklung.[9]
Die einbezogenen Unternehmen stammen aus den Vereinigten Staaten, der Europäischen Union und anderen Ländern und Regionen, wobei mehr als die Hälfte aller vollständig in ausländischem Besitz sind. US-amerikanische Unternehmen machen knapp die Hälfte der untersuchten Unternehmen aus.
86 Prozent aller Unternehmen geben an, dass sie sich aufgrund der Handelsspannungen zwischen China und den Vereinigten Staaten nicht vom chinesischen Markt abkoppeln werden. Im Jahr 2023 wollten 62 Prozent der untersuchten Unternehmen ihre Investitionen nicht aus China abziehen. 66 Prozent der US-amerikanischen Unternehmen geben an, dass sie sich weiterhin auf dem chinesischen Markt engagieren werden.
Der wichtigste Treiber für die Erhöhung der Investitionen in China oder die Verlagerung von Investitionen von anderen Märkten nach China ist nach Ausasge von Harley Seyedin, Präsident von AmCham South China, das potenzielle Wachstum des chinesischen Marktes, gefolgt vom industriellen Clustereffekt und der Präferenzpolitik. Mehr als die Hälfte der befragten Unternehmen ist der Ansicht, dass ihre Gesamtkapitalrendite in China besser ist als ihre Gesamtkapitalrendite für weltweite Investitionen.
88 Prozent der Unternehmen haben bereits Gewinne in China erzielt, von denen 46 Prozent angaben, ihre Budgeterwartungen erfüllt zu haben. Darüber hinaus haben 90 Prozent der US-amerikanischen Unternehmen dem Bericht zufolge in China Rentabilität erzielt.
57 Prozent der untersuchten ausländischen Unternehmen betrachten China als einen ihrer drei wichtigsten Investitionsstandorte, was einem Anstieg von fünf Prozent gegenüber 2022 entspricht. Guangzhou, die Hauptstadt der Provinz Guangdong und bekannt als das Produktionszentrum Südchinas, hat seinen Status als Top-Investitionsstandort des Landes in sieben aufeinanderfolgenden Jahren gehalten, gefolgt von Shenzhen, Shanghai und Beijing.[10]

 

Ausblick

Das Hauptaugenmerk der chinesischen Wirtschaftsarbeit im Jahr 2024 liegt auf der "Konsolidierung des Fundaments und der Förderung von Innovationen".
Es wird erwartet, dass das offizielle Ziel für das Wirtschaftswachstum weiterhin bei etwa 5 Prozent liegen wird.

Auf dem diesjährigen Treffen des Nationalen Volkskongresses und der Politischen Konsultativkonferenz des Chinesischen Volkes CPPCC, im März d. J.  steht  im Mittelpunkt der Konsultationen  vor allem die komplexe Frage,  wie läßt sich das geplante und fest vereinbarte Ziel des  Wachstums  Die Erkenntnisse einer Reihe von Experten haben zu drei zentralen Schlussfolgerungen geführt: Chinas Wachstumspotenzial ist groß, eine proaktive Politik ist unverzichtbar, und es besteht weiterhin die Notwendigkeit, die Reformen zu vertiefen und die Offenheit des chinesischen Marktes gegenüber den ausländischen Investitionen in einem Land mit nach wie vor sozialistischer Marktwirtschaft  chinesischer Prägung zu erweitern.  Welche Maßnahmen sind nach den Konsultationen zur Bekämpfung einer möglichen Deflation zu erwarten, um ein Wirtschaftswachstum von 5% abzusichern? Bei einer Deflation werden laut Definition Waren und Dienstleitungen billiger, da die Kaufkraft steigt. Gründe für eine Deflation sind zum Beispiel eine Überproduktion von Gütern oder der Rückgang des Geldes im Geldumlauf.

"Die Auswirkungen der im Jahr 2023 eingeführten Maßnahmen, wie die Ausgabe zusätzlicher Staatsanleihen, Steuer- und Abgabensenkungen sowie die Senkung des Mindestreservesatzes und der Zinssätze, werden auch in diesem Jahr zu spüren sein."[11] Ist eine stellvertretende repräsentative Aussage des Leiters des National Buerau of Statistics, Kang Yi.

Das offizielle Wachstumsziel von 5,0 %  ist durch den amtierenden  Premierminister Li Qiang am Dienstag auf der jährlichen Sitzung des obersten chinesischen Gesetzgebers im Rahmen der "Zwei Sitzungen" sozusagen als Marktkonsens in dieser Woche verkündet worden. [12]

Wie der Chefkommentator für Wirtschaftsfragen der Financial Times, Martin Wolf, sagte, sind die Probleme, vor denen Chinas Wirtschaft steht, lösbar. Wenn erkannt wird, dass das alte Modell mit hohen Ersparnissen und hohen Investitionen langfristig nicht haltbar ist, ist China durchaus in der Lage, durch den Aufbau einer ausgewogeneren, konsumorientierten Wirtschaft beträchtliche Wachstumsraten aufrechtzuerhalten. Er glaubt, dass die chinesische Wirtschaft in den nächsten 10 bis 20 Jahren eine Wachstumsrate von 5 % bis 6 % beibehalten kann, wenn China in kritischen Momenten die richtigen Entscheidungen trifft und das Vertrauen durch kurzfristige Regulierungsmaßnahmen und mittel- bis langfristige Strukturreformen stärkt. China strebt für das Jahr 2024 an, die innovative Entwicklung zu beschleunigen, um sein Industriesystem zu modernisieren und Produktivkräfte neuer Qualität schneller zu entwickeln.
 So skizzierte der chinesische Ministerpräsident Li Qiang die wichtigsten Aufgaben zur Erreichung dieses Ziels im Tätigkeitsbericht der Regierung auf der Tagung des diesjährigen  des 14. Nationalen Volkskongresses: Das Konzept von Produktivkräften neuer Qualität ist ein neuer Produktivitätsansatz, der die entscheidende Rolle von Wissenschaft und Technologie bei der Förderung des Wachstums und der Förderung der Entwicklung strategischer aufstrebender Industrien betont. Zu den Aufgaben für 2024 gehören insbesondere die Modernisierung bestehender Industrien und Lieferketten, die Förderung neuer und zukunftsorientierter Sektoren wie Wasserstoffkraft, neue Materialien, Biomanufacturing, kommerzielle Raumfahrt und Quantentechnologie. Die Förderung der Entwicklung der digitalen Wirtschaft und der Start einer „KI Plus“-Initiative zur branchenübergreifenden Integration von Technologien der künstlichen Intelligenz gehörten auch dazu.

Chinas künftiges Wachstum werde nicht mehr nur von traditionellen Faktoren wie Arbeit und Kapital abhängen; sondern ergänzend werden Technologie und Daten zu den Hauptantriebskräften hinzugefügt, um die Industrielandschaft neu zu gestalten.
Wie den verschiedenen Beiträgen zu entnehmen war, gehe es beim Streben nach Innovation nicht nur um wirtschaftliche Entwicklung, sondern auch um das Erreichen einer „technologischen Souveränität“ in einem zunehmend wettbewerbsorientierten globalen Umfeld.[13]
Wie der Chefkommentator für Wirtschaftsfragen der Financial Times, Martin Wolf, sagte, sind die Probleme, vor denen Chinas Wirtschaft steht, lösbar. Wenn erkannt wird, dass das alte Modell mit hohen Ersparnissen und hohen Investitionen langfristig nicht haltbar ist, ist China durchaus in der Lage, durch den Aufbau einer ausgewogeneren, konsumorientierten Wirtschaft beträchtliche Wachstumsraten aufrechtzuerhalten. Er glaubt, dass die chinesische Wirtschaft in den nächsten 10 bis 20 Jahren eine Wachstumsrate von 5 % bis 6 % beibehalten kann, wenn China in kritischen Momenten die richtigen Entscheidungen trifft und das Vertrauen durch kurzfristige Regulierungsmaßnahmen und mittel- bis langfristige Strukturreformen stärkt.
Zwei Wirtschaftsnobelpreisträger, Michael Spence und Edmund Phelps, die sich mit globaler Innovation befassen  und viel mit China zu tun hatten,  sind ebenfalls optimistisch, was Chinas Innovationsaussichten angeht. China sei in vielen technologischen Bereichen weltweit wettbewerbsfähig, darunter die Energiewende, die Digitalisierung und die Biomedizin. Und Chinas Innovationen im Bereich der neuen Energietechnologien seien der Schlüssel zu den weltweiten Bemühungen um ein

 

[1] https://www.agenzianova.com/de/news/cina-il-fondo-monetario-internazionale-rivede-al-ribasso-le-stime-di-crescita-per-il-2023-e-il-2024/

[2] https://www.isw-muenchen.de/online-publikationen/texte-artikel/5069-chinas-boost-fuer-die-wirtschaft-vitalitaet-zuversicht-und-innovation

[3] https://www.caixinglobal.com/2024-01-17/chinas-economic-growth-in-2023-102157036.html

[4] Zur Wirtschaftsentwicklung für Deutschland siehe hierzu vertiefend die isw-Broschüre, Bilanz 2023,
https://www.isw-muenchen.de/broschueren/wirtschaftsinfos/217-wirtschaftsinfo-64

[5] https://www.isw-muenchen.de/online-publikationen/texte-artikel/5195-china-versus-usa

[6] https://www.project-syndicate.org/commentary/how-will-the-chinese-economy-fare-in-2024-by-yu-yongding-2024-01/german

[7] http://german.mofcom.gov.cn/article/nachrichten/202401/20240103467327.shtml

[8] https://www.china-briefing.com/news/chinas-wirtschaft-im-jahr-2023-wachstums-und-erholung/

[9] AmCham South China, http://german.people.com.cn/n3/2024/0229/c209053-20138758.html

[10] Zitiert nach http://german.china.org.cn/txt/2024-02/28/content_117025804.htm

[11] Kang Yi, Leiter des NBS, Pressekonferenz zum Wirtschaftsergebnis, Januar 2024

[12] https://www.caixinglobal.com/2024-03-05/chinas-gdp-growth-target-for-2024-102171656.html

[13] http://german.people.com.cn/n3/2024/0306/c209053-20141237.html

 

Kampf um den Elektro-Automarkt

Mi, 06/03/2024 - 08:09

Abwehrkampf von EU und USA gegen die Einfuhr kostengünstiger Elektroautos aus China beginnt.
Brüssel bereitet Strafzölle vor.
Washington stuft die Fahrzeuge als ein Risiko für die nationale Sicherheit ein.

 

 

 Der Abwehrkampf des Westens gegen eine Exportoffensive chinesischer Elektroautohersteller spitzt sich zu. Während die EU-Kommission eine Antisubventionsuntersuchung fortsetzt, die noch in diesem Jahr zu satten Strafzöllen auf die Einfuhr chinesischer Elektroautos führen kann, hat US-Präsident Joe Biden jetzt mitgeteilt, Autos aus der Volksrepublik stellten unter Umständen ein Risiko für die nationale Sicherheit der Vereinigten Staaten dar. Mit ihren Kameras und ihren Sensoren seien sie in der Lage, die USA auf unvertretbare Weise auszuspionieren; dies gelte es zu verhindern. Vor allem der Konzern BYD aus der südostchinesischen High-Tech-Metropole Shenzhen, der Ende vergangenen Jahres zum größten Elektroautoproduzenten der Welt vor Tesla aufgestiegen ist, bereitet sich darauf vor, nicht nur nach Nordamerika, sondern vor allem auch in die EU zu expandieren. Geplant ist der Verkauf von 120.000 Elektroautos im Jahr 2026 allein in Deutschland. Damit würde BYD für die deutschen Traditionskonzerne eine gefährliche Konkurrenz. In der vergangenen Woche hat das Unternehmen mit dem Export von 3.000 Autos per Spezialschiff nach Deutschland Schlagzeilen gemacht.

Weltweit Nummer eins

Der Konzern BYD – das Kürzel steht für den chinesischen Naman Biyadi, wird aber im Westen oft mit dem Slogan Build Your Dreams wiedergegeben – ist 1995 in der High-Tech-Metropole Shenzhen im Südosten der Volksrepublik gegründet worden. Zunächst boomte er als Batteriehersteller, und er zählt unverändert zu den global führenden Unternehmen der Branche; nach unterschiedlichen Angaben ist er etwa zweit- oder drittgrößter Produzent von Elektroautobatterien nach der chinesischen Nummer eins, CATL, und – je nach Statistik – vor oder nach der südkoreanischen LG Energy Solutions. Nach einigen gescheiterten Anläufen ist BYD in den vergangenen Jahren der Durchbruch nicht nur mit Plug-In-Hybriden, sondern auch mit reinen Elektroautos gelungen. Im Jahr 2023 schließlich setzte das Unternehmen erstmals über drei Millionen Autos weltweit ab, darunter rund 1,6 Millionen Elektroautos. Damit lag BYD zwar noch hinter Tesla: Der US-Konzern konnte weltweit etwa 1,8 Millionen Elektrofahrzeuge verkaufen. Allerdings wächst der chinesische Rivale so rasch, dass er – im ersten Quartal 2023 mit fast 265.000 Elektroautos noch weit hinter Tesla mit 423.000 zurückliegend – sich im vierten Quartal 2023 mit 526.000 an die Weltspitze setzen konnte (Tesla: 485.000).[1]

 

Der Sprung nach Deutschland

Liegt BYD in China auf dem Elektroautomarkt längst vorn und auf dem Gesamtautomarkt inklusive Verbrenner knapp hinter Volkswagen auf Platz zwei, so macht der Konzern sich nun daran, die Märkte Europas zu erobern, darunter der deutsche Markt. Bislang ist seine Stellung noch schwach; im vergangenen Jahr kam er auf nicht einmal 4.000 verkaufte Elektroautos deutschlandweit. Perspektivisch will er jedoch in Europa den Sprung unter die fünf größten Autohersteller schaffen und in der Bundesrepublik einen Marktanteil von zehn bis 15 Prozent erreichen; 2026 sollen es schon 120.000 verkaufte Elektroautos sein.[2] Dazu sollen rund 100 BYD-Geschäfte allein in Deutschland aufgebaut werden, und zwar so, dass 90 Prozent aller Einwohner binnen maximal einer halben Stunde eine Verkaufsstelle des chinesischen Kfz-Herstellers erreichen können. Berichten zufolge lief der Elektroautoverkauf zwar langsamer an als eigentlich geplant, weil allerlei bürokratische Hindernisse überwunden werden mussten und BYD sich erst auf die deutsche Geschäfts- und Marketingstruktur einstellen musste, die von der chinesischen abweicht. Dafür kann der Konzern bereits fünf, ab 2025 sogar acht Modelle anbieten, die auf unterschiedliche Kundensegmente zugeschnitten sind.

BYD Explorer No. 1

Die aktuelle Exportoffensive ist offenbar gut durchgeplant. China ist schon im vergangenen Jahr zum größten Autoexporteur weltweit aufgestiegen und setzt nun – BYD ist dabei nur ein Beispiel – vor allem auf die Ausfuhr von Elektroautos. Diverse Hersteller haben in China in den vergangenen Jahren Überkapazitäten aufgebaut; der Verkauf ins Ausland scheitert aktuell noch vor allem daran, dass die Transportkapazitäten nicht genügen.[3] Chinesische Werften haben inzwischen begonnen, im großen Stil sogenannte Ro-Ro-Schiffe (roll on –roll off) zu bauen, die speziell für den Fahrzeugtransport geeignet sind und immense Stückzahlen über die Weltmeere verfrachten können. BYD hat mittlerweile ein erstes solches Schiff gechartert, hat es Mitte Januar in Shenzhen vollbeladen auf die Reise nach Europa geschickt; es ist in den vergangenen Tagen zuerst im niederländischen Vlissingen, dann in Bremerhaven, zuletzt im belgischen Zeebrugge vor Anker gegangen, um Autos zu entladen. Allein in Bremerhaven brachte das Transportschiff mit dem Namen BYD Explorer No. 1 rund 3.000 Fahrzeuge an Land.[4] Insgesamt will der chinesische Konzern laut Berichten acht Schiffe beschaffen und mit ihnen auch künftig unter anderem nach Bremerhaven fahren; das dortige Autoterminal gilt als eines der größten weltweit.

„Ein nationales Sicherheitsrisiko“

Die BYD-Exportoffensive löst im Westen ernste Sorgen aus. Tesla-Chef Elon Musk etwa wird mit Blick darauf, dass der Konzern kostengünstiger produzieren kann als viele andere Autohersteller, mit der Aussage zitiert: „Offen gestanden meine ich, dass sie die meisten anderen Unternehmen weltweit ziemlich ruinieren, wenn keine Handelsschranken errichtet werden“.[5] Die US-Regierung bereitet genau dies jetzt vor. Zwar sind Elektroautos aus China wegen der hohen Einfuhrzölle, die die Trump-Administration verhängt hat, kaum präsent. Allerdings plant BYD aktuell den Bau einer Fabrik in Mexiko. Von dort aus wären Lieferungen in die Vereinigten Staaten, weil Mexiko und die USA dem Freihandelsbündnis USMCA (United States – Mexico – Canada Agreement) angehören, ohne die Sonderzölle möglich. US-Präsident Joe Biden hat jetzt erklärt, chinesische Autos könnten, wenn sie auf amerikanischen Straßen führen, ein nationales Sicherheitsrisiko für die USA darstellen. Grund sei, dass sie mit ihren Kameras, ihren Sensoren und ihrer Software Daten sammeln und sie nach China übermitteln könnten. Er habe Wirtschaftsministerin Gina Raimondo angewiesen, dies zu prüfen und gegebenenfalls entsprechende Maßnahmen zu ergreifen.[6] Damit ließe sich ein komplettes Einfuhrverbot für chinesische Autos begründen.

Strafzölle geplant

Auch die EU bereitet inzwischen Maßnahmen gegen die Einfuhr von Elektroautos aus China vor. Im vergangenen September teilte Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen mit, die Kommission leite eine Antisubventionsuntersuchung gegen Elektrofahrzeuge ein, die in der Volksrepublik produziert würden. Deren Preise würden „künstlich durch gewaltige staatliche Beihilfen niedrig gehalten“; dies verzerre „unseren Markt“.[7] Die Wahrscheinlichkeit, dass die EU tatsächlich Strafzölle auf die Einfuhr in China produzierter Fahrzeuge verhängt, gilt in Branchenkreisen als hoch; von Zöllen in Höhe von 10 bis 20 Prozent, die zu den ohnehin zu zahlenden Einfuhrzöllen von 10 Prozent hinzukämen, ist die Rede.[8] Befürchtungen, von der Maßnahme könnten auch Fahrzeuge deutscher Hersteller oder von Tesla betroffen sein, die aus China nach Deutschland importiert werden, bestätigen sich wohl nicht: Im Herbst wurde bekannt, dass die Kommission ihre Untersuchung gezielt gegen chinesische Marken richtet, darunter insbesondere BYD. Andere Marken sind davon nicht betroffen.[9] Die Entscheidung der EU-Kommission wird im Lauf dieses Jahres erwartet. Beobachter warnen allerdings, es sei mit chinesischen Gegenmaßnahmen zu rechnen; zudem würden Elektroautos auch in Deutschland stark subventioniert.

Standorte in Europa

BYD bereitet sich schon jetzt darauf vor, derlei Gegenmaßnahmen mit dem Bau mindestens einer Fabrik in der EU auszuhebeln; dort hergestellte Fahrzeuge entgingen schließlich den bei der Einfuhr fälligen Strafzöllen. Bereits vereinbart ist der Bau einer Elektroautofabrik im ungarischen Szeged. Die Rede ist von einer Produktionskapazität von rund 200.000 Autos pro Jahr.[10] Kürzlich bestätigte BYD zudem am Rande der Genfer Automesse, man sei mit der italienischen Regierung über den Bau einer weiteren BYD-Fabrik in Europa im Gespräch – in Italien.[11]

 

Mehr zum Thema: Paradebranche unter Druck

 

 

[1] Christoph Rottwilm: So rollt BYD den Weltmarkt für Elektroautos auf. manager-magazin.de 05.01.2024.

[2] Wie BYD Europas Markt für E-Autos erobern will. tagesschau.de 26.02.2024.

[3] Thomas Stölzel: So bereitet China den Auto-Tsunami vor. wiwo.de 09.12.2023.

[4] Thomas Stölzel: Dieses Schiff ist eine Kampfansage an Deutschlands Autoindustrie. wiwo.de 28.02.2024.

[5] Keith Bradsher: How China Built BYD, Its Tesla Killer. nytimes.com 12.02.2024.

[6] Mögliche Spionage: Präsident Biden bremst Autos aus China. Frankfurter Allgemeine Zeitung 01.03.2024.

[7] 2023 State of the Union Address by President von der Leyen. ec.europa.eu 13.09.2023.

[8] S. dazu Paradebranche unter Druck (II).

 

[9] Patrick Freiwah: EU-Strafzölle gegen Elektroautos aus China? Deutsche Hersteller atmen auf. merkur.de 19.01.2024.

[10] BYD baut neue Elektroauto-Fabrik in Ungarn. faz.net 22.12.2023.

[11] BYD hat keine Angst vor EU-Untersuchungen. Frankfurter Allgemeine Zeitung 28.03.2024.

 

"Kanonen und Butter, das ist Schlaraffenland"

So, 03/03/2024 - 18:46

Schulden für den Krieg.
Die Aufrüstung wird mit einer Umverteilung von unten nach oben finanziert werden.
Einfrieren der Sozialausgaben um mehr Geld für die Bundeswehr zu haben.

 

"Kanonen und Butter, das ist Schlaraffenland", entgegnete ifo-Chef Clemens Fuest der Grünen-Vorsitzenden Ricarda Lang bei der Talk-Runde von Maybrit Illner am 22. Februar. "Wir dürfen die Sicherheit nach außen nicht gegen soziale Sicherheit im Land ausspielen", hatte Ricarda Lang gesagt. Deutschland müsse aber mehr Geld investieren, um die Ukraine zu unterstützen und um zu helfen, Europa bei der Verteidigung unabhängiger von den USA zu machen.

Fakt ist, die Bundesregierung braucht sehr viel Geld, um die Bundeswehr "kriegstüchtig" zu machen. Viel Geld auch für die Ukraine, weil Russland den Krieg ja nicht gewinnen darf und Verhandlungen für den Westen bisher keine keine Option sind. Zudem entstehen weltweit Krisenherde – vom Roten Meer über Afrika bis Taiwan -, bei denen die Bundeswehr nicht abseitsstehen will.

"Die wichtigsten Waffensysteme und vor allem auch Munition müssen kontinuierlich vom Band laufen", sagte Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) in seiner wöchentlichen Videobotschaft. Und von den Steuerzahler:innen bezahlt werden, hätte er hinzufügen müssen. Denn kostenlos geben die Rüstungskonzerne ihre Mordinstrumente nicht ab. Die privaten Gewinne der Rüstungsunternehmen und die Dividenden ihrer Anleger werden mit öffentlichen Mitteln bezahlt. Das freut die Aktienmärkte. Seit der Zeitenwende hat sich der Börsenwert des Waffenherstellers Rheinmetall vervierfacht.

Zuletzt hat der Bundeskanzler auf der Münchner Sicherheitskonferenz Mitte Februar den NATO-Verbündeten versprochen, Deutschland werde auch nach Verbrauch des 100-Milliarden-„Sonder"-Vermögens" für die Bundeswehr langfristig zwei Prozent seines Bruttoinlandsprodukts in die Verteidigung stecken. "Von 2028 an wollen wir aus dem allgemeinen Haushalt bestreiten, was nötig ist, um das Zwei-Prozent-Ziel zu erreichen. Das ist nicht einfach, wir können das aber bewältigen“, sagte der Kanzler in der Süddeutschen Zeitung. Schätzungen zufolge würde dies für das Jahr 2028 eine Verdopplung des Wehretats von 52 Milliarden in diesem Jahr auf 108 Milliarden Euro bedeuten.

In der oben genannten Sendung bei Maybrit Illner schlug Finanzminister Lindner (FDP) vor, die Sozialleistungen drei Jahre lang einzufrieren. Anders sei die zur Sicherung der "Freiheit" des Westens nötige Erhöhung der Verteidigungsausgaben nicht möglich. "Mir geht es nicht darum, dass wir jetzt Dinge abschaffen müssen. Darüber kann man auch diskutieren. Aber das Wichtigste ist, dass nicht immer neue Subventionen, neue Sozialausgaben, neue Standards dazukommen." Der Gesellschaft müsse es gelingen, "mit dem auszukommen, was wir haben“.

