Redebeitrag Sabine Leidig

Redebeitrag Sabine Leidig auf dem Marienplatz, 1.2.2013



Wie gut, dass es diese Protesttradition gibt, denn es ist sehr bedeutsam, den hier versammelten Eliten die Stirn zu bieten. Der Widerspruch gegen die NATO-Strategen wirken vielleicht nicht sofort, aber sie sickern ein in die öffentliche Wahrnehmung und untergraben deren Meinungsführerschaft nach und nach. Dass unsere Argumente wirken, zeigt die Meinungsumfrage der Nachrichtenagentur dpa, die gestern veröffentlicht wurde: Zu Deutschland Rolle in der Welt befragt, sagten 58 Prozent, das Land solle Konflikte lieber mit Diplomatie und Geld lösen als mit Waffen. Und nur 20 % sagten: Ja, Deutschland solle sich auch mit Waffen als NATO-Partner stärker engagieren.
Die so genannte NATO-Sicherheitskonferenz versammelt die militärisch, politisch und wirtschaftlich Mächtigen, die sich anmaßen, die Werte der so genannten westlichen Welt zu verteidigen. Aber dieser „way of life“ hat zerstörerische und oft tödliche Folgen.
Diese NATO-Eliten zwingen der Welt auf, bis an die Zähne bewaffnet zu sein. im vergangenen Jahr sind weltweit 1.300 Milliarden Euro dafür aufgewendet worden. Dabei haben die 27 NATO-Staaten zusammen Militärausgaben von 740 Milliarden Euro – in einem Jahr! Die Allianz verpflichtet ihre Mitglieder, mindestens zwei Prozent des Bruttosozialproduktes in die „Verteidigung“ zu investieren. Und ausgerechnet die beiden bankrottesten dieser Länder leisten sich trotz unglaublicher Haushaltsdefizite und verarmenden Bevölkerungen gemessen sam BIP die höchsten Militärausgaben: Griechenland und die USA. Dazu kommen die Rüstungsexporte in den Rest der Welt – ein Markt, der im vorletzten Jahr 63 Milliarden Euro machte.
Nackte Zahlen, die eine schreckliche Diskrepanz bergen. Zum Vergleich: Um die 100 Millionen Kinder gut zu ernähren, die an Hunger leiden, müssten pro Tag 20 Cent eingesetzt werden; 73 Euro pro Jahr für ein Kinderleben. 7,3 Milliarden für alle diese Kinder: klingt nach viel Geld, aber das Zehnfache wird allein in den NATO-Staaten für ́s Militär verpulvert.
Dazu gab es kein Wort vom Pfarrer Gauck, der gestern dort gesprochen hat, der von fast allen Fraktionen gewählte Bundespräsident (DIE LINKE war nicht dabei). Dabei wäre das eine angemessene Rolle Deutschlands in der Außenpolitik: vom drittgrößten Waffenexporteur der Welt, sollten wir zum Vorreiter für ein Abrüstungsprogramm werden – für Friedensdividende gegen Armut und Hunger!
Aber das scheint jenen undenkbar. Es geht ja mitnichten um ein gerechtes System, wie es der Bundespräsident vorgaukelt – im Gegenteil: Der so genannte Freihandel, den Gauck so lobt, beschert den transnationalen Konzernen satte Profite; aber viele Millionen Kleinbauern, Familienunternehmen und Selbstversorger werden ruiniert.
Die Freiheit der Finanzindustrie hat ganze Volkswirtschaften ins Verderben gestürzt. Ein Aussteiger aus der Chefetage einer Großbank wird in dem dokumentarischen Theaterstück „Himeer-Reich“ von Andreas Veiel zitiert: „Sie und Ihre Condotttieri, ihre ehrenwerte Gesellschaft, raubt länderübergreifend, kontinentübergreifend, die rauben ganze Bevölkerungen aus!“
Dazu passt das Stichwort Lebensmittel- und Bodenspekulation: Die Preise für Weizen, Mais und Reis liegen im Durchschnitt um fast 300 Prozent höher als im Jahr 2000. Für die rund zwei Milliarden Menschen in den Entwicklungsländern, die den größten Teil ihrer Einkünfte für die Ernährung verwenden müssen, bringt der freie Handel mit „Agrofuels“ gravierende Einschränkungen und vielen Krankheit und Tod. Aber Investoren aller Art profitieren vom Anstieg der Rohstoffpreise. Der Agrarbereich ziehe nicht nur die meisten Mittel an, sondern sei dabei auch noch der „Sektor mit der besten Performance“ und habe seit Anfang 2010 bis zu 50% Rendite eingebracht, haben die Barclays- Analysten ermittelt. Marktführer in diesem Bereich sind unter anderen zwei deutsche Unternehmen: die Allianz AG und die Deutsche Bank.