Noch weisen SPD und Grüne den Vorstoß des Finanzministers zurück. "Es darf nicht heißen: Rüstung oder Rente", sagte Grünen-Fraktionschefin Britta Haßelmann der Süddeutschen Zeitung.

Auch der Bundeskanzler erklärte, er lehne soziale Einschnitte und den Abbau von Arbeitnehmerrechten strikt ab. CDU und CSU wollten über die Anhebung des Renteneintrittsalters an die Rente rangehen, andere wollten Leistungen im Krankheits- und im Pflegefall einschränken, manche den Kündigungsschutz und anderes abbauen. "Für mich kommt das nicht in Betracht", betonte Scholz in Berlin. Er schließe aus, dass "eine von mir geführte Regierung so etwas macht".

Vorsichtshalber baut er sich aber eine Hintertüre ein. Die meisten würden verstehen, wenn man nach dem Auslaufen des Sondervermögens an anderer Stelle sparen müsse, um den Wehr­etat zu finanzieren, hatte Kanzler Scholz am 16. Februar 2024 der Süddeutschen Zeitung gesagt.

Auch die Sozialverbände wenden sich dagegen, dass die "Kanonen" mit "Butter" bezahlt werden. Die massive Aufrüstung stellen sie jedoch wie SPD und Grüne nicht infrage, sondern betonen lediglich, sie dürfe nicht zulasten der Ärmeren gehen.

Die Vorstandsvorsitzende des Sozialverband Deutschland (SoVD), Michaela Engelmeier, forderte: "Statt Aufrüstung auf Kosten von Sozialleistungen zu finanzieren, müssen wir die Einnahmen des Staates stärken. Wir brauchen eine Reform der Schuldenbremse und höhere Steuereinnahmen."

Sebastian Dullien, wissenschaftlicher Direktor des Instituts für Makroökonomie und Konjunkturforschung der gewerkschaftsnahen Hans-Böckler-Stiftung, erklärte: "Die Diskussion auf dieser Ebene zu führen, hilft auch der Ukraine nicht: Vielmehr ist zu erwarten, dass mit einer solchen Politik die Zustimmung in Deutschland für die Ukraine-Unterstützung schwindet."

Doch irgendwo muss das Geld herkommen.

Ifo-Chef Fuest verwies auf Erfahrungen aus der Vergangenheit: "Wenn man mehr für das Militär ausgeben musste, dann blieb eben weniger für andere Dinge." Fuest geht fest von Einbußen aus. "Kanonen ohne Butter", sagte er wörtlich. Der Sozialstaat, so Fuest, werde zwar weiter finanziert. "Aber er wird halt kleiner ausfallen." "Die Verschuldung kann das nicht verhindern", fügte er hinzu.

Es werde nicht gelingen die notwendige Aufrüstung aus dem laufenden Haushalt zu finanzieren, meint auch Grünen-Vorsitzende Ricarda Lang. "Dafür müssen wir andere Möglichkeiten finden."

Der CDU-Rüstungspolitiker Roderich Kiesewetter schlägt eine Erhöhung der "Sonderschulden" für die Bundeswehr von 100 auf 300 Milliarden vor. Aber auch das gehe "nur mit Umpriorisierung" bei den Ausgaben, so der CDU-Mann – also Kürzungen bei Sozialem, Bildung, Kultur, Umwelt.

SPD-Haushaltspolitiker Andreas Schwarz will die Verteidigungs- und Zivilschutzausgaben von der Schuldenbremse im Grundgesetz ausnehmen. Auch die Grünen verweisen auf die Möglichkeit weiterer „Sonder"-Vermögen" oder eine Aussetzung der Schuldenbremse – also die Finanzierung mittels neuer Schulden.

Die Richtung scheint EU-weit abgesteckt zu sein. Denn auch die Europäische Union will mit Eurobonds in den Krieg ziehen. Der Vizepräsident der Europäischen Kommission, Valdis Dombrovskis, und EU-Wirtschaftskommissar Paolo Gentiloni halten die Finanzierung der Rüstungsindustrie durch Eurobonds für "eine gute Idee". Zur Finanzierung des Aufrüstungsplans sollen die EU-Länder gemeinsam Schulden in Höhe von 100 Milliarden Euro "pro Jahr" auf dem Finanzmarkt aufnehmen. So wird aus dem "Green Deal" ein "Weapons-Deal".

Die Aufrüstung wird mit einer Umverteilung von unten nach oben finanziert werden – bezahlt mit geringeren Renten, längerer Lebensarbeitszeit und schlechterer Absicherung von Arbeitslosigkeit und Armut, was dazu führen wird, dass mehr Leute gezwungen sind, schlechte Arbeitsbedingungen oder zu niedrige Löhne zu akzeptieren. Ihr Versprechen beim Klimageld, durch das vor allem Menschen mit geringen Einkommen finanziell entlastet werden sollen, hat die Bundesregierung jetzt schon gebrochen.

Die Kosten des Wirtschaftskrieges gegen Russland, des Boykotts russischer Energieimporte

So, 03/03/2024 - 18:00

Nein zu Kohle, Öl und Gas,
ja zu Uran aus Russland.
Als Reaktion auf Putins militärischen und politisch potentiell selbstzerstörerischen Überfall auf die Ukraine verhängten insbesondere Deutschland, aber auch die EU, die USA, der Westen insgesamt wirtschaftliche Sanktionen. Man will Russland "ruinieren", wie es Annalena Baerbock formulierte.

 

Ein zentraler Punkt war der Stopp der Einfuhr von Kohle, Öl und Gas – nicht dagegen von Uran: Ausgerechnet der Atomkonzern Rosatom erfreut sich ungestörter Geschäftsbeziehungen, liefert Uran an die Brennelementefabrik in Lingen und an Abnehmer in aller Welt, baut die Zusammenarbeit mit der französischen Framatome aus, spielt im AKW-Neubaugeschäft eine große Rolle.

Egal. Bei Kohle, Öl und Gas wurde auf EU-Ebene der schnellstmögliche Importstopp russischer Energieträger beschlossen. Bei Gas wurde die "Schnellstmöglichkeit" bekanntlich forciert: Nordstream 2 wurde nicht in Betrieb genommen; drei der vier Nordstream-Leitungen wurden vorsorglich von unseren Freunden gesprengt; russisches Gasangebot auf der noch lieferfähigen vierten Leitung wird von deutscher Seite schlicht ignoriert; die Gasleitung durch Polen hindurch wurde gleich zu Kriegsbeginn von polnischer Seite abgesperrt; die riesige Ukraineleitung wird von Deutschland aus boykottiert und soll zum Jahresende von ukrainischer Seite aus endgültig gesperrt werden (isw-spezial 36, S. 8; isw-spezial 37, S. 3).

In einer Marktwirtschaft hat das selbstverständlich Auswirkungen auf die Preise. Boykottiert man einen Teil des weltweiten Angebotes (und Russland steuert einen beträchtlichen Anteil bei), dann steigen die Preise: kurzfristig sehr stark, mittelfristig gemäßigter, denn zusätzlicher Raubbau an Bodenschätzen war im Kapitalismus auf Dauer noch nie ein Problem.

Sanktionsbedingte Mehrkosten für Energie in Deutschland

In den beiden Grafiken sind für die Öl- und die Gasimporte nach Deutschland die monatlichen Importpreise dargestellt in Euro pro MWh (eine MWh besteht aus knapp 100 Liter Öl bzw. knapp 100 m³ Gas). Es sind dies keine Börsenhandelspreise oder Preisnormen, sondern die aus der Außenhandelsstatistik berechneten tatsächlich gezahlten Preise an der deutschen Grenze. Öl und Gas werden von Deutschland nicht nur importiert, sondern – in kleineren Mengen – auch exportiert, z.B. nach Österreich oder in die Schweiz durchgeleitet. Das ist hier abgezogen, es sind die Kosten für das hierzulande netto verbleibende Öl und Gas dargestellt.

Aufgeführt sind, jeweils für Öl und Gas, der Dreijahres-Durchschnittspreis für 2019 bis 2021 (vor der Invasion) und die Preise für 2022 und 2023. Es wird sofort deutlich, dass die Preise im Zusammenhang mit den Sanktionen massiv gestiegen sind und in 2023 langsam sanken, aber weiterhin über dem früheren Niveau verharren. Beim Gas fällt die Extrem-Preisspitze im Sommer 2022 auf: Seitens der Regierung und der BNA wurde mit allen Kräften Panik geschürt, dass der Russe kein Gas mehr liefere (wie oben ausgeführt, war es in Wirklichkeit viel eher umgekehrt) und wir alle im kommenden Winter bitter frieren müssten (isw-spezial 37, S. 4). Das Habeck-Ministerium fiel auf die eigene Propaganda herein und kaufte zur schnelleren Füllung der Gasspeicher über eine staatseigene Gesellschaft jeden verfügbaren m³ Gas, egal was er noch kosten möge. Die Anbieter frohlockten, setzten die Preise auf das Zehnfache der bisherigen, und die Steuerzahler löhnten dafür viele Milliarden Euro Mehrkosten im Vergleich zu den bisherigen Weltmarktpreisen (isw-spezial 37, S. 9).

Es kommt noch hübscher: In der Panik wurde ein Gesetz erlassen, dass die Gasspeicher zum Winterbeginn voll gefüllt sein müssen. Da die Speicher ziemlich überdimensioniert sind, sind sie zum Winterende noch zu etwa zwei Dritteln voll – 2022/23 ebenso wie aktuell 2023/24, bei den derzeitigen Temperaturen braucht man bereits kaum mehr Speichergas. Das bedeutet, dass die Mehrkosten, um die Speicher proppenvoll zu kriegen, als unnütze Ausgabe, als totes Kapital im Speicher liegen, dass sie niemals im Leben rentabel an einen Käufer gebracht werden können.

Zurück zu den Preisstatistiken: Ich habe berechnet, wieviel das benötigte (netto importierte) Öl und Gas in 2022 und in 2023 gekostet hätte, wenn man es zu den Vor-Sanktionspreisen bekommen hätte, also zu Preisen, die im Schnitt 2019 bis 2021 gezahlt wurden. Vergleicht man das mit den tatsächlichen Importkosten, dann ergeben sich als Differenz die sanktionsbedingten Mehraufwendungen. Wobei das hier nur eine grobe Orientierungsgröße für die Sanktionskosten liefert. Für eine präzise Analyse müsste genauer nachgeforscht werden, wie sich die Preise ohne den Ukrainekrieg, also unter Beibehaltung der früheren politischen Verhältnisse und Marktlagen entwickelt hätten. Zumindest aber gelten die folgenden Werte, wenn man den Preisanstieg im Kern auf die Sanktionsbeschlüsse
zurückführt.

*) Kosten unter der Annahme, dass die durchschnittlichen Preise von 2019 bis 2021 gelten.

Es handelt sich um enorme Summen: 104 Mrd. Euro für Öl und Gas in beiden Jahren zusammen. Bei Kohle ist es weniger, aber immerhin 5 bis 10 Mrd. Euro. Zusammen also rund 110 Mrd. Euro zusätzlich ins Ausland abgeflossene Kosten für den Kauf von Kohle, Öl und Gas, bedingt durch die Sanktionspolitik. Dies ist die Bilanz nur für Deutschland.

Sanktionsgewinner

Man kann die Politik der USA-orientierten Länder (des "kollektiven Westens" nach Putin) als Gewinner bezeichnen, sie haben die Sanktionen durchgesetzt – für ihre Länder. Die realen Gewinner sind aber viel mehr die Energiekonzerne in Öl und Gas sowie die staatlichen Fördergesellschaften, etwa Aramco (Saudi-Arabien) oder der norwegische Staatsfonds für die Öl- und Gaserträge. Die 5 größten Ölkonzerne verbuchten 2022 laut SZ zusammen Rekordgewinne von rund 200 Mrd. Dollar. In 2023 lagen die Profite von 14 Öl- und Gaskonzernen nach Oxfam um 278 % über dem Durchschnitt 2018 bis 2021.

Als ganz wesentlicher Gewinner hier zu erwähnen ist die US-amerikanische Gaswirtschaft. Sie ersetzt in großem Stil das russische Pipeline-Gas. US-Gas ist heutzutage hauptsächlich Frackinggas, wird also unter ökologisch richtig üblen Bedingungen erzeugt, anschließend in einem extrem aufwendigen Verfahren verflüssigt (LNG) und in Schiffen nach Europa verbracht. Weiterhin als Gewinner sind zu nennen die Begleitwirtschaft für Förderausstattung, die Werften für den Neubau von Schiffen für verflüssigtes Gas, die Erbauer von neuen LNG-Häfen in USA (Verschiffung) und in Deutschland (Anlandung), letzteres in einem völlig überhöhten Ausmaß.

Auf einen besonderen Gewinner will ich speziell hinweisen: Putin. Die massiv gestiegenen Weltmarktpreise führen dazu, dass die russische Energiewirtschaft (Gazprom, Rosneft usw.) zwar mengenmäßig viel weniger exportiert, damit auch weniger Kosten hat, aber weitaus höhere Erlöse und Überschüsse einheimst als vor dem Krieg. Das heißt, wir finanzieren nicht nur die ukrainischen Kriegskosten, sondern aufgrund unserer Sanktionen indirekt auch die russischen Kriegskosten. Ohne diese Sanktionen hätte die russische Seite zweifellos viel mehr Probleme mit der Kriegsfinanzierung. Diese Sanktionspolitik bewirkt daher mehr die Verlängerung als die Eindämmung des Krieges.

Sanktionsverlierer

  1. Klima und Umwelt: US-LNG in Gaskraftwerken oder im Hausbrand zu verbrennen ist klimamäßig noch verheerender als das Verbrennen von Kohle. Mal ganz abgesehen von den Umweltsauereien beim Fracken (isw-spezial 36, S. 26; isw-spezial 37, S. 11).
  2. Die armen Länder im Süden: Die ersten konkreten Maßnahmen hierzulande waren, das LNG der USA den bisherigen Käufern wegzukaufen, sie zu überbieten. LNG-Schiffe haben auf dem Meer kehrt gemacht und sind nach Europa gefahren. Südasiatische Länder litten am meisten (isw-spezial 36, S. 23; isw-spezial 37, S. 11).
  3. Wer bezahlt die 110 Mrd. Euro? Die Mehrkosten verteuern den Konsum, und zwar ohne dass sie andererseits Einkommen von anderen Beschäftigten darstellen (wie z.B. Mehrkosten für klimaschonende Heizung oder E-Autos). Sie verschwinden als Extraprofite in den Förderländern und in den internationalen Konzernkassen. Die Mehrkosten werden faktisch von den Endkonsumenten bezahlt. Sie sind die zentrale Ursache für die Inflation und den realen Einkommensschwund der letzten beiden Jahre.
  4. Die zerstörten und stillgelegten Gaspipelines stellen riesige Verluste dar, zerstörtes Kapital und/oder totes Kapital. Die Ukraine erhielt in der Vergangenheit (auch noch heute während des Krieges) Durchleitungsgebühren von der Gazprom in Milliardenhöhe. Das fällt künftig weg. Man kann natürlich freilich sagen: Bei Kriegsschäden von vielen 100 Mrd. Euro kommt es auf diese paar Milliarden jährlich auch nicht mehr an.

 

Fazit: Die Kriegstreiberei zerstört alles

Jewgeni Jewtuschenkos berühmtes Gedicht "Meinst Du, die Russen wollen Krieg?" hat Putin eindeutig beantwortet und sich damit dem größeren Gegenspieler angenähert, der die Frage Krieg immer schon ausschließlich nach Macht- und Nützlichkeitsaspekten entschied.

Da stoßen die zwei führenden, jetzt aber absteigenden Groß- und Weltmächte aufeinander, von denen die eine auf Biegen und Brechen die günstige Gelegenheit nutzen will, um den alten Konkurrenten billig (kostet nur ukrainisches Blut) endlich klein und den Rücken frei zu kriegen für den neuen Kampf gegen China, während die andere absteigende Macht (von Obama als Mittelmacht und von Helmut Schmidt als Obervolta mit Atomraketen bezeichnet) um ihre Bedeutung kämpft und auch um den Preis einer Selbstzerstörung Weltmachtambitionen aufrecht erhalten will.

Die imperialen Bestrebungen der USA und die bedingungslose, auch gewalttätige Unterdrückung von jeglichem Widerstand dagegen: dieses grundlegende Motiv und dieses zielstrebig, systematisch, strategisch und taktisch jahrzehntelang verfolgte Ziel mündet angesichts der ebenso bedingungslosen Bereitschaft des heutigen Russlands für Krieg, Kriegsverbrechen, Annexionspolitik zwangsläufig in einen Krieg. Der wiederum mit Sanktionen, mit einer seit Jahrzehnten nie mehr gesehenen Hochrüstung und mit dem Aufbau eines kompromisslosen Feindbildes Russland & China (muss "ruiniert" werden) beantwortet wird – statt mit Gesprächen, Kontakten, Verhandlungen, Rüstungskontrollen, OSZE-Zusammenarbeit.

Um Klimazerstörung, Artensterben, Armut in der Welt, den zunehmenden Hunger brauchen wir uns bei dieser Konstellation jedenfalls nicht mehr zu kümmern: Dafür fehlen definitiv Geld und Motivation zur Zusammenarbeit.

 

isw-spezial 36: Wirtschaftskrieg, Gaskrise, Inflation, November 2022

isw-spezial 37: Gasmarkt + Strommarkt in Deutschland, Juni 2023

isw = Institut für sozialökologische Wirtschaftsforschung

 

 

Anmerkung: Obervolta ist der Kolonialname für das heutige Land Burkina Faso.

Westen vor Intervention in der Ukraine?

Do, 29/02/2024 - 07:20

Die Eskalation des Ukraine-Kriges durch die NATO. Auf dem Weg in den atomaren Schlagabtausch: Laut Aussagen des slowakischen Ministerpräsidenten Fico diskutieren Nato-Staaten Formen direkter militärischer Intervention in der Ukraine.

 

 

Der slowakische Ministerpräsident Robert Fico gab am Montag alle diplomatische Zurückhaltung auf. Der als prorussisch geltende Regierungschef erklärte kurz vor dem europäischen Gipfeltreffen in Paris, dass mehrere Staaten der Nato und der Europäischen Union Schritte zur direkten militärischen Intervention in der Ukraine diskutierten. [1] Die Entsendung westlicher Armeekräfte in das Kriegsland soll auf "bilateraler Basis" vonstattengehen. Inzwischen bestätigt dies auch der polnische Präsident Duda, der in einer ersten Stellungnahme "Grenzsicherung" und "Minenräumung" als Aufgabenbereiche westlicher Interventionstruppen in der Ukraine bezeichnete.[2]

Entscheidend ist in diesem Zusammenhang das Wörtchen "bilateral". Die Nato- und EU-Truppen würden rechtlich nicht unter dem Schutzschirm der Nato intervenieren, sondern auf Grundlage von zwischenstaatlichen Beistandsverträgen. Damit würde die Nato-Beistandsgarantie hinfällig, die bei Angriffen auf einzelne Nato-Staaten das gesamte Militärbündnis zur militärischen Reaktion verpflichtet. Mittels dieser rechtlichen Regelung soll somit ein Beistandsautomatismus bei direkten militärischen Konflikten zwischen Russland und den potenziellen westlichen Interventionsländern verhindert werden, der zwangsläufig zu einem Weltkrieg samt nuklearen Schlagabtausch führen würde.

Polen gilt in diesem Zusammenhang als sicherer Kandidat für einen solchen Eskalationsschritt. Derzeit läuft eine Einberufungskampagne in dem östlichen Nato-Land, bei der Hunderttausende Bürger zur militärischen Musterung aufgerufen werden.[3] Zwischen 1997 und 2005 geborene Staatsbürger müssen vor Auswahlkommissionen erscheinen, die ihre militärische Verwendbarkeit prüfen. Bei Weigerung drohen Geldstrafen oder eine Vorführung durch die Polizei. Frankreichs Präsident Macron will ebenfalls den Einsatz von Bodentruppen in der Ukraine nicht mehr ausschließen.

Gerade die Form bilateraler Beistandsabmachungen, die derzeit in der Nato als rechtliche Grundlage einer Intervention diskutiert wird, macht somit einen ersten Schritt zur direkten militärischen Konfrontation zwischen russischen und westlichen Truppen möglich. Zugleich würden die betreffenden westlichen Staaten den Schutz der Nato in dieser Auseinandersetzung verlieren – und dies in einer Zeit, in der das westliche Militärbündnis aufgrund eines möglichen Trump-Sieges in den USA ohnehin vor einer ungewissen Zukunft steht.

Hintergrund der sich konkretisierenden Interventionspläne ist die sich immer deutlicher abzeichnende Niederlage der Ukraine, die auf längere Sicht dem ungleich größeren militärischen Potenzial Russlands nicht gewachsen ist.[4] Die Chance, einen relativ vorteilhaften Waffenstillstand zu verhandeln, hat Kiew längst verpasst – sie wurde Ende 2022, als Russland seinen Rückzug aus Cherson antreten musste, verpasst.[5] Seitdem gewinnt in dem gnadenlosen Abnutzungskrieg die russische Militärmaschinerie zunehmend die Überhand. Je länger der Krieg dauert, desto unwahrscheinlicher scheint noch ein Friedensschluss, nach dem noch eine unabhängige Ukraine existieren sollte.

The thin red line

Die direkte westliche Intervention in dem Kriegsland stellt in mehrfacher Hinsicht eine rote Linie dar. Sie macht den nuklear geführten Großkrieg zwischen der Nato und Russland – der bislang durchaus möglich war – fortan sehr wahrscheinlich. Russlands Armee kann durch Nato-Truppen besiegt werden, die russische Militärmaschine ist weiterhin ineffektiv, korruptionszerfressen und innovationsunwillig. Der russische Materialüberschuss im Krieg resultiert aus Deals mit Nordkorea sowie dem Iran und der Umstellung Russlands auf Kriegsproduktion,[6] die vom Westen gescheut wird.

Russlands Armee könnte in einem konventionellen Krieg von westlichen Truppen besiegt werden – was dessen Eskalation in einen Atomkrieg – getriggert durch den Einsatz taktischer Nuklearwaffen – wahrscheinlich macht. Und es ist wiederum unwahrscheinlich, das die Nato bei einem Einsatz taktischer Atomwaffen gegen westliche Truppen in der Ukraine stillhalten würde.

Die Verluste Russlands – das offenbar immer noch nicht zu kombinierter Kriegsführung fähig ist – sind weiterhin sehr hoch, nur setzt sich das größere quantitative Potenzial der Russischen Föderation im Krieg langsam durch. Der Ukraine gehen das "Menschenmaterial" und die Ressourcen für die Front aus – was zu einem zunehmenden Übergewicht Moskaus, etwa bei Artillerie und Luftunterstützung, führt. Nach der Niederlage der ukrainischen Armee in Avdiivka,[7] einem zu einer Festung ausgebauten Vorort von Donetsk, scheint der russische Vormarsch in Gang zu kommen. Dabei verfügt Moskau noch über starke Reserven von Hunderttausenden von Soldaten, die für eine kommende Offensive im Frühjahr oder Sommer zur Verfügung stehen. Jede neue Verteidigungslinie, die Kiews Truppen errichten, ist zwangsläufig schwächer als die letzte, die sie aufgeben mussten.

Fakt ist somit, dass nur noch eine direkte militärische Intervention des Westens den Sieg Russlands verhindern kann. Dieser krisenimperialistische Krieg[8] – in dem die Ukraine zwischen West und Ost[9] faktisch zerrieben wird – kann keinen "guten", einigermaßen progressiven Ausgang mehr nehmen. Ein Sieg Russlands wird nicht nur ein Ende der Souveränität der Ukraine mit sich bringen, sondern auch europaweit autoritären, faschistischen Kräften wie der AfD weiteren Auftrieb verleihen. Eine Niederlage Russlands – die nur im Rahmen einer westlichen Intervention möglich wäre – wird mit einer an Sicherheit grenzenden Wahrscheinlichkeit in einem nuklearen Schlagabtausch enden. Als einzige gangbare Option bleibt ein "dreckiger Deal" zwischen Ost und West, der das geschundene Grenzland aufteilen würde.

Der Einsatz in der Ukraine ist für beide Seiten – für den Westen wie den Kreml – zu hoch, als dass sie eine Niederlage einfach akzeptieren könnten. Russlands Angriffskrieg resultierte aus einer Position der geopolitischen Schwäche, da der Einfluss Moskaus in seinem krisengeplagten und sozial zerrütteten postsowjetischen "Hinterhof" zunehmend bröckelte.[10] Für den Kreml geht es in der Ukraine um alles – um die Beibehaltung der Stellung Russlands als imperiale Macht. Doch inzwischen ist auch der Einsatz für den Westen immer höher geworden. Ein Sieg Russland würde das westliche Bündnissystem insbesondere in Europa, wo wirtschaftliche Stagnation und soziale Unruhen um sich greifen, rasch destabilisieren.

Russland und der Westen können es sich um ihrer inneren Stabilität willen nicht leisten, die Ukraine zu verlieren – das macht diese Eskalation so gefährlich. Die rote Line, die hier überschritten werden könnte, gilt aber auch progressive Kräfte. Die Unterstützung des völkerrechtlich legitimen Verteidigungskrieges der Ukraine, auch was militärische Hilfe anbelangt, muss bei direkter militärischer Intervention des Westens ein Ende finden – die sehr wahrscheinliche Eskalationsspirale führt hierbei in den nuklearen Schlagabtausch.

 

Fußnoten

[1] https://www.reuters.com/world/europe/slovak-pm-says-some-western-states-consider-bilateral-deals-send-troops-ukraine-2024-02-26/
[2] https://twitter.com/MurzynfrogXXX/status/1762278676006154482
[3] https://www.tag24.de/thema/aus-aller-welt/polen/angst-vor-krieg-maenner-und-frauen-in-polen-muessen-zur-musterung-3081619
[4] https://www.konicz.info/2023/12/14/putins-rechnung-geht-auf/
[5] https://www.konicz.info/2023/01/19/kiews-verpasste-chance/
[6] https://www.konicz.info/2023/08/26/putins-kriegswirtschaft/
[7] https://en.wikipedia.org/wiki/Battle_of_Avdiivka_(2022%E2%80%932024)
[8] https://www.konicz.info/2022/06/23/was-ist-krisenimperialismus/
[9] https://www.konicz.info/2022/06/20/zerrissen-zwischen-ost-und-west/
[10] https://www.akweb.de/politik/russland-ukraine-konflikt-kampf-auf-der-titanic/

 

Tomasz Konicz finanziert seine journalistische Tätigkeit größtenteils durch Spenden. Falls Ihnen seine Texte zusagen, dann können Sie sich gerne daran beteiligen – entweder über Patreon, über Substack, oder durch direkte Banküberweisung nach Absprache per Mail:
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Macron: Einsatz von Bodentruppen nicht mehr ausgeschlossen

Do, 29/02/2024 - 07:12

Zwei Jahre nach dem russischen Einmarsch in die Ukraine ist die mit hohen Erwartungen verbundene Offensive Kiews nicht nur gescheitert, sondern das russische Militär ist in der Offensive. Spektakuläres Beispiel ist die Einnahme der Festung Awdijiwka. Eine gefährliche Situation: Entweder die Aussichtslosigkeit eines militärischen Sieges akzeptieren oder dramatisch eskalieren. NATO ist (noch) gegen Entsendung von Bodentruppen.

 

Eine grundsätzliche Wende zugunsten der Ukraine ist nicht in Sicht. Zum einen, weil Kiew die Soldaten ausgehen und die Bereitschaft, sich als Kanonenfutter verheizen zu lassen, sinkt. Viele Männer verstecken sich. Inzwischen werden Männer von den Rekrutierungstrupps bei der Arbeit oder auf der Straße aufgegriffen und zum Militär gezwungen. Viele sind aus der Ukraine geflohen. Mehr als 600.000 Ukrainer in wehrfähigem Alter sollen sich nach offiziellen Angaben in der EU aufhalten. Selbst wenn es gelänge, noch einmal eine halbe Million zu rekrutieren, braucht es einige Monate, um sie auszubilden. Wer weiß, wo Moskaus Truppen dann stehen. Zum anderen fehlt es an Munition und Gerät, und das nicht nur wegen der Blockade in Washington, sondern weil die westlichen Produktionskapazitäten den Bedarf nicht so schnell decken können. Inzwischen muss ja auch Israel für seinen Vernichtungskrieg gegen die Palästinenser:innen in Gaza mit Waffen und Munition versorgt werden.

Für den kollektiven Imperialismus des Westens erweist sich auch die wirtschaftliche Widerstandsfähigkeit Russlands als eine Überraschung. Dass die Sanktionen weder Einfluss auf die Kriegsführung des Kremls haben, noch das Land ruinieren, liegt aber nicht nur an der Größe und Robustheit der russischen Volkswirtschaft, sondern auch daran, dass der Globale Süden – vorneweg China, Indien und die übrigen BRICS+ – kein Interesse daran hat, sich in den neuen kalten Krieg hineinziehen zu lassen. Stattdessen unterhalten sie mit Russland normale Beziehungen. Mehr noch, in den BRICS oder in der Shanghai Cooperation Organisation (SCO) arbeiten sie mit Moskau zusammen.

Außerdem hat ein Gestaltwandel des Krieges stattgefunden: er ist erklärtermaßen zum Stellvertreter- und Weltordnungskrieg zwischen dem kollektiven Imperialismus des Westens und Russland geworden.

Sinkende Unterstützung für Kiew

Anders als im vergangenen Jahr, als noch 141 der 193 UN-Mitglieder den russischen Präsidentin Wladimir Putin zum Rückzug aufgefordert hatten, hat die Ukraine dieses Jahr zum zweiten Jahrestag des russischen Überfalls erst gar keine Resolution in der Vollversammlung eingebracht. Aus Sorge, sie könnte wenig Unterstützung finden. Die Stimmung habe sich geändert, heißt es aus Diplomatenkreisen - vor allem wegen des Krieges im Nahen Osten, so die Berichterstattung der Tagesschau. Einige Länder seien verstimmt, da Kiew sich, als es in der Vollversammlung um eine Resolution für eine Waffenruhe in Gaza ging, enthalten hat. Und insbesondere arabische Staaten kritisierten die pro-israelische Haltung der USA. Dem größten Unterstützer Kiews und Tel Avis.

Die eigentliche Zeitenwende

Mit dem Krieg Israels gegen Gaza und der einseitigen Parteinahme Washingtons und der meisten EU-Mitgliedsstaaten, sowie der Doppelmoral angesichts des israelischen Umgangs mit Menschenrechten und Völkerrecht, hat sich die Kluft zwischen dem Globalen Süden und den USA und ihren Verbündeten noch weiter vertieft. Dass die USA bei der Abstimmung im UN-Sicherheitsrat am 20. Februar des Jahres einsam und allein ihr Veto einlegen mussten, um einen Waffenstillstand in Gaza zu verhindern, spricht Bände. Ebenso, dass bei der Vollversammlung der UNO am 12. Dezember 2023 nur acht Länder mit Israel und den USA gegen einen sofortigen Waffenstillstand stimmten.

Chinas Aufstieg zur Supermacht, das Comeback Russlands als Großmacht, die Großmachtambitionen Indiens und anderer Schwellenländer, das selbstbewusste Auftreten der BRICS – aus alledem folgt, die Dominanz des Westens über die Weltpolitik ist Vergangenheit. Das ist die eigentliche Zeitenwende.

Allerdings ist das jetzt eine sehr gefährliche Situation. Der Westen steckt in dem Dilemma, entweder die Aussichtslosigkeit eines militärischen Sieges zu akzeptieren und dem Kreml ein Verhandlungsangebot zu machen, das diesem so weit entgegenkommt, dass er Interesse an Verhandlungen bekommt. Oder es müsste dramatisch eskaliert werden. Und zwar weit über die Taurus-Raketen hinaus, die zwar unangenehm für Russland wären, aber so wenig ein Game-Changer wie früher die Leopard-Panzer oder HIMARS-Raketen. Eine solche Eskalation aber birgt wiederum das Risiko einer Ausweitung des Krieges mit unkalkulierbaren Folgen.

Frankreich ist bereit zu eskalieren

Frankreichs Präsident Emmanuel Macron scheint das Risiko dieser Eskalation nicht zu scheuen. Bei einer Hilfskonferenz für die Ukraine in Paris haben über 20 Länder mehr und schnellere Hilfe für die Ukraine beschlossen. Macron kündigte zudem eine neue Koalition für die Lieferung von Mittel- und Langstreckenraketen an. Auch der Einsatz von westlichen Bodentruppen wird von Emmanuel Macron inzwischen nicht mehr ausgeschlossen. Nichts sei ausgeschlossen, um einen russischen Sieg in der Ukraine zu verhindern, sagte Macron nach Abschluss einer Ukraine-Hilfskonferenz am gestrigen Abend (26.2.) in Paris.

Bei dem Treffen von über 20 Staats- und Regierungschefs, darunter Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD), habe es zwar keine Einigkeit zum Einsatz von Bodentruppen gegeben, sagte Macron. "Aber in der Dynamik darf nichts ausgeschlossen werden. Wir werden alles tun, was nötig ist, damit Russland diesen Krieg nicht gewinnen kann." Eine russische Niederlage sei nötig für die Stabilität und Sicherheit in Europa. Deshalb müssten sich die Unterstützer der Ukraine einen Ruck geben.

Auf die Frage eines möglichen Einsatzes von Truppen durch Polen sagte Macron, jedes Land könne eigenständig und souverän über den Einsatz von Bodentruppen entscheiden.

Vor seiner Abreise zu dem Pariser Treffen hatte der slowakische Ministerpräsident Robert Fico vor einer "gefährlichen Eskalation der Spannungen" mit Russland gewarnt. Einzelne Länder, die er nicht namentlich nennen wollte, seien offenbar bereit, eigene Soldaten direkt in die Ukraine zu schicken. Das aber würde Russland nicht zum Einlenken bewegen, sehr wohl aber die Gefahr einer Ausweitung des Konflikts vergrößern.

Der französische Oppositionsführer Jean-Luc Mélenchon erklärte: "Die Entsendung von Truppen in die Ukraine würde uns zu Kriegsparteien machen. Ein Krieg gegen Russland wäre Wahnsinn. Diese kriegerische verbale Eskalation einer Atommacht gegen eine andere große Atommacht ist bereits ein unverantwortlicher Akt. Das Parlament muss eingeschaltet werden und "Nein" sagen. Es darf keinen Krieg geben! Es ist höchste Zeit für Friedensverhandlungen in der Ukraine mit gegenseitigen Sicherheitsklauseln!"

Stoltenberg: Kein Einsatz von NATO-Truppen in Ukraine geplant

NATO-Generalsekretär Jens Stoltenberg erklärte nach den Äußerungen des französischen Präsidenten, dass die NATO keine Pläne habe, Kampftruppen in die Ukraine zu schicken. Er schränkte jedoch ein, dass der Ukraine das Recht auf Selbstverteidigung zustehe, "und wir haben das Recht, sie bei der Wahrung dieses Rechts zu unterstützen". Vor der Münchner Sicherheitskonferenz hatte Stoltenberg geäußert, dass sich die NATO auf eine "jahrzehntelange Konfrontation mit Russland" vorbereiten müsse.


Der polnische Ministerpräsident Donald Tusk äußerte sich skeptisch gegenüber den Ideen eines Einsatzes von westlichen Bodentruppen in der Ukraine. Allerdings wolle er zum jetzigen Zeitpunkt nicht spekulieren, ob es in der Zukunft unter bestimmten Unterständen zu einer Änderung dieses Standpunktes kommen könne.

Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) hat den Überlegungen des französischen Präsidenten Emmanuel Macron zur Entsendung westlicher Truppen in die Ukraine eine Absage erteilt. Auch für die Zukunft gelte, "dass es keine Bodentruppen, keine Soldaten auf ukrainischem Boden gibt, die von europäischen Staaten oder Nato-Staaten dorthin geschickt werden", sagte Scholz. Doch es wäre nicht das erste Mal, dass der Kanzler von ihm vorher gezogene "rote Linien" überschreiten würde. 

Den Krieg nach Russland tragen

Auch die Grünen halten nichts von Überlegungen zur Entsendung von Bodentruppen. Vizekanzler Robert Habeck erklärte, es sei immer klar gewesen, dass das keine Option sei. Die Partei warb zu Beginn einer Klausur der Bundestagsfraktion in Leipzig stattdessen erneut für eine Lieferung von "Taurus"-Marschflugkörpern.

Sie treffen sich dabei mit dem CDU-Wehrexperten Roderich Kiesewetter, der den Krieg um die Ukraine massiv eskalieren und den Krieg nach Russland tragen will, um dort russische Ministerien zu zerstören. Dafür müsse die Bundesregierung die entsprechenden Waffen liefern.

"Der Krieg muss nach Russland getragen werden. Russische Militäreinrichtungen und Hauptquartiere müssen zerstört werden. Wir müssen alles tun, dass die Ukraine in die Lage versetzt wird, nicht nur Ölraffinerien in Russland zu zerstören, sondern Ministerien, Kommandoposten, Gefechtsstände."
Roderich Kiesewette (CDU), DW, 9.2.2024
https://www.dw.com/de/kiesewetter-den-krieg-nach-russland-tragen/a-68215200

Doch es sind nicht nur Kiesewetter, Flack-Zimmermann, Hofreiter und Co, die zum letzten Gefecht trommeln.

In einem vom Bundestag am 22. Februar beschlossenen Antrag der Ampelfraktion wir die Bundesregierung gemeinsam aufgefordert, weitere Waffen an die Ukraine zu liefern - und zwar Systeme, die weit hinter die russische Frontlinie reichen. "Insbesondere muss die Ukraine auch künftig in die Lage versetzt werden, Angriffe auf militärische Ziele wie Munitionsdepots, Versorgungsrouten und Kommandoposten weit hinter den Frontlinien durchzuführen", heißt es im Beschluss.

"Wer mit deutschen Waffen den Krieg nach Russland tragen will, der trägt den Krieg nach Deutschland und setzt damit unser größtes Gut fahrlässig aufs Spiel: ein Leben in Freiheit, Frieden und Sicherheit."
Sahra Wagenknecht, (MdB, BSW)

Der Wille zum Weltkrieg

Mo, 26/02/2024 - 08:41

Berlin dringt trotz Warnungen in den USA auf militärischen Sieg der Ukraine über Russland. Leitmedien diffamieren den Versuch, Deutschland nicht mit Taurus-Lieferung in den Krieg zu führen, als unnötige „Angst“. Durchhalteparolen, Forderungen nach einem Sieg über Russland und Spott über „Angst“ vor einer Entgrenzung der Waffenlieferungen an Kiew haben in Deutschland den zweiten Jahrestag des russischen Angriffs auf die Ukraine geprägt.

 

Während in den USA Warnungen laut werden, die Ukraine drohe den Krieg zu verlieren, und US-Regierungsmitarbeiter Präsident Wolodymyr Selenskyj zu Verhandlungen mit Russland drängen, heißt es in Berlin, Moskau müsse „diesen Krieg verlieren“. Der CDU-Vorsitzende Friedrich Merz fordert, vor einer russischen Kapitulation dürfe es „keine Verhandlungen geben“. Auf einen ukrainischen Sieg spekulieren laut Umfragen lediglich 10 bis 25 Prozent der deutschen Bevölkerung; Mehrheiten rechnen im Gegenteil mit einem russischen Sieg und sprechen sich gegen Waffenlieferungen aus. Leitmedien ziehen die Weigerung von Kanzler Olaf Scholz, Kiew Marschflugkörper vom Typ Taurus zu übergeben, mit der Aussage ins Lächerliche, Scholz müsse noch „seine Angst überwinden“. Mit „Angst“ ist die begründete Vermutung gemeint, Moskau werde die Lieferung des Taurus als deutschen Kriegseintritt werten. Wegen stark steigender Rüstungsausgaben sagt ein Ökonom „Kanonen ohne Butter“ voraus.

Selenskyjs Wahl

Politiker aus der Berliner Regierungskoalition wie auch aus der Opposition haben am Wochenende die Forderung nach einem Sieg der Ukraine im Krieg gegen Russland bestärkt – dies, während andernorts, etwa in den Vereinigten Staaten, warnende Stimmen lauter werden. So konstatierte Ende vergangener Woche Charles Kupchan, ehedem Europadirektor im Nationalen Sicherheitsrat unter Präsident Barack Obama, es existiere „kein vorhersehbarer Weg zu einem Sieg der Ukraine auf dem Schlachtfeld“ – und zwar auch dann nicht, wenn die ukrainischen Streitkräfte bald neue Waffen, etwa US-Kampfjets des Typs F-16, einsetzen könnten.[1] Der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj, urteilte Kupchan, stehe faktisch vor der Wahl, jeden Zentimeter ukrainischen Hoheitsgebiets zu verteidigen zu versuchen oder aber einen Weg zu finden, die Ukraine als einen ökonomisch überlebensfähigen Staat mit einer demokratischen Zukunft zu bewahren. Letzteres bezog sich nicht zuletzt darauf, dass das Land bei einer Fortführung des Krieges noch mehr Menschen, vor allem aus der jüngeren Generation, verlieren wird, während seine wirtschaftliche Existenz nach Einschätzung von Demografen schon heute wegen der hohen Zahl an der Front umgekommener Soldaten sowie der zahlreichen Flüchtlinge kaum noch sicherzustellen ist (german-foreign-policy.com berichtete [2]).

„Russland muss verlieren“

Während US-Regierungsmitarbeiter laut einem aktuellen Bericht der New York Times den ukrainischen Präsidenten zu Verhandlungen mit Russland zu bewegen versucht haben – wenn auch ohne Erfolg [3] –, sind aus Berlin derzeit nur anfeuernde Parolen zu hören. So äußerte am Samstag exemplarisch der außenpolitische Sprecher der SPD-Bundestagsfraktion, Nils Schmid, „die militärische Unterstützung der EU-Staaten für die Ukraine“ sei „wichtiger denn je“; denn letzten Endes müssten „Präsident Putin und sein Regime ... diesen Krieg verlieren“: „Russland muss scheitern“.[4] Der CDU-Vorsitzende Friedrich Merz wiederum erklärte, er setze darauf, dass Moskau letztlich kapituliere: „Wenn Russland die Waffen niederlegt, ist der Krieg zu Ende.“ Dazu müsse man „die russische Armee und die russische Staatsführung bringen“.[5] Merz fuhr fort: „Die Ukraine muss den Krieg gewinnen, und zwar so gewinnen, dass Russland keinen Sinn mehr darin sieht, ihn militärisch fortzusetzen“. Wie das gelingen soll – zahlreiche Militärexperten, auch der Ex-Oberbefehlshaber der ukrainischen Streitkräfte Walerij Saluschnyj [6], halten dies für unmöglich –, erläuterte Merz nicht. Allerdings legte der Oppositionsführer im Bundestag sich fest: „Vorher“ – vor einer Kapitulation der russischen Streitkräfte – „wird es keine Verhandlungen geben.“

Gegen die Bevölkerung

Mit seiner stahlharten Forderung, Russland müsse den Krieg verlieren, stellt Berlin sich nicht nur der nüchternen Lageeinschätzung erfahrener Militärs, sondern auch einer klaren Mehrheit der Bevölkerung entgegen. So gaben bei einer Umfrage des European Council on Foreign Relations (ECFR), die in der ersten Januarhälfte in zwölf europäischen Staaten erhoben wurde, gerade einmal zehn Prozent aller deutschen Befragten an, die Ukraine könne laut ihrer Auffassung den Krieg noch gewinnen.[7] 19 Prozent sahen dagegen Russland als Sieger, während 31 Prozent einen Kompromiss zwischen Moskau und Kiew erwarteten. Zwar fanden 32 Prozent trotzdem, die EU solle die Ukraine militärisch unterstützen; 41 Prozent äußerten hingegen, sie zögen es vor, wenn Brüssel Kiew zu Verhandlungen mit Moskau dränge. Eine Anfang Februar durchgeführte Ipsos-Umfrage ergab zwar, rund 25 Prozent der deutschen Bevölkerung seien der Ansicht, die Ukraine könne den Krieg noch gewinnen; doch meinten 40 Prozent, dies sei jetzt nicht mehr möglich. Für Waffenlieferungen an die Ukraine sprachen sich immerhin noch 39 Prozent Prozent aus; 43 Prozent waren jedoch dagegen.[8] Der mit Abstand größte Anteil an Befürwortern von Waffenlieferungen existiert laut der Umfrage bei Anhängern von Bündnis 90/Die Grünen (72 Prozent), bei denen auch der Anteil derjenigen, die einen Sieg der Ukraine noch für möglich halten, am höchsten liegt (47 Prozent).

Kanonen ohne Butter

Weil die milliardenschweren Waffenlieferungen an die Ukraine und die massive Aufrüstung der Bundeswehr immense Summen verschlingen werden, gewinnt aktuell die Debatte, wo die Mittel dafür herkommen sollen, an Fahrt. Interne Planungen des Verteidigungsministeriums gehen davon aus, dass das Mindestvolumen des deutschen Militäretats – zwei Prozent des Bruttoinlandsprodukts – sich 2028 auf 97 Milliarden Euro belaufen wird.[9] Hinzu kämen, so heißt es, vermutlich weitere „Bedarfe“ in Höhe von 10,8 Milliarden Euro. Gegenüber dem aktuellen Wehrhaushalt von knapp 52 Milliarden Euro entsteht damit eine Lücke von rund 56 Milliarden Euro. Kürzungsmaßnahmen führen schon jetzt zu ersten Sozialprotesten, und auch in der Wirtschaft wird Unmut laut; so stößt es auf Unverständnis, dass die Bundesregierung unlängst die staatlichen Mittel für die Batterieforschung um drei Viertel gekürzt hat, obgleich die Batterieproduktion als Schlüsselbranche der Energiewende gilt.[10] Finanzminister Christian Lindner stellte schon am Donnerstagabend in einer TV-Talkshow ein „mehrjähriges Moratorium bei Sozialausgaben und Subventionen“ in Aussicht, um die Rüstungsausgaben künftig finanzieren zu können.[11] Der Präsident des Ifo-Instituts, Clemens Fuest, stellte fest: „Kanonen und Butter – das wäre schön, wenn das ginge. Aber das ist Schlaraffenland. Das geht nicht.“ Künftig gebe es „Kanonen ohne Butter“.[12]

„Weniger Zögern, mehr Härte“

Einwände gegen entgrenzte Waffenlieferungen an die Ukraine werden mittlerweile brüsk vom Tisch gewischt – mit Argumenten, die eine wachsende Bereitschaft erkennen lassen, die Bundesrepublik aktiv in den Krieg gegen Russland zu führen. Dies gilt zur Zeit insbesondere für die Forderung, Kiew Marschflugkörper vom Typ Taurus zu übergeben. Griffen die ukrainischen Streitkräfte mit ihnen Territorien an, die bereits vor 2014 zu Russland gehörten, dann würde dies von Moskau vermutlich als Eintritt Deutschlands in den Krieg gewertet. Bereits am Freitag hieß es in einem Leitkommentar in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung, Kanzler Scholz, der die Taurus-Lieferung bislang verweigert, müsse davon abrücken und „seine Angst überwinden“.[13] Der CDU-Vorsitzende Merz griff dies am Wochenende in der Debatte um den Taurus auf und äußerte, den Willen zur Vermeidung des Kriegseintritts als Feigheit diffamierend: „Hat er [Scholz, d. Red.] Angst?“[14] In der Grünen-nahen taz ist mittlerweile davon die Rede, man befinde sich ohnehin bereits in einem „Weltkrieg“, zu dem Putin im Jahr 2022 „den Startschuss“ gegeben habe: „Viele Mächte, nah und fern, verfolgen, wer hier die Oberhand gewinnt.“[15] Deshalb müsse der Westen aus dem Krieg als Sieger hervorgehen: „Weniger Zögern, mehr Härte ist das Gebot der Stunde.“ Dies gilt ganz offenkundig für den Weltkrieg, in dem der Autor den Westen aktuell sieht.