Und diese „offene Ordnung“ erklärt Bundepräsident Gauck zum „Kerninteresse unseres Landes“; weil wir Nutznießer seien, müssten wir auch Garanten des freien Welthandels werden.....

....da gibt es nur eins: sagt NEIN! Wir sagen Nein zu einer Wirtschaftsordnung, in der die Armen verheizt werden, damit das Konsum Karussell befeuert wird.
Ein Beispiel dafür ist die Art und Weise der Produktion von Klamotten in Billiglohnländern und meist miserablen Arbeitsbedingungen. Ich erinnere an die Katastrophe im April letzten Jahres (die größte in der Geschichte der Textilindustrie): In Dhaka der Hauptstadt von Bangladesh stürzt eine ganze marode Fabrik ein und mehr als tausend Menschen werden getötet, hunderte gelten noch immer als vermisst und mindestens 1.800 wurden verletzt, viele so schwer, dass sie sich nie wieder davon erholen werden. Bisher gab es kaum Hilfe und keine Entschädigung für die Opfern und deren Familien. Obwohl an die 30 Modeunternehmen aus aller Welt von dort Waren bezogen. Billigketten wie Walmart (USA) waren darunter, auch Marken des mittleren Segments wie etwa Benetton (Italien). Lediglich die Firma Primark hat Geld für Soforthilfe überwiesen – die anderen nicht einmal das. auch nicht die deutschen Firmen KIK, Adler Moden und NKD.
Die Leute, die sich hier zur NATO-Sicherheitskonferenz versammeln haben nicht eine gerechte Weltordnung im Sinn. Ihr Anliegen ist vor allem, dafür zu sorgen, dass die Kapitalverwertung möglichst reibungslos läuft.
Dazu gehört der Zugriff auf Öl und Gas, die Möglichkeit sich Kupfer, Gold, Uran oder Coltan anzueignen...
Dazu gehört es, mit den Reichen und Superreichen überall auf der Welt ungestört Geschäfte zu machen; und die gibt es überall. Denn überall wo die Weltmarktlogik exerziert wird, sind es ganz kleine Teile der Bevölkerung, die Vermögen und Macht anhäufen, während die große Mehrheit der Völker nichts davon hat, oder immer elender gemacht wird.
Und es gehört zu der hässlichsten Fratze dieser ungerechten Ordnung, dass diejenigen, die versuchen den unerträglichen Lebensbedingungen zu entkommen, verächtlich gemacht und ausgesperrt und verjagt werden. Ich habe größten Respekt vor den Flüchtlingen, die seit Monaten in Zelten mitten in Berlin auf diese Misere aufmerksam machen, die sich nicht verstecken, sondern für ihr Menschenrechte auf Bewegungsfreiheit demonstrieren. Sie haben wesentlich beigetragen, dass diese Frage zum öffentlichen Thema wurde. Das tragische Schiffsunglück vor Lampedusa, bei dem im letzten Herbst 500 Menschen umgekommen sind, hat zusätzlich das Grenzregime der Europäischen Union ins Rampenlicht gerückt. Die selben Politiker, allen voran Herr Gauck, die die Mauer-Toten an der DDR-Grenze als Beweis für die Unmenschlichkeit des sozialistischen Systems zitieren, loben ein System das noch viel mehr Tote an den Grenzen zu verantworten hat. Seit 1945 sind an der deutsch- deutschen Grenze um die 1.000 Menschen ums Leben gekommen – 15 pro Jahr. Das ist und bleibt unverzeihlich; auch weil damit eine sozialistische Alternative diskreditiert wurde. An der Grenze zwischen USA und Mexico sind allein von 1994 bis 2002 über 2.000 zu Tode gekommen – 250 pro Jahr. Und seit 1988 starben etwa 20.000 Flüchtlinge entlang der europäischen Außengrenzen. Eintausend Tote jedes Jahr sind das Ergebnis der Abschottungspolitik der Europäischen Union.
Wir fordern: Frontex muss abgeschafft werden! Flüchtlinge brauchen Hilfe, nicht Abschreckung und das Menschenrecht auf Bewegungsfreiheit ist unteilbar.
Das gilt auch für die Europäer*innen, die aus Ländern wie Rumänien zu uns kommen. Die selben Schreihälse, die - wie der CSU-Chef – die Armen rausschmeißen wollen, weil sie angeblich betrügen, bleiben stumm, wenn die Armen betrogen werden, um die Gewinne zu erhöhen. Das passiert aber täglich – in niedersächsischen Schlachthöfen oder auf Pfälzer Gemüsefeldern. Viele osteuropäische Arbeitskräfte werden dort um ihren gerechten Lohn betrogen und ihrer Arbeitnehmerrechte beraubt. Das ist der Betrug, den es zu bekämpfen gilt!
Liebe Freundinnen und Freunde,
der NATO-live-style starrt zwar vor Waffen, aber seine Hegemonie ist längst passé.