 

[1] Steven Erlanger, David E. Sanger: Hard Lessons Make for Hard Choices 2 Years Into the War in Ukraine. nytimes.com 24.02.2024.

[2] S. dazu „Ein irreversibler demographischer Schock“

[3] Steven Erlanger, David E. Sanger: Hard Lessons Make for Hard Choices 2 Years Into the War in Ukraine. nytimes.com 24.02.2024. S. dazu Die Strategie der Eindämmung

[4] Nils Schmid: Zwei Jahre Angriff auf die Ukraine: Putin muss diesen Krieg verlieren. vorwaerts.de 24.02.2024. S. dazu „Russland muss verlieren“

[5] Hannes Niemeyer: „Hat Scholz Angst?“ – Merz zieht vernichtende Bilanz nach zwei Jahren Ukraine-Krieg. merkur.de 25.02.2024.

[6] S. dazu Heikle Gespräche.

[7] Ivan Krastev, Mark Leonard: Wars and elections: How European leaders can maintain public support for Ukraine. ecfr.eu 21.02.2024.

[8] Nur jede:r Vierte hält Sieg der Ukraine noch für realistisch, Waffenlieferungen bei Deutschen umstritten. ipsos.com 22.02.2024.

[9] Matthias Gebauer, Marina Kormbaki: Bundeswehr steuert auf 56-Milliarden-Euro-Loch zu. spiegel.de 31.01.2024.

[10] Oliver Scheel: Batterieforschung in Deutschland droht das Aus. n-tv.de 08.02.2024.

[11], [12] Raphaël Schmeller: Ampel zerlegt Sozialstaat. junge Welt 24.02.2024.

[13] Reinhard Müller: Wo bleibt der Booster für die Ukraine? Frankfurter Allgemeine Zeitung 23.02.2024.

[14] Hannes Niemeyer: „Hat Scholz Angst?“ – Merz zieht vernichtende Bilanz nach zwei Jahren Ukraine-Krieg. merkur.de 25.02.2024.

[15] Jan Claas Behrends: Startschuss zum Weltkrieg. taz.de 25.02.2024.

 

 

Fragen aus einer nachdenklichen linken Perspektive

Mi, 21/02/2024 - 19:22

Wir leben in turbulenten Zeiten. Ob dies die aktuellen Kriege mit drohender atomarer Apokalypse, die sich zuspitzenden Umwelt- und Klimakatastrophen, die globale Ökonomie mit ihren Ungerechtigkeiten oder die Verhältnisse in unserem Land sind, überall sind heftige Krisen mit sich andeutenden Verwerfungen festzustellen. Die Menschheit befindet sich in einem Minenfeld. Jeder falsche Schritt könnte der letzte sein. Andrerseits bewegt Millionen Menschen die Sehnsucht nach einem besseren und sicheren Leben für sich und ihre Kinder.

Das weltbeherrschende Gesellschaftssystem, auch in den früheren sozialistischen Ländern ist der Kapitalismus, dem sich ebenso die übriggebliebene Systemalternative wie Kuba nicht entziehen kann. Nach Beendigung der Systemkonkurrenz hat der Kapitalis-mus seine sozialen Rücksichten fallengelassen und sich in Gestalt des Neoliberalismus mit dem kaum eingeschränkten Profitstreben und einer beispiellosen privaten Kapital-anhäufung durchgesetzt. Trotz der letzten Finanzkrise, die die Kapitalisten nur mit Hilfe des Staates als ideellen Gesamtkapitalisten überstanden haben, wird der neoliberale Weg weiter beschritten. Dies ändert auch nichts an der Tatsache, dass viele Menschen sich gegen die Nutzung der fossilen Energiequellen mit den fatalen Auswirkungen auf das Klima engagieren. Auch die gemäßigt linken Regierungen in Südamerika können zwar im sozialen Bereich die schlimmsten Auswirkungen der kapitalistischen Ausbeutung begrenzen, jedoch keine grundsätzlich alternative Politik zum vorherrschenden Kapitalismus einleiten. Und scheinbar über allem thront die einzig übrig gebliebene Weltmacht und kapitalistisches Musterland USA mit ihrem immensen militärischen, finanziellen und ökonomischen Potential, die die Aufrechterhaltung ihrer Hegemonie weltweit verteidigt und sich der Konkurrenz vor allem aus China mit all ihnen zur Verfügung stehenden Mitteln zu erwehren versucht. Nur so können die Herrschenden der USA das System ihres „American way of life“ aufrechterhalten. Deutschland als früheres geteiltes Besatzungsland, und heute gegenüber der US-amerikanischen Hegemonialmacht in dienender Führungsfunktion, hat sich unter der jetzigen Regierung, mehr oder weniger auch unter den früheren Regierungen dieser Prämisse bedingungslos und zwar zum eigenen Nachteil untergeordnet.

Die in groben Zügen dargestellte Gesamtsituation lässt bei mir und vermutlich bei jedem bewussten Linken folgende Frage aufkommen:

Kann das kapitalistische System die aktuellen und zukünftigen Menschheitsprobleme lösen oder nicht?

Um diese Frage zu beantworten, muss ich mich wie jeder und jede andere Linke eingehend mit den in der Einleitung angerissenen Themenkomplexen ernsthaft beschäftigen. Hierzu gibt es genügend Literatur und oft helfen auch die eigenen Erfahrungen sowie der Meinungsaustausch mit den Mitmenschen, ob Gleichgesinnten oder nicht, weiter. Wenn jemand aufgrund eigener Einsicht zu der Auffassung kommt, ein reformierter Kapitalismus hat das Potential mit neuen technischen Möglichkeiten und viel politischer Vernunft die künftigen Aufgaben zu bewältigen, so wäre das Ja zum Kapitalismus, zwar in geänderter Form, aber auf gleicher Grundlage zu akzeptieren. Schließlich hat der Kapitalismus schon einige Krisen zwar mit staatlicher Unterstützung überwunden, andrerseits ist er innovativ und anpassungsfähig. Erst die Zukunft wird diesen Ansatz verifizieren.                                                                                

Aufgrund meiner Beschäftigung mit den verschiedenen Themenkomplexen bin ich jedoch zur Auffassung gekommen, dass der Kapitalismus, in welcher Form auch immer, nicht die jetzigen und auch nicht die künftigen Menschheitsprobleme löst bzw. lösen wird.
Dies hängt nicht vom guten oder schlechten Willen oder Charaktereigenschaften der Kapitalisten oder der Regierenden ab, sondern dies liegt im System begründet.  Die sich bedingenden Abhängigkeiten und unüberbrückbaren Gegensätze der Ausbeutung von Mensch und Natur einerseits und maximalem Profitstreben andererseits, den planetarischen Grenzen und wirtschaftlichem Wachstum, Sehnsucht nach Frieden und Gerechtigkeit   und die Konkurrenz in großen und kleinen Verhältnissen bilden die Grundlage jedes kapitalistischen Systems. Diese Systembasis kann auch nicht durch noch so gut gemeinte Reformen geändert, sondern nur in ihren Auswirkungen gemildert werden. Dabei ist festzuhalten, dass die Herrschenden in der Ökonomie, Politik und Medien mit ihrer Ideologie und durch ihr Handeln bisher den größten Nutzen aus dem Kapitalismus gezogen haben, aber durch das ideologisch begründete starre Beharren auf seinem ewigen Weiterbestehen auch den maßgeblichen Anteil an dessen Scheitern haben       werden. 

Die Beantwortung der Frage „Wie hältst Du es mit unserem Gesellschaftssystem?“ ist für jeden und jede einzelne Linke(n) die entscheidende Frage, aus der sich weitere Fragen, Antworten und die entsprechende politische Herangehensweise ergeben. Es ist daher die „Gretchenfrage“.

Aus der ersten Fragestellung ergibt sich logisch-zwingend die nächste Frage:

Wenn nicht das kapitalistische System, welches Gesellschaftssystem wäre in der Lage, die Gefahren für die Menschheit abzuwenden und eine menschenwürdige Zukunft, die sich im Einklang mit der Natur befindet, umzusetzen?

Es müsste ein Gesellschaftssystem von seinen Bürgern erarbeitet und erkämpft werden, das einen human-ökologischen Ansatz hat. Darunter ist zu verstehen, dass die Menschen über die Produktionsmittel verfügen, diese planvoll und menschenwürdig einsetzen, damit alle die zum Leben notwendigen Güter in gleicher Qualität und Quantität erhalten. Im gesellschaftlichen Bereich müsste jeder und jede Erwachsene über die demokratischen Institutionen so eingebunden werden, dass alle am Willensbildungs-, Entscheidungs- und Umsetzungsprozess beteiligt sind. Über das Verhältnis zur Natur befindet ein eingesetzter und nur der Umwelt verpflichteter Wissenschaftsrat mit Vetorecht gegenüber allen gesellschaftlichen Institutionen.
Die wesentlichen Prinzipien der künftigen Gesellschafts-ordnung lauten: „Alle Macht gehört dem Volk, alle Macht bleibt im Volk“ sowie „Alles gleich für alle, jeder Mensch anders als der andere“.                                                                                    

Eine ideelle Zukunftsvorstellung ohne Beschreibung des Weges dorthin ist wie ein nicht eingelöstes Versprechen. Daher muss man sich zudem auch mit folgender Frage beschäftigen:

Wie gelangen wir zu einer wie zuvor beschriebenen Gesellschaftsordnung?

Wie bereits ausgeführt, nehmen zu Beginn dieses Jahrhunderts die ökologischen, ökonomischen, sozialen und politischen Krisen stark zu.  Durch die aktuelle Entwicklung haben sich die außenpolitischen Spannungen verschärft, die finanziellen Belastungen für die in der unteren gesellschaftlichen Hälfte befindlichen Privathaushalte sind immens gestiegen; das gleiche gilt für die Staatsfinanzen, die wirtschaftliche Entwicklung zeigt Minuswerte auf und die ökologischen Vorgaben können nicht eingehalten werden. Wenn die von Klaus Dörre bezeichnete Zangenkrise, d.h.  mehrere Krisenursachen treten gleichzeitig auf, sich zu einer Großkrise verdichtet, ist sie von den Regierenden nicht mehr beherrschbar.

Es entsteht dann eine starke Unruhe in der Bevölkerung, die von großen Demonstrationen bis zum Generalstreik reichen kann. Auch verbreitet sich die allgemeine Einstellung, so kann es nicht weitergehen, aber wie es weitergehen soll, ist völlig unklar. Um gegen die Verlockungen der gesellschaftlichen Rechten mit der Aussicht auf autoritäre bis faschistische Herrschaftsformen zu bestehen, ist es für die Linke wesentlich, über ein überzeugendes Narrativ zu verfügen, das den Einstieg in den Ausstieg aus kapitalistischen Verhältnissen, sowie ganz wichtig, das Ziel beschreiben kann. Zwar sind die aktuellen Kundgebungen gegen rechts im Allgemeinen und gegen AFD im Besonderen aufgrund ihrer gesellschaftlichen Breite ermutigend, jedoch in der Auseinandersetzung um die gesellschaftliche Umwälzung kommt es für die fortschrittlichen Kräfte darauf an, ihr Narrativ durchzusetzen. Die bestehenden und auch in der nahen Zukunft voraussichtlich herrschenden gesellschaftlichen Kräfteverhältnisse lassen es nicht zu, dass die Linke aufgrund ihrer Schwäche eine Systemänderung auslösen kann, aber sie sollte darauf vorbereitet sein. Eine Bewegung zur Änderung der Verhältnisse muss sich aus der Bevölkerung entwickeln. 

Wenn wir die beschriebenen Prämissen akzeptieren, wollen wir die gegenwärtigen Handlungsmöglichkeiten eruieren.                                                                                 

Was müssen wir in der Gegenwart bereits tun, um auf einen Systemwechsel vorbereitet zu sein?

Im Gegensatz zu grundsätzlich das kapitalistische System bejahende reformistische Kräfte, die als Aktionsfeld insbesondere den Parlamentarismus nutzen, setzen wir als systemkritische Bewegung auf die Mobilisierung breiter Bevölkerungsschichten. Reformen sind ebenfalls zu bejahen, sie müssen jedoch nicht nur parlamentarisch, sondern vor allem durch Außendruck durchgesetzt werden. Ob es sich um die bekannten Problemfelder im ökologischen, sozialen oder friedenspolitischen Bereich handelt, kommt es darauf an, so viele Menschen wie möglich in die Aktivitäten zu integrieren.
Natürlich kann eingewendet werden, leichter gesagt als getan. Den Zugang zu vielen Menschen in Abhängigkeits-Verhältnissen, ob in der Arbeit oder Wohnung, findet man über eine konsequente Stadtteilarbeit (für den Arbeitsbereich sind zuallererst die Gewerkschaften zuständig). Hier können Defizite aufgegriffen und zusammen mit den Bewohnern bearbeitet und erkämpft werden. Mir ist bewusst, hierzu braucht man viel Geduld und eine große Ausdauer.
Die KPÖ hat beharrlich und durch motivierendes Vorbildverhalten ihrer Aktivisten ein ihr freundliches Klima in den jeweiligen Stadtteilen von Graz und Salzburg geschaffen, das durch entsprechende Wahlergebnisse honoriert wird. Jedoch weniger die Wahlergebnisse sind von Bedeutung, sondern das Erkennen und Begreifen kapitalistischer Verhältnisse, solidarisches Verhalten im Alltag und Konsequenz in der politischen Auseinandersetzung. Die kapitalistischen Bedingungen anschaulich zu erklären und den Zusammenhang zu Alltagserfahrungen herzustellen, obliegt den nach Gramsci bezeichneten organischen Intellektuellen. Aufklärung (Theorie) sowie die Aktivitäten für die Interessen der eigenen Klasse (Praxis) – beides sollte Hand in Hand gehen.         

Es ist nach den Konsequenzen für wichtige Akteure zu fragen:

Welchen Beitrag können linke Intellektuelle leisten?

Einige Bemerkungen zu unseren linken Intellektuellen: Sie haben nach meiner
Auffassung viel zur Aufklärung über die Auswirkungen kapitalistischer Verhältnisse auf Mensch, Gesellschaft, die Weltgemeinschaft und die Natur beigetragen. Sie haben in aller Deutlichkeit die Defizite und die Zukunftslosigkeit des Kapitalismus aufgezeigt.

Leider sind ihre Ansätze zur Systemüberwindung zu dürftig. Entweder verharren sie auf kapitalistischer Grundlage z.B. mit ihrem Ansatz eines Green New Deals oder der von ihnen beschriebene Transformationsprozess ist zu vage bzw. sie bleiben argumentativ auf halbem Weg stehen. Es gilt umzudenken, d.h. vom Ende ausgehend denken. Es ist ein Widerspruch, die heutigen Verhältnisse sachgerecht und ausdrucksstark in dunklen Farben zu malen, den Ausweg aus dem Dilemma dünn und mit blassen Farben zu bepinseln. Etwas mehr Konsequenz und Mut kann man wegen der Dringlichkeit zur Systemveränderung von ihnen erwarten.

Diesen Widerspruch anzuerkennen wäre der erste Schritt zu dessen Aufhebung.

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Fragen aus einer nachdenklichen linken Perspektive

Manfred Norwat

 

 

Wir leben in turbulenten Zeiten. Ob dies die aktuellen Kriege mit drohender atomarer Apokalypse, die sich zuspitzenden Umwelt- und Klimakatastrophen, die globale Ökonomie mit ihren Ungerechtigkeiten oder die Verhältnisse in unserem Land sind, überall sind heftige Krisen mit sich andeutenden Verwerfungen festzustellen. Die Menschheit befindet sich in einem Minenfeld. Jeder falsche Schritt könnte der letzte sein. Andrerseits bewegt Millionen Menschen die Sehnsucht nach einem besseren und sicheren Leben für sich und ihre Kinder.

Das weltbeherrschende Gesellschaftssystem, auch in den früheren sozialistischen Län-dern ist der Kapitalismus, dem sich ebenso die übriggebliebene Systemalternative wie Kuba nicht entziehen kann. Nach Beendigung der Systemkonkurrenz hat der Kapitalis-mus seine sozialen Rücksichten fallengelassen und sich in Gestalt des Neoliberalismus mit dem kaum eingeschränkten Profitstreben und einer beispiellosen privaten Kapital-anhäufung durchgesetzt. Trotz der letzten Finanzkrise, die die Kapitalisten nur mit Hilfe des Staates als ideellen Gesamtkapitalisten überstanden haben, wird der neoliberale Weg weiter beschritten. Dies ändert auch nichts an der Tatsache, dass viele Menschen sich gegen die Nutzung der fossilen Energiequellen mit den fatalen Auswirkungen auf das Klima engagieren. Auch die gemäßigt linken Regierungen in Südamerika können zwar im sozialen Bereich die schlimmsten Auswirkungen der kapitalistischen Ausbeutung begrenzen, jedoch keine grundsätzlich alternative Politik zum vorherrschenden Kapitalismus einleiten. Und scheinbar über allem thront die einzig übrig gebliebene Weltmacht und kapitalistisches Musterland USA mit ihrem immensen militärischen, finanziellen und ökonomischen Potential, die die Aufrechterhaltung ihrer Hegemonie weltweit verteidigt und sich der Konkurrenz vor allem aus China mit all ihnen zur Verfügung stehenden Mitteln zu erwehren versucht. Nur so können die Herrschenden der USA das System ihres „American way of life“ aufrechterhalten. Deutschland als früheres geteiltes Besatzungsland, und heute gegenüber der US-amerikanischen Hegemonialmacht in dienender Führungsfunktion, hat sich unter der jetzigen Regierung, mehr oder weniger auch unter den früheren Regierungen dieser Prämisse bedingungslos und zwar zum eigenen Nachteil untergeordnet.

 

Die in groben Zügen dargestellte Gesamtsituation lässt bei mir und vermutlich bei jedem bewussten Linken folgende Frage aufkommen:

Kann das kapitalistische System die aktuellen und zukünftigen Menschheitsprobleme lösen oder nicht?

 

Um diese Frage zu beantworten, muss ich mich wie jeder und jede andere Linke eingehend mit den in der Einleitung angerissenen Themenkomplexen ernsthaft beschäftigen. Hierzu gibt es genügend Literatur und oft helfen auch die eigenen Erfahrungen sowie der Meinungsaustausch mit den Mitmenschen, ob Gleichgesinnten oder nicht, weiter. Wenn jemand aufgrund eigener Einsicht zu der Auffassung kommt, ein reformierter Kapitalismus hat das Potential mit neuen technischen Möglichkeiten und viel politischer Vernunft die künftigen Aufgaben zu bewältigen, so wäre das Ja zum Kapitalismus, zwar in geänderter Form, aber auf gleicher Grundlage zu akzeptieren. Schließlich hat der Kapitalismus schon einige Krisen zwar mit staatlicher Unterstützung überwunden, andrerseits ist er innovativ und anpassungsfähig. Erst die Zukunft wird diesen Ansatz verifizieren.

                                                                                    

Aufgrund meiner Beschäftigung mit den verschiedenen Themenkomplexen bin ich jedoch zur Auffassung gekommen, dass der Kapitalismus, in welcher Form auch immer, nicht die jetzigen und auch nicht die künftigen Menschheitsprobleme löst bzw. lösen wird.
Dies hängt nicht vom guten oder schlechten Willen oder Charaktereigenschaften der Kapitalisten oder der Regierenden ab, sondern dies liegt im System begründet.  Die sich bedingenden Abhängigkeiten und unüberbrückbaren Gegensätze der Ausbeutung von Mensch und Natur einerseits und maximalem Profitstreben andererseits, den planetarischen Grenzen und wirtschaftlichem Wachstum, Sehnsucht nach Frieden und Gerechtigkeit   und die Konkurrenz in großen und kleinen Verhältnissen bilden die Grundlage jedes kapitalistischen Systems. Diese Systembasis kann auch nicht durch noch so gut gemeinte Reformen geändert, sondern nur in ihren Auswirkungen gemildert werden. Dabei ist festzuhalten, dass die Herrschenden in der Ökonomie, Politik und Medien mit ihrer Ideologie und durch ihr Handeln bisher den größten Nutzen aus dem Kapitalismus gezogen haben, aber durch das ideologisch begründete starre Beharren auf seinem ewigen Weiterbestehen auch den maßgeblichen Anteil an dessen Scheitern haben       werden. 

Die Beantwortung der Frage „Wie hältst Du es mit unserem Gesellschaftssystem?“ ist für jeden und jede einzelne Linke(n) die entscheidende Frage, aus der sich weitere Fragen, Antworten und die entsprechende politische Herangehensweise ergeben. Es ist daher die „Gretchenfrage“.

 

Aus der ersten Fragestellung ergibt sich logisch-zwingend die nächste Frage:

Wenn nicht das kapitalistische System, welches Gesellschaftssystem wäre in der Lage, die Gefahren für die Menschheit abzuwenden und eine menschenwürdige Zukunft, die sich im Einklang mit der Natur befindet, umzusetzen?

 

Es müsste ein Gesellschaftssystem von seinen Bürgern erarbeitet und erkämpft werden, das einen human-ökologischen Ansatz hat. Darunter ist zu verstehen, dass die Menschen über die Produktionsmittel verfügen, diese planvoll und menschenwürdig einsetzen, damit alle die zum Leben notwendigen Güter in gleicher Qualität und Quantität erhalten. Im gesellschaftlichen Bereich müsste jeder und jede Erwachsene über die demokratischen Institutionen so eingebunden werden, dass alle am Willensbildungs-, Entscheidungs- und Umsetzungsprozess beteiligt sind. Über das Verhältnis zur Natur befindet ein eingesetzter und nur der Umwelt verpflichteter Wissenschaftsrat mit Vetorecht gegenüber allen gesellschaftlichen Institutionen.
Die wesentlichen Prinzipien der künftigen Gesellschafts-ordnung lauten: „Alle Macht gehört dem Volk, alle Macht bleibt im Volk“ sowie „Alles gleich für alle, jeder Mensch anders als der andere“.   

                                                                                    

 

Eine ideelle Zukunftsvorstellung ohne Beschreibung des Weges dorthin ist wie ein nicht eingelöstes Versprechen. Daher muss man sich zudem auch mit folgender Frage beschäftigen:

Wie gelangen wir zu einer wie zuvor beschriebenen Gesellschaftsordnung?

 

Wie bereits ausgeführt, nehmen zu Beginn dieses Jahrhunderts die ökologischen, ökonomischen, sozialen und politischen Krisen stark zu.  Durch die aktuelle Entwicklung haben sich die außenpolitischen Spannungen verschärft, die finanziellen Belastungen für die in der unteren gesellschaftlichen Hälfte befindlichen Privathaushalte sind immens gestiegen; das gleiche gilt für die Staatsfinanzen, die wirtschaftliche Entwicklung zeigt Minuswerte auf und die ökologischen Vorgaben können nicht eingehalten werden. Wenn die von Klaus Dörre bezeichnete Zangenkrise, d.h.  mehrere Krisenursachen treten gleichzeitig auf, sich zu einer Großkrise verdichtet, ist sie von den Regierenden nicht mehr beherrschbar.

Es entsteht dann eine starke Unruhe in der Bevölkerung, die von großen Demonstrationen bis zum Generalstreik reichen kann. Auch verbreitet sich die allgemeine Einstellung, so kann es nicht weitergehen, aber wie es weitergehen soll, ist völlig unklar. Um gegen die Verlockungen der gesellschaftlichen Rechten mit der Aussicht auf autoritäre bis faschistische Herrschaftsformen zu bestehen, ist es für die Linke wesentlich, über ein überzeugendes Narrativ zu verfügen, das den Einstieg in den Ausstieg aus kapitalistischen Verhältnissen, sowie ganz wichtig, das Ziel beschreiben kann. Zwar sind die aktuellen Kundgebungen gegen rechts im Allgemeinen und gegen AFD im Besonderen aufgrund ihrer gesellschaftlichen Breite ermutigend, jedoch in der Auseinandersetzung um die gesellschaftliche Umwälzung kommt es für die fortschrittlichen Kräfte darauf an, ihr Narrativ durchzusetzen. Die bestehenden und auch in der nahen Zukunft voraussichtlich herrschenden gesellschaftlichen Kräfteverhältnisse lassen es nicht zu, dass die Linke aufgrund ihrer Schwäche eine Systemänderung auslösen kann, aber sie sollte darauf vorbereitet sein. Eine Bewegung zur Änderung der Verhältnisse muss sich aus der Bevölkerung entwickeln. 

 

Wenn wir die beschriebenen Prämissen akzeptieren, wollen wir die gegenwärtigen Handlungsmöglichkeiten eruieren.
                                                                                    

Was müssen wir in der Gegenwart bereits tun, um auf einen Systemwechsel vorbereitet zu sein?

 

Im Gegensatz zu grundsätzlich das kapitalistische System bejahende reformistische Kräfte, die als Aktionsfeld insbesondere den Parlamentarismus nutzen, setzen wir als systemkritische Bewegung auf die Mobilisierung breiter Bevölkerungsschichten. Reformen sind ebenfalls zu bejahen, sie müssen jedoch nicht nur parlamentarisch, sondern vor allem durch Außendruck durchgesetzt werden. Ob es sich um die bekannten Problemfelder im ökologischen, sozialen oder friedenspolitischen Bereich handelt, kommt es darauf an, so viele Menschen wie möglich in die Aktivitäten zu integrieren.
Natürlich kann eingewendet werden, leichter gesagt als getan. Den Zugang zu vielen Menschen in Abhängigkeits-Verhältnissen, ob in der Arbeit oder Wohnung, findet man über eine konsequente Stadtteilarbeit (für den Arbeitsbereich sind zuallererst die Gewerkschaften zuständig). Hier können Defizite aufgegriffen und zusammen mit den Bewohnern bearbeitet und erkämpft werden. Mir ist bewusst, hierzu braucht man viel Geduld und eine große Ausdauer.
Die KPÖ hat beharrlich und durch motivierendes Vorbildverhalten ihrer Aktivisten ein ihr freundliches Klima in den jeweiligen Stadtteilen von Graz und Salzburg geschaffen, das durch entsprechende Wahlergebnisse honoriert wird. Jedoch weniger die Wahlergebnisse sind von Bedeutung, sondern das Erkennen und Begreifen kapitalistischer Verhältnisse, solidarisches Verhalten im Alltag und Konsequenz in der politischen Auseinandersetzung. Die kapitalistischen Bedingungen anschaulich zu erklären und den Zusammenhang zu Alltagserfahrungen herzustellen, obliegt den nach Gramsci bezeichneten organischen Intellektuellen. Aufklärung (Theorie) sowie die Aktivitäten für die Interessen der eigenen Klasse (Praxis) – beides sollte Hand in Hand gehen.

             

Es ist nach den Konsequenzen für wichtige Akteure zu fragen:

Welchen Beitrag können linke Intellektuelle leisten?

 

Einige Bemerkungen zu unseren linken Intellektuellen: Sie haben nach meiner
Auffassung viel zur Aufklärung über die Auswirkungen kapitalistischer Verhältnisse auf Mensch, Gesellschaft, die Weltgemeinschaft und die Natur beigetragen. Sie haben in aller Deutlichkeit die Defizite und die Zukunftslosigkeit des Kapitalismus aufgezeigt.

Leider sind ihre Ansätze zur Systemüberwindung zu dürftig. Entweder verharren sie auf kapitalistischer Grundlage z.B. mit ihrem Ansatz eines Green New Deals oder der von ihnen beschriebene Transformationsprozess ist zu vage bzw. sie bleiben argumentativ auf halbem Weg stehen. Es gilt umzudenken, d.h. vom Ende ausgehend denken. Es ist ein Widerspruch, die heutigen Verhältnisse sachgerecht und ausdrucksstark in dunklen Farben zu malen, den Ausweg aus dem Dilemma dünn und mit blassen Farben zu bepinseln. Etwas mehr Konsequenz und Mut kann man wegen der Dringlichkeit zur Systemveränderung von ihnen erwarten.

Diesen Widerspruch anzuerkennen wäre der erste Schritt zu dessen Aufhebung.

 

 

 

 

Fragen aus einer nachdenklichen linken Perspektive

Manfred Norwat

 

 

Wir leben in turbulenten Zeiten. Ob dies die aktuellen Kriege mit drohender atomarer Apokalypse, die sich zuspitzenden Umwelt- und Klimakatastrophen, die globale Ökonomie mit ihren Ungerechtigkeiten oder die Verhältnisse in unserem Land sind, überall sind heftige Krisen mit sich andeutenden Verwerfungen festzustellen. Die Menschheit befindet sich in einem Minenfeld. Jeder falsche Schritt könnte der letzte sein. Andrerseits bewegt Millionen Menschen die Sehnsucht nach einem besseren und sicheren Leben für sich und ihre Kinder.

Das weltbeherrschende Gesellschaftssystem, auch in den früheren sozialistischen Län-dern ist der Kapitalismus, dem sich ebenso die übriggebliebene Systemalternative wie Kuba nicht entziehen kann. Nach Beendigung der Systemkonkurrenz hat der Kapitalis-mus seine sozialen Rücksichten fallengelassen und sich in Gestalt des Neoliberalismus mit dem kaum eingeschränkten Profitstreben und einer beispiellosen privaten Kapital-anhäufung durchgesetzt. Trotz der letzten Finanzkrise, die die Kapitalisten nur mit Hilfe des Staates als ideellen Gesamtkapitalisten überstanden haben, wird der neoliberale Weg weiter beschritten. Dies ändert auch nichts an der Tatsache, dass viele Menschen sich gegen die Nutzung der fossilen Energiequellen mit den fatalen Auswirkungen auf das Klima engagieren. Auch die gemäßigt linken Regierungen in Südamerika können zwar im sozialen Bereich die schlimmsten Auswirkungen der kapitalistischen Ausbeutung begrenzen, jedoch keine grundsätzlich alternative Politik zum vorherrschenden Kapitalismus einleiten. Und scheinbar über allem thront die einzig übrig gebliebene Weltmacht und kapitalistisches Musterland USA mit ihrem immensen militärischen, finanziellen und ökonomischen Potential, die die Aufrechterhaltung ihrer Hegemonie weltweit verteidigt und sich der Konkurrenz vor allem aus China mit all ihnen zur Verfügung stehenden Mitteln zu erwehren versucht. Nur so können die Herrschenden der USA das System ihres „American way of life“ aufrechterhalten. Deutschland als früheres geteiltes Besatzungsland, und heute gegenüber der US-amerikanischen Hegemonialmacht in dienender Führungsfunktion, hat sich unter der jetzigen Regierung, mehr oder weniger auch unter den früheren Regierungen dieser Prämisse bedingungslos und zwar zum eigenen Nachteil untergeordnet.

 

Die in groben Zügen dargestellte Gesamtsituation lässt bei mir und vermutlich bei jedem bewussten Linken folgende Frage aufkommen:

Kann das kapitalistische System die aktuellen und zukünftigen Menschheitsprobleme lösen oder nicht?

 

Um diese Frage zu beantworten, muss ich mich wie jeder und jede andere Linke eingehend mit den in der Einleitung angerissenen Themenkomplexen ernsthaft beschäftigen. Hierzu gibt es genügend Literatur und oft helfen auch die eigenen Erfahrungen sowie der Meinungsaustausch mit den Mitmenschen, ob Gleichgesinnten oder nicht, weiter. Wenn jemand aufgrund eigener Einsicht zu der Auffassung kommt, ein reformierter Kapitalismus hat das Potential mit neuen technischen Möglichkeiten und viel politischer Vernunft die künftigen Aufgaben zu bewältigen, so wäre das Ja zum Kapitalismus, zwar in geänderter Form, aber auf gleicher Grundlage zu akzeptieren. Schließlich hat der Kapitalismus schon einige Krisen zwar mit staatlicher Unterstützung überwunden, andrerseits ist er innovativ und anpassungsfähig. Erst die Zukunft wird diesen Ansatz verifizieren.

                                                                                    

Aufgrund meiner Beschäftigung mit den verschiedenen Themenkomplexen bin ich jedoch zur Auffassung gekommen, dass der Kapitalismus, in welcher Form auch immer, nicht die jetzigen und auch nicht die künftigen Menschheitsprobleme löst bzw. lösen wird.
Dies hängt nicht vom guten oder schlechten Willen oder Charaktereigenschaften der Kapitalisten oder der Regierenden ab, sondern dies liegt im System begründet.  Die sich bedingenden Abhängigkeiten und unüberbrückbaren Gegensätze der Ausbeutung von Mensch und Natur einerseits und maximalem Profitstreben andererseits, den planetarischen Grenzen und wirtschaftlichem Wachstum, Sehnsucht nach Frieden und Gerechtigkeit   und die Konkurrenz in großen und kleinen Verhältnissen bilden die Grundlage jedes kapitalistischen Systems. Diese Systembasis kann auch nicht durch noch so gut gemeinte Reformen geändert, sondern nur in ihren Auswirkungen gemildert werden. Dabei ist festzuhalten, dass die Herrschenden in der Ökonomie, Politik und Medien mit ihrer Ideologie und durch ihr Handeln bisher den größten Nutzen aus dem Kapitalismus gezogen haben, aber durch das ideologisch begründete starre Beharren auf seinem ewigen Weiterbestehen auch den maßgeblichen Anteil an dessen Scheitern haben       werden. 

Die Beantwortung der Frage „Wie hältst Du es mit unserem Gesellschaftssystem?“ ist für jeden und jede einzelne Linke(n) die entscheidende Frage, aus der sich weitere Fragen, Antworten und die entsprechende politische Herangehensweise ergeben. Es ist daher die „Gretchenfrage“.

 

Aus der ersten Fragestellung ergibt sich logisch-zwingend die nächste Frage:

Wenn nicht das kapitalistische System, welches Gesellschaftssystem wäre in der Lage, die Gefahren für die Menschheit abzuwenden und eine menschenwürdige Zukunft, die sich im Einklang mit der Natur befindet, umzusetzen?

 

Es müsste ein Gesellschaftssystem von seinen Bürgern erarbeitet und erkämpft werden, das einen human-ökologischen Ansatz hat. Darunter ist zu verstehen, dass die Menschen über die Produktionsmittel verfügen, diese planvoll und menschenwürdig einsetzen, damit alle die zum Leben notwendigen Güter in gleicher Qualität und Quantität erhalten. Im gesellschaftlichen Bereich müsste jeder und jede Erwachsene über die demokratischen Institutionen so eingebunden werden, dass alle am Willensbildungs-, Entscheidungs- und Umsetzungsprozess beteiligt sind. Über das Verhältnis zur Natur befindet ein eingesetzter und nur der Umwelt verpflichteter Wissenschaftsrat mit Vetorecht gegenüber allen gesellschaftlichen Institutionen.
Die wesentlichen Prinzipien der künftigen Gesellschafts-ordnung lauten: „Alle Macht gehört dem Volk, alle Macht bleibt im Volk“ sowie „Alles gleich für alle, jeder Mensch anders als der andere“.   

                                                                                    

 

Eine ideelle Zukunftsvorstellung ohne Beschreibung des Weges dorthin ist wie ein nicht eingelöstes Versprechen. Daher muss man sich zudem auch mit folgender Frage beschäftigen:

Wie gelangen wir zu einer wie zuvor beschriebenen Gesellschaftsordnung?

 

Wie bereits ausgeführt, nehmen zu Beginn dieses Jahrhunderts die ökologischen, ökonomischen, sozialen und politischen Krisen stark zu.  Durch die aktuelle Entwicklung haben sich die außenpolitischen Spannungen verschärft, die finanziellen Belastungen für die in der unteren gesellschaftlichen Hälfte befindlichen Privathaushalte sind immens gestiegen; das gleiche gilt für die Staatsfinanzen, die wirtschaftliche Entwicklung zeigt Minuswerte auf und die ökologischen Vorgaben können nicht eingehalten werden. Wenn die von Klaus Dörre bezeichnete Zangenkrise, d.h.  mehrere Krisenursachen treten gleichzeitig auf, sich zu einer Großkrise verdichtet, ist sie von den Regierenden nicht mehr beherrschbar.

Es entsteht dann eine starke Unruhe in der Bevölkerung, die von großen Demonstrationen bis zum Generalstreik reichen kann. Auch verbreitet sich die allgemeine Einstellung, so kann es nicht weitergehen, aber wie es weitergehen soll, ist völlig unklar. Um gegen die Verlockungen der gesellschaftlichen Rechten mit der Aussicht auf autoritäre bis faschistische Herrschaftsformen zu bestehen, ist es für die Linke wesentlich, über ein überzeugendes Narrativ zu verfügen, das den Einstieg in den Ausstieg aus kapitalistischen Verhältnissen, sowie ganz wichtig, das Ziel beschreiben kann. Zwar sind die aktuellen Kundgebungen gegen rechts im Allgemeinen und gegen AFD im Besonderen aufgrund ihrer gesellschaftlichen Breite ermutigend, jedoch in der Auseinandersetzung um die gesellschaftliche Umwälzung kommt es für die fortschrittlichen Kräfte darauf an, ihr Narrativ durchzusetzen. Die bestehenden und auch in der nahen Zukunft voraussichtlich herrschenden gesellschaftlichen Kräfteverhältnisse lassen es nicht zu, dass die Linke aufgrund ihrer Schwäche eine Systemänderung auslösen kann, aber sie sollte darauf vorbereitet sein. Eine Bewegung zur Änderung der Verhältnisse muss sich aus der Bevölkerung entwickeln. 

 

Wenn wir die beschriebenen Prämissen akzeptieren, wollen wir die gegenwärtigen Handlungsmöglichkeiten eruieren.
                                                                                    

Was müssen wir in der Gegenwart bereits tun, um auf einen Systemwechsel vorbereitet zu sein?

 

Im Gegensatz zu grundsätzlich das kapitalistische System bejahende reformistische Kräfte, die als Aktionsfeld insbesondere den Parlamentarismus nutzen, setzen wir als systemkritische Bewegung auf die Mobilisierung breiter Bevölkerungsschichten. Reformen sind ebenfalls zu bejahen, sie müssen jedoch nicht nur parlamentarisch, sondern vor allem durch Außendruck durchgesetzt werden. Ob es sich um die bekannten Problemfelder im ökologischen, sozialen oder friedenspolitischen Bereich handelt, kommt es darauf an, so viele Menschen wie möglich in die Aktivitäten zu integrieren.
Natürlich kann eingewendet werden, leichter gesagt als getan. Den Zugang zu vielen Menschen in Abhängigkeits-Verhältnissen, ob in der Arbeit oder Wohnung, findet man über eine konsequente Stadtteilarbeit (für den Arbeitsbereich sind zuallererst die Gewerkschaften zuständig). Hier können Defizite aufgegriffen und zusammen mit den Bewohnern bearbeitet und erkämpft werden. Mir ist bewusst, hierzu braucht man viel Geduld und eine große Ausdauer.
Die KPÖ hat beharrlich und durch motivierendes Vorbildverhalten ihrer Aktivisten ein ihr freundliches Klima in den jeweiligen Stadtteilen von Graz und Salzburg geschaffen, das durch entsprechende Wahlergebnisse honoriert wird. Jedoch weniger die Wahlergebnisse sind von Bedeutung, sondern das Erkennen und Begreifen kapitalistischer Verhältnisse, solidarisches Verhalten im Alltag und Konsequenz in der politischen Auseinandersetzung. Die kapitalistischen Bedingungen anschaulich zu erklären und den Zusammenhang zu Alltagserfahrungen herzustellen, obliegt den nach Gramsci bezeichneten organischen Intellektuellen. Aufklärung (Theorie) sowie die Aktivitäten für die Interessen der eigenen Klasse (Praxis) – beides sollte Hand in Hand gehen.

             

Es ist nach den Konsequenzen für wichtige Akteure zu fragen:

Welchen Beitrag können linke Intellektuelle leisten?

 

Einige Bemerkungen zu unseren linken Intellektuellen: Sie haben nach meiner
Auffassung viel zur Aufklärung über die Auswirkungen kapitalistischer Verhältnisse auf Mensch, Gesellschaft, die Weltgemeinschaft und die Natur beigetragen. Sie haben in aller Deutlichkeit die Defizite und die Zukunftslosigkeit des Kapitalismus aufgezeigt.

Leider sind ihre Ansätze zur Systemüberwindung zu dürftig. Entweder verharren sie auf kapitalistischer Grundlage z.B. mit ihrem Ansatz eines Green New Deals oder der von ihnen beschriebene Transformationsprozess ist zu vage bzw. sie bleiben argumentativ auf halbem Weg stehen. Es gilt umzudenken, d.h. vom Ende ausgehend denken. Es ist ein Widerspruch, die heutigen Verhältnisse sachgerecht und ausdrucksstark in dunklen Farben zu malen, den Ausweg aus dem Dilemma dünn und mit blassen Farben zu bepinseln. Etwas mehr Konsequenz und Mut kann man wegen der Dringlichkeit zur Systemveränderung von ihnen erwarten.

Diesen Widerspruch anzuerkennen wäre der erste Schritt zu dessen Aufhebung.

 

 

 

 

 

Fragen aus einer nachdenklichen linken Perspektive

Manfred Norwat

 

 

Wir leben in turbulenten Zeiten. Ob dies die aktuellen Kriege mit drohender atomarer Apokalypse, die sich zuspitzenden Umwelt- und Klimakatastrophen, die globale Ökonomie mit ihren Ungerechtigkeiten oder die Verhältnisse in unserem Land sind, überall sind heftige Krisen mit sich andeutenden Verwerfungen festzustellen. Die Menschheit befindet sich in einem Minenfeld. Jeder falsche Schritt könnte der letzte sein. Andrerseits bewegt Millionen Menschen die Sehnsucht nach einem besseren und sicheren Leben für sich und ihre Kinder.

Das weltbeherrschende Gesellschaftssystem, auch in den früheren sozialistischen Län-dern ist der Kapitalismus, dem sich ebenso die übriggebliebene Systemalternative wie Kuba nicht entziehen kann. Nach Beendigung der Systemkonkurrenz hat der Kapitalis-mus seine sozialen Rücksichten fallengelassen und sich in Gestalt des Neoliberalismus mit dem kaum eingeschränkten Profitstreben und einer beispiellosen privaten Kapital-anhäufung durchgesetzt. Trotz der letzten Finanzkrise, die die Kapitalisten nur mit Hilfe des Staates als ideellen Gesamtkapitalisten überstanden haben, wird der neoliberale Weg weiter beschritten. Dies ändert auch nichts an der Tatsache, dass viele Menschen sich gegen die Nutzung der fossilen Energiequellen mit den fatalen Auswirkungen auf das Klima engagieren. Auch die gemäßigt linken Regierungen in Südamerika können zwar im sozialen Bereich die schlimmsten Auswirkungen der kapitalistischen Ausbeutung begrenzen, jedoch keine grundsätzlich alternative Politik zum vorherrschenden Kapitalismus einleiten. Und scheinbar über allem thront die einzig übrig gebliebene Weltmacht und kapitalistisches Musterland USA mit ihrem immensen militärischen, finanziellen und ökonomischen Potential, die die Aufrechterhaltung ihrer Hegemonie weltweit verteidigt und sich der Konkurrenz vor allem aus China mit all ihnen zur Verfügung stehenden Mitteln zu erwehren versucht. Nur so können die Herrschenden der USA das System ihres „American way of life“ aufrechterhalten. Deutschland als früheres geteiltes Besatzungsland, und heute gegenüber der US-amerikanischen Hegemonialmacht in dienender Führungsfunktion, hat sich unter der jetzigen Regierung, mehr oder weniger auch unter den früheren Regierungen dieser Prämisse bedingungslos und zwar zum eigenen Nachteil untergeordnet.

 

Die in groben Zügen dargestellte Gesamtsituation lässt bei mir und vermutlich bei jedem bewussten Linken folgende Frage aufkommen:

Kann das kapitalistische System die aktuellen und zukünftigen Menschheitsprobleme lösen oder nicht?

 

Um diese Frage zu beantworten, muss ich mich wie jeder und jede andere Linke eingehend mit den in der Einleitung angerissenen Themenkomplexen ernsthaft beschäftigen. Hierzu gibt es genügend Literatur und oft helfen auch die eigenen Erfahrungen sowie der Meinungsaustausch mit den Mitmenschen, ob Gleichgesinnten oder nicht, weiter. Wenn jemand aufgrund eigener Einsicht zu der Auffassung kommt, ein reformierter Kapitalismus hat das Potential mit neuen technischen Möglichkeiten und viel politischer Vernunft die künftigen Aufgaben zu bewältigen, so wäre das Ja zum Kapitalismus, zwar in geänderter Form, aber auf gleicher Grundlage zu akzeptieren. Schließlich hat der Kapitalismus schon einige Krisen zwar mit staatlicher Unterstützung überwunden, andrerseits ist er innovativ und anpassungsfähig. Erst die Zukunft wird diesen Ansatz verifizieren.

                                                                                    

Aufgrund meiner Beschäftigung mit den verschiedenen Themenkomplexen bin ich jedoch zur Auffassung gekommen, dass der Kapitalismus, in welcher Form auch immer, nicht die jetzigen und auch nicht die künftigen Menschheitsprobleme löst bzw. lösen wird.
Dies hängt nicht vom guten oder schlechten Willen oder Charaktereigenschaften der Kapitalisten oder der Regierenden ab, sondern dies liegt im System begründet.  Die sich bedingenden Abhängigkeiten und unüberbrückbaren Gegensätze der Ausbeutung von Mensch und Natur einerseits und maximalem Profitstreben andererseits, den planetarischen Grenzen und wirtschaftlichem Wachstum, Sehnsucht nach Frieden und Gerechtigkeit   und die Konkurrenz in großen und kleinen Verhältnissen bilden die Grundlage jedes kapitalistischen Systems. Diese Systembasis kann auch nicht durch noch so gut gemeinte Reformen geändert, sondern nur in ihren Auswirkungen gemildert werden. Dabei ist festzuhalten, dass die Herrschenden in der Ökonomie, Politik und Medien mit ihrer Ideologie und durch ihr Handeln bisher den größten Nutzen aus dem Kapitalismus gezogen haben, aber durch das ideologisch begründete starre Beharren auf seinem ewigen Weiterbestehen auch den maßgeblichen Anteil an dessen Scheitern haben       werden. 

Die Beantwortung der Frage „Wie hältst Du es mit unserem Gesellschaftssystem?“ ist für jeden und jede einzelne Linke(n) die entscheidende Frage, aus der sich weitere Fragen, Antworten und die entsprechende politische Herangehensweise ergeben. Es ist daher die „Gretchenfrage“.

 

Aus der ersten Fragestellung ergibt sich logisch-zwingend die nächste Frage:

Wenn nicht das kapitalistische System, welches Gesellschaftssystem wäre in der Lage, die Gefahren für die Menschheit abzuwenden und eine menschenwürdige Zukunft, die sich im Einklang mit der Natur befindet, umzusetzen?

 

Es müsste ein Gesellschaftssystem von seinen Bürgern erarbeitet und erkämpft werden, das einen human-ökologischen Ansatz hat. Darunter ist zu verstehen, dass die Menschen über die Produktionsmittel verfügen, diese planvoll und menschenwürdig einsetzen, damit alle die zum Leben notwendigen Güter in gleicher Qualität und Quantität erhalten. Im gesellschaftlichen Bereich müsste jeder und jede Erwachsene über die demokratischen Institutionen so eingebunden werden, dass alle am Willensbildungs-, Entscheidungs- und Umsetzungsprozess beteiligt sind. Über das Verhältnis zur Natur befindet ein eingesetzter und nur der Umwelt verpflichteter Wissenschaftsrat mit Vetorecht gegenüber allen gesellschaftlichen Institutionen.
Die wesentlichen Prinzipien der künftigen Gesellschafts-ordnung lauten: „Alle Macht gehört dem Volk, alle Macht bleibt im Volk“ sowie „Alles gleich für alle, jeder Mensch anders als der andere“.   