Im Kernland USA entsteht offenbar eine Art linke Popularität – der neugewählte Bürgermeister von New York hat die Frage der Verteilungsgerechtigkeit in den Mittelpunkt gestellt. Und nach außen ist die „Strahlkraft“ schon lange dahin. Ich finde es sehr bemerkenswert, dass sich dieser Tage das 2011 gegründete Staatenbündnis CELAC zum Gipfeltreffen dieser 33 lateinamerikanischen und karibischen Länder trifft: in Cuba. Und ohne die USA.
In Europa ist durch die brutalen Kürzungsdiktate der Troika und die ruinöse Konkurrenz der Volkswirtschaften vor allem die junge Generation ihrer Zukunftswünsche beraubt. Ich hatte in meinem Büro ein halbes Jahr lang eine tolle junge Frau – Doroteja, aus dem jüngsten NATO-Staat Kroatien. Sie ist eine von hundert super engagierten, toll qualifizierten jungen Leuten ist, die ein internationales Parlamentsstipendium erhielten. Sie schreibt mir, auf meine Weihnachtspost: „Gott sei dann steckt in mir ein Haufen Energie, so dass ich mich dem scheiß System nicht so einfach übergebe. Nach 1000 Bewerbungen, keiner einzigen Antwort und dem Leben mit meinen Eltern öffnete sich Anfang Januar doch eine kleine Tür:=) ...Es gibt nämlich nichts schlimmeres als das NICHTSTUN. Kroatien ist am Arsch. Der EU-Beitritt wird dem Großteil der Leute nichts bringen außer Prekarisierung bzw. der permanenten Angst davor. Das ist alles vollkommen beschissen. Zuerst wurde Europas Süden plattgemacht, jetzt (bzw. schon seit ein paar Jahren) ist der Osten dran und morgen gehts auch den paar Mitteleuropäern an den Kragen, die sich jetzt noch in Sicherheit wähnen. Wird also lustig. Auf jeden Fall, gibt es keine Arbeit, der Arbeitsmarkt existiert nicht, die Regierung ist hoffnungslos im Agieren und junge Leute fliehen weg oder studieren und studieren... ich umarme dich, deine Doroteja“
Und zugleich haben in jüngster Zeit wir einen neuen Protestzyklus gesehen auf den Plätzen großer Städte: von Occupy Wallstreet, über den Tahirplatz in Kairo, Puerta del Sol in Madrid, den Sytagma- Platz in Athen, bis zum Taksim in Istanbul.
Überall das direktdemokratische Prinzip von Autonomie und Kooperation, Konsens und Pluralismus, und ein weniger konzeptioneller als normativer Utopismus ... all das bildete den Rahmen der Sozialforen, und der Proteste gegen die G8-Gipfeltreffen der Mächtigen. Es sieht so aus, als würden die Samenkörner, die dort angelegt wurden, nun an ganz verschiedenen Orten aufgehen und die rebellische Subjektivität Teile des politischen Systems durchbrechen. Auch in den unermüdlichen Aktionen und die neue Protestkultur gegen Stuttgart21 finden sich solche Spuren.
Es ist schwer, den Charakter der Demonstrationen auf dem Maidan in Kiew einzuschätzen. Die Form gleicht aber der „Inbesitznahme“ von Plätzen, bei denen die Leute sich nicht damit zufrieden geben, Appelle an die Regierenden zu richten, sondern sich den öffentlichen Raum nehmen. Die Legitimität der Proteste gegen autoritäre staatliche Strukturen hat nichts damit gemein, dass jetzt extreme Nationalisten und Faschisten die Situation für einen gewalttätigen Staatsstreich nutzen wollen.
Überall brechen Widersprüche auf gegen die herrschende Ordnung. Und selbst der Papst tritt als Systemkritiker auf.
Und das jüngste Projekt, das Freihandelsabkommen TTIP, mit dem u.a. die Investoren vor demokratischen Veränderungen geschützt werden sollen, stößt auf breite Ablehnung. Ich finde es ist ermutigend, dass über das Online-Portal Campact binnen weniger Tage 300.000 Unterschriften gegen dieses Machwerk gesammelt werden konnten, obwohl es komplex ist und die Kanzlerin Wachstum und Arbeitsplätze verspricht. Da trägt die Arbeit von Attac Früchte, die Argumente und Aktionen gegen die WTO und das MAI vor einem Jahrzehnt, sind in die Gesellschaft eingesickert und zeigen nun Wirkung.
Ich bin zuversichtlich, dass auch die unermüdliche Arbeit der Friedensgruppen und Antikriegsinitiativen solche Wirkung haben. Angesichts des Ansinnens das Herr Gauck und Frau von der Leyen vortragen, die Bundeswehr offensiver für „Deutsche Interessen“ einzusetzen, braucht es einen neuen Aufschwung der Friedensbewegung. Und diese Demonstration hier ist ein wichtiger Beitrag dazu.