                                                                                    

 

Eine ideelle Zukunftsvorstellung ohne Beschreibung des Weges dorthin ist wie ein nicht eingelöstes Versprechen. Daher muss man sich zudem auch mit folgender Frage beschäftigen:

Wie gelangen wir zu einer wie zuvor beschriebenen Gesellschaftsordnung?

 

Wie bereits ausgeführt, nehmen zu Beginn dieses Jahrhunderts die ökologischen, ökonomischen, sozialen und politischen Krisen stark zu.  Durch die aktuelle Entwicklung haben sich die außenpolitischen Spannungen verschärft, die finanziellen Belastungen für die in der unteren gesellschaftlichen Hälfte befindlichen Privathaushalte sind immens gestiegen; das gleiche gilt für die Staatsfinanzen, die wirtschaftliche Entwicklung zeigt Minuswerte auf und die ökologischen Vorgaben können nicht eingehalten werden. Wenn die von Klaus Dörre bezeichnete Zangenkrise, d.h.  mehrere Krisenursachen treten gleichzeitig auf, sich zu einer Großkrise verdichtet, ist sie von den Regierenden nicht mehr beherrschbar.

Es entsteht dann eine starke Unruhe in der Bevölkerung, die von großen Demonstrationen bis zum Generalstreik reichen kann. Auch verbreitet sich die allgemeine Einstellung, so kann es nicht weitergehen, aber wie es weitergehen soll, ist völlig unklar. Um gegen die Verlockungen der gesellschaftlichen Rechten mit der Aussicht auf autoritäre bis faschistische Herrschaftsformen zu bestehen, ist es für die Linke wesentlich, über ein überzeugendes Narrativ zu verfügen, das den Einstieg in den Ausstieg aus kapitalistischen Verhältnissen, sowie ganz wichtig, das Ziel beschreiben kann. Zwar sind die aktuellen Kundgebungen gegen rechts im Allgemeinen und gegen AFD im Besonderen aufgrund ihrer gesellschaftlichen Breite ermutigend, jedoch in der Auseinandersetzung um die gesellschaftliche Umwälzung kommt es für die fortschrittlichen Kräfte darauf an, ihr Narrativ durchzusetzen. Die bestehenden und auch in der nahen Zukunft voraussichtlich herrschenden gesellschaftlichen Kräfteverhältnisse lassen es nicht zu, dass die Linke aufgrund ihrer Schwäche eine Systemänderung auslösen kann, aber sie sollte darauf vorbereitet sein. Eine Bewegung zur Änderung der Verhältnisse muss sich aus der Bevölkerung entwickeln. 

 

Wenn wir die beschriebenen Prämissen akzeptieren, wollen wir die gegenwärtigen Handlungsmöglichkeiten eruieren.
                                                                                    

Was müssen wir in der Gegenwart bereits tun, um auf einen Systemwechsel vorbereitet zu sein?

 

Im Gegensatz zu grundsätzlich das kapitalistische System bejahende reformistische Kräfte, die als Aktionsfeld insbesondere den Parlamentarismus nutzen, setzen wir als systemkritische Bewegung auf die Mobilisierung breiter Bevölkerungsschichten. Reformen sind ebenfalls zu bejahen, sie müssen jedoch nicht nur parlamentarisch, sondern vor allem durch Außendruck durchgesetzt werden. Ob es sich um die bekannten Problemfelder im ökologischen, sozialen oder friedenspolitischen Bereich handelt, kommt es darauf an, so viele Menschen wie möglich in die Aktivitäten zu integrieren.
Natürlich kann eingewendet werden, leichter gesagt als getan. Den Zugang zu vielen Menschen in Abhängigkeits-Verhältnissen, ob in der Arbeit oder Wohnung, findet man über eine konsequente Stadtteilarbeit (für den Arbeitsbereich sind zuallererst die Gewerkschaften zuständig). Hier können Defizite aufgegriffen und zusammen mit den Bewohnern bearbeitet und erkämpft werden. Mir ist bewusst, hierzu braucht man viel Geduld und eine große Ausdauer.
Die KPÖ hat beharrlich und durch motivierendes Vorbildverhalten ihrer Aktivisten ein ihr freundliches Klima in den jeweiligen Stadtteilen von Graz und Salzburg geschaffen, das durch entsprechende Wahlergebnisse honoriert wird. Jedoch weniger die Wahlergebnisse sind von Bedeutung, sondern das Erkennen und Begreifen kapitalistischer Verhältnisse, solidarisches Verhalten im Alltag und Konsequenz in der politischen Auseinandersetzung. Die kapitalistischen Bedingungen anschaulich zu erklären und den Zusammenhang zu Alltagserfahrungen herzustellen, obliegt den nach Gramsci bezeichneten organischen Intellektuellen. Aufklärung (Theorie) sowie die Aktivitäten für die Interessen der eigenen Klasse (Praxis) – beides sollte Hand in Hand gehen.

             

Es ist nach den Konsequenzen für wichtige Akteure zu fragen:

Welchen Beitrag können linke Intellektuelle leisten?

 

Einige Bemerkungen zu unseren linken Intellektuellen: Sie haben nach meiner
Auffassung viel zur Aufklärung über die Auswirkungen kapitalistischer Verhältnisse auf Mensch, Gesellschaft, die Weltgemeinschaft und die Natur beigetragen. Sie haben in aller Deutlichkeit die Defizite und die Zukunftslosigkeit des Kapitalismus aufgezeigt.

Leider sind ihre Ansätze zur Systemüberwindung zu dürftig. Entweder verharren sie auf kapitalistischer Grundlage z.B. mit ihrem Ansatz eines Green New Deals oder der von ihnen beschriebene Transformationsprozess ist zu vage bzw. sie bleiben argumentativ auf halbem Weg stehen. Es gilt umzudenken, d.h. vom Ende ausgehend denken. Es ist ein Widerspruch, die heutigen Verhältnisse sachgerecht und ausdrucksstark in dunklen Farben zu malen, den Ausweg aus dem Dilemma dünn und mit blassen Farben zu bepinseln. Etwas mehr Konsequenz und Mut kann man wegen der Dringlichkeit zur Systemveränderung von ihnen erwarten.

Diesen Widerspruch anzuerkennen wäre der erste Schritt zu dessen Aufhebung.

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Münchener Sicherheitskonferenz 2024: Die Lose-Lose-Dynamik

Fr, 16/02/2024 - 07:11

Organisatoren warnen vor weiterer Zuspitzung der globalen Machtkämpfe und einer „Lose-Lose“-Dynamik, bei der alle verlieren.

 

 


Im Vorfeld der diesjährigen Münchner Sicherheitskonferenz warnen die Organisatoren vor einer verhängnisvollen „Lose-Lose“-Dynamik in den globalen Staatenbeziehungen. Die weltweiten Machtkämpfe hätten sich mittlerweile so sehr zugespitzt, dass die Gefahr, dass alle in ihnen verlören, real sei, heißt es im Munich Security Report 2024, einem Begleitheft zu der Konferenz mit außenpolitischen Analysen. Die Veranstaltung, zu der an diesem Wochenende mehr als 50 Staats- und Regierungschefs, rund 60 Außenminister sowie über 25 Verteidigungsminister erwartet werden, findet in diesem Jahr zum 60. Mal statt.

An den Sicherheitskonferenzen der vergangenen zehn Jahre lässt sich exemplarisch die Entwicklung der globalen Politik und ihrer Machtkämpfe ablesen.

War die Sicherheitskonferenz des Jahres 2014 noch als ehrgeiziger Startschuss für eine weltpolitische Offensive der Bundesrepublik konzipiert, so begann ab 2015 die Großmächtekonkurrenz die Tagung zu dominieren. Im Jahr 2019 rückte zunächst die Möglichkeit in den Blick, die EU könne in den globalen Machtkämpfen zerrieben werden, bevor 2020 eine eventuell nicht mehr vom Westen dominierte Welt diskutiert wurde.

„Entschlossener auftreten“

Die Münchner Sicherheitskonferenz des Jahres 2014 war von Berlin als Startschuss für eine umfassende weltpolitische Offensive konzipiert worden. Bereits wenige Tage vorab hatte die damalige Verteidigungsministerin Ursula von der Leyen verlangt, Deutschland müsse mehr „internationale Verantwortung“ übernehmen.[1] Der damalige Außenminister Frank-Walter Steinmeier hatte erklärt, die Bundesrepublik sei „zu groß, um die Weltpolitik nur zu kommentieren“: Es werde heute „zu Recht“ erwartet, „dass wir uns einmischen“. Man dürfe Militäreinsätze nicht mehr „aus dem Denken verbannen“. Der damalige Bundespräsident Joachim Gauck wiederum forderte in seiner Rede auf der Sicherheitskonferenz, Deutschland müsse künftig „entschlossener“ auftreten, um den internationalen „Ordnungsrahmen ... zu erhalten und zu formen“; dazu werde zuweilen „auch der Einsatz von Soldaten erforderlich sein“.[2] Gauck fuhr fort, „Deutschland und seine europäischen Partner“ müssten in Zukunft „für ihre Sicherheit zunehmend selbst verantwortlich“ sein. Um dem Einwand den Wind aus den Segeln zu nehmen, die deutsche Verbrechensgeschichte in zwei Weltkriegen mahne zu militärischer Zurückhaltung, erklärte Gauck, bezogen auf die heutige Bundesrepublik: „Dies ist ein gutes Deutschland, das beste, das wir kennen.“

Im Ländergürtel um Europa

Hintergrund der sorgsam inszenierten Auftritte vor und auf der Sicherheitskonferenz waren strategische Weichenstellungen, die im Jahr 2013 getroffen und in einem Strategiepapier der Stiftung Wissenschaft und Politik (SWP) sowie des German Marshall Fund of the United States (GMF) festgehalten worden waren.[3] Hintergrund war der „Schwenk nach Asien“ („pivot to Asia“), den US-Präsident Barack Obama im November 2011 ausgerufen hatte, um die Vereinigten Staaten voll und ganz auf den Machtkampf gegen China zu fokussieren. In der neuen transatlantischen Strategie kam Deutschland und der EU im Kern die Aufgabe zu, in einem Ländergürtel um Europa – von Nordafrika über den Nahen und Mittleren Osten bis nach Zentralasien – maßgeblich Ordnungsfunktionen zu übernehmen. Dies entsprach den damaligen außen- und militärpolitischen Aktivitäten der Bundesrepublik, die erst im Vorjahr Soldaten nach Mali entsandt hatte, in Syrien auf den Sturz von Präsident Bashar al Assad hinarbeitete, sich wenig später am Militäreinsatz gegen den IS beteiligen sollte und ohnehin mit der Bundeswehr in Afghanistan präsent war. Mit einem energischen Schub wollte Berlin sich in den Staaten rings um die EU nun schlagkräftiger und offensiver positionieren.

„Epochenjahr 2014“

Ab 2015 begannen Großmachtkonflikte die Sicherheitskonferenz immer mehr zu prägen. Im Jahr 2015 erklärte etwa der damalige Konferenzleiter Wolfgang Ischinger, der eskalierende Machtkampf in der und um die Ukraine habe „uns vor Augen geführt“, dass „grundlegende Regeln“ des Weltsystems „auf die Probe gestellt“ würden.[4] Bei diesem System handelte es sich um dasjenige, das seit 1990 die globale Dominanz des Westens sicherte. Ischinger urteilte damals mit Blick auf den Ukraine-Konflikt: „2014 war ein Epochenjahr“; er sah die Welt in ein „Zeitalter des Ordnungszerfalls“ eintreten. Daran knüpfte der Munich Security Report 2016 an, in dem es hieß, „die traditionellen Wächter einer liberalen Ordnung“ – also die Länder des Westens – seien „mit einer wachsenden Zahl an Störern“ konfrontiert, die die „zersplitternden Ordnungen weiter destabilisieren“.[5] Mit „Störern“ war damals noch vor allem Russland gemeint; man könne nicht ausschließen, hieß es weiter im Munich Security Report 2016, dass in Osteuropa letztlich ein „neuer Eiserner Vorhang“ entstehe. Daneben geriet aber auch China bereits stärker ins Visier. Der Konflikt zwischen den USA und der Volksrepublik sei „immer schwieriger“ zu bremsen, hieß es; womögliche baue Beijing „eine Parallelordnung“ auf, in Rivalität zum Westen.

„Westlessness“

2019 und 2020 geriet auf der Münchner Sicherheitskonferenz die Perspektive in den Blick, Deutschland und Europa oder sogar der Westen insgesamt könnten in die Defensive geraten oder gar ihre globale Macht einbüßen. 2019 warnte der damalige Außenminister Heiko Maas mit Blick auf die erbittert ausgetragenen Rivalitäten zwischen den Vereinigten Staaten unter Präsident Donald Trump und der EU, man benötige dringender denn je „ein starkes, handlungsfähiges Europa“. Gelinge es nicht, die EU in der Weltpolitik stark zu positionieren, dann „laufen wir Gefahr“, äußerte Maas, „in einer Welt der Großmachtkonkurrenz zerrieben zu werden“.[6] Im Jahr 2020 stellte Konferenzleiter Ischinger die Veranstaltung unter das Motto „Westlessness“. Habe der Westen in den ersten Jahrzehnten nach dem Ende des Kalten Kriegs „beinahe unangefochtene militärische Bewegungsfreiheit“ genossen, so sei dies nicht mehr der Fall. Eine Welt ohne westliche Dominanz schien nun möglich. Der Munich Security Report 2020 zitierte Frankreichs Präsident Emmanuel Macron mit der Aussage: „Wir waren an eine internationale Ordnung gewöhnt, die auf der westlichen Hegemonie seit dem 18. Jahrhundert beruht hatte. Die Dinge ändern sich.“[7]

Weniger verlieren

Vier Jahre später sind die globalen Machtkämpfe weiter eskaliert – derjenige zwischen dem Westen und China in einem immer härter geführten Wirtschaftskrieg, derjenige zwischen dem Westen und Russland im Ukraine-Krieg. Hinzu komme, so heißt es im Munich Security Report 2024, dass nun die nichtwestlichen Länder wahrnähmen, dass die USA „ihre legitimen Ansprüche beschränkten“, und sie forderten deshalb mit ganzer Macht „einen größeren Teil des Kuchens“ für sich ein.[8]
Aber auch „die traditionellen Wächter der Ordnung“, die Staaten des Westens, seien mit der Situation nicht zufrieden, weil sie „ihre eigenen Anteile schrumpfen“ sähen. Es bestehe eine massive Gefahr, in den erbitterten Auseinandersetzungen in eine „lose-lose“-Dynamik zu geraten – in Kämpfe, in denen beide Seiten verlören und es nur noch darum gehe, weniger zu verlieren als der Feind.

 

Quellen:

[1] S. dazu Die Erwartungen der Welt.

[2] S. dazu Der Weltordnungsrahmen.

[3] S. dazu Die Neuvermessung der deutschen Weltpolitik.

[4] S. dazu Das Zeitalter des Ordnungszerfalls.

[5] S. dazu Die großen Mächte und ihre Kriege (I).

[6] S. dazu Europas „geopolitische Identität“.

[7] Westlessness. Munich Security Report 2020. securityconference.org. S. auch Der beginnende Abstieg des Westens

[8] Lose-Lose? Munich Security Report 2024. February 2024.

Deutsche Waffen an Israel – aber zurückhaltend gegenüber der Einhaltung des humanitären Völkerrechts

Sa, 10/02/2024 - 18:05

Die deutschen Leitmedien berichten in weitgehender Übereinstimmung  über die deutschen Rüstungsexporte nach Israel.  Sprecher der Bundesregierung und des Wirtschaftsministeriums sind sich grundsätzlich darüber einig, keine Details über die Genehmigungs-Verfahren und die darin beschriebenen Waffen- und Rüstungsgegenstände zu veröffentlichen.

Einer Mitteilung der Deutschen Presseagentur dpa und den Aussagen des ARD-Hauptstadtstudio ist zu entnehmen, dass die deutschen Rüstungsexporte nach Israel von 32 Mio. € aus dem Jahr 2022 im Zeitraum von Anfang 2023 bis Anfang November auf 326,5 Mio. Euro angestiegen sind[1], eine Verzehnfachung des Warenwertes. Dabei sei der hauptsächliche Teil in den Genehmigungsverfahren nach dem Kriegsausbruch enthalten gewesen.

Panzerabwehrwaffen, Munition für Maschinengewehre, Maschinenpistolen oder andere voll- oder halbautomatische Schusswaffen sowie Zünder und Treibladungen, Landfahrzeuge und Technologie für Entwicklung, Herstellung, Betrieb, Wartung und Reparatur von Waffen sind in den zum Teil bereits gelieferten „Waren“-sendungen enthalten. Das Wirtschaftsministerium hat scheinbar seine Prioritätenliste, sprich das Arbeitstempo bei der Genehmigung der Rüstungsgüter, für Israel zugunsten dessen Kriegsführung verändert. 185 der 218 Einzelgenehmigungen im Jahr 2023 wurden nach dem 7. Oktober 2023 erteilt.
Es bleibt anzumerken, dass die besagten Rüstungsgüter in die Kategorie fallen, die nicht dem Kriegswaffenkontrollgesetz unterliegen.[2]
Einer weiteren medialen Quelle ist zu entnehmen, daß die deutsche Bundesregierung auch die Lieferung von Panzermunition (10.000 Schuss von 120-Millimeter Präzisionsmunition) prüfe, wobei die beteiligten Ressorts sich darauf bereits verständigt hätten.  
Geht doch, könnte man anführen, wenn sich die beteiligten Regierungsparteien und die gehörfindenden Lobbyisten in Sachen Militarismus einig sind und dadurch die Profitinteressen deutscher Rüstungsfirmen als Beitrag zur Aufrechterhaltung der existierenden Herrschaftsverhältnisse Berücksichtigung finden.
Mit Beginn des Krieges in Gaza verzeichnete die Rheinmetall-Aktie innerhalb von nur fünf Tagen einen Kursgewinn von rund 15 Prozent – der steilste Anstieg des gesamten Jahres. Mit israelischen Partnern entwickelt Rheinmetall derzeit eine 155-Millimeter-Radhaubitze und  Kampfdrohnen, die vorzeitig in Stellung gebracht werden und „lange auf einen Angriff warten können.“ [3]
Unklar ist, wie mit dem Export der vom Bundessicherheitsrat genehmigten Lieferung eines weiteren deutschen U-Boots an Israel verfahren wird. Nach Expertenmeinung bestünde technisch die Möglichkeit, das besagte U-Boot zur Aufnahme von Atomwaffen auf-bzw. umzurüsten. [4] Bereits in den zurückliegenden Jahren ist die israelische Marine mit Schiffen aus Deutschland ausgerüstet worden, die bei ThyssenKrupp Marine Systems (TKMS) in Auftrag gegeben wurden.  Bereits Anfang 2022 hat Israel drei  U-Boote der Klasse »Dakar«  ThyssenKrupp Marine Systems bestellt. Die von israelischer Seite mit Radar- und Waffensystemen aufgerüsteten Patrouillenschiffen sollen zum Schutz von Gas-Förderplattformen im Mittelmeer eingesetzt werden.[5] Über die Auslieferung liegen aber keine öffentlich zugänglichen Informationen vor.
Das Stockholm International Peace Research Institute (SIPRI) berichtet, dass Deutschland in der Vergangenheit  mehr als 1000 Panzermotoren an Israel geliefert hat. Die Grundlage dafür sei eine Exportlizenz aus dem Jahr 2000. Die Motoren seien wahrscheinlich im israelischen Kampfpanzer Merkava-4 und gepanzerten Mannschaftstransportwagen vom Typ Namer verbaut worden. Auch für den israelischen Radpanzer Eitan seien Dieselmotoren geliefert worden.
Aussagen des SIPRI-Forschers Zain Hussain scheinen zu bestätigen, dass deutsche Kriegsgerät eine zentrale Rolle spiele bei den aktuellen Kämpfen in Gaza.[6]
„Nach unseren Schätzungen sind einige dieser Motoren wahrscheinlich bereit für den Einsatz in Gaza“, so Hussain. Auch von den deutschen Schiffen seien „einige in Betrieb genommen“ worden und würden „wahrscheinlich für den Beschuss von Zielen im Gazastreifen verwendet“.
Die internationale Berichterstattung über den Israel-Krieg hebt ganz anders als deutsche Medien hervor,  dass die Weltgemeinschaft das israelische Vorgehen verurteilt und sich in vielen Initiativen dafür einsetzt, die eskalierende Gewalt und das Blutvergießen in Gaza zu beenden und sofortige Verhandlungen unter Einbeziehung der betroffenen Parteien anzugehen.[7]  Zahlreiche UN-Mitgliedsländer haben inzwischen aus Protest die diplomatischen Beziehungen zu Israel abgebrochen.
120 Länder haben in der UN-Generalversammlung die Gewalt verurteilt und die Parteien zur Einhaltung des humanitären Völkerrechts aufgerufen. Deutschland hat sich wie viele andere westliche Länder enthalten, andere westliche Vertreter haben mit „Nein“ gestimmt. Die Haltung der deutschen Bundesregierung, die ihre Position m.E. mit einer fragwürdigen, weil rechtlich nicht abgesicherten, „Staatsräson“, einem moralischen Schuld-Bewusstsein begründet, steht offenbar im Widerspruch zum internationalen Recht. Einer Forderung nach einem Waffenstillstand kann aus einer Perspektive der Friedenssicherung kein andersgearteter Moralanspruch entgegengesetzt werden.
Grundsätzlich bleibt anzumerken, daß die Waffenexporte gerade in ein Land, das derzeit vor dem Internationalen Gerichthof wegen mutmaßlicher Kriegsverbrechen im Gaza-Krieg sich zu verantworten hat, einem gebotenen diplomatischen Prozess zu Waffenstillstandsverhandlungen zuwiderlaufen. Deutschland begibt sich, international betrachtet, auf einen Weg einer möglicherweise juristisch zu verurteilenden Mittäterschaft bei Völkermord.  Die nicht vorhersehbare zunehmende internationale Isolierung von Deutschland als gegen Friedensbemühungen handelnde Nation wäre wohl die Folge. Eine gewollte Führungsrolle in Europa würde dem zuwiderlaufen.

 

[1] https://www.tagesschau.de/inland/israel-deutschland-ruestungsexporte-100.html

[2] https://www.jungewelt.de/artikel/462763.waffenlieferungen-deutsche-qualit%C3%A4t-f%C3%BCr-israel.html

[3] https://www.wsws.org/de/articles/2024/01/04/aoiy-j04.html

[4] https://www.jungewelt.de/artikel/462763.waffenlieferungen-deutsche-qualit%C3%A4t-f%C3%BCr-israel.html

[5] https://www.br.de/nachrichten/deutschland-welt/nicht-bloss-munition-deutsche-verteidigungshilfe-fuer-israel,TsSuuUd

[6] https://de.euronews.com/2023/11/03/deutsche-motoren-in-israelischen-panzern-wie-europa-israels-offensive-im-gazastreifen-unte

[7] https://www.tagesschau.de/ausland/amerika/un-resolution-waffenstillstand-gazastreifen-100.html

 

Krise jenseits der Blase

Di, 06/02/2024 - 16:19

Stagnation als Dauerzustand?
Ausblick auf die Weltwirtschaft nach dem Ende der globalisierten Finanzblasenökonomie.

 

 

Langsam entweicht die spekulative Luft raus aus der globalen Verwertungsmaschine – nur scheint es bislang kaum jemand so recht bemerkt zu haben. Anfang 2024 warnte jedenfalls die Weltbank vor einem „verlorenen Jahrzehnt“, da die erste Hälfte dieser Dekade dabei sei, die schlechteste Konjunkturentwicklung seit mehr als 30 Jahren aufzuweisen.[1] Ohne eine „größere Kurskorrektur“ werden die 20er-Jahre des 21. Jahrhunderts als eine „Dekade der verlorenen Chancen“ in die Geschichte eingehen, schlussfolgerte der Chefökonom der Weltbank, Indermit Gill, anlässlich der Vorstellung der Prognosen für das laufende Jahr.

Und die Konjunkturaussichten sehen laut dem Finanzinstitut nicht gerade rosig aus. Demnach soll die Weltwirtschaftsleistung heuer um 2,4 Prozent wachsen, während es 2023 noch 2,6 Prozent waren. Sollte sich diese Konjunkturprognose bewahrheiten, dann wäre 2024 das dritte Jahr in Folge, in dem das Wirtschaftswachstum schwächer als im Vorjahr ausfiele. Es zeichnet sich somit ein eindeutiger globaler Trend zur konjunkturellen Stagnation ab: Das Bruttoinlandsprodukt der Industrieländer soll durchschnittlich von 1,5 Prozent im vergangenen Jahr auf 1,2 Prozent 2024 fallen. Der Euroraum kann hingegen auf eine leichte Konjunkturbelebung auf sehr niedrigem Niveau hoffen: von 0,4 Prozent 2023 auf 0,7 Prozent im laufenden Jahr.

 

Das Wachstum des Welthandels soll zudem nur noch die Hälfte des Werts vor Ausbruch der Pandemie erreichen, was – gemeinsam mit den hohen Leitzinsen – dazu beigetragen hat, dass die jährliche Wirtschaftsleistung in Entwicklungsländern in dieser Dekade durchschnittlich nur 3,9 Prozent betrug. Dies ist ein voller Prozentpunkt weniger als im ersten Jahrzehnt des 21. Jahrhunderts. Entwicklungsländer müssen ein weitaus höheres Wachstumstempo erreichen, um die soziale Lage der Lohnabhängigen zu verbessern – oder auch nur zu halten. Die mittelfristigen Konjunkturaussichten sind auch nicht besser. Schon Mitte 2023 warnte der Internationale Währungsfonds (IWF), dass die kommenden fünf Jahre eine unterdurchschnittliche globale Wachstumsdynamik aufweisen werden.[2]

Vom Ende der Blasenökonomie

Die im spätkapitalistischen Weltsystem krisenbedingt um sich greifende Stagnation wird erst aus historischer Perspektive vollauf deutlich. Nur das Halbjahrzehnt von 1990 bis 1994 war, wie eingangs erwähnt, durch eine etwas schlechtere Konjunkturentwicklung (im Schnitt knapp über zwei Prozent pro Jahr) geprägt als die erste Hälfte der laufenden Dekade. Die frühen Neunziger waren aber durch den Zusammenbruch der Sowjetunion und des sowjetischen Staatskapitalismus in Osteuropa gekennzeichnet, der mit massiven Wirtschaftseinbrüchen einherging, was zu den miserablen globalen Durchschnittswerten führte. Somit hinterließen die 2020 einsetzenden Krisenschübe (Pandemie, Krieg, Lieferengpässe) ähnlich starke konjunkturelle Bremsspuren, wie die Implosion des Ostblocks.

Fast alle anderen Fünf-Jahres-Zeiträume zwischen den späten 90ern und 2019 – dem Vorabend von Pandemie und Ukraine-Krieg – wiesen global ein weitaus höheres durchschnittliches Wirtschaftswachstum von etwas mehr als drei Prozent auf. Die einzige Ausnahme bildet der Zeitraum zwischen 2005 und 2009, als das Platzen der Immobilienblasen in den USA und Europa (2007/08) zu einer kurzen, scharfen Weltwirtschaftskrise (2009) führte, die ab 2010 durch umfassende Konjunkturmaßnahmen und die expansive Geldpolitik der Notenbanken überwunden werden konnte.

Dieser durch das Platzen der Immobilienblasen ausgelöste Einbruch 2009 verweist auf die regelrechte Blasenökonomie, die das globalisierte Weltsystem im neoliberalen Zeitalter ausbildete: Von der Dot-Com-Blase in der zweiten Hälfte der 90er-Jahre, als der Internet-Boom zu einer Hausse mit Hightech-Aktien führte, über die 2008 in Europa und den USA platzenden Immobilienblasen,[3] bis zu der großen, ab 2020 deflationierenden Liquiditätsblase, die durch die expansive Geldpolitik und die Gelddruckerei der Notenbanken aufrechterhalten wurde.[4]

Und es waren gerade diese an Umfang gewinnenden Spekulationsblasen, die als wichtigste Konjunkturtreiber in der Ära der finanzmarktgetriebenen Globalisierung fungierten. Die Tendenz zur Stagnation in den 20ern, die von der Weltbank beklagt wird, ist gerade auf den Zusammenbruch dieser auf einem beständig wachsenden Schuldenberg fußenden, globalen Blasenökonomie zurückzuführen. Die Inflation, die von den Notenbanken mit restriktiver Geldpolitik bekämpft wird, machte eine abermalige Blasenbildung nach dem Krisenschub von 2020 unmöglich.

Chinesische Konjunkturbremse

Der Zusammenhang zwischen Konjunktur und Spekulationsdynamik, der den an seiner Produktivität erstickenden Spätkapitalismus charakterisiert,[5] kann aktuell sehr schön anhand des chinesischen Staatskapitalismus nachvollzogen werden, wo mit dem dem Pleitekonzern Evergrande einer der größten Bauinvestoren des Landes vor der Abwicklung steht – 300 Milliarden Dollar und Millionen von Eigentumswohnungen stehen im Feuer.[6] Die gigantische Immobilienblase,[7] die China im Gefolge der umfassenden staatlichen Konjunkturspritzen nach 2008 ausbildete, bescherte der „Werkstatt der Welt“ über Jahre zweistellige Zuwachsraten.

Doch nun steht, allen Verzögerungstaktiken Pekings zum Trotz, die unausweichliche Deflation dieser Immobilienblase an[8] – und sie hinterlässt bereits deutliche konjunkturelle Bremsspuren. Laut Weltbank soll die Wirtschaft Chinas in diesem Jahr nur um 4,4 Prozent wachsen.[9] Dabei geht diese Prognose von einem Best-Case-Szenario aus, bei dem ein unkontrollierbarer Crash des Immobilienmarktes verhindert werden kann.

Doch selbst eine kontrollierte Entwertung und Abwicklung des heißgelaufenen chinesischen Immobiliensektors wird einen schwerwiegenden ökonomischen Fallout nach sich ziehen. Dies gilt nicht nur für die exportabhängige Bundesrepublik, sondern vor allem für viele Entwicklungs- und Schwellenländer, die in hohem Ausmaß ökonomisch von der Volksrepublik abhängig sind.[10] Der schuldenfinanzierte Spekulationsboom Chinas bildete einen wichtigen Faktor bei der konjunkturellen Erholung nach dem großen transatlantischen Immobiliencrash von 2008, doch ist eine ähnliche Konstellation in der gegenwärtigen Krisenphase nicht mehr möglich. Im Gegenteil wird China künftig zur allgemeinen Tendenz zur Stagnation beitragen.

Nächster Krisenschub schon „eingepreist“?

Die sich breitmachende Stagnation ist Folge der partiell erfolgreichen Inflationsbekämpfung durch die Notenbanken, die der großen Liquiditätsblase zwar den Geldhahn abdrehten, sich aber dabei perspektivisch in eine geldpolitische Sackgasse manövrieren, in der die Ziele der Inflationsbekämpfung, Finanzmarktstabilisierung und Konjunkturförderung immer stärker in Konflikt geraten.[11] Dies wird gerade anhand der USA deutlich, die 2023 mit einem Wirtschaftswachstum von 2,5 Prozent der allgemeinen stagnativen Tendenz in den Zentren des Weltsystems trotzen konnten. Die Weltbank prognostiziert den Vereinigten Staaten für dieses Jahr aber von nur noch eine Wachstumsdynamik von 1,6 Prozent, was auf „auf die restriktive Geldpolitik“ der US-Notenbank Fed zurückzuführen sei, so Reuters.[12]

Inflationsbekämpfung wird für gewöhnlich mit Konjunkturabkühlung erkauft, wie es gerade der globale Konjunkturrückblick und -ausblick der Weltbank belegt (Die Ausnahme von dieser Regel bildeten gerade die USA des Jahres 2023). Hinzu kommen die destabilisierenden Folgen der Hochzinspolitik in der Finanzsphäre. Die Leitzinserhöhungen und das Ende der Aufkaufprogramme der Notenbanken führen zu einer stärkeren Krisenanfälligkeit des Finanzsektors, da Anleihen, Aktienmärkte und Immobiliensektoren nicht mehr mit ausreichender Liquidität und/oder Krediten versorgt werden können, um die Hausse fortsetzen zu können – es drohen Crashs, Einbrüche und Finanzmarktbeben, wie zuletzt im März 2023, als die Einbrüche auf den Anleihemärkten zu einer Bankenkrise in den USA führten.[13]

Die Hochzinspolitik gleicht somit einem Balanceakt auf des Messers Schneide, bei dem der aufgeblähte Finanzsektor samt den globalen Schuldenbergen den größten Risikofaktor bilden.[14] Mit der fortgesetzten Bekämpfung der hartnäckigen Teuerung steigt somit zwangsläufig das Risiko weiterer Krisenschübe in der labilen Finanzsphäre. Um das Risiko von Krisenschüben zu minimieren, hatte die Fed zuletzt im Dezember 2023 den labilen Märkten signalisiert, dass bei weiterhin fallender Inflationsrate 2024 erste Zinssenkungen anstehen würden.[15] Damit lösten die Notenbanker ein kurzfristiges Kursfeuerwerk an den Börsen aus, die in dieser Hausse das potenzielle Ende der Hochzinspolitik schlicht vorwegnahmen. Das Ende der restriktiven Geldpolitik ist somit schon in der Kursentwicklung an den Börsen – wo ja immer die Zukunft gehandelt wird – „eingepreist“, wie es im Börsenjargon heißt.

Doch was passiert, wenn sich die Inflation nicht so schnell wie erwartet Richtung der Zwei-Prozent-Marke bewegt, die von der Fed als Zielvorgabe ihrer restriktiven Geldpolitik angegeben wird? Dann finden sich die Geldpolitiker, die mit ihren Bemerkungen die Märkte beruhigen wollten, plötzlich in einer Zwickmühle wieder. Ende Januar deuteten US-Notenbanker an, dass es im kommenden März voraussichtlich keine Zinssenkung geben wird,[16] nachdem die US-Inflationsrate im Dezember mit 3,4 Prozent leicht über der im Vormonat (3,1 Prozent) lag.[17] Dieser Rückzieher der Geldpolitik bereitete dem flüchtigen Boom an den Märkten mit starken Kursverlusten ein jähes Ende.

Zudem zeigten sich abermals Risse im US-Bankensektor, nachdem der Aktienkurs der Regionalbank New York Community Bancorp binnen zweier Handelstage um rund 50 Prozent einbrach.[18] Die Bank leidet – wie auch andere Regionalbanken – unter der Hochzinspolitik und der damit im Zusammenhang stehenden Krise des Gewerbeimmobiliensektors in den USA. Das Finanzhaus, das eigentlich als Gewinner der Krise vom März 2023 galt, musste nun rund 552 Millionen Dollar als Rückstellungen für Kreditverluste verbuchen und einen Verlust von 185 Millionen Dollar melden.[19] Eine Wiederholung der durch die Hochzinspolitik ausgelösten Bankenkrise vom März 2023 scheint möglich. Der Kurseinbruch bei der Bancorp ist auch darauf zurückzuführen, dass gerade Regionalbanken von den „eingepreisten“ Zinssenkungen der Fed profitieren sollten.

Die US-Notenbanker sind folglich zur Geisel ihrer eigenen Politik geworden: Die Beruhigungspille vom Dezember wandelt sich in einen geldpolitischen Sprengsatz. Der nächste Krisenschub ist somit faktisch „eingepreist“, sollte die Fed nicht bald abermals zu einer expansiven – und somit auch inflationstreibenden – Geldpolitik übergehen. Hierin zeichnet sich höchstwahrscheinlich ein grundlegender Widerspruch ab, der die kapitalistische Krisenpolitik nach dem Ende der neoliberalen Blasenökonomie kennzeichnen wird: es ist ein letztendlich zum Scheitern verurteilter Balanceakt, ein Versuch, in der Systemkrise die Quadratur des Kreises zu realisieren, um Inflationsbekämpfung mit wirtschaftlicher und finanzieller Stabilität zu koppeln.

 

Tomasz Konicz finanziert seine journalistische Tätigkeit größtenteils durch Spenden. Falls Ihnen seine Texte zusagen, dann können Sie sich gerne daran beteiligen – entweder über Patreon, über Substack, oder durch direkte Banküberweisung nach Absprache per Mail:

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Anmerkungen

1 https://www.ft.com/content/b00ec9ec-5497-4543-aa57-f10873c8952b
   https://www.worldbank.org/en/publication/global-economic-prospects

2 https://www.investopedia.com/imf-predicts-five-years-of-sluggish-global-economic-growth-ahead-7376580

3 https://www.konicz.info/2007/03/05/vor-dem-tsunami/

4 https://www.konicz.info/2021/04/13/oekonomie-im-zuckerrausch-weltfinanzsystem-in-einer-gigantischen-liquiditaetsblase/

5 https://oxiblog.de/die-mythen-der-krise/

6 https://www.tagesschau.de/wirtschaft/unternehmen/evergrande-liquidierung-100.html

7 https://www.konicz.info/2015/05/17/droht-china-ein-kollaps/

8 https://www.konicz.info/2021/11/27/einstuerzende-neubauten/

9 https://www.sueddeutsche.de/wirtschaft/weltbank-konjunktur-wachstum-welthandel-folgen-schwellenlaender-1.6330300

10 https://www.konicz.info/2022/10/18/china-mehrfachkrise-statt-hegemonie-2/

11 https://www.konicz.info/2023/11/12/inflation-finanzkrach-oder-rezession/

12 https://www.reuters.com/markets/world-bank-forecasts-2024-global-growth-slow-third-consecutive-year-2024-01-09/

13 https://www.konicz.info/2023/03/19/die-silicon-valley-bank-als-das-schwaechste-glied/

14 https://www.konicz.info/2023/11/12/inflation-finanzkrach-oder-rezession/ 

15 https://www.cnbc.com/2023/12/13/fed-interest-rate-decision-december-2023.html

16 https://edition.cnn.com/business/live-news/federal-reserve-meeting-interest-rates-01-31-24/index.html

17 https://tradingeconomics.com/united-states/inflation-cpi 

18 https://www.nytimes.com/2024/01/31/business/new-york-community-bancorp-loss-dividend.html

19 https://finanzmarktwelt.de/new-york-community-bancorp-aktie-verliert-32-massive-rueckstellungen-299547/

 

Warum wir dringend fundierte Kapitalismuskritik à la Modrow brauchen

Di, 06/02/2024 - 09:01

Ostdeutsche wissen: Gesellschaft ist nicht in Stein gemeißelt, es gibt Alternativen. Wie sieht die Gesellschaft aus, die wir wollen?

 

 

„Die soziale Marktwirtschaft hat sich als ganz gewöhnlicher Kapitalismus entpuppt.“
Das schrieb Hans Modrow in einem Grußwort zum Jahr 1993. Modrow war der letzte Vorsitzende des DDR-Ministerrats. Seine Akten liegen heute im Archiv der Rosa-Luxemburg-Stiftung. Erst kürzlich las ich sie wieder und war beeindruckt von Modrows Scharfsinn. Schon Anfang 1990 sah er: Dem Untergang des real existierenden Sozialismus folgte der real existierende Kapitalismus. Die Bundesregierung gab den Ton an und vertraute auf die D-Mark. Sie wollte „freie Märkte“ für „freie Bürger“, auch für die DDR. Alternativen gab es nicht. 

So kam im Juli 1990 die Währungs-, Wirtschafts- und Sozialunion und schaffte einen vereinten Markt für ein geteiltes Deutschland. Schon im Februar 1990 warnten Kritiker:innen in der DDR und BRD vor den Folgen dieses Anschlusses. Er sei ein „unkontrolliertes Großexperiment […] nicht mit ungewissem, sondern sehr gewissem Ausgang“, schrieben sie in einem offenen Brief. Der Zusammenbruch der DDR-Wirtschaft, De-Industrialisierung und Massenarbeitslosigkeit – all das „zöge Kosten in einer Größenordnung nach sich, die kaum zu bewältigen“ seien. Am Ende profitierten die Rechten von enttäuschten Versprechen blühender Landschaften. Und genauso kam es. Die DDR brach zusammen, die Kosten explodierten und die Rechten bekamen Aufwind – bis heute. 

Ostdeutsche, die diese Zeit durchlebten, haben „Umbruchserfahrung“. Das heißt, sie kennen Orientierungslosigkeit, Anpassungsprobleme und Neuanfänge. Diese Erinnerungen sind oft schwer, aber kostbar. Denn wer sie hat, weiß: Gesellschaft ist nicht in Stein gemeißelt. Sie ist zerbrechlich, und es gibt Alternativen. Die Frage ist also weniger, welche Gesellschaft wir haben, sondern, welche Gesellschaft wir wollen. 

Leider stellen wir uns solche Fragen heute kaum. Getrieben von Kriegen, Krisen und dem Klima scheint das, was wir haben, sicherer als das, was wir haben könnten. Ob in Politik oder Medien – propagiert wird das Individuum, der Markt, Wachstum und Konsum, also der „ganz gewöhnliche Kapitalismus“. Alternativen gibt es kaum. Auch die Alternative für Deutschland (AfD) ist hier keine Ausnahme. Laut Grundsatzprogramm will sie ein „deutsches Volk“ voll „freier Bürger“ mit „freiem Wettbewerb“. Das bedeutet, jede:r ist sich selbst der Nächste und alle sind gegen Migrant:innen. Neu ist das nicht, und auch keine Alternative. 

Wie begrenzt unsere Wirtschaftsberichterstattung ist, zeigt auch eine neue Studie der Otto-Brenner-Stiftung: Sie untersuchte Wirtschafts-Podcasts. Allein beim Streamingdienst Spotify gibt es 656 davon. 60 Prozent von ihnen produzieren Unternehmen, oft in Ratgeberformaten und mit individuellem Fokus. Kritische Perspektiven auf Gesellschaft oder unsere Rollen als Arbeitnehmer:innen sind selten, Kapitalismuskritik à la Modrow fehlt fast ganz. 

Das ist eine Lücke. Denn ohne solche Anstöße können wir Gesellschaft kaum anders denken. Deshalb bleibe ich bei Modrow und der Wendezeit. Sie zeigte uns: Der „ganz gewöhnliche Kapitalismus“ ist nicht nur ein Wirtschaftssystem, er ist eine soziale Ordnung – er beeinflusst unser Denken, Handeln und unseren Umgang mit anderen. Das macht Kapitalismus zum Teil fast aller Krisen, Kriege und des Klimas. Die Zeit ist also reif für Systemfragen, auch in den Medien.

 

Erstveröffentlichung berliner-zeitung, 5.2..2024

 

 

 

 

Krise im Betrieb – Personalabbau statt Homeoffice

Di, 30/01/2024 - 07:20

Beschäftigte in deutschen Vorzeige-Unternehmen spüren die Krise. „Bayer, VW, SAP – diese drei Konzerne stehen für den starken Wirtschaftsstandort Deutschland und wollen massiv Arbeitsplätze abbauen“, meldet der Focus.

 

SAP will nach eigenen Angaben weltweit 8000 Stellen streichen. Konzernchef Christian Klein begründet dies mit verstärkten Investitionen in künstliche Intelligenz. Dies erfordere andere Konzernstrukturen. Der Softwarekonzern will Mitarbeiter entweder in neue Tätigkeitsfelder umschulen oder entlassen und neue Fachkräfte einstellen.

Auch eine neue Präsenzpflicht hat Klein angekündigt: „Wir wissen, wie wichtig und bereichernd es ist, persönlich zusammenzuarbeiten“, so Klein Anfang dieses Jahres. „Künftig sind drei Tage pro Woche im Büro und bei Kunden/Partnern vorgesehen.“ Regelmäßige Büropräsenz trüge entscheidend dazu bei, neue Ideen zu generieren und so den Wettbewerbsvorteil zu sichern, Wirtschaftswoche.

Für Kritik bei den Beschäftigten sorgt auch ein „neu geschaffenen Leistungssystem:  “...Dabei werden die Beschäftigten in Gruppen eingeteilt, etwa in Leistungsträger und Mitarbeiter mit Verbesserungsbedarf“, meldet Focus.de. Die Veränderungen sind weitgehend.

Die „Herausforderungen für den einstigen IT-Vorzeigearbeitgeber“ kommentiert der Softwarehersteller mind-verse auf seinem Blog (https://www.mind-verse.de/news/sap-wandel-herausforderungen-it-vorzeigearbeitgeber). „Die Belegschaft, die einst von der Unternehmensführung umsorgt wurde, fühlt sich nun zunehmend unter Druck gesetzt.“. Die Zeiten des „Kuschelns“ seien vorbei, heißt es. Auch andere Medien berichten in diesem Stil. „Schluss mit Kuscheln“ kommentiert die Wirtschaftswoche Planungen beim Softwareriesen. (www.wiwo.de/my/unternehmen/it/sap-schluss-mit-kuscheln/29618480.html). „Müssen wir mehr leisten?“ fragt Reiner Straub, Herausgeber des Personalmagazin (www.haufe.de/personal/hr-management/debatte-muessen-wir-mehr-leisten_80_613604.html)..

Völlig außen vor bleiben bei dieser Berichterstattung die Arbeitsbedingungen. Denn SAP ist eines der Paradebeispiele für die heutige Arbeitswelt. Die Arbeitsprozesse in der Softwarebranche sind heute nicht mehr mit einer zentral durchdachten Steuerung regelbar. Genehmigungsverfahren beim direkten Vorgesetzten werden durch das Prinzip der „indirekten Steuerung“ abgelöst. Diese Steuerung erfolgt, in dem sich Gruppen von Beschäftigten oder einzelne Angestellte in eigener Verantwortung innerhalb der Vorgaben direkt dem Kunden gegenüber am Markt orientieren müssen. Das Arbeitsverhältnis wird zum Verhältnis „Dienstleister gegenüber Kunde“, um so scheinbar aus dem Arbeitnehmer einen „Unternehmer im Unternehmen“ zu machen. Wo die Arbeit erbracht wird, spielt keine Rolle. Deshalb kann speziell bei diesem Ansatz der Arbeitsteuerung oftmals ohne Probleme auf Präsenz im Betrieb verzichtet werden, Homeoffice ist häufig Standard.

Die Leistungsdynamik eines Selbständigen soll so für das Arbeitsverhältnis genutzt werden. Der Beschäftigte nimmt es zunächst als Befreiung vom bisherigen Prinzip „Befehl und Gehorsam“ wahr, da er eigenverantwortlich Entscheidungen treffen kann. Können die Ziele jedoch nicht erreicht werden, gibt es Druck. Es drohen der Entzug von Finanzmitteln, die Versetzung auf eine schlechter bezahlte Stelle, Verlagerung von Aufgaben an andere Standorte oder sogar Entlassungen. Auf den ersten Blick bringt die indirekte Steuerung Positives für die Beschäftigten Sie können eigenverantwortlich arbeiten und eigene Ideen entwickeln. Das Konzept ist jedoch problematisch, wenn die Ziele – wie zu häufig – zu hoch angesetzt werden. Ein Beispiel hierfür können Zielvereinbarungen sein. Bei diesen ist nicht „der Weg“ das Entscheidende, vielmehr entscheidet der Arbeitnehmer eigenständig, wie das Ziel zu erreichen ist.

Aktuelle Zahlen verdeutlichen die Folgen der heutigen Arbeitsbedingungen. Die psychischen Belastungen steigen. Den „Anstieg der Arbeitsausfälle wegen psychischer Erkrankungen um 48 Prozent im Zehn-Jahres-Vergleich“, meldet die Krankenkasse DAK (www.dak.de/dak/unternehmen/reporte-forschung/psychreport-2023_32618). Depressionen, chronische Erschöpfung, Ängste: Mit 301 Fehltagen je 100 Versicherte lagen die Fehlzeiten erschreckend hoch, so der „DAK Psychreport 2023“.

Für Verärgerung der Belegschaft sorgten im letzten Jahr die Lohnerhöhungen. SAP hatte angekündigt, „den Mitarbeitern in Deutschland rückwirkend zum 1. Januar durchschnittlich 3,7 Prozent mehr Gehalt zu zahlen. Fest einplanen können diese indes nur knapp 1,5 Prozent“. „Das hat nichts mit Wertschätzung zu tun“, kommentierte Betriebsrat Eberhard Schick https://www.handelsblatt.com/technik/it-internet/sap-in-der-kritik-die-gehaltserhoehung-fuer-die-belegschaft-ist-enttaeuschend/28950638.html). Neben der Illusion, dass in der IT-Branche die Arbeitsbedingungen per se human sind, offenbart die  Gehaltsanhebungeinen Irrglauben vieler hochqualifizierter Angestellten, die davon ausgehen, Erhöhungen des Gehaltes individuell durchsetzen zu können.
Der gewerkschaftliche Organisationsgrad in der IT-Branche ist gering. Viele Beschäftigte in anderen Branchen sehen dies demgegenüber anders. „Die Gewerkschaften erleben einen kleinen Mitglieder-Boom“, meldet Capital. Verdi und die Gewerkschaft Nahrung-Genuss-Gaststätten (NGG) sind 2023 gegen den langjährigen Trend wieder gewachsen, auch bei der IG Metall gab es fast 130.000 Neueintritt. „Sich in einer Gewerkschaft zu organisieren, scheint gerade bei jungen Leuten wieder eher im Trend zu liegen als in früheren Jahren, als die Mitgliedzahlen mit wenigen Ausnahmen nur den Weg nach unten kannten“, so Capital.

Geld ist da. Der Gewinn von SAP betrug im vierten Quartal des Jahres 2023 rund 1,2 Milliarden Euro. Im Vorjahresquartal beliefen sich die Gewinne auf rund 326 Millionen Euro (https://de.statista.com/statistik/daten/studie/1065101/umfrage/ergebnis-des-unternehmens-sap-nach-quartalen/). Das reicht den neuen Vorstand aber nicht. „Um die Aktionäre bei Laune zu halten, steigt der Druck auf die Beschäftigten“, beschreibt der Focus. An wen sich anstehende Änderungen aus Managementsicht auch richten, gegen diese Managementstrategien lässt sich nur kollektiv ankämpfen.

China versus USA

Sa, 27/01/2024 - 16:07

Laut der ersten Schätzung des realen BIP für das vierte Quartal, wuchs die US-Wirtschaft im Jahr 2023 um 2,5 % gegenüber 2022. 
Dies wurde von den westlichen Mainstream-Ökonomen mit Begeisterung aufgenommen - die USA seien auf dem Vormarsch, und die "Rezessionsprognostiker" wurden eines Besseren belehrt.

 


Zu Beginn der Woche wurde bekannt gegeben, dass die chinesische Wirtschaft im Jahr 2023 um 5,2 % wuchs.  Im Gegensatz zu den USA wurde dies von westlichen Mainstream-Ökonomen als totaler Fehlschlag verurteilt und zeigte, dass China in großen Schwierigkeiten stecke und vermutlich ohnehin gefälschte Daten verwende.

China wächst also doppelt so schnell wie die USA, die mit Abstand leistungsstärkste G7-Wirtschaft, aber China ist der "Versager", während die USA "boomen".
Westliche Ökonomen argumentieren weiterhin, dass die chinesische Wirtschaft den Bach runtergeht.  Es liegt daran, dass die westliche Kritik sachlich nicht korrekt ist - und auch daran, dass das Ziel dieser Kritik darin besteht, die vorherrschende Rolle des chinesischen Staatssektors und seine Fähigkeit, Investitionen und Produktion aufrechtzuerhalten, herunterzuspielen.  Die Kritik zielt darauf ab, von der Realität abzulenken, dass die westlichen kapitalistischen Volkswirtschaften (mit Ausnahme der USA, wie es scheint) in Stagnation und Beinahe-Pleite dümpeln.

Dies ist ein Beispiel für die westliche Sichtweise auf China: "Das chinesische Wirtschaftsmodell hat endgültig den Geist aufgegeben und eine schmerzhafte Umstrukturierung ist erforderlich."

Betrachtet man die Wachstumsrate der USA für 2020-23 und vergleicht sie mit der durchschnittlichen Wachstumsrate zwischen 2010-19, so zeigt sich, dass selbst die US-Wirtschaft unterdurchschnittlich abschneidet.  In den 2010er Jahren lag die durchschnittliche jährliche Wachstumsrate des realen BIP in den USA bei 2,25 %; in den 2020er Jahren liegt sie bisher bei durchschnittlich 1,9 % pro Jahr.

Vergleicht man Chinas Wachstumsrate von 5,2 % mit dem Rest der großen Volkswirtschaften, so ist der Abstand noch größer als zu den USA:
Japan wuchs im Jahr 2023 um 1,5 %,
Frankreich um 0,6 %,
Kanada um 0,4 %,
das Vereinigte Königreich um 0,3 %,
 Italien um 0,1 % und
Deutschland um -0,4 %.  ‚

Selbst im Vergleich zu den meisten der großen so genannten Schwellenländer war die Wachstumsrate Chinas viel höher: 
Brasiliens Wachstumsrate liegt derzeit bei 2% im Jahresvergleich, Mexiko bei 3,3%, Indonesien bei 4,9%, Taiwan bei 2,3% und Korea bei 1,4%. 
Nur Indien mit 7,6 % und die Kriegswirtschaft Russlands mit 5,5 % sind, von den großen Volkswirtschaften, höher.

Es wird immer wieder versucht, die offiziellen Statistiken der chinesischen Behörden in den Schmutz zu ziehen, insbesondere die Wachstumszahlen.  Die Stichhaltigkeit dieser Kritik ist bereits  in früheren Beiträgen erörtert worden. Auch das aktuelle Argument lautet, dass die chinesischen BIP-Zahlen gefälscht swären, und wenn man andere Methoden zur Messung der Wirtschaftstätigkeit wie die Strom- oder Stahlerzeugung oder das Verkehrsaufkommen auf den Straßen und in den Häfen heranziehe, komme man auf eine viel niedrigere Wachstumszahl.  Aber selbst wenn man die Wachstumsrate um, beispielsweiose ein Drittel reduzieren würde, wäre die Rate immer noch doppelt so hoch wie in den meisten fortgeschrittenen kapitalistischen Volkswirtschaften und höher als in den meisten anderen.  Zudem sprechen hier von einem Wirtschaftsriesen, nicht von einer winzigen Insel wie Hongkong oder Taiwan.

Auch die Zahlen Indiens sind unter westlichen Ökonomen ebenso umstritten wie die Chinas. Im Jahr 2015 gab das indische Statistikamt plötzlich revidierte Zahlen für das BIP bekannt.  Dadurch stieg das BIP-Wachstum über Nacht um mehr als 2 Prozentpunkte pro Jahr.  Das nominale Wachstum der nationalen Produktion wurde durch einen Preisdeflator, der auf den Produktionspreisen des Großhandels und nicht auf den Verbraucherpreisen in den Geschäften basierte, in reale Werte "deflationiert", so dass die reale BIP-Zahl um einiges stieg.  Außerdem wurden die BIP-Zahlen nicht "saisonbereinigt", um etwaige Änderungen der Anzahl der Tage in einem Monat oder Quartal oder des Wetters usw. zu berücksichtigen. Eine Saisonbereinigung hätte in der Tat gezeigt, dass das reale BIP-Wachstum Indiens deutlich unter den offiziellen Zahlen liegt. 
Ein besserer Gradmesser für das Wachstum sind die Daten zur Industrieproduktion. Und die liegt in Indien bei nur 2,4 % im Jahresvergleich, während die Rate in China bei 6,8 % liegt.

Zurück zu China; selbst der IWF geht davon aus, dass China in diesem Jahr um 4,6 % wachsen wird, während die kapitalistischen G7-Länder mit Glück 1,5 % erreichen werden. Zudem werden  einige von ihnen  wahrscheinlich in eine regelrechte Rezession geraten (Deutschland). Und wenn die IWF-Prognosen bis 2027 zutreffen, wird sich die Wachstumslücke noch vergrößern.

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Wie John Ross hervorgehoben hat, wird die chinesische Wirtschaft, wenn sie in den nächsten zehn Jahren weiterhin um 4-5 % pro Jahr wächst, ihr BIP verdoppeln - und bei einer sinkenden Bevölkerungszahl ihr BIP pro Person sogar noch weiter steigern. "Um Chinas Ziel einer Verdopplung des BIP zwischen 2020 und 2035 zu erreichen, musste das Land eine durchschnittliche jährliche Wachstumsrate von 4,7 % erreichen. Bislang hat China seit 2020 eine durchschnittliche jährliche Wachstumsrate von 5,5 % erreicht - mit einem durchschnittlichen jährlichen Anstieg des Pro-Kopf-BIP von 5,6 %.  Um sein Ziel für 2035 zu erreichen, hätte Chinas BIP-Wachstum ab 2020 insgesamt 15,5 % betragen müssen, und tatsächlich erreichte es 17,7 %. Das U.S. Congressional Budget Office, das die offiziellen Wirtschaftsprognosen für die Politik der US-Regierung erstellt, geht davon aus, dass die US-Wirtschaft bis 2033 jährlich um 1,8 % und ab dann um 1,4 % wachsen wird. Selbst wenn die höhere jährliche Wachstumsrate erreicht würde, würde die US-Wirtschaft zwischen 2020 und 2035 nur um 39 % wachsen, während China um 100 % zulegen würde. Das heißt, Chinas Wachstum wäre mehr als zweieinhalb Mal so schnell wie das der USA.

Westliche Ökonomen gehen jedoch davon aus, dass dieses Ziel nicht erreicht werden wird.  Erstens argumentieren sie, dass Chinas Erwerbsbevölkerung schnell schrumpft und daher nicht genügend billige Arbeitskräfte zur Verfügung stehen, um die Produktion zu steigern.  Eine höhere Produktion hängt jedoch nicht nur von einer steigenden Erwerbsbevölkerung ab, sondern vor allem von der höheren Produktivität dieser Arbeitskräfte.  Und wie ich in früheren Beiträgen gezeigt habe, gibt es guten Grund zu der Annahme, dass Chinas Arbeitsproduktivität ausreichend steigen wird, um einen Rückgang der Zahl der Arbeitskräfte zu kompensieren.

Zweitens ist der westliche Konsens, dass China in einer enormen Verschuldung steckt, insbesondere bei den lokalen Regierungen und Immobilienentwicklern.  Dies wird schließlich zu Konkursen und einem Schuldenschnitt führen oder bestenfalls die Zentralregierung dazu zwingen, die Ersparnisse der chinesischen Haushalte zu drücken, um für diese Verluste aufzukommen, und so das Wachstum zu zerstören.  Ein Schuldenschnitt wird von diesen Ökonomen offenbar jedes Jahr prognostiziert, aber es gab keinen systemischen Zusammenbruch im Bankensektor oder im Nicht-Finanzsektor.

Stattdessen hat der staatliche Sektor seine Investitionen erhöht und die Regierung hat die Infrastruktur ausgebaut, um einen eventuellen Abschwung auf dem überschuldeten Immobilienmarkt zu kompensieren. Tatsächlich ist es Chinas kapitalistischer Sektor (der meist in unproduktiven Bereichen angesiedelt ist), der in Schwierigkeiten steckt, während Chinas massiver staatlicher Sektor die Führung bei der wirtschaftlichen Erholung übernimmt.

 

In Wirklichkeit ist China in den produktiven Sektoren wie der verarbeitenden Industrie weiterhin weltweit führend.  China ist jetzt die einzige verarbeitende Supermacht der Welt. Seine Produktion übertrifft die der neun nächstgrößeren Hersteller zusammen.
Die USA brauchten fast ein ganzes Jahrhundert, um an die Spitze zu gelangen; China brauchte etwa 15 bis 20 Jahre.

Im Jahr 1995 betrug der Anteil Chinas an den weltweiten Exporten des verarbeitenden Gewerbes gerade einmal 3 %. In 2020 war sein Anteil auf 20 % gestiegen.  China wird keineswegs in die Enge getrieben, weil die USA ihre Investitionen in und ihre Nachfrage nach chinesischen Waren "entkoppelt" haben; die USA sind stärker von chinesischen Exporten abhängig als umgekehrt.

Quelle: Institute for Management and Development

Und bei Hightech-Produkten wie Halbleitern und Chips schließt China zu den USA auf.

https://thenextrecession.wordpress.com/2022/12/11/chips-the-new-arms-race/

 

China hat noch einen weiten Weg vor sich, um die kombinierte Wirtschaftskraft der imperialistischen Volkswirtschaften zu übertreffen, aber es schließt die Lücke.  Das beunruhigt die USA und ihre Verbündeten.

 

 

Denn, so die westlichen Wirtschaftswissenschaftler, Chinas Schwerpunkt auf der verarbeitenden Produktion und auf Investitionen in Infrastruktur und Technologie statt auf der Steigerung des privaten Konsums sei das falsche Entwicklungsmodell.
Nach der neoklassischen (und keynesianischen) Theorie ist es der Konsum, der das Wachstum antreibt, nicht die Investitionen.  China muss also seinen zu großen Staatssektor auflösen, die Steuern für Privatunternehmen senken und deregulieren, damit der Privatsektor den Verkauf von Konsumgütern ausweiten kann.

Aber hat der hohe Konsumanteil in den westlichen Volkswirtschaften zu einem schnelleren realen BIP- und Produktivitätswachstum geführt, oder eher zu Immobilienpleiten und Bankenkrisen?
Und ist es nicht eigentlich so, dass produktivere Investitionen das Wirtschaftswachstum und die Beschäftigung und damit die Löhne und Ausgaben ankurbeln und nicht umgekehrt? 
Das ist die Erfahrung der letzten 30 Jahre in China, wo hohes Wachstum und hohe Investitionen zu steigenden Löhnen und Verbraucherausgaben führten. https://thenextrecession.wordpress.com/2023/08/02/china-consumption-or-investment/

Rückschlag für die Transatlantiker

Fr, 26/01/2024 - 09:25

EU-Kommission kann von den USA geforderte Kontrollen von Investitionen europäischer Unternehmen in China nicht  durchsetzen - nicht gegen den Widerstand insbesondere der deutschen Wirtschaft.

 

EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen und Bundeswirtschaftsminister Robert Habeck sind mit dem Versuch gescheitert, von den USA geforderte Investitionskontrollen in der EU einzuführen. Beide hatten im vergangenen Jahr dafür geworben, Investitionen von Unternehmen aus der EU in speziellen Drittstaaten, insbesondere in China, scharfen Prüfungen auszusetzen und sie bei Bedarf zu verbieten. Eine entsprechende Regelung hatte Washington im vergangenen Jahr eingeführt und seine Verbündeten gedrängt, die Maßnahme zu übernehmen. In den gestern vorgelegten Vorschlägen der EU-Kommission zur EU-„Strategie für wirtschaftliche Sicherheit“ aus dem Jahr 2023 heißt es nun, Brüssel werde „Daten“ über Investitionen etwa in China sammeln; Kontrollen jedoch sind nicht vorgesehen. Gescheitert ist der transatlantische Plan am Widerstand der – insbesondere deutschen – Wirtschaft, die ihr strategisch überaus wichtiges Chinageschaft bedroht sieht. Verschärft wird aber die Kontrolle auswärtiger Investitionen innerhalb der EU. Zudem wird die Forschungskooperation von Hochschulen in der EU insbesondere mit chinesischen Partnerorganisationen stärker reglementiert.

„Strategie für wirtschaftliche Sicherheit“

Die Vorschläge, die die EU-Kommission am gestrigen Mittwoch vorgelegt hat, um ihre im Juni vergangenen Jahres offiziell präsentierte „Strategie für wirtschaftliche Sicherheit“ näher auszubuchstabieren, beziehen sich zunächst auf ausländische Investitionen in der EU. Diese werden von der Mehrheit der Staaten längst strikt kontrolliert, vor allem, wenn es sich um Investitionen aus China handelt. Diese hat etwa Deutschland in der Vergangenheit mehrmals eingeschränkt oder untersagt, wenn es um Investitionen in als sicherheitsrelevant geltende Branchen oder in sogenannte kritische Infrastruktur ging (german-foreign-policy.com berichtete [1]). Dazu sollen nun auch die – relativ wenigen – Staaten gedrängt werden, die bisher noch keine Einschränkungen vornehmen oder, wie etwa Griechenland und Bulgarien, schlicht keine Investitionskontrollsysteme besitzen.[2] Die EU-Kommission dringt darauf, die nationalen Vorschriften zu harmonisieren und einen „Mindestanwendungsbereich“ festzulegen, „in dem alle Mitgliedstaaten ausländische Investitionen überprüfen müssen“.[3] Zudem sollen unter bestimmten Umständen auch Investitionen von Unternehmen aus EU-Staaten kontrolliert werden – und zwar dann, wenn die jeweiligen Unternehmen von Personen oder Firmen aus einem Nicht-EU-Staat kontrolliert werden.

Exportkontrollen

Stärker kontrolliert werden sollen auch Exporte aus EU-Staaten nach China. Allerdings hat EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen dabei spürbar Abstriche machen müssen. Ursprünglich hatte von der Leyen geplant, bis September vergangenen Jahres eine Schwarze Liste mit Produkten zu erstellen, die nicht mehr oder allenfalls mit klaren Einschränkungen nach China exportiert werden dürfen, etwa High-Tech-Halbleiter oder Technologien für Quantencomputer und Künstliche Intelligenz.[4] Vorbild waren erkennbar US-Regelungen, mit denen Washington Beijing auf Dauer in technologischem Rückstand halten will; sie wollte von der Leyen offenkundig für die EU übernehmen.[5] Das ist nicht gelungen. Nicht nur liegt die erwähnte Schwarze Liste bis heute nicht vor. Die Kommission gab am gestrigen Mittwoch zudem bekannt, sie habe lediglich ein „Weißbuch über Ausfuhrkontrollen“ erstellt, das mit bereits bestehenden „Vorschriften auf EU- und multilateraler Ebene vollständig im Einklang“ sei, also keinerlei signifikante Ausweitung von Exportbeschränkungen bringe. Für den Sommer sei jedoch eine „Empfehlung der Kommission für eine bessere Koordinierung der nationalen Kontrolllisten“ geplant.[6] Damit könnte der Versuch einer Verschärfung verbunden sein.

Investitionskontrollen

Einen herben Rückschlag musste von der Leyen beim Versuch hinnehmen, neben Exporten auch Investitionen von EU-Unternehmen in China scharfen Kontrollen zu unterwerfen. Dabei diente gleichfalls eine US-Regelung als Vorbild, in diesem Fall die Entscheidung der Biden-Regierung, in Zukunft Investitionen von US-Firmen in China zu prüfen und unter Umständen zu untersagen, wenn sie der Produktion von High-Tech-Halbleitern, von Quantencomputern oder von Technologien für Künstliche Intelligenz dienen. Washington hatte entsprechende Regeln im August vergangenen Jahres eingeführt [7] und mit aller Macht darauf gedrungen, dass seine Verbündeten sie rasch übernehmen. Von der Leyen hatte sich ebenso dafür eingesetzt wie Bundeswirtschaftsminister Robert Habeck, der bereits im Mai vergangenen Jahres öffentlich gefordert hatte, ein „Outbound Investment Screening“ gemäß US-Modell zu implementieren.[8] Der Versuch ist gescheitert. Die EU-Kommission gab gestern bekannt, sie habe ein weiteres „Weißbuch“ erstellt – „über Investitionen in Drittstaaten“ –, in dem nun vorgeschlagen werde, Daten zu einschlägigen Branchen zu sammeln, sie auszuwerten und gegebenenfalls im kommenden Jahr einen neuen Gesetzesvorschlag vorzulegen.[9] Von konkreten Schritten hin zu Investitionskontrollen ist nicht die Rede.

Ministerium gegen Minister

Gescheitert ist der Versuch, faktisch US-Regelungen in die EU zu übertragen, den von der Leyen und Habeck unternommen haben, nicht zuletzt an der deutschen Wirtschaft. So hieß es etwa im August vergangenen Jahres, „die Wirtschaft“ mache „Druck“, von einem Outbound Investment Screening strikt Abstand zu nehmen; die wirtschaftspolitischen Sprecher von SPD und FDP sprachen sich offen dagegen aus.[10] In der Tat kommen deutsche Konzerne bei ihren Investitionen in der Volksrepublik kaum ohne die Nutzung etwa von High-Tech-Chips oder von Künstlicher Intelligenz aus. Der Außenwirtschaftschef der Deutschen Industrie- und Handelskammer (DIHK), Volker Treier, hatte bereits unmittelbar nach Habecks Vorstoß im Mai 2023 gewarnt, deutsche Unternehmen verfolgten „die Diskussion über eine neue staatliche Aufsicht von Auslandsinvestitionen mit großer Sorge“.[11] Habeck stieß sogar in seinem eigenen Ministerium auf entschlossenen Widerstand. „Die Arbeitsebene“ dort, so hieß es, „bremst vor allem wegen der unklaren Auswirkungen des Instruments“.[12] „Die Sorge“ sei „groß, dass eine neue Investitionskontrolle ... ein bürokratisches Monster erschaffen wird, unter dem die deutschen Unternehmen wegen langwieriger Kontrollen leiden“. Letztlich setzte sich die Wirtschafts- gegen die transatlantische Polit-Fraktion durch.

„Böswilliger Einfluss“

Stärker reglementiert werden soll allerdings die Kooperation von Hochschulen und von Forschungseinrichtungen in der EU mit Partnerorganisationen in Drittländern, de facto vor allem mit Hochschulen in China. So erklärt die EU-Kommission, Forschungsergebnisse aus Europa könnten womöglich „für militärische Zwecke in Drittländern genutzt oder unter Verletzung von Grundwerten eingesetzt“ werden. Hochschulen in EU-Staaten könnten auch „dem böswilligen Einfluss autoritärer Staaten ausgesetzt sein“.[13] Die Kommission lege daher „einen Vorschlag für eine Empfehlung des Rates“ vor, der darauf ziele, der Forschung in der EU für die Kooperation mit Drittstaaten „mehr Klarheit, bessere Orientierungshilfen und stärkere Unterstützung zu bieten“. Zwar könne man auf Forschungskooperation nicht verzichten, heißt es wohl mit Blick auf die hochqualifizierte Forschung in China. Doch solle man „Risiken für die Forschungssicherheit mindern“. Die Maxime laute: „So offen wie möglich, so geschlossen wie nötig“.

 

[1] S. dazu Die Dialektik des Chinageschäfts.(https://www.german-foreign-policy.com/news/detail/9070)

[2] Brüssel rudert bei Kontrolle von Auslandsinvestitionen zurück. Frankfurter Allgemeine Zeitung 25.01.2024.

[3] Kommission schlägt neue Initiativen zur Stärkung der wirtschaftlichen Sicherheit vor. ec.europa.eu 24.01.2024.

[4] Carsten Volkery: EU stellt Anti-China-Pläne vor. handelsblatt.com 20.06.2023.

[5] S. dazu Mit Investitionsverboten gegen China (https://www.german-foreign-policy.com/news/detail/9210)

[6] Kommission schlägt neue Initiativen zur Stärkung der wirtschaftlichen Sicherheit vor. ec.europa.eu 24.01.2024.

[7] Sabine Gusbeth, Dana Heide, Felix Holtermann, Carsten Volkery: Biden reguliert US-Investitionen in sensible Technologien in China. handelsblatt.com 10.08.2023.

[8] Martin Greive, Dana Heide, Moritz Koch, Julian Olk, Annett Meiritz: Habeck will China-Geschäfte deutscher Unternehmen kontrollieren. handelsblatt.com 11.05.2023.

[9] Kommission schlägt neue Initiativen zur Stärkung der wirtschaftlichen Sicherheit vor. ec.europa.eu 24.01.2024.

[10] Sabine Gusbeth, Dana Heide, Felix Holtermann, Carsten Volkery: Biden reguliert US-Investitionen in sensible Technologien in China. handelsblatt.com 10.08.2023.

[11] Julian Olk: Ausländische Investitionskontrolle: Wie Habeck mit seinem Vorstoß alle überraschte. handelsblatt.com 11.05.2023.

[12] Sabine Gusbeth, Dana Heide, Felix Holtermann, Carsten Volkery: Biden reguliert US-Investitionen in sensible Technologien in China. handelsblatt.com 10.08.2023.

[13] Kommission schlägt neue Initiativen zur Stärkung der wirtschaftlichen Sicherheit vor. ec.europa.eu 24.01.2024.

 

